Der folgende Artikel zum Workshop erschien in der Zeitschrift

Der folgende Artikel zum Workshop erschien in der Zeitschrift „Sprechen“ Heft 46, 2006
BARBARA MARIA BERNHARD
„Sprechräume und Ansprechhaltungen auf der Bühne"
Eine Übungsstunde für Schauspielstudierende
Die Wandlungsfähigkeit ist eine zentrale Eigenschaft des Schauspielers – Diese benötigt er nicht
nur, um verschiedene Rollen spielen zu können, sondern sie ist auch innerhalb einer Rolle von
Bedeutung. Diese Fähigkeit offenbart sich vor allem in der Stimme. Im Theater ist oft zu
beobachten, dass die Szenen in Hinblick auf Dynamik und Beziehungen zwischen den Rollen klar
ausgearbeitet wurden. Wenn man aber die Stimmen analysiert, kann man nicht selten feststellen,
dass diese die Prozesse „nicht mitvollziehen“. Die Stimme eines Schauspielers bleibt nicht selten
über mehrere Stunden nahezu gleich, wie "einbetoniert". Dies langweilt das Publikum auf Dauer
und der Schauspieler wird seiner schöpferischen Aufgabe nicht gerecht. Was hingegen
interessiert, sind die schillernden Facetten einer Stimme. Sie zeigen in besonderem Maße die
Persönlichkeit des Schauspielers und seiner Figur.
Für den Sprechunterricht in der Schauspielausbildung bedeutet das, dass die stimmliche
Wandlungsfähigkeit entwickelt und gefördert werden muss: Die sprecherischen Möglichkeiten
können zum Beispiel durch das bewusste Wahrnehmen verschiedener Ansprechhaltungen und
Sprechräume trainiert werden. Die Stimme wird sensibler und durchlässiger. Der
Schauspielstudierende lernt in kurzen aufeinander aufbauenden Übungsschritten, wie er auf
unterschiedliche Situationen stimmlich authentisch reagieren kann und gleichzeitig dem Raum
gerecht wird.
Zur Begrifflichkeit:
Unter Sprechraum verstehe ich einerseits den Raum, den ein Sprecher nutzt, um mit einem
Partner zu kommunizieren. Zum Beispiel hat ein Selbstgespräch meist einen recht kleinen intimen
Sprechraum im Gegensatz zu einer Rede vor Publikum. Im Theater sind zusätzlich die realen
räumlichen Gegebenheiten zu beachten. Dieser Sprechraum muss unabhängig von der Bühnensituation immer stimmlich gefüllt werden, damit das Publikum den Sprecher rein akustisch
versteht.
Ich verwende daher im Folgenden die Begriffe „Partnerraum“ und „Theaterakustik“.
Unter Ansprechhaltung verstehe ich die Anmutung, also die Art, wie ein Sprecher einem anderen
begegnet. Ein Sprecher wendet sich zum Beispiel bittend an einen anderen. Dabei spielen unter
anderem Situation, Intention und Emotion eine Rolle.
Eine Übungsstunde zum Thema „Sprechräume und Ansprechhaltungen“ könnte wie
folgend beschrieben verlaufen:
Zum Textmaterial:
Für eine derartige Gruppenstunde verwende ich gerne die Sammlung der Menschenrechte (siehe
Beispiele). Die zahlreichen kurzen Texte sind in verschiedenen Schwierigkeitsgraden vorhanden
und können je nach Niveau der Studierenden ausgewählt werden. Sie weisen einen komplizierten
Satzbau auf und schulen deshalb das Gliedern eines Textes nach Gedanken und Sinnschritten.
Zudem werden die Studierenden durch den Inhalt der Menschenrechte für Themen sensibilisiert,
die in Theaterstücken wieder auftauchen.
• Die Übungsstunde beginnt mit einer Konzentrationsphase, die den Teilnehmern die Gelegenheit
gibt, sich auf sich selbst zu besinnen. Die Studierenden sollen ihre momentane körperliche und
geistige Befindlichkeit wahrnehmen. Jeder sucht sich dazu eine liegende oder sitzende Position
im Raum. Mit geschlossenen Augen stellt sich jeder vor, er sitze unter einer schützenden Kuppel.
Es besteht also zunächst kein Kontakt zur Umwelt. Jeder spürt die Atembewegung im Bauchund Beckenbereich (Körperschwerpunkt) und versucht dort zu entspannen. Die Studierenden
können diesen Bereich in der Vorstellung mit einem farbigen warmen Licht füllen. Dadurch wird
die Lösungstiefe der Stimme vorbereitet.
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• Um für das Thema zu motivieren, soll sich jeder Teilnehmer kurz im Stillen Gedanken machen,
welches Menschenrecht er heute im Alltag schon „genossen“ hat. Jeder Teilnehmer bekommt
nun einen Menschenrechtstext ausgehändigt. Jeder hat einen anderen Text (!). Die Studierenden
lernen ihren Text durch halblautes „Ersprechen“ (Begriff nach Krech) kennen. Die Kuppel bleibt
dabei noch bestehen. Jeder füllt also nur den „Partnerraum“, den er braucht, um halblaut mit sich
selbst zu sprechen.
Textbeispiele aus „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, Insel-Bücherei Nr. 1114:
Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. Der Unterricht muss wenigstens in den Elementar- und
Grundschulen unentgeltlich sein. Der Elementarunterricht ist obligatorisch. Fachlicher und
beruflicher Unterricht soll allgemein zugänglich sein; die höheren Studien sollen allen nach
Maßgabe ihrer Fähigkeiten und Leistungen in gleicher Weise offen stehen.
Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht
umfasst die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit,
seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der
Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu
bekunden.
Um den Text möglichst natürlich zu sprechen, wird er mit eigenen Worten verknüpft. Die Sprecher
beginnen also mit einem persönlichen Vortext, an den der den „Fremdtext“ anschließt, wie zum
Beispiel: „Ich finde- Jeder Mensch...“ oder „Wenn ich länger nachdenke, komme ich zu dem
Entschluss – jeder Mensch hat das Recht...“ Die Vortexte werden laut gesprochen, damit sich der
Sprecher selbst dabei zuhören kann! Durch dieses Selbstgespräch kann ein authentischer
Sprechton gefunden werden. Gleichzeitig wird das Formen von Gedanken zu Worten als Prozess
erlebbar.
Einzelne Teilnehmer werden nun aufgefordert, den Text als Monolog auf der Bühne zu sprechen.
Die Authentizität und die intime Ansprechhaltung zu sich selbst sollen dabei erhalten bleiben,
während sich der Sprechraum je nach Theaterakustik vergrößert. Die Kuppel wächst also und
schließt das Publikum mit ein.
• Jeder Teilnehmer sucht sich nun einen Partner, dem er den Inhalt seines Textes erklärt. Dies
kann zum Teil in eigenen Worten geschehen. Der Partner gibt das wider, was er verstanden hat.
(vgl. aktives Zuhören). Die Studierenden lernen, wie sie einen Gedanken durch Akzente und
Zäsuren gliedern müssen, um ihn verständlich zu machen. Außerdem müssen sie angemessen
artikulieren, um dem Partner die zum Teil ungewöhnlichen Begriffe konkret zu vermitteln. Das
Feedback des Partners spiegelt, ob dieser Versuch gelungen ist. Der Partnerraum wird hierbei
für ein Zweiergespräch erweitert, das aber noch nicht für Zuschauer öffentlich gemacht wird.
Ein Teilnehmer geht nun auf die Bühne und erklärt seinen Text dem Publikum (= den anderen
Studenten). Dieses gibt nonverbale Hörersignale, des Verstehens oder der Irritation. Die
Ansprechhaltung bleibt erklärend. Der Sprechraum wird bis zur letzten Reihe erweitert.
• Es bilden sich neue Paare. Ein Teilnehmer übernimmt dabei die Rolle eines Herrschers (=
Zuhörer), der andere ist sein Minister (=Sprecher). Die Teilnehmer einigen sich kurz über die
genaue Situation (fiktiver Ort, Zeit,...). Der Minister spricht nun seinen Text zum Herrscher. Dabei
können verschiedene Ansprechhaltungen ausprobiert werden. (Flehen, Bitten, Vorschlagen,
Fordern...) Diese sollen sowohl stimmlich als auch körpersprachlich stimmig verwirklicht werden.
Jeder Herrscher spiegelt seinem Minister, wie er die Ansprechhaltung wahrgenommen hat und
gibt wenn nötig einen Auftrag zur Veränderung, zum Beispiel: „Deine Stimme klingt etwas schrill
– ich kann da nicht lange zuhören. Sprich mit gelöster Stimme, damit ich mich besser auf Deinen
Vorschlag einlassen kann“.
Die Paare präsentieren die Zwischenergebnisse nun auf der Bühne. Die Ansprechhaltung bleibt,
die Stimme wird der Akustik des Zuschauerraums angepasst. Hinweis: Damit das Sprechen nicht
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belehrend wirkt, sollte der Sprecher immer etwas vom ersten Übungsschritt mit in seinen
stimmlichen Ausdruck übernehmen. Das heißt, dass er den Gedanken im Moment des Sprechens
selbst mitvollzieht und sich mit einschließt.
• Neue Situation: Der Minister hat seine Forderung erreicht und verkündet das nun gültige
Menschenrecht öffentlich dem Volk, das sich versammelt hat (= Zuschauer). Dazu stellt er sich
auf die Bühne und ruft seinen Text in Richtung Publikum. Er erweitert seinen Partnerraum um
das Publikum herum. Der Sprecher soll kleine spontane Reaktionen aus dem Publikum
bekommen (nonverbale und verbale). Da dies im Theater natürlich nicht immer so sein wird, ist
dieser Publikumskontakt eine besondere Erfahrung. Außerdem bekommt der Sprecher dadurch
Rückmeldung über seine Ansprechhaltung. Wenn es ihm gelungen ist, das Recht zum Beispiel
freudig zu verkünden, so wird sich dies in den Publikumsreaktionen spiegeln.
Der Sprechraum ist sehr groß und die Stimme füllt das Theater kraftvoll aus. Dabei ist zu
beachten, dass bei der Rufstimme kein Überdruck im Körper aufgebaut wird, da dieser zu Enge
führt. Vielmehr soll sich der Sprecher der „Raumstütze“ bewusst werden. Er nutzt die
Theaterakustik und wird durch den Widerhall der Wände gestützt. Er muss so nicht die ganze
Energie „allein aus sich heraus“ produzieren. Er wird von der bestehenden Akustik verstärkt und
kann neben der Körperresonanz auch die Raumresonanz nutzen. Durch dieses Bewusstsein
entstehen harmonische Obertöne in der Stimme. Sie wirkt weicher und durchdringender bei
weniger Dezibel. Darüber hinaus helfen natürlich die „Verwurzelung“ mit dem Boden, die bewusste
Formung der Laute und das Abspannen (nach Coblenzer) beim Training der Rufstimme.
• Um die Übungsstunde als Ensemble abzuschließen, mischt sich die Gruppe wieder. Die
verkündeten Menschenrechte sprechen sich nun in der Menschenmenge herum. Die
Studierenden murmeln alle durcheinander in leisem fast flüsterndem Ton. Jeder gibt
Gedankenfetzen von Gehörtem in eigenen Worten den Nachbarn weiter, reagiert auf die anderen
und orientiert sich sofort wieder neu. Die Ansprechhaltung kann zweifelnd, überrascht,
rückfragend oder ähnliches sein. Das Sprechtempo ist hoch, der Partnerraum sehr klein. Hier
sind Artikulation und Mimik die vorherrschenden Ausdrucksmittel. Die Studenten sollen zum
Beispiel die Lippen verstärkt einsetzen.
Es wurden in den beschriebenen Übungsschritten vier wichtige Punkte behandelt:
Zentrum (Körper wahrnehmen und Stimme aus der Mitte entstehen lassen)
Formung (Durch plastische Artikulation die Stimme zielgerichtet und ausdrucksstark einsetzen)
Gehalt (Textverständnis, Gedankengliederung, Sinnvermittlung fördern)
Ausweitung (Partner- und Raumbezug, Erweiterung des Körperschemas [nach Volkmar Glaser]
intensivieren)
Diese Punkte bilden ein mögliches Gerüst der Sprecherziehung für Schauspielstudenten und
können in jeder Unterrichtsstunde auf andere Art thematisiert werden. Die Übungsschritte in Kurzform:
Nach jedem Übungsschritt eignen sich Reflexionsfragen, wie: „Wie habt Ihr die Sprechsituation
genau erlebt“, „Wie hat sich die Stimme verändert?“ usw.
Textmaterial: Die Menschenrechte
(Vorteile dieser Auswahl: Gebrauchstexte mit komplexem Satzbau; Auseinandersetzung mit
Themen, die vielen Theaterstücken zu Grunde liegen)
Übungsschritt 1:
Vorbereitung der Teilnehmer:
Ort im Raum wählen; sich auf sich selbst konzentrieren
Ziel: momentane körperliche und geistige Befindlichkeit wahrnehmen
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Übungsschritt 2:
Textannäherung über persönliche Subtexte; "Ersprechen" der Menschenrechtsparagraphen
Ziel: Einteilung des Textes in Sinnschritte; persönliche Auseinandersetzung mit dem Textmaterial,
sich selbst beim Sprechen zuhören
Übungsschritt 3:
Einem Gesprächspartner den Inhalt mit freien Worten erklären - dieser wiederholt das
Verstandene in eigenen Worten
Ziel: Kompliziertes Textmaterial klar vermitteln lernen; Schwachstellen der eigenen Präsentation
erkennen
Übungsschritt 4:
Rollenaufteilung in "Herrscher" (= Zuhörer) und "Minister" (= Sprecher): Den Text als Forderung,
Bitte oder Vorschlag zum Herrscher sprechen.
Ziel: Sprecherische Mittel wählen, die der Situation und der Anmutung angemessen sind; Wirkung
beim Gegenüber und beim Publikum erkennen
Übungsschritt 5:
Verkündigung des Menschenrechts vor einer großen Menschenmenge. (ev. auf einen Stuhl
steigen)
Ziel: Stimme und Anmutung der öffentlichen Situation anpassen; Rufstimme trainieren
Übungsschritt 6:
Das Recht spricht sich in der Menschenmenge herum. Das Gehörte dem Nachbarn zumurmeln teils freudig, teils zweifelnd.
Ziel: Stimmliches Umschalten auf intimen Raum und Anmutung trainieren
www.sprechtraining-bernhard.at
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