JUDITH KASPER, CORNELIA WILD (HG.) ROM RÜCKWÄRTS F5849-Kasper-Wild.indd 1 22.10.15 11:09 F5849-Kasper-Wild.indd 2 22.10.15 11:09 Judith Kasper, Cornelia Wild (Hg.) ROM RÜCKWÄRTS Europäische Übertragungsschicksale Wilhelm Fink F5849-Kasper-Wild.indd 3 22.10.15 11:09 Umschlagabbildung Philipp Gufler, „Room for Artlovers (Modernes Rom)“, 2014 Siebdruck auf Papier, 240 x 180 cm Courtesy: Galerie Françoise Heitsch, München Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2015 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5849-0 F5849-Kasper-Wild.indd 4 22.10.15 11:09 Dieses Buch ist aus der Sektion Übertragung, Übersetzung: Mediologie des Römischen des 8. Frankoromanisten-Kongresses an der Universität Leipzig (2012) hervorgegangen, die wir gemeinsam geleitet haben. Die Leipziger Arbeitsgruppe stellt das Herzstück dieses Buches dar, für das uns der Frankoromanistenverband den geeigneten Rahmen geschaffen hat. Die fruchtbaren Beiträge und Diskussionen sind in das Buch eingeflossen, ebenso wie zwei von uns veranstaltete Workshops an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Weitere wertvolle Beiträge sind von vielen anderen dazu beigesteuert worden. Geleitet wurden wir von der Idee, einen Arbeitskontext zu schaffen und den daraus entstandenen Denkprozess abzubilden. Danken möchten wir dem Frankoromanistenverband, der LudwigMaximilians-Universität München (LMU) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die großzügige finanzielle Förderung. Judith Kasper und Cornelia Wild F5849-Kasper-Wild.indd 5 22.10.15 11:09 F5849-Kasper-Wild.indd 6 22.10.15 11:09 Inhalt JUDITH KASPER, CORNELIA WILD Roms Tropen. Referenz, Gramma und Affekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 IMPERIUM, CIVITAS GIANLUCA SOLLA Brudermord (Plutarch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 BARBARA VINKEN Verkehrung (Aurelius Augustinus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 MARCO TABACCHINI Gewalt (Simone Weil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 HANS ULRICH GUMBRECHT Kältepunkt (Friedrich A. Kittler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 MARTIN TREML Travestie (Aby Warburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 UMWANDLUNG, ANEIGNUNG SUSANNA ELM con/discordia (Prudentius) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 NATALIE BARBARA NAGEL Tautologie (Martin Luther) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 BARBARA VINKEN Götzendienst (Émile Zola) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 PABLO VALDIVIA OROZCO Krise (Paul Valéry). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 DAGMAR STÖFERLE Raum (Carl Schmitt). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 F5849-Kasper-Wild.indd 7 22.10.15 11:09 8 INHALT RÜCKLÄUFE CORDULA REICHART ricorso (Giambattista Vico) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 JUDITH FRÖMMER Topos (Niccolò Machiavelli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 ANSELM HAVERKAMP riverrun (Quintilian, Vico, Joyce ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 JULIAN DREWS Bildung (Ernst Robert Curtius) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 GIANLUCA SOLLA renovatio (Ernst Kantorowicz). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 SCHRIFT, INSCHRIFT EDI ZOLLINGER Monument (Joachim Du Bellay) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 MICHAEL AUER Stilwille (Friedrich Nietzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 CORNELIA WILD Anagramm (Ferdinand de Saussure) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 DENISE KOLLER Marmor (Cy Twombly) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 DEKLINATIONEN, DERIVATE HELMUT PFEIFFER Römerinnen (Michel de Montaigne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 FLORIAN FUCHS Roman (Friedrich Hölderlin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 F5849-Kasper-Wild.indd 8 22.10.15 11:09 INHALT 9 ROBERT STOCKHAMMER rom-isch (Friedrich Schlegel). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 DANIEL HOFFMAN-SCHWARTZ Inklination (Jacques Derrida) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 ADRESSIERUNGEN MICHÈLE LOWRIE Reversio (Lucan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 DAVIDE CALIARO Scham (Paulus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 JOHANNA SCHUMM Felisinda (Baltasar Gracián) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 UTA FELTEN Karnevalisierung (Luis Buñuel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 AFFIZIERUNGEN HANNA SOHNS Mora (Ovid) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 JOHN T. HAMILTON Exzitation (Francesco Petrarca) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 CORNELIA KLETTKE Verzauberung (Madame de Staël) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 RUDOLF BEHRENS Hysterierende Urbs (Edmond und Jules Goncourt). . . . . . . . . . . . . 213 F5849-Kasper-Wild.indd 9 22.10.15 11:09 10 INHALT LATENZ, TURBULENZ ANDREA ALLERKAMP Inventio (Giovanni Battista Piranesi / Charles Baudelaire). . . . . . . . 223 ANDREA ALLERKAMP Quidproquo (Walter Benjamin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 JUDITH KASPER Verstörung (Sigmund Freud) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 HERMANN DOETSCH Abdruck (Roberto Rossellini) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Die Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 F5849-Kasper-Wild.indd 10 22.10.15 11:09 JUDITH KASPER UND CORNELIA WILD Roms Tropen. Referenz, Gramma und Affekt 1. Referenz Rom Die Allgegenwärtigkeit der Tropen Roms erschließt sich in den sprachlichen Strukturen, die von der Antike bis zur Moderne stets verborgen haben, wodurch sie sich konstituieren. Ob im politischen Körper oder im Gesetz der Buchstaben wirkt Rom mit seinen Bedeutungen manifest oder latent nach. Was sich also mit der „Referenz auf Rom“1 befragen lässt, sind all diejenigen Texte, die mit dem Übertragen der Latinität seit jeher der Referenz auf Rom verpflichtet sind. Denn Rom ist nicht nur allgegenwärtig in der Praxis seiner Referentialisierung, sondern Rom ist Referenz par excellence.2 Diese referentielle Allmacht zeigt sich sowohl in der Affirmation der ruhmreichen Herrlichkeit Roms als auch in seinen „glanzvollen Trümmer[n]“3. Das gilt auch für die romanischen Literaturen, die sich latent oder manifest immer schon auf Rom bezogen haben. Als solche sind sie aber nicht der Ort eines Zentrums oder Ursprungs, sondern Relais dieser Referenz. In diesem Sinn hatte Dante Alighieri die romanische Sprache bestimmt und damit auch die Literatur impliziert: als reines Transportmittel nämlich, das nicht mit der Sache zusammenfällt. Wie die Sprache, die „jeder italienischen Stadt zukommt und doch keiner zu eigen sein scheint“4, ist die romanische Literatur gleichzeitig Teil von Rom und doch nicht Rom selbst. Das vorliegende Buch hat die Referenz auf Rom noch einmal in den Blick genommen. Textpassagen aus dem Korpus der europäischen Literatur-, Philosophie- und Kulturgeschichte von Plutarch bis Derrida, 1 Bernhard Siegert, „Ab-Ort Rom. Übertragung als Grund und Abgrund der Referenz“, Schriften zur Verkehrswissenschaft 30, 2006, S.11-18, S. 11. 2 Cornelia Vismann, Das Recht und seine Mittel. Ausgewählte Schriften, hg. Marcus Krajewski, Fabian Steinhauer, Frankfurt a.M. 2012, S. 27: „Der Name Rom steht für Referenz.“ 3 Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite (1927), Stuttgart 1980, S. 402. 4 Dante Alighieri, De vulgari eloquentia I. Über die Beredsamkeit in der Volkssprache, Lateinisch-Deutsch, übers. von Francis Chevenal, Einleitung von Ruedi Irmbach/Irène Rosier-Catach, Kommentar von Ruedi Irmbach/Tiziana Suarez-Nani, Hamburg 2007, XVI, 6. F5849-Kasper-Wild.indd 11 22.10.15 11:09 12 JUDITH KASPER UND CORNELIA WILD die auf Rom referieren, werden in den ihnen beigestellten Kommentaren in Hinblick auf ihre implizite Struktur analysiert. Die Kommentare zielen dem zufolge auf die Struktur der Referenz, nicht auf die Referenz selbst. Eben weil wir immer schon latinisiert sind – in einer Welt der mondialatinisation5 –, entkommen wir Rom nicht. Aber die Unentrinnbarkeit Roms macht ihre Entzifferung notwendig, denn nur so können auch ihre nicht-institutionalisierten Dimensionen erfasst werden. Die die Referenz Rom konstituierenden Figuren der Gründung und Übermittlung einer geregelten symbolischen Praxis produzieren als Effekte immer auch eine Reihe von Figuren, die dem Herrschaftsanspruch nach Macht und Fortdauer entgegenstehen, diesen unterlaufen oder durchstreichen. Textdynamiken wie Affizierungen, Adressierungen, Appropriationen, Deklinationen, Latenzen, Rückläufe und Umschriften fragmentieren und trennen, was Ideologie in den Referenzen statuiert und stabilisiert. Die Referenz auf Rom erschließt sich dabei aus der Frage nach seiner Übersetzbarkeit, die das römische Imperium selbst begründet hatte. Denn die Macht Roms konstituierte sich, wie Cornelia Vismann betont hat, durch Akte der Übertragung mittels Übersetzung. Jeder Gesandte brachte in seiner Sprache in Rom sein Anliegen vor, das dann von Dolmetschern übersetzt wurde. Die Souveränität lag damit ganz bei demjenigen, der die Macht über die Übersetzungen hatte: „Wer übersetzen läßt, hat die Befehlsgewalt, das imperium.“6 Es waren also die interpretes Roms, die die Tropen und Topoi Roms verwaltet und über Verkehrswege verbreitet haben. Transportable Lettern einer römischen „poste courante“7 waren Techniken, die nicht nur der politischen Sphäre des Handelns, sondern auch dem hermeneutischen Reich der Interpretation angehörten. Durch eine solche Rückschreibung des Imperiums auf den Akt des Übersetzens lässt sich die Frage nach der Referenz Rom auch als eine Frage nach der philologischen Tätigkeit stellen. Die Auseinandersetzung mit der „Reférénce souveraine“8 zeigt, dass Rom die 5 Jacques Derrida, Foi et Savoir, suivi de Le Siècle et le Pardon, Paris 2001. 6 Cornelia Vismann, „Wort für Wort. Übersetzen und Gesetz“, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Die Sprache der Anderen, Frankfurt a.M. 1997, S. 147-165, S. 147. 7 Bernhard Siegert, „Der Untergang des römischen Reiches“, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 495-514, S. 507. 8 Pierre Legendre, Annie Collovald, François Bastien, „Qui dit légiste, dit loi et pouvoir. Entretien avec Pierre Legendre“, Politix 8, 32, 1995, S. 23-44, S. 33. F5849-Kasper-Wild.indd 12 22.10.15 11:09 EINLEITUNG 13 „phantasmatische Heimat von Philologie“9 ist. Das römische Imperium braucht nicht nur Repräsentanten, die seiner Autorität dienen, sondern übt philologische Techniken wie Übersetzen, Auslegen, Hören, Lesen und Interpretieren ein. Damit ist nicht nur jede Referenz eine Referenz auf Rom, auch Interpretieren heißt in diesem Sinn immer schon, auf der Grundlage Roms zu interpretieren.10 2. Gramma: Spaltung und Übertragung Jedoch ist die Rom-Referenz keine einfache, sondern immer schon eine „gespaltene“ bzw. „in sich gedoppelte“11. In jedem Akt der Referentialisierung ist darum mit dem parasitären Mittransport bzw. mit der Wiederkehr eines Anderen zu rechnen. Wenn auf Rom referiert wird, wenn Rom übersetzt wird, wird stets Anderes mit übertragen. Wenn also einerseits Übersetzung und Übertragung aufgrund ihres gemeinsamen Rückbezugs auf das griechische Verb metaphoréō synonym erscheinen, verhalten sie sich andererseits gegenläufig zueinander. Und zwar in durchaus vergleichbarer Weise zu dem kritisch-gespannten Verhältnis, das ROMA zu seinen vielfältigen Anagrammen unterhält. Letztere werden freigesetzt, sobald man Roma gegen den Strich liest. Während im Römischen Reich die Übersetzungspraxis der Verbreitung des römischen Rechts und damit der Ausweitung und Erhaltung der politisch-juridischen Vorherrschaft Roms diente, lassen sich – Roma rückwärts gelesen – die darin eingeschriebenen Anagramme als latente Übertragungseffekte verstehen. Diese dienen einerseits der intendierten Übersetzung, andererseits aber stören sie, indem sie sich selbst nicht einfach in die übersetzte Bedeutung integrieren lassen. Etwas bleibt darin stets übrig, bleibt ein Übertrag, bildet eine irreduzible Differenz innerhalb der Bedeutung Roms. Diese bewirkt, dass Rom nie zur Ruhe einer in sich identischen Gründungsfigur findet. Selbst und vor allem dann nicht, wenn Rom als allgegenwärtige Referenz aufgerufen wird, entgründet sich diese (Be-)Gründungsfigur fortwährend.12 9 Vgl. Daniel Hoffman-Schwartz, „Inklination (Jacques Derrida)“ in diesem Band. 10 Vismann, Das Recht und seine Mittel, S. 25. 11 Vgl. Siegert, „Ab-Ort Rom“, S. 17 sowie Gianluca Solla, „Brudermord (Plutarch)“ in diesem Band. 12 Im Sinne der Krasis von „fondement“ (Gründung) und „effondrement“ (Zusammenbruch), die Deleuze mit seiner Wortschöpfung „effondrement“ vollzo- F5849-Kasper-Wild.indd 13 22.10.15 11:09 14 JUDITH KASPER UND CORNELIA WILD Wenn Übertragung also stets einen Übertrag impliziert, nämlich jene Differenz, die zwischen dem Gesagten der Schrift und der Latenz der Inschrift bleibt, die sich fortschreibt, sich aber nie zur Umschrift in eine Bedeutung eignet, dann sitzt die Rom-Referenz letztlich einer Art Traumlogik auf: Die Ruinen des Vergangenen fügen sich zu keinem identitätsstiftenden Symbol, sondern erscheinen vielmehr als sperrige Reste, als zerstückelte Signifikanten, die bis zur Unkenntlichkeit verschoben, in neuen Montagen aufscheinen.13 Insofern sich Übersetzung und Übertragung gegenwendig zueinander verhalten, Übertragung in Übersetzung immer schon verschlungen ist, ohne ganz in dieser aufzugehen, erweist sich Bedeutungskonstitution stets auch von unkontrollierbaren Kräften durchwirkt. Wobei letztlich unentschieden bleiben muss, ob diese Kräfte unbewussten Affekten geschuldet sind oder aber der kryptisch-anasemischen Eigendynamik, die den Wörtern und Signifikanten innewohnt.14 Beide agieren gleichsam unterhalb der semantischen und syntaktischen Ebene. Wenn die Buchstabenfolge R O M A auseinandergenommen wird, um daraus beispielsweise A M O R, M O R A, MET A M O R PHOSE, ME M O R A RE, M O R S u. a. zu montieren, dann sind letztere nicht so sehr Bedeutungspotentiale, die Rom immer schon mit sich befördern würde, sondern vielmehr „R O A M ING signifiers“ [herumschweifende Signifikanten], die, freigesetzt, Rom als Sinngenerator vorübergehend außer Kraft setzen.15 gen hat. Vgl. Gilles Deleuze, „Simulacre et philosophie antique“, in: ders., Logique du sens, Paris 1969, S. 292-324. 13 Vgl. Andrea Allerkamp, „Inventio (Giovanni Battista Piranesi / Charles Baudelaire)“ und „Quidproquo (Walter Benjamin)“ sowie Judith Kasper, „Verstörung (Sigmund Freud)“ und Cornelia Wild, „Anagramm (Ferdinand de Saussure)“ in diesem Band. 14 Zum Begriff der Anasemie, vgl. Jacques Derrida, „Fors“, in: Nicolas Abraham, Maria Torok, Cryptonymie. Le verbier de l’homme aux loups, précédé de Fors par Jacques Derrida, Paris 1976, S. 9-73, S. 11, 48f. Zu den (unbewussten) Affekten, die in den unterschiedlichen Arten der Berührung mit Rom (als Stadt, als Kirche, als Ruinenlandschaft, als Signifikant) freigesetzt werden, vgl. Rudolf Behrens, „Hysterisierende Urbs (Edmond und Jules Goncourt)“, John T. Hamilton, „Exzitation (Francesco Petrarca)“, Cornelia Klettke, „Verzauberung (Madame de Staël)“ in diesem Band; zur tendenziell kryptisch-anasemischen Eigendynamik der Sprache vgl. Cornelia Wild, „Anagramm (Ferdinand de Saussure)“. 15 Vgl. insbesondere Uta Felten, „Karnevalisierung (Luis Buñuel)“, Judith Kasper „Verstörung (Sigmund Freud)“, Hanna Sohns, „Mora (Ovid)“. F5849-Kasper-Wild.indd 14 22.10.15 11:09 EINLEITUNG 15 Rom rückwärts ist der philologische Versuch, den Hiat innerhalb der gespaltenen Referenz Rom – zwischen Institution und Traum, zwischen Übersetzung und (Affekt-)Übertragung, zwischen Grammatik und Anagrammatik – zu analysieren. Dies kann notwendigerweise nur punktuell, von Beispiel zu Beispiel springend, nie in systematischer Hinsicht gelingen. Die kommentierte Anthologie erschien uns als die geeignetste Gattung für dieses Vorhaben. Diesseits der Systematik unterliegt ihre sammelnde Logik nicht einfach der Kontingenz.16 Indem wir in dieser Anthologie Materialien versammeln und in einer neuen Ordnung zusammenstellen, die weder historisch noch thematisch, sondern an Textfiguren und -dynamiken ausgerichtet ist, eröffnen sich neue Konstellationen und Perspektiven auf das römische Erbe und auf die Art und Weise, wie es in der europäischen Moderne und Postmoderne weiterwirkt. Die Ruinen Roms erscheinen so betrachtet weniger als ein Erbe, das in den ökonomischen Haushalt Europas integriert werden könnte, als vielmehr als etwas im mehrfachen Sinne Überkommenes: als das Überlieferte; als das, was längst für tot erklärt worden ist. Wenn die Referenz Rom so allgegenwärtig ist, dann vor allem, weil Rom ständig wiederkehrt. Anstatt jedoch eine geschichtliche und kulturelle Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu garantieren, sucht es die Gegenwart heim als das letztlich ungelöste Selbstverständnis Europas. 3. Affekt: An Rom wenden Der Blick zurück auf die Referenz Rom ist dabei selbst schon eine Figur, eine Trope, d.h. eine Wendung, die als Lektürebewegung dazu dient, Rom zu adressieren. Schon bei Lucan zeigt sich jedoch, dass der Blick zurück nicht auf Eindeutigkeiten fällt, sondern seinerseits auf Tropen, die die Möglichkeit der Tugend Roms, seiner virtus, in Frage stellen.17 Die Trope der Trope referiert auf die Zergliederungen im Körper des Römischen, die Bestandteil des institutionalisierten Roms und seiner Signifikanten sind.18 Die Trope ist somit der Ort der textu16 Vgl. Judith Kasper, Cornelia Wild, „Sammelband“, in: Unbedingte Universitäten (Hg.), Bologna-Bestiarium, Berlin 2013, S. 279-282. 17 Vgl. Michèle Lowrie, „Trope (Lucan)“ in diesem Band. 18 Vgl. insbesondere Davide Caliaro, „Scham (Paulus)“ und Robert Stockhammer, „rom-isch (Friedrich Schlegel)“ in diesem Band. F5849-Kasper-Wild.indd 15 22.10.15 11:09 16 JUDITH KASPER UND CORNELIA WILD ellen Verknüpfung der geschichtlichen und der literarischen Überlieferung, der – auch in den ideologischen Übertragungen seiner Ursprungserzählungen wie der verheerenden Anfänge, des Machtstrebens, der Ruhmessucht und des Brudermords – beharrlich wiederkehrt.19 Die Auseinandersetzung mit Rom hat es demnach mit einer doppelten Hypothek zu tun: dem Insistieren solcher Tropen auf der einen Seite und der Dominanz eines einzigen wirkungsmächtigen Signifikanten auf der anderen: einem Herrensignifikanten, der herrisch vorausgesetzte Etymologien an die Stelle der Begründung setzt.20 Diskontinuierliche und unvollständige Übertragungsprozesse stehen gegen Ursprungserzählungen und rufen eine Lektürebewegung hervor, die nicht abschließbar ist, sondern im Gegenteil zirkulär verläuft.21 Was auf Kontinuität und Überlieferung ausgerichtet war, wird in den hier diskutierten Texten verausgabt, überstrichen, zergliedert, aber auf diese Weise überhaupt erst wiederholungstauglich gemacht. Dabei erfordert die in den materiellen Abdrücken der Text- und Farbschichtungen überlagerte Schrift eine Archäologie, um das darin Verborgene freilegen und entziffern zu können.22 Solche Lektüren führen in die „Unterwelt der Referenz Rom“23, die sich gerade nicht als ein Ort gesicherter Macht, sondern als Ausgangspunkt für ein katastrophales und abgründiges, krisenhaftes oder als schuldhaftes Erbe erweist, wie an so unterschiedlichen Beispielen etwa Augustinus’ Civitas Dei oder Rosselinis Viaggio in Italia deutlich wird.24 Jeder Beitrag in dieser Anthologie ist in diesem Sinn eine „detaillierte Analyse“25, die die Theorie in nächste Nähe zu ihren Gegenständen rückt. Im Dispositiv der Macht behauptete Lückenlosigkeit und Kon19 Vgl. Gianluca Solla, „Brudermord (Plutarch)“ und Barbara Vinken, „Verkehrung (Augustinus)“ in diesem Band. 20 Vgl. Barbara Natalie Nagel, „Tautologie (Martin Luther)“ und Dagmar Stöferle, „Raum (Carl Schmitt)“ in diesem Band. 21 Vgl. Judith Frömmer, „Topos (Niccolò Macchiavelli)“, Anselm Haverkamp, „riverrun (Quintilian, Vico, Joyce )“, Cordula Reichart, „ricorso (Giambattista Vico)“ in diesem Band. 22 Vgl. Denise Koller, „Marmor (Cy Twombly)“, Edi Zollinger, „Monument (Joachim Du Bellay)“ in diesem Band. 23 Vgl. Hermann Doetsch, „Abdruck (Roberto Rossellini)“ in diesem Band. 24 Vgl. Andrea Allerkamp, „Quidproquo (Walter Benjamin)“. 25 Mieke Bal, „Kulturanalyse“, Frankfurt a.M. 2006, S. 17 [Herv. Verf.]. Vgl. auch Jürgen Paul Schwindt, „Traumtext und Hypokrise. Die Philologie des Odysseus“, in: ders., Was ist eine philologische Frage?, Frankfurt a.M. 2009, S. 61-81, S. 68. F5849-Kasper-Wild.indd 16 22.10.15 11:09 EINLEITUNG 17 tinuität findet in der Sammlung und Kommentierung von Texten ein Gegenstück, bei dem weder die Bruchstellen geglättet noch die Ränder und Säume befestigt werden. Eine solche Art und Weise des Lesens schließt an die moderne Haltung des Melancholikers an, der die Reste und Trümmer der Diskurse fixiert. Gerade unter diesen Voraussetzungen – wiederum einer Trope, nämlich der Trope der Melancholie, die als Rückwendung auf die Geschichte erneut die Figur der Wendung aufgreift – ist es jedoch möglich geworden, dass sich die (römische) Geschichte in Zeichen verwandelt26, die im „Pathos durch Zeichen“27 die versteckten Vielfältigkeiten in der Referenz Rom entzifferbar macht. 26 Jean Starobinski, „Melancholie und Spiegelbild. Eine Lektüre von Baudelaires ,Le cygne‘“, Merkur, 42, 1988, 751-765. 27 Friedrich Nietzsche, „Götzendämmerung“, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 8, S. 304, zitiert nach Michael Auer, „Stilwille (Friedrich Nietzsche)“ in diesem Band. F5849-Kasper-Wild.indd 17 22.10.15 11:09 F5849-Kasper-Wild.indd 18 22.10.15 11:09 IMPERIUM, CIVITAS F5849-Kasper-Wild.indd 19 22.10.15 11:09 F5849-Kasper-Wild.indd 20 22.10.15 11:09 GIANLUCA SOLLA Brudermord (Plutarch) Kaum hatten sie den Entschluß gefaßt, eine Stadt zu erbauen, als sie schon des Platzes wegen miteinander in Streit gerieten. Romulus legte das sogenannte viereckige Rom an und wollte an diesem Orte die Stadt erbauen; Remus hingegen bestimmte dazu einen festen Platz auf dem aventinischen Berge, der von ihm Remonium genannt wurde, jetzt aber Rignarium heißt. Sie wurden einig, diesen Streit den Vögeln zur Entscheidung zu überlassen, und als sie sich zu diesem Zweck an zwei verschiedene Plätze gesetzt hatten, sollen dem Remus sechs, dem Romulus aber noch einmal so viele Geier erschienen sein. Einigen zufolge hat Remus die Geier wirklich gesehen, Romulus aber es erlogen, und die zwölf Geier erst gesehen, als Remus schon wieder zu ihm gekommen war. Daher pflegen die Römer noch jetzt bei ihren Augurien besonders auf die Geier achtzugeben. Herodoros, der Pontiker, sagt, auch Herakles habe sich immer gefreut, wenn ihm bei einer Unternehmung ein Geier erschienen wäre. Der Geier ist nämlich das unschädlichste Tier, das dem Menschen an der Saat, den Pflanzen und dem Vieh nicht den geringsten Schaden anrichtet. Er nährt sich bloß von toten Körpern und tötet oder verletzt nichts, was Leben hat, ja er berührt nicht einmal tote Vögel, weil er mit ihnen verwandt ist. Adler, Eulen und Habichte hingegen stoßen auch auf Tiere ihrer Art und töten sie.1 1. Bei Plutarch erscheint Rom von Anfang an als Ort der Zweiheit, der Dopplung. Diese Tatsache ist nicht nur der literarischen Form der parallel angelegten Lebensbeschreibungen zu verdanken. Denn hier verdoppelt sich die Parallelstruktur des Werkes nochmals: Das biographische Paarprinzip führt dazu, Romulus mit seinem griechischen Homolog, Theseus, zu vergleichen, aber die Verdoppelung ist auch hier in der Gestalt des Zwillings Remus präsent. Plutarch stellt also Rom von 1 Plutarch, Vitae parallelae. Lebensbeschreibungen Gesamtausgabe in sechs Bänden. Übersetzung von Johann Friedrich Kaltwasser, bearbeitet von Hanns Floerke, München 1964, Bd. I, S. 71, 9,4-6. F5849-Kasper-Wild.indd 21 22.10.15 11:09 22 GIANLUCA SOLLA Anfang an als Frage der Trennung vor. Als Ergebnis eines Streites zwischen Brüdern kann Rom nicht im Sinne einer harmonischen Symmetrie verstanden werden. Der Streit um die Grenzen des „quadratischen Roms“ (9,4), die von Romulus gezogen worden sind, wird durch eine Wette eingeleitet: Welcher der beiden Brüder wird mehr Geier am Himmel sehen, „das harmloseste aller Tiere, das weder die Felder noch die Weiden beschädigt, […] sich einzig von toten Körpern [ernährt], ohne Lebewesen zu töten oder zu schädigen“ (9,6, Herv. G.L.S.)? Wenn der Flug der Geier die Himmelslinien zeichnet, die analog zu den heiligen Grenzen der neuen Stadt sind, dann ist die Präsenz der Geier eine Antizipation: Antizipiert wird nämlich die Leiche, ja die Tötung des Bruders, die – wie auch das römische Recht später anerkennen wird – eine Variante des parricidium, des Vatermords darstellt. Diese Tötung wird in Plutarchs legendenbildender Erzählung als Strafe für die Missachtung der Grenzen dargestellt. Die Szene lässt sich aber erst in Bezug darauf verstehen, was hier auf dem Spiel steht: die Vaterfunktion. Denn die Missachtung der Grenzen bedeutet die Missachtung der Autorität: Welcher der beiden Brüder darf Vater der Stadt sein? Die monogame Legitimation der Alleinherrschaft des Romulus bildet den Grund – die Erde – für die fruchtbare Zukunft des Römischen Reichs, das Plutarchs Gegenwart darstellte. Wenn die beiden Männer gegeneinander kämpfen, so kämpfen sie um die Erde als Mutter, d.h. sie kämpfen um die Genealogie und damit um das Leben selbst. Um die Reinheit der Genealogie zu garantieren, muss die Erde stets als monogam vorgestellt werden, sprich: sie darf nur von einem geschwängert werden. Die Staats-Vaterschaft wird exklusiv gedacht und konsequent also solche dargestellt. Erst aus ihrem ausschließlichen Anspruch wird sich später auch jener irdische Rechtskosmos verschiedener staatstragender Figuren wie der Patrizier, der Patronus oder auch die Senatoren als patres conscripti entwickeln, die alle ihren Ursprung in der Ausübung dieser einmaligen Vaterschaft haben, die Romulus durch die Beseitigung der brüderlichen Ambition für sich, d.h. für die Stadt Rom erwirbt (vgl. 13,1-9). An dieser legendären Staatsbildung sind zwei Aspekte besonders bezeichnend. Erstens, dass die Römer den Geburtstag der Stadt (der später als „Natale di Roma“ vom italienischen Faschismus wieder inszeniert wurde) feierten und dass an diesem Tag jegliches Blutvergießen vermieden werden musste, um „die Reinheit des Festtags aufzubewahren“ (12,1). Das Blutstabu erscheint hier an der blutigsten Stelle: nämlich anstelle des Brudermordes, der in nuce die Figur des bellum civile als Grundfigur der Einheit des Staates enthält. F5849-Kasper-Wild.indd 22 22.10.15 11:09 BRUDERMORD (PLUTARCH) 23 Der zweite Aspekt betrifft den Tod von Romulus, der plötzlich verschwand, ohne dass seine Leiche je gefunden worden ist. Ein Tod ohne Leiche bedeutet jedoch einen Mord ohne Beweis. Einer der vielen Versionen zufolge, über die Plutarch berichtet, hat das stets unruhige Volk die Patrizier des Königsmordes beschuldigt, da letztere die Suche nach dem toten Romulus zu unterbinden versucht hatten (vgl. 27,9). Man vermutet in Romulus’ Tod ein Attentat gegen den Staat, aber auch einen Vatermord. Anstelle einer Beerdigung wurde schließlich ein Romulus-Kultus eingerichtet. Damit wurde Romulus ausgerechnet von denen heilig gesprochen, die ihn vermutlich getötet hatten und seine Vaterposition anstrebten. Das Monument, das die körperliche Präsenz des Romulus ersetzt und sie in gewisser Weise in Vergessenheit geraten lassen soll, intendiert also die Heiligsprechung der Stadt Rom durch den Kult ihres Begründers und Vaters. 2. Wenn das Begräbnis, das ein archaisches Mittel der Übertragung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist, wegfällt, muss etwas anderes als Grab fungieren. In der Geschichte Roms, wie Plutarch sie darstellt, übernimmt diese Aufgabe – so meine Hypothese – jene große, geschichtsträchtige Erfindung des römischen Rechtes. Dieses Rechtswerk ist untrennbar mit der literarischen Darstellung der Geschichte verbunden, deren Vater Plutarch ist. Bezeichnend in dieser Erzählung ist, dass Romulus’ Gesetzgebung jegliches Blutverbrechen parricidium nennt. Dies heißt, dass in jedem Mord – auch im Brudermord, d.h. dem Versuch, eine andere genealogische Linie innerhalb der gleichen Familie zu verhindern – ein Vatermord impliziert ist. Gleichzeitig entspringt die Macht des Gesetzes selbst aus der kruden Gewalt des Mordes: Gesetzgeber und Mörder sind dieselbe Person. Selbst wenn das Gesetz verspricht, die Gewalt einer juristischen Vernunft zu unterwerfen, ernährt sich das Recht immer noch durch die Quelle der Gewalt. Wenn Rom seine Gründung durch den Mord an Remus erfährt, erlebt es eine zweite, zivile Gründung, und zwar in der Festlegung der Gesetze durch Romulus. Dass aber diese Grenzsetzung auch eines Mordes bedarf, um als unverletzliches Gesetz statuiert zu werden, bedeutet, dass das Rechtliche im Sinne der Reduzierung der Zweiheit auf eine Einheit arbeitet. Darin erscheint dieser Mord, so entsetzlich er sein mag, als eine Art vorjuridischer Akt, als eine vorjuridische Szene des Juridischen. Souveränität und Leiche hängen in dieser Szene zusammen. Das lateinische Wort für die irdischen Überreste eines Leibes heißt spolia. Doch selbst wenn die Leiche spolia genannt werden kann, ist spolia F5849-Kasper-Wild.indd 23 22.10.15 11:09 24 GIANLUCA SOLLA stets mehr als eine bloße Leiche. Das lateinische Wort setzt eine Transformation voraus, die durch Ehrung geschehen kann, wie im Falle von Romulus, oder auch durch die Einrahmung der Leiche in einen kulturellen, ja symbolischen Kontext. Transformation und Transmission gehören hier zusammen, so dass ohne die Transformation der Leiche in spolia keine Übertragung möglich ist. Der Kultus einer verschwundenen Leiche hat die Kraft, den fehlenden Körper (von Romulus) zu ersetzen, ja den Körper als an sich fehlenden in Vergessenheit geraten zu lassen. Auf diese Weise wird versucht, die zeitliche Diskontinuität, die in den menschlichen Körper als dessen Vergänglichkeit eingetragen ist, zu überdecken. So stellt die Leiche – bzw. ihr Kultus – die Antwort auf die Vaterfrage dar, die niemals nur eine Frage nach dem Vater, sondern vor allem eine Frage nach der genealogischen Übertragung ist. 3. Plutarchs Erzählung lebt von der Vielfalt der Geschichten, die er über jede einzelne Episode, über jeden Vorfall der römischen Tradition, zu sammeln versucht. Aus ihrer wesentlichen Mehrstimmigkeit, die Plutarch nicht zu reduzieren wagt, wird diese Geschichte zu einer Art Roman von Rom. Plutarch ist somit an zwei Diskursen beteiligt, die aber paradoxerweise einer sind: Der eine spricht mythisch von der Begründung Roms und wird durch das monogame Einheitsprinzip regiert; der andere ist ein literarischer Diskurs, in dem die Mehrstimmigkeit der Versionen sich nicht reduzieren lässt, sondern im Gegenteil reproduziert wird. Rom entsteht gleichsam aus diesem ‚Roman‘, der den monolithischen Charakter eines Machtdiskurses unterminiert. Auf der einen Seite vermag es der mythische Diskurs, der bloßen Materialität der Stadtmauern von Rom eine andere Kraft zu verleihen. Denn diese Stadtmauern sind heilig einzig dank und kraft dieser Erzählung, deren poetischer Charakter wesentlicher Bestandteil der göttlichen Herkunft Roms ist, wie Plutarch betont (vgl. 8,9). Auf der anderen Seite wird der weltbedeutende Ruf von Rom allein von einer an sich problematischen Erzählung hervorgebracht. Denn der ‚Roman‘ von Rom wird in eine ganze Reihe widersprüchlicher Versionen aufgespaltet. Plutarch bemüht sich nicht, die wahre unter den vielen Versionen festzustellen, sondern er bestätigt maximal „die vertrauenswürdigste“ (Plutarch, 3,1), ohne alle anderen, so phantastisch sie auch sein mögen, aus dem Corpus der Biographien auszuschließen. Und selbst diese „vertrauenswürdigste“ Version ist nicht ohne „Varianten“, also nicht ohne Unsicherheit (vgl. 3,1). Dies wird besonders evident in der parataktischen Verwendung des Artikels „oi“ (maskulin, Plural), der mit „die einen … die anderen“ übersetzt wird, meist ohne namentliche F5849-Kasper-Wild.indd 24 22.10.15 11:09 BRUDERMORD (PLUTARCH) 25 Nennung der intendierten Quellen oder Autoren. Alle sind aber gewissermaßen poetische Spuren der himmlischen tychè, die den Staat Rom von der Gründung bis zu seiner Weltmacht zu „etwas Großem und Wunderbarem [paradoxon]“ geführt hatte (8,9). Bezeichnend ist auch, dass Plutarch auf der Suche nach den historischen Ursprüngen der Welthauptstadt gleich auf den „großen Namen von Rom“ (1,1) stößt. Dadurch kommt eine endlose Vieldeutigkeit ins Spiel, die die Erzählung fast von selbst leitet. Auch die Mehrsprachigkeit hat hier ihren entscheidenden Platz, denn in ‚Rom‘ klingen sowohl das griechische rhome (Kraft) als auch das lateinische ruma (Brust, Zitze) an. Der erste Signifikant betrifft die Stärke der Pelasgier, die sich in der Gegend angesiedelt hatten; der zweite die legendäre Ernährung der zwei Zwillinge durch die Wölfin, die hier unbestimmt als ein wildes Tier [therion] bezeichnet wird (6,2). Aber die von Plutarch gesammelten Versionen dieser im Dunkel liegenden Anfänge der künftigen Größe Roms sprechen auch von einer Frau, genauer, von mehreren Frauen, die alle Rom hießen und von denen sich der Name der Stadt hergeleitet hätte (vgl. 6,1-2). Sobald nicht nur Männer im Spiel sind, die, sich gegenseitig tötend, aufeinander zugehen, kommt die Geschichte zumindest auf der Ebene der Darstellung ins Schwanken. Dass Frauen für die Unmöglichkeit stehen, einer Geschichte Eindeutigkeit zu verleihen, zeigt am besten der Fall der Wölfin. Denn das Lateinische – schreibt Plutarch auf Griechisch – nennt „Wölfinnen“ „sowohl die Weiber des Wolfes als auch die Frauen, die sich prostituieren“ (4,4). Hier bietet die „Ambivalenz“ [amphibolia] des Namens die Chance, die Geschichte ins Legendäre zu wenden (4,3). Selbst die Hure, die kaschiert unter dem Bild des legendären Tieres erscheint, zeigt die Kraft der mythologischen Maschine, die Roms Ruf erzeugt. Diese Maschine ist eine besondere, sie produziert Geschichte (und reproduziert sie keineswegs nur). Sie allein ist in der Lage, sogar die eingangs zitierte so schicksalsträchtige Lüge des Patriarchs Romulus bei der Zählung der Geier als Teil ihrer großen Erzählung zu integrieren und somit als Zeichen einer großen Zukunft, die hinter ihr liegt, zu statuieren. F5849-Kasper-Wild.indd 25 22.10.15 11:09
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