Die Türkei ist meine Heimat, Frankfurt mein Zuhause

Heißer Draht_Caritas_2016 03.12.15 Anzeige
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Begegnung der Kulturen
Heißer Draht
„Die Türkei ist meine Heimat,
Frankfurt mein Zuhause“
für Pflegende Angehörige
Erschöpfung – Sorgen – Fragen zur Pflege?
Wir hören zu und geben Orientierung!
Şinasi Dikmen bläst frischen Wind in die bundesrepublikanische
Kleinkunstszene
2|2016 Senioren Zeitschrift
Mo.– Fr. 9–17 Uhr
Mi. bis 19 Uhr
Di 15–18 Uhr auch
und selbst als KÄS-Chef noch den
Großteil des Jahres zwischen Helsinki und Ankara pendelnd, hatte Şinasi Dikmen vom Nomadenleben die
Nase voll. Auf Tournee zu gehen heiße schließlich, jeden Abend in einer
anderen Stadt auf einer anderen
Bühne zu stehen, sich auf ein anderes Publikum einzustellen, ein paar
maßgeschneiderte Scherze in das
zweieinhalbstündige Programm einzubauen und hinterher mit Gastgebern und Besuchern in der Kneipe zu
hocken. Früher habe er das alles
in türkischer Sprache
Foto: Oeser
Foto: Petra Welzel
U
m Künstlerkarrieren kümmert
sich der Bundestag eher selten.
Şinasi Dikmen jedoch haben
die Abgeordneten den Durchbruch
beschert. Ihre Zustimmung zum Nato-Doppelbeschluss bereitete nämlich
der Geburt eines neuen Sterns am Kabaretthimmel den Weg. 1983 erstmals
im Fernsehen zu Gast, schlugen Şinasi Dikmens Fußnoten zur Stationierung neuer Waffensysteme ein wie
eine Pershing II. Dieter Hildebrandt
wusste, warum er damals einen unbekannten Krankenpfleger aus Ulm
in den „Scheibenwischer“ holte. Şinasi Dikmen konnte geistreich-philosophisch über die Befindlichkeiten seiner Geburtslands- und Wahllandsleute sinnieren und subtile, bisweilen
auch gallige Spitzen gegen Gott und
die Welt und insbesondere die Politik
verteilen. Comedy war nie sein Fall.
Bei seinem zweiten Auftritt in der legendären Sendung waren die beruflichen Weichen bereits umgestellt. Statt
weiterhin leidende Schwaben zu betreuen, brachte Şinasi Dikmen fortan
frischen Wind in die bundesrepublikanische Kleinkunstszene. Dort war
er der erste Türke überhaupt und der
Erste, der 1986 ein Kabarettduo gegründet und 1997 eine eigene Spielstätte eröffnet hat.
Das „Kabarett Änderungsschneiderei (KÄS)“ ist in Frankfurt seit fast
20 Jahren eine etablierte Adresse. In
der KÄS reichte und reicht sich die
Klinke, was im deutschsprachigen
Kabarett Rang und Namen hat. Nur
der Hausherr ist seit fünf Jahren absent, denn auch beim Aufhören war
Şinasi Dikmen Pionier. Er kennt in
dem Genre jedenfalls niemanden,
der sich mit Erreichen des Renteneintrittsalters verabschiedet hat. Als
Einzelkämpfer gestartet, dann elf
Jahre lang mit Mukin Omurca als
Knobi-Bonbon-Kabarett unterwegs
069 – 955 24 911– auch anonym
ihm die 71 angehäuften Lebensjahre
zu glauben. Die scheinen ihm weder
körperlich noch geistig etwas anzuhaben. Wenn er das Gesicht zu dem
typischen Dikmen-Lächeln verzieht,
kommt noch immer der schelmische
Lausbube durch. Nach seinem Jungbrunnen gefragt, verweist Şinasi
Dikmen auf eine Leidenschaft, der er
seit vielen Jahren frönt. „Ich gehe
täglich mindestens zwei Stunden
lang zu Fuß.“ Vom leiblichen Benefit
mal ganz abgesehen, brauche er die
Bewegung an der frischen Luft, um
seine Ideen für Texte zu entwickeln.
Am Schreibtisch fixiere er sie dann
lediglich auf Papier.
Kennt keine Langeweile
Şinasi Dikmen
gern und mit Begeisterung gemacht.
„Inzwischen fehlt mir dafür die
Kraft“, gibt Şinasi Dikmen zu und ist
froh, auch in finanzieller Hinsicht
nicht mehr dazu gezwungen zu sein.
Gerade in den ersten Jahren hätte er
ohne die Auftritte in anderen Städten
die KÄS gar nicht halten können.
Jungbrunnen: Bewegung
Wie sehr Şinasi Dikmen die Frankfurter Theaterlandschaft bereichert
hat, rückte spätestens der frühere
Kulturdezernent Hilmar Hoffmann
in den Blick. In seiner Laudatio zur
Skyline-Preisverleihung 2003 stellte
er den KÄS-Gründer in die Tradition
eines Werner Fink. Während seiner
kabarettistischen Laufbahn wurde
Şinasi Dikmen noch mit fünf weiteren
Preisen bedacht, und wenn man ihm
heute gegenübersitzt, fällt es schwer,
An diesem Arbeitsprozedere änderte
der offizielle Rentenanstaltsbescheid
nichts. Er diente Şinasi Dikmen nur
als willkommener Grund, sich von
der Bühne zurückzuziehen. „Seither
versuche ich vergeblich mich zu
langweilen“, versichert er und zählt
auf, was ein im Ruhestand befindlicher Kabarettist so alles treibt. Er
habe jetzt mehr Zeit fürs Bücherschreiben – gegenwärtig sitzt er an
seinem fünften Werk –, verkaufe
abends in der KÄS Eintrittskarten
und Getränke und fungiere als Gesellschafter der Anfang des Jahres
gegründeten KÄS-gGmbH. Zu diesem Schritt hatte ihn sein Lokalpatriotismus gedrängt: „Das Kabarett Änderungsschneiderei soll für die ganze Stadtgesellschaft sein.“ Nichtsdestotrotz spürt Şinasi Dikmen in
seiner Brust noch immer zwei Herzen
schlagen. „Die Türkei ist meine Heimat, Frankfurt mein Zuhause.“
Doris Stickler
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