ROM RÜCKWÄRTS - Wilhelm Fink Verlag

JUDITH KASPER, CORNELIA WILD (HG.)
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Judith Kasper, Cornelia Wild (Hg.)
ROM RÜCKWÄRTS
Europäische Übertragungsschicksale
Wilhelm Fink
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Umschlagabbildung
Philipp Gufler, „Room for Artlovers (Modernes Rom)“, 2014
Siebdruck auf Papier, 240 x 180 cm
Courtesy: Galerie Françoise Heitsch, München
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© 2015 Wilhelm Fink, Paderborn
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5849-0
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Dieses Buch ist aus der Sektion Übertragung, Übersetzung: Mediologie
des Römischen des 8. Frankoromanisten-Kongresses an der Universität
Leipzig (2012) hervorgegangen, die wir gemeinsam geleitet haben. Die
Leipziger Arbeitsgruppe stellt das Herzstück dieses Buches dar, für das
uns der Frankoromanistenverband den geeigneten Rahmen geschaffen
hat. Die fruchtbaren Beiträge und Diskussionen sind in das Buch eingeflossen, ebenso wie zwei von uns veranstaltete Workshops an der
Ludwig-Maximilians-Universität München. Weitere wertvolle Beiträge sind von vielen anderen dazu beigesteuert worden. Geleitet wurden
wir von der Idee, einen Arbeitskontext zu schaffen und den daraus
entstandenen Denkprozess abzubilden.
Danken möchten wir dem Frankoromanistenverband, der LudwigMaximilians-Universität München (LMU) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die großzügige finanzielle Förderung.
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Inhalt
JUDITH KASPER, CORNELIA WILD
Roms Tropen. Referenz, Gramma und Affekt . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
IMPERIUM, CIVITAS
GIANLUCA SOLLA
Brudermord (Plutarch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
BARBARA VINKEN
Verkehrung (Aurelius Augustinus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
MARCO TABACCHINI
Gewalt (Simone Weil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
HANS ULRICH GUMBRECHT
Kältepunkt (Friedrich A. Kittler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
MARTIN TREML
Travestie (Aby Warburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
UMWANDLUNG, ANEIGNUNG
SUSANNA ELM
con/discordia (Prudentius) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
NATALIE BARBARA NAGEL
Tautologie (Martin Luther) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
BARBARA VINKEN
Götzendienst (Émile Zola) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
PABLO VALDIVIA OROZCO
Krise (Paul Valéry). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
DAGMAR STÖFERLE
Raum (Carl Schmitt). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
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8
INHALT
RÜCKLÄUFE
CORDULA REICHART
ricorso (Giambattista Vico) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
JUDITH FRÖMMER
Topos (Niccolò Machiavelli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
ANSELM HAVERKAMP
riverrun (Quintilian, Vico, Joyce ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
JULIAN DREWS
Bildung (Ernst Robert Curtius) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
GIANLUCA SOLLA
renovatio (Ernst Kantorowicz). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
SCHRIFT, INSCHRIFT
EDI ZOLLINGER
Monument (Joachim Du Bellay) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
MICHAEL AUER
Stilwille (Friedrich Nietzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
CORNELIA WILD
Anagramm (Ferdinand de Saussure) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
DENISE KOLLER
Marmor (Cy Twombly) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
DEKLINATIONEN, DERIVATE
HELMUT PFEIFFER
Römerinnen (Michel de Montaigne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
FLORIAN FUCHS
Roman (Friedrich Hölderlin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
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INHALT
9
ROBERT STOCKHAMMER
rom-isch (Friedrich Schlegel). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
DANIEL HOFFMAN-SCHWARTZ
Inklination (Jacques Derrida) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
ADRESSIERUNGEN
MICHÈLE LOWRIE
Reversio (Lucan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
DAVIDE CALIARO
Scham (Paulus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
JOHANNA SCHUMM
Felisinda (Baltasar Gracián) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
UTA FELTEN
Karnevalisierung (Luis Buñuel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
AFFIZIERUNGEN
HANNA SOHNS
Mora (Ovid) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
JOHN T. HAMILTON
Exzitation (Francesco Petrarca) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
CORNELIA KLETTKE
Verzauberung (Madame de Staël) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
RUDOLF BEHRENS
Hysterierende Urbs (Edmond und Jules Goncourt). . . . . . . . . . . . . 213
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10
INHALT
LATENZ, TURBULENZ
ANDREA ALLERKAMP
Inventio (Giovanni Battista Piranesi / Charles Baudelaire). . . . . . . . 223
ANDREA ALLERKAMP
Quidproquo (Walter Benjamin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
JUDITH KASPER
Verstörung (Sigmund Freud) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
HERMANN DOETSCH
Abdruck (Roberto Rossellini) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Die Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
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Roms Tropen.
Referenz, Gramma und Affekt
1. Referenz Rom
Die Allgegenwärtigkeit der Tropen Roms erschließt sich in den sprachlichen Strukturen, die von der Antike bis zur Moderne stets verborgen
haben, wodurch sie sich konstituieren. Ob im politischen Körper oder
im Gesetz der Buchstaben wirkt Rom mit seinen Bedeutungen manifest oder latent nach.
Was sich also mit der „Referenz auf Rom“1 befragen lässt, sind all
diejenigen Texte, die mit dem Übertragen der Latinität seit jeher der
Referenz auf Rom verpflichtet sind. Denn Rom ist nicht nur allgegenwärtig in der Praxis seiner Referentialisierung, sondern Rom ist Referenz par excellence.2 Diese referentielle Allmacht zeigt sich sowohl in
der Affirmation der ruhmreichen Herrlichkeit Roms als auch in seinen
„glanzvollen Trümmer[n]“3. Das gilt auch für die romanischen Literaturen, die sich latent oder manifest immer schon auf Rom bezogen
haben. Als solche sind sie aber nicht der Ort eines Zentrums oder Ursprungs, sondern Relais dieser Referenz. In diesem Sinn hatte Dante
Alighieri die romanische Sprache bestimmt und damit auch die Literatur impliziert: als reines Transportmittel nämlich, das nicht mit der
Sache zusammenfällt. Wie die Sprache, die „jeder italienischen Stadt
zukommt und doch keiner zu eigen sein scheint“4, ist die romanische
Literatur gleichzeitig Teil von Rom und doch nicht Rom selbst.
Das vorliegende Buch hat die Referenz auf Rom noch einmal in den
Blick genommen. Textpassagen aus dem Korpus der europäischen
Literatur-, Philosophie- und Kulturgeschichte von Plutarch bis Derrida,
1 Bernhard Siegert, „Ab-Ort Rom. Übertragung als Grund und Abgrund der Referenz“, Schriften zur Verkehrswissenschaft 30, 2006, S.11-18, S. 11.
2 Cornelia Vismann, Das Recht und seine Mittel. Ausgewählte Schriften, hg. Marcus Krajewski, Fabian Steinhauer, Frankfurt a.M. 2012, S. 27: „Der Name
Rom steht für Referenz.“
3 Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite (1927), Stuttgart 1980, S. 402.
4 Dante Alighieri, De vulgari eloquentia I. Über die Beredsamkeit in der Volkssprache, Lateinisch-Deutsch, übers. von Francis Chevenal, Einleitung von Ruedi
Irmbach/Irène Rosier-Catach, Kommentar von Ruedi Irmbach/Tiziana Suarez-Nani, Hamburg 2007, XVI, 6.
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die auf Rom referieren, werden in den ihnen beigestellten Kommentaren in Hinblick auf ihre implizite Struktur analysiert. Die Kommentare zielen dem zufolge auf die Struktur der Referenz, nicht auf die Referenz selbst. Eben weil wir immer schon latinisiert sind – in einer Welt
der mondialatinisation5 –, entkommen wir Rom nicht. Aber die Unentrinnbarkeit Roms macht ihre Entzifferung notwendig, denn nur so
können auch ihre nicht-institutionalisierten Dimensionen erfasst werden. Die die Referenz Rom konstituierenden Figuren der Gründung
und Übermittlung einer geregelten symbolischen Praxis produzieren
als Effekte immer auch eine Reihe von Figuren, die dem Herrschaftsanspruch nach Macht und Fortdauer entgegenstehen, diesen unterlaufen oder durchstreichen. Textdynamiken wie Affizierungen, Adressierungen, Appropriationen, Deklinationen, Latenzen, Rückläufe und
Umschriften fragmentieren und trennen, was Ideologie in den Referenzen statuiert und stabilisiert.
Die Referenz auf Rom erschließt sich dabei aus der Frage nach seiner
Übersetzbarkeit, die das römische Imperium selbst begründet hatte.
Denn die Macht Roms konstituierte sich, wie Cornelia Vismann betont
hat, durch Akte der Übertragung mittels Übersetzung. Jeder Gesandte
brachte in seiner Sprache in Rom sein Anliegen vor, das dann von Dolmetschern übersetzt wurde. Die Souveränität lag damit ganz bei demjenigen, der die Macht über die Übersetzungen hatte: „Wer übersetzen
läßt, hat die Befehlsgewalt, das imperium.“6 Es waren also die interpretes
Roms, die die Tropen und Topoi Roms verwaltet und über Verkehrswege verbreitet haben. Transportable Lettern einer römischen „poste
courante“7 waren Techniken, die nicht nur der politischen Sphäre des
Handelns, sondern auch dem hermeneutischen Reich der Interpretation angehörten. Durch eine solche Rückschreibung des Imperiums auf
den Akt des Übersetzens lässt sich die Frage nach der Referenz Rom
auch als eine Frage nach der philologischen Tätigkeit stellen. Die Auseinandersetzung mit der „Reférénce souveraine“8 zeigt, dass Rom die
5 Jacques Derrida, Foi et Savoir, suivi de Le Siècle et le Pardon, Paris 2001.
6 Cornelia Vismann, „Wort für Wort. Übersetzen und Gesetz“, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Die Sprache der Anderen, Frankfurt a.M. 1997, S. 147-165, S. 147.
7 Bernhard Siegert, „Der Untergang des römischen Reiches“, in: Hans Ulrich
Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 495-514,
S. 507.
8 Pierre Legendre, Annie Collovald, François Bastien, „Qui dit légiste, dit loi et
pouvoir. Entretien avec Pierre Legendre“, Politix 8, 32, 1995, S. 23-44, S. 33.
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EINLEITUNG
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„phantasmatische Heimat von Philologie“9 ist. Das römische Imperium
braucht nicht nur Repräsentanten, die seiner Autorität dienen, sondern
übt philologische Techniken wie Übersetzen, Auslegen, Hören, Lesen
und Interpretieren ein. Damit ist nicht nur jede Referenz eine Referenz
auf Rom, auch Interpretieren heißt in diesem Sinn immer schon, auf
der Grundlage Roms zu interpretieren.10
2. Gramma: Spaltung und Übertragung
Jedoch ist die Rom-Referenz keine einfache, sondern immer schon
eine „gespaltene“ bzw. „in sich gedoppelte“11. In jedem Akt der Referentialisierung ist darum mit dem parasitären Mittransport bzw. mit
der Wiederkehr eines Anderen zu rechnen. Wenn auf Rom referiert
wird, wenn Rom übersetzt wird, wird stets Anderes mit übertragen.
Wenn also einerseits Übersetzung und Übertragung aufgrund ihres gemeinsamen Rückbezugs auf das griechische Verb metaphoréō synonym
erscheinen, verhalten sie sich andererseits gegenläufig zueinander. Und
zwar in durchaus vergleichbarer Weise zu dem kritisch-gespannten
Verhältnis, das ROMA zu seinen vielfältigen Anagrammen unterhält.
Letztere werden freigesetzt, sobald man Roma gegen den Strich liest.
Während im Römischen Reich die Übersetzungspraxis der Verbreitung des römischen Rechts und damit der Ausweitung und Erhaltung
der politisch-juridischen Vorherrschaft Roms diente, lassen sich –
Roma rückwärts gelesen – die darin eingeschriebenen Anagramme als
latente Übertragungseffekte verstehen. Diese dienen einerseits der intendierten Übersetzung, andererseits aber stören sie, indem sie sich
selbst nicht einfach in die übersetzte Bedeutung integrieren lassen. Etwas bleibt darin stets übrig, bleibt ein Übertrag, bildet eine irreduzible
Differenz innerhalb der Bedeutung Roms. Diese bewirkt, dass Rom
nie zur Ruhe einer in sich identischen Gründungsfigur findet. Selbst
und vor allem dann nicht, wenn Rom als allgegenwärtige Referenz aufgerufen wird, entgründet sich diese (Be-)Gründungsfigur fortwährend.12
9 Vgl. Daniel Hoffman-Schwartz, „Inklination (Jacques Derrida)“ in diesem Band.
10 Vismann, Das Recht und seine Mittel, S. 25.
11 Vgl. Siegert, „Ab-Ort Rom“, S. 17 sowie Gianluca Solla, „Brudermord (Plutarch)“
in diesem Band.
12 Im Sinne der Krasis von „fondement“ (Gründung) und „effondrement“ (Zusammenbruch), die Deleuze mit seiner Wortschöpfung „effondrement“ vollzo-
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Wenn Übertragung also stets einen Übertrag impliziert, nämlich
jene Differenz, die zwischen dem Gesagten der Schrift und der Latenz
der Inschrift bleibt, die sich fortschreibt, sich aber nie zur Umschrift in
eine Bedeutung eignet, dann sitzt die Rom-Referenz letztlich einer Art
Traumlogik auf: Die Ruinen des Vergangenen fügen sich zu keinem
identitätsstiftenden Symbol, sondern erscheinen vielmehr als sperrige
Reste, als zerstückelte Signifikanten, die bis zur Unkenntlichkeit verschoben, in neuen Montagen aufscheinen.13 Insofern sich Übersetzung
und Übertragung gegenwendig zueinander verhalten, Übertragung in
Übersetzung immer schon verschlungen ist, ohne ganz in dieser aufzugehen, erweist sich Bedeutungskonstitution stets auch von unkontrollierbaren Kräften durchwirkt. Wobei letztlich unentschieden bleiben
muss, ob diese Kräfte unbewussten Affekten geschuldet sind oder aber
der kryptisch-anasemischen Eigendynamik, die den Wörtern und Signifikanten innewohnt.14 Beide agieren gleichsam unterhalb der semantischen und syntaktischen Ebene. Wenn die Buchstabenfolge R O M A
auseinandergenommen wird, um daraus beispielsweise A M O R, M O R A,
MET A M O R PHOSE, ME M O R A RE, M O R S u. a. zu montieren, dann
sind letztere nicht so sehr Bedeutungspotentiale, die Rom immer schon
mit sich befördern würde, sondern vielmehr „R O A M ING signifiers“
[herumschweifende Signifikanten], die, freigesetzt, Rom als Sinngenerator vorübergehend außer Kraft setzen.15
gen hat. Vgl. Gilles Deleuze, „Simulacre et philosophie antique“, in: ders., Logique du sens, Paris 1969, S. 292-324.
13 Vgl. Andrea Allerkamp, „Inventio (Giovanni Battista Piranesi / Charles Baudelaire)“ und „Quidproquo (Walter Benjamin)“ sowie Judith Kasper, „Verstörung (Sigmund Freud)“ und Cornelia Wild, „Anagramm (Ferdinand de Saussure)“ in diesem Band.
14 Zum Begriff der Anasemie, vgl. Jacques Derrida, „Fors“, in: Nicolas Abraham,
Maria Torok, Cryptonymie. Le verbier de l’homme aux loups, précédé de Fors par
Jacques Derrida, Paris 1976, S. 9-73, S. 11, 48f. Zu den (unbewussten) Affekten, die in den unterschiedlichen Arten der Berührung mit Rom (als Stadt,
als Kirche, als Ruinenlandschaft, als Signifikant) freigesetzt werden, vgl. Rudolf
Behrens, „Hysterisierende Urbs (Edmond und Jules Goncourt)“, John T. Hamilton, „Exzitation (Francesco Petrarca)“, Cornelia Klettke, „Verzauberung
(Madame de Staël)“ in diesem Band; zur tendenziell kryptisch-anasemischen
Eigendynamik der Sprache vgl. Cornelia Wild, „Anagramm (Ferdinand de
Saussure)“.
15 Vgl. insbesondere Uta Felten, „Karnevalisierung (Luis Buñuel)“, Judith Kasper
„Verstörung (Sigmund Freud)“, Hanna Sohns, „Mora (Ovid)“.
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EINLEITUNG
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Rom rückwärts ist der philologische Versuch, den Hiat innerhalb
der gespaltenen Referenz Rom – zwischen Institution und Traum, zwischen Übersetzung und (Affekt-)Übertragung, zwischen Grammatik
und Anagrammatik – zu analysieren. Dies kann notwendigerweise nur
punktuell, von Beispiel zu Beispiel springend, nie in systematischer
Hinsicht gelingen. Die kommentierte Anthologie erschien uns als die
geeignetste Gattung für dieses Vorhaben. Diesseits der Systematik unterliegt ihre sammelnde Logik nicht einfach der Kontingenz.16 Indem
wir in dieser Anthologie Materialien versammeln und in einer neuen
Ordnung zusammenstellen, die weder historisch noch thematisch,
sondern an Textfiguren und -dynamiken ausgerichtet ist, eröffnen sich
neue Konstellationen und Perspektiven auf das römische Erbe und auf
die Art und Weise, wie es in der europäischen Moderne und Postmoderne weiterwirkt.
Die Ruinen Roms erscheinen so betrachtet weniger als ein Erbe, das
in den ökonomischen Haushalt Europas integriert werden könnte, als
vielmehr als etwas im mehrfachen Sinne Überkommenes: als das Überlieferte; als das, was längst für tot erklärt worden ist. Wenn die Referenz
Rom so allgegenwärtig ist, dann vor allem, weil Rom ständig wiederkehrt. Anstatt jedoch eine geschichtliche und kulturelle Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu garantieren,
sucht es die Gegenwart heim als das letztlich ungelöste Selbstverständnis Europas.
3. Affekt: An Rom wenden
Der Blick zurück auf die Referenz Rom ist dabei selbst schon eine Figur, eine Trope, d.h. eine Wendung, die als Lektürebewegung dazu
dient, Rom zu adressieren. Schon bei Lucan zeigt sich jedoch, dass der
Blick zurück nicht auf Eindeutigkeiten fällt, sondern seinerseits auf
Tropen, die die Möglichkeit der Tugend Roms, seiner virtus, in Frage
stellen.17 Die Trope der Trope referiert auf die Zergliederungen im
Körper des Römischen, die Bestandteil des institutionalisierten Roms
und seiner Signifikanten sind.18 Die Trope ist somit der Ort der textu16 Vgl. Judith Kasper, Cornelia Wild, „Sammelband“, in: Unbedingte Universitäten (Hg.), Bologna-Bestiarium, Berlin 2013, S. 279-282.
17 Vgl. Michèle Lowrie, „Trope (Lucan)“ in diesem Band.
18 Vgl. insbesondere Davide Caliaro, „Scham (Paulus)“ und Robert Stockhammer, „rom-isch (Friedrich Schlegel)“ in diesem Band.
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ellen Verknüpfung der geschichtlichen und der literarischen Überlieferung, der – auch in den ideologischen Übertragungen seiner Ursprungserzählungen wie der verheerenden Anfänge, des Machtstrebens,
der Ruhmessucht und des Brudermords – beharrlich wiederkehrt.19
Die Auseinandersetzung mit Rom hat es demnach mit einer doppelten
Hypothek zu tun: dem Insistieren solcher Tropen auf der einen Seite
und der Dominanz eines einzigen wirkungsmächtigen Signifikanten
auf der anderen: einem Herrensignifikanten, der herrisch vorausgesetzte Etymologien an die Stelle der Begründung setzt.20
Diskontinuierliche und unvollständige Übertragungsprozesse stehen gegen Ursprungserzählungen und rufen eine Lektürebewegung
hervor, die nicht abschließbar ist, sondern im Gegenteil zirkulär verläuft.21 Was auf Kontinuität und Überlieferung ausgerichtet war, wird
in den hier diskutierten Texten verausgabt, überstrichen, zergliedert,
aber auf diese Weise überhaupt erst wiederholungstauglich gemacht.
Dabei erfordert die in den materiellen Abdrücken der Text- und Farbschichtungen überlagerte Schrift eine Archäologie, um das darin Verborgene freilegen und entziffern zu können.22 Solche Lektüren führen
in die „Unterwelt der Referenz Rom“23, die sich gerade nicht als ein
Ort gesicherter Macht, sondern als Ausgangspunkt für ein katastrophales und abgründiges, krisenhaftes oder als schuldhaftes Erbe erweist, wie an so unterschiedlichen Beispielen etwa Augustinus’ Civitas
Dei oder Rosselinis Viaggio in Italia deutlich wird.24
Jeder Beitrag in dieser Anthologie ist in diesem Sinn eine „detaillierte Analyse“25, die die Theorie in nächste Nähe zu ihren Gegenständen
rückt. Im Dispositiv der Macht behauptete Lückenlosigkeit und Kon19 Vgl. Gianluca Solla, „Brudermord (Plutarch)“ und Barbara Vinken, „Verkehrung (Augustinus)“ in diesem Band.
20 Vgl. Barbara Natalie Nagel, „Tautologie (Martin Luther)“ und Dagmar Stöferle, „Raum (Carl Schmitt)“ in diesem Band.
21 Vgl. Judith Frömmer, „Topos (Niccolò Macchiavelli)“, Anselm Haverkamp,
„riverrun (Quintilian, Vico, Joyce )“, Cordula Reichart, „ricorso (Giambattista
Vico)“ in diesem Band.
22 Vgl. Denise Koller, „Marmor (Cy Twombly)“, Edi Zollinger, „Monument (Joachim Du Bellay)“ in diesem Band.
23 Vgl. Hermann Doetsch, „Abdruck (Roberto Rossellini)“ in diesem Band.
24 Vgl. Andrea Allerkamp, „Quidproquo (Walter Benjamin)“.
25 Mieke Bal, „Kulturanalyse“, Frankfurt a.M. 2006, S. 17 [Herv. Verf.]. Vgl.
auch Jürgen Paul Schwindt, „Traumtext und Hypokrise. Die Philologie des
Odysseus“, in: ders., Was ist eine philologische Frage?, Frankfurt a.M. 2009,
S. 61-81, S. 68.
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EINLEITUNG
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tinuität findet in der Sammlung und Kommentierung von Texten ein
Gegenstück, bei dem weder die Bruchstellen geglättet noch die Ränder
und Säume befestigt werden. Eine solche Art und Weise des Lesens
schließt an die moderne Haltung des Melancholikers an, der die Reste
und Trümmer der Diskurse fixiert. Gerade unter diesen Voraussetzungen – wiederum einer Trope, nämlich der Trope der Melancholie, die
als Rückwendung auf die Geschichte erneut die Figur der Wendung
aufgreift – ist es jedoch möglich geworden, dass sich die (römische)
Geschichte in Zeichen verwandelt26, die im „Pathos durch Zeichen“27
die versteckten Vielfältigkeiten in der Referenz Rom entzifferbar
macht.
26 Jean Starobinski, „Melancholie und Spiegelbild. Eine Lektüre von Baudelaires
,Le cygne‘“, Merkur, 42, 1988, 751-765.
27 Friedrich Nietzsche, „Götzendämmerung“, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische
Studienausgabe, hg. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 8,
S. 304, zitiert nach Michael Auer, „Stilwille (Friedrich Nietzsche)“ in diesem
Band.
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GIANLUCA SOLLA
Brudermord (Plutarch)
Kaum hatten sie den Entschluß gefaßt, eine Stadt zu erbauen, als
sie schon des Platzes wegen miteinander in Streit gerieten. Romulus legte das sogenannte viereckige Rom an und wollte an diesem
Orte die Stadt erbauen; Remus hingegen bestimmte dazu einen
festen Platz auf dem aventinischen Berge, der von ihm Remonium
genannt wurde, jetzt aber Rignarium heißt. Sie wurden einig, diesen Streit den Vögeln zur Entscheidung zu überlassen, und als sie
sich zu diesem Zweck an zwei verschiedene Plätze gesetzt hatten,
sollen dem Remus sechs, dem Romulus aber noch einmal so viele
Geier erschienen sein. Einigen zufolge hat Remus die Geier wirklich gesehen, Romulus aber es erlogen, und die zwölf Geier erst
gesehen, als Remus schon wieder zu ihm gekommen war. Daher
pflegen die Römer noch jetzt bei ihren Augurien besonders auf
die Geier achtzugeben. Herodoros, der Pontiker, sagt, auch Herakles habe sich immer gefreut, wenn ihm bei einer Unternehmung
ein Geier erschienen wäre. Der Geier ist nämlich das unschädlichste Tier, das dem Menschen an der Saat, den Pflanzen und
dem Vieh nicht den geringsten Schaden anrichtet. Er nährt sich
bloß von toten Körpern und tötet oder verletzt nichts, was Leben
hat, ja er berührt nicht einmal tote Vögel, weil er mit ihnen verwandt ist. Adler, Eulen und Habichte hingegen stoßen auch auf
Tiere ihrer Art und töten sie.1
1. Bei Plutarch erscheint Rom von Anfang an als Ort der Zweiheit, der
Dopplung. Diese Tatsache ist nicht nur der literarischen Form der
parallel angelegten Lebensbeschreibungen zu verdanken. Denn hier
verdoppelt sich die Parallelstruktur des Werkes nochmals: Das biographische Paarprinzip führt dazu, Romulus mit seinem griechischen Homolog, Theseus, zu vergleichen, aber die Verdoppelung ist auch hier in
der Gestalt des Zwillings Remus präsent. Plutarch stellt also Rom von
1 Plutarch, Vitae parallelae. Lebensbeschreibungen Gesamtausgabe in sechs Bänden.
Übersetzung von Johann Friedrich Kaltwasser, bearbeitet von Hanns Floerke,
München 1964, Bd. I, S. 71, 9,4-6.
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Anfang an als Frage der Trennung vor. Als Ergebnis eines Streites zwischen Brüdern kann Rom nicht im Sinne einer harmonischen Symmetrie verstanden werden. Der Streit um die Grenzen des „quadratischen
Roms“ (9,4), die von Romulus gezogen worden sind, wird durch eine
Wette eingeleitet: Welcher der beiden Brüder wird mehr Geier am
Himmel sehen, „das harmloseste aller Tiere, das weder die Felder noch
die Weiden beschädigt, […] sich einzig von toten Körpern [ernährt],
ohne Lebewesen zu töten oder zu schädigen“ (9,6, Herv. G.L.S.)?
Wenn der Flug der Geier die Himmelslinien zeichnet, die analog zu
den heiligen Grenzen der neuen Stadt sind, dann ist die Präsenz der
Geier eine Antizipation: Antizipiert wird nämlich die Leiche, ja die
Tötung des Bruders, die – wie auch das römische Recht später anerkennen wird – eine Variante des parricidium, des Vatermords darstellt.
Diese Tötung wird in Plutarchs legendenbildender Erzählung als Strafe für die Missachtung der Grenzen dargestellt. Die Szene lässt sich
aber erst in Bezug darauf verstehen, was hier auf dem Spiel steht: die
Vaterfunktion. Denn die Missachtung der Grenzen bedeutet die Missachtung der Autorität: Welcher der beiden Brüder darf Vater der Stadt
sein? Die monogame Legitimation der Alleinherrschaft des Romulus
bildet den Grund – die Erde – für die fruchtbare Zukunft des Römischen Reichs, das Plutarchs Gegenwart darstellte. Wenn die beiden
Männer gegeneinander kämpfen, so kämpfen sie um die Erde als Mutter, d.h. sie kämpfen um die Genealogie und damit um das Leben
selbst. Um die Reinheit der Genealogie zu garantieren, muss die Erde
stets als monogam vorgestellt werden, sprich: sie darf nur von einem
geschwängert werden. Die Staats-Vaterschaft wird exklusiv gedacht
und konsequent also solche dargestellt. Erst aus ihrem ausschließlichen
Anspruch wird sich später auch jener irdische Rechtskosmos verschiedener staatstragender Figuren wie der Patrizier, der Patronus oder auch
die Senatoren als patres conscripti entwickeln, die alle ihren Ursprung
in der Ausübung dieser einmaligen Vaterschaft haben, die Romulus
durch die Beseitigung der brüderlichen Ambition für sich, d.h. für die
Stadt Rom erwirbt (vgl. 13,1-9).
An dieser legendären Staatsbildung sind zwei Aspekte besonders bezeichnend. Erstens, dass die Römer den Geburtstag der Stadt (der später als „Natale di Roma“ vom italienischen Faschismus wieder inszeniert wurde) feierten und dass an diesem Tag jegliches Blutvergießen
vermieden werden musste, um „die Reinheit des Festtags aufzubewahren“ (12,1). Das Blutstabu erscheint hier an der blutigsten Stelle: nämlich anstelle des Brudermordes, der in nuce die Figur des bellum civile
als Grundfigur der Einheit des Staates enthält.
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Der zweite Aspekt betrifft den Tod von Romulus, der plötzlich verschwand, ohne dass seine Leiche je gefunden worden ist. Ein Tod ohne
Leiche bedeutet jedoch einen Mord ohne Beweis. Einer der vielen Versionen zufolge, über die Plutarch berichtet, hat das stets unruhige Volk
die Patrizier des Königsmordes beschuldigt, da letztere die Suche nach
dem toten Romulus zu unterbinden versucht hatten (vgl. 27,9). Man
vermutet in Romulus’ Tod ein Attentat gegen den Staat, aber auch einen Vatermord. Anstelle einer Beerdigung wurde schließlich ein Romulus-Kultus eingerichtet. Damit wurde Romulus ausgerechnet von
denen heilig gesprochen, die ihn vermutlich getötet hatten und seine
Vaterposition anstrebten. Das Monument, das die körperliche Präsenz
des Romulus ersetzt und sie in gewisser Weise in Vergessenheit geraten
lassen soll, intendiert also die Heiligsprechung der Stadt Rom durch
den Kult ihres Begründers und Vaters.
2. Wenn das Begräbnis, das ein archaisches Mittel der Übertragung
zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist, wegfällt, muss etwas anderes als Grab fungieren. In der Geschichte Roms, wie Plutarch sie
darstellt, übernimmt diese Aufgabe – so meine Hypothese – jene große, geschichtsträchtige Erfindung des römischen Rechtes. Dieses
Rechtswerk ist untrennbar mit der literarischen Darstellung der Geschichte verbunden, deren Vater Plutarch ist. Bezeichnend in dieser
Erzählung ist, dass Romulus’ Gesetzgebung jegliches Blutverbrechen
parricidium nennt. Dies heißt, dass in jedem Mord – auch im Brudermord, d.h. dem Versuch, eine andere genealogische Linie innerhalb
der gleichen Familie zu verhindern – ein Vatermord impliziert ist.
Gleichzeitig entspringt die Macht des Gesetzes selbst aus der kruden
Gewalt des Mordes: Gesetzgeber und Mörder sind dieselbe Person.
Selbst wenn das Gesetz verspricht, die Gewalt einer juristischen Vernunft zu unterwerfen, ernährt sich das Recht immer noch durch die
Quelle der Gewalt. Wenn Rom seine Gründung durch den Mord an
Remus erfährt, erlebt es eine zweite, zivile Gründung, und zwar in der
Festlegung der Gesetze durch Romulus. Dass aber diese Grenzsetzung
auch eines Mordes bedarf, um als unverletzliches Gesetz statuiert zu
werden, bedeutet, dass das Rechtliche im Sinne der Reduzierung der
Zweiheit auf eine Einheit arbeitet. Darin erscheint dieser Mord, so
entsetzlich er sein mag, als eine Art vorjuridischer Akt, als eine vorjuridische Szene des Juridischen.
Souveränität und Leiche hängen in dieser Szene zusammen. Das
lateinische Wort für die irdischen Überreste eines Leibes heißt spolia.
Doch selbst wenn die Leiche spolia genannt werden kann, ist spolia
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stets mehr als eine bloße Leiche. Das lateinische Wort setzt eine Transformation voraus, die durch Ehrung geschehen kann, wie im Falle von
Romulus, oder auch durch die Einrahmung der Leiche in einen kulturellen, ja symbolischen Kontext. Transformation und Transmission gehören hier zusammen, so dass ohne die Transformation der Leiche in
spolia keine Übertragung möglich ist. Der Kultus einer verschwundenen Leiche hat die Kraft, den fehlenden Körper (von Romulus) zu ersetzen, ja den Körper als an sich fehlenden in Vergessenheit geraten zu
lassen. Auf diese Weise wird versucht, die zeitliche Diskontinuität, die
in den menschlichen Körper als dessen Vergänglichkeit eingetragen ist,
zu überdecken. So stellt die Leiche – bzw. ihr Kultus – die Antwort auf
die Vaterfrage dar, die niemals nur eine Frage nach dem Vater, sondern
vor allem eine Frage nach der genealogischen Übertragung ist.
3. Plutarchs Erzählung lebt von der Vielfalt der Geschichten, die er
über jede einzelne Episode, über jeden Vorfall der römischen Tradition, zu sammeln versucht. Aus ihrer wesentlichen Mehrstimmigkeit,
die Plutarch nicht zu reduzieren wagt, wird diese Geschichte zu einer
Art Roman von Rom. Plutarch ist somit an zwei Diskursen beteiligt,
die aber paradoxerweise einer sind: Der eine spricht mythisch von der
Begründung Roms und wird durch das monogame Einheitsprinzip regiert; der andere ist ein literarischer Diskurs, in dem die Mehrstimmigkeit der Versionen sich nicht reduzieren lässt, sondern im Gegenteil
reproduziert wird. Rom entsteht gleichsam aus diesem ‚Roman‘, der
den monolithischen Charakter eines Machtdiskurses unterminiert.
Auf der einen Seite vermag es der mythische Diskurs, der bloßen Materialität der Stadtmauern von Rom eine andere Kraft zu verleihen.
Denn diese Stadtmauern sind heilig einzig dank und kraft dieser Erzählung, deren poetischer Charakter wesentlicher Bestandteil der göttlichen Herkunft Roms ist, wie Plutarch betont (vgl. 8,9). Auf der anderen Seite wird der weltbedeutende Ruf von Rom allein von einer an
sich problematischen Erzählung hervorgebracht. Denn der ‚Roman‘
von Rom wird in eine ganze Reihe widersprüchlicher Versionen aufgespaltet. Plutarch bemüht sich nicht, die wahre unter den vielen Versionen festzustellen, sondern er bestätigt maximal „die vertrauenswürdigste“ (Plutarch, 3,1), ohne alle anderen, so phantastisch sie auch sein
mögen, aus dem Corpus der Biographien auszuschließen. Und selbst
diese „vertrauenswürdigste“ Version ist nicht ohne „Varianten“, also
nicht ohne Unsicherheit (vgl. 3,1). Dies wird besonders evident in der
parataktischen Verwendung des Artikels „oi“ (maskulin, Plural), der
mit „die einen … die anderen“ übersetzt wird, meist ohne namentliche
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Nennung der intendierten Quellen oder Autoren. Alle sind aber gewissermaßen poetische Spuren der himmlischen tychè, die den Staat Rom
von der Gründung bis zu seiner Weltmacht zu „etwas Großem und
Wunderbarem [paradoxon]“ geführt hatte (8,9).
Bezeichnend ist auch, dass Plutarch auf der Suche nach den historischen Ursprüngen der Welthauptstadt gleich auf den „großen Namen
von Rom“ (1,1) stößt. Dadurch kommt eine endlose Vieldeutigkeit ins
Spiel, die die Erzählung fast von selbst leitet. Auch die Mehrsprachigkeit hat hier ihren entscheidenden Platz, denn in ‚Rom‘ klingen sowohl
das griechische rhome (Kraft) als auch das lateinische ruma (Brust, Zitze) an. Der erste Signifikant betrifft die Stärke der Pelasgier, die sich in
der Gegend angesiedelt hatten; der zweite die legendäre Ernährung der
zwei Zwillinge durch die Wölfin, die hier unbestimmt als ein wildes
Tier [therion] bezeichnet wird (6,2). Aber die von Plutarch gesammelten Versionen dieser im Dunkel liegenden Anfänge der künftigen Größe Roms sprechen auch von einer Frau, genauer, von mehreren Frauen,
die alle Rom hießen und von denen sich der Name der Stadt hergeleitet hätte (vgl. 6,1-2). Sobald nicht nur Männer im Spiel sind, die, sich
gegenseitig tötend, aufeinander zugehen, kommt die Geschichte zumindest auf der Ebene der Darstellung ins Schwanken. Dass Frauen
für die Unmöglichkeit stehen, einer Geschichte Eindeutigkeit zu verleihen, zeigt am besten der Fall der Wölfin. Denn das Lateinische –
schreibt Plutarch auf Griechisch – nennt „Wölfinnen“ „sowohl die
Weiber des Wolfes als auch die Frauen, die sich prostituieren“ (4,4).
Hier bietet die „Ambivalenz“ [amphibolia] des Namens die Chance,
die Geschichte ins Legendäre zu wenden (4,3). Selbst die Hure, die
kaschiert unter dem Bild des legendären Tieres erscheint, zeigt die
Kraft der mythologischen Maschine, die Roms Ruf erzeugt. Diese Maschine ist eine besondere, sie produziert Geschichte (und reproduziert
sie keineswegs nur). Sie allein ist in der Lage, sogar die eingangs zitierte so schicksalsträchtige Lüge des Patriarchs Romulus bei der Zählung
der Geier als Teil ihrer großen Erzählung zu integrieren und somit als
Zeichen einer großen Zukunft, die hinter ihr liegt, zu statuieren.
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