- Juristische Fakultät Uni Basel

mit freundlicher Genehmigung der Stämpfli Verlag AG
Zeitschrift
des Bernischen
Juristenvereins
Revue
de la société
des juristes
bernois
151. Jahrgang
Erscheint
jeden Monat
Juli/August
2015
7/8 2015
www.zbjv.ch
Organ für schweizerische
Rechtspflege
und Gesetzgebung
Redaktoren
Prof. Dr. Jörg Schmid
Prof. Dr. Sibylle Hofer
Stämpfli Verlag
Stämpfli
Verlag AG
Bern
ZBJV · Band 151 · 2015
Inhaltsverzeichnis
Abhandlungen
545
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht:
Konvergenz/Divergenz
Von Prof. Dr. Corinne Widmer Lüchinger, Basel/Cambridge
582
Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2014
Personenrecht und Erbrecht
Von Prof. Dr. Regina E. Aebi­Müller, Luzern
Aktuell aus dem Bundesgericht
592
Ergänzungsleistungen zur AHV/IV: interkantonale Zuständigkeit
für die Festsetzung und die Auszahlung bei Heimbewohnern
Von Marcel Attinger, Zürich
595
Schüler mit Schreibstörung darf Aufnahmeprüfung am Computer
schreiben
Von lic. iur. Christian Winiger, Olten/Lausanne
599
Zu Recht verweigerte Rechtsöffnung im Fall eines ausländischen,
auf öffentlichem Recht beruhenden Entscheids
Von Dr. Martin Kocher, Studen BE
Rechtsprechung
605
Aus der Rechtsprechung des Handelsgerichts des Kantons Bern
Von Roland Sarbach, Bern, und Michael Kündig, Bern
613
Aus der Rechtsprechung des Luzerner Kantonsgerichts
Von Louis Iseli, Luzern
I
II
ZBJV · Band 151 · 2015
Impressum
Herausgeber
Stämpfli Verlag AG, Wölflistrasse 1, Postfach 5662, 3001 Bern
Tel. 031 300 63 12, Fax 031 300 66 88
E­Mail [email protected], Internet www.staempfli.com
Verantwortliche Redaktoren
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Redaktionelle Mitarbeiter:
Prof. Dr. Regina Aebi­Müller, Luzern; Dr. Bernhard Berger, Bern; Prof. Dr.
Felix Bommer, Luzern; Kantonsrichter Rolf Brunner, St. Gallen; Oberrichter Dr.
Ruedi Bürgi, Aarau; Prof. Dr. Thomas Gächter, Zürich; Prof. Dr. Heinz Hausheer,
Bern; Prof. Dr. Bettina Hürlimann­Kaup, Freiburg; Prof. Dr. Marc M. Hürzeler,
Basel; Kantonsgerichtsschreiber Louis Iseli, Luzern; Prof. Dr. Manuel Jaun, Bern;
Bundesgerichtsschreiber Dr. Martin Kocher, Studen BE; Prof. Dr. Thomas Koller,
Bern; Prof. Dr. Jörg Künzli, Bern; Prof. Dr. Peter V. Kunz, Bern; Prof. Dr. Christoph
Leuenberger, St. Gallen; Prof. Dr. Andreas Lienhard, Bern; Kantonsgerichtsschrei­
berin Ines Meier, Luzern; Prof. Dr. Markus Müller, Bern; Prof. Dr. Peter Popp, Zug/
Bern; Prof. Dr. Wolfgang Portmann, Zürich; Dr. iur. Theres Oertli Schmid, Zürich;
Kantonsrichter Dr. Lionel Seeberger, Sitten; Prof. Dr. Pierre Tschannen, Bern; Prof.
Dr. Axel Tschentscher, Bern; Dr. Fridolin Walther, Bern; Prof. Dr. Stephan Wolf,
Bern/Thun; Prof. Dr. Judith Wyttenbach, Bern.
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ZBJV · Band 151 · 2015
Schweizerisches und US-amerikanisches
Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
unter Berücksichtigung der Arzthaftung und
der Haftung für Asbestschäden
Von Prof. Dr. Corinne Widmer Lüchinger, Basel/Cambridge*
I.
Einleitung
Vor wenigen Jahren erregte ein amerikanisches Gerichtsverfah­
ren die Aufmerksamkeit der Presse. Die Betreiber einer Kleiderreini­
gung in Washington DC hatten die Anzugshose eines Mannes verlegt
und fanden sie erst nach einigen Tagen wieder. Der erboste Kunde,
von Beruf Verwaltungsrichter, behauptete, es handle sich nicht um die
gleiche Hose, die er abgegeben hatte.1 Als die Betreiber, eine korea­
nische Familie, dies bestritten und sich weigerten, ihm Ersatz zu
leisten, verklagte er sie auf 67 Millionen Dollar.2 Zur Begründung
brachte er vor, die Beklagten hätten im Ladenlokal mit der Aufschrift
«satisfaction guaranteed» sowie «same day service» geworben.3 Dies
* Überarbeitete und ergänzte Fassung der von der Autorin am 17. 10. 2012 in
Basel gehaltenen Antrittsvorlesung.
1 Siehe die ausführliche Sachverhaltsdarstellung in Pearson v. Chung, Urt.
Nr. 05 CA 4302 B vom 25. 6. 2007 (Superior Court of the District of Columbia, Civil
Division), abrufbar unter <http://online.wsj.com/public/resources/documents/pear­
sonjudgment.pdf> (26. 2. 2015). Es hatte sich um die Hose eines Nadelstreifenanzugs
im Wert von rund 1200 Dollar gehandelt: a. a. O., 10.
2 Siehe Pearson v. Chung (Fn. 1), 2. Presseberichten zufolge soll die Klage
nachträglich auf 54 Millionen Dollar reduziert worden sein; siehe z. B. The Wall Street
Journal vom 18. 6. 2007, abrufbar unter <http://online.wsj.com/articles/SB118212479
726338524> (26. 2. 2015).
3 Zur Begründung brachte der Kläger vor, dass «if a customer brings in an item
of clothing to be dry cleaned, and the dry cleaner remembers the item, and the cus­
tomer then claims that the item is not his when the dry cleaner presents it back to the
customer after it has been cleaned, the dry cleaner must pay the customer whatever
the customer claims the item is worth if there is a ‹Satisfaction Guaranteed› sign in
the store, even if the dry cleaner knows the customer is mistaken or lying»: siehe
Pearson v. Chung, Urt. Nr. 07­CV­872 vom 18. 12. 2008 (District of Columbia Court
of Appeals), 13 f. Das Urteil ist abrufbar unter <http://legaltimes.typepad.com/files/
pants­decision.pdf> (26. 2. 2015).
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Corinne Widmer Lüchinger
ZBJV · Band 151 · 2015
sei eine absichtliche Täuschung der Kundschaft gewesen, denn er
selber habe weder am gleichen Tag seine Hose zurückerhalten, noch
sei er mit den Leistungen des Betriebes zufrieden.4
Die Forderung des Mannes setzte sich einerseits aus einer Ge­
nugtuungssumme zur Abgeltung der erlittenen «discomfort, inconve­
nience and mental distress», d. h. der Unannehmlichkeiten und des
seelischen Leids, die der Kläger durch den vermeintlichen Verlust
seiner Hose erlitten hatte.5 Der Hauptteil der eingeklagten Summe
bestand jedoch aus einer Forderung auf «punitive damages», also
Strafschadenersatz. «Punitive damages» gelten als charakteristisches
Merkmal des amerikanischen Haftpflichtrechts.6 Dem schweizeri­
schen Privatrecht sind sie fremd, sieht man von der arbeitsrechtlichen
Pönale7 gemäss Art. 336a und Art. 337c Abs. 3 OR ab.
Um es vorwegzunehmen: Die Klage des unzufriedenen Kunden
scheiterte vor zwei Instanzen.8 Für die Beklagten hatte das Verfahren
dennoch weitreichende Konsequenzen. Während dreier Jahre waren
sie in Gerichtsverfahren involviert und mussten ausserdem dem Rechts­
anwalt, der sie vor Gericht vertreten hatte, rund 100 000 Dollar bezah­
len.9 Anders als in der Schweiz erhalten Beklagte im amerikanischen
Zivilprozess grundsätzlich keine Parteientschädigung, auch wenn die
Klage vollumfänglich abgewiesen wird.10 Einen Anwalt konnten sich
die Beklagten nur deshalb leisten, weil zwei Vereinigungen, die sich
seit Jahren für eine Reform des amerikanischen Haftpflichtrechts stark­
machen, eine öffentliche Sammelaktion für sie durchführten.11
4 Pearson v. Chung (Fn. 3), 11 ff.,18.
5 Vgl. The Washington Post vom 14. 6. 2007, abrufbar unter <www.washington­
post.com/wp­dyn/content/article/2007/06/13/AR2007061302033.html> (26. 2. 2015).
6 Dazu unten sub II.2.
7 Siehe dazu etwa Frank Vischer/Roland M. Müller, Der Arbeitsvertrag,
4. Aufl., Basel 2014, 332, 352.
8 Zu den betreffenden Entscheiden siehe oben Fn. 1 und 3.
9 Vgl. The Washington Post vom 26. 6. 2007, abrufbar unter <www.washington­
post.com/wp­dyn/content/article/2007/06/25/AR2007062500443.html> (26. 2. 2015).
10 Dazu unten sub II.4.
11 Es handelte sich um die American Tort Reform Association (ATRA) und das
Institute for Legal Reform der US Chamber of Commerce; vgl. <www.atra.org/news­
room/atra­condemns­multimillion­dollar­pantsuit­outrageous­manipulation­dcs­
consumer­protection> (26. 2. 2015); vgl. auch Otto Sandrock, The Choice Between
Forum Selection, Mediation and Arbitration Clauses: European Perspectives, 20
American Review of International Arbitration 8, 17, Fn. 45 (2009).
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
Fälle wie dieser, der in den Annalen der amerikanischen Presse
als «The Great American Pants Suit»12 einging, sind einer der Haupt­
gründe für die Mischung aus Faszination und Widerwillen, die das
europäische Rechtsempfinden beim Blick auf das amerikanische Haft­
pflichtrecht kennzeichnet. Doch auch in den USA selber wird seit den
70er­Jahren13 eine kontroverse Diskussion um das Haftpflichtrecht
geführt. Kritische Stimmen sprechen von einem Klagefieber, das das
amerikanische Volk befallen habe. Dieses Fieber habe zu einer «liti­
gation explosion», also einer explosionsartigen Zunahme der Gerichts­
verfahren, geführt.14 Die Kritik hat politischen Widerhall gefunden,
der sich in mehr oder weniger weitgehenden Reformen niederschlägt.15
Solche Reformen werden primär in den Gliedstaaten umgesetzt, denn
das Haftpflichtrecht (wie das Privatrecht generell) fällt in ihre Zustän­
digkeit. Allerdings ist es in den letzten Jahren auch auf Bundesebene
zu verschiedenen Vorstössen gekommen, die sich mit Fragen der «tort
reform» beschäftigen, wenn auch bislang ohne Erfolg.16
Mit dem Haftpflichtrecht beschäftigen sich aber nicht nur Wis­
senschaft und Politik, sondern auch die amerikanische Öffentlichkeit.
Dieses Interesse ist zunächst auf die Medien zurückzuführen, die mit
Vorliebe über spektakuläre Gerichtsverfahren berichten, in denen
millionenhohe Geldsummen zugesprochen werden.17 Das amerikani­
sche Haftpflichtrecht hat jedoch nicht bloss Unterhaltungswert, son­
12 Vgl. The Wall Street Journal vom 18. 6. 2007 (oben Fn. 2).
13 Vgl. David G. Owen, A Punitive Damages Overview: Functions, Problems
and Reform, 39 Villanova Law Review 363, 371 (1994).
14 Siehe insbesondere Walter K. Olson, The Litigation Explosion: What Hap­
pened When America Unleashed the Lawsuit, New York 1991; vgl. auch Eric Hel­
land/Alexander Tabarrok, Judge and Jury: American Tort Law on Trial, Oakland
2006, 2 ff., unter Bezugnahme auf Datenerhebungen von Tillinghast­Towers Perrin
(heute: Towers Watson), des Administrative Office of the US Courts und der RAND
Corporation; vgl. ferner die Website der American Tort Reform Association (ATRA),
<www.atra.org/about> (26. 2. 2015). Kritische Stimmen wenden allerdings ein, dass
es für die behauptete «litigation crisis» keine verlässlichen empirischen Belege gebe:
vgl. ausführlich William Haltom/Michael McCann, Distorting the Law: Politics,
Media and the Litigation Crisis, Chicago 2004, 72 ff.; Arthur R. Miller, The
Pretrial Rush to Judgment: Are the «Litigation Explosion», «Liability Crisis», and
Efficiency Cliches Eroding Our Day in Court and Jury Trial Commitments?, 78 New
York University Law Review 982, 996 (2003).
15 Vgl. unten sub III.
16 Siehe etwa zum HEALTH­Act­Vorstoss unten sub III.2.
17 Siehe allg. Haltom/McCann (Fn. 14), 147 ff.
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Corinne Widmer Lüchinger
ZBJV · Band 151 · 2015
dern spürbare Auswirkungen. Das lässt sich an zwei Bereichen auf­
zeigen, die seit vielen Jahren im Fokus der Debatte stehen. Es geht
einerseits um die Haftung der Ärzte für medizinische Behandlungs­
fehler, die sogenannte «medical malpractice», und andererseits um die
Haftung für Asbestschäden. Beide Bereiche sind auch für die Schweiz
von Interesse, und zwar deshalb, weil sich die Angst vor «amerikani­
schen Verhältnissen» gerade hier besonders stark äussert. Dies wurde
bei der Beratung des Medizinalberufegesetzes18 ebenso deutlich wie
in der politischen Diskussion über die Verjährung bei Spätschäden.19
Mit dem Schlagwort der «Amerikanisierung» wird das Schreckge­
spenst exorbitanter Klagen, mutwilliger Gerichtsverfahren, einer zu­
nehmenden Klagewut und desaströser ökonomischer Konsequenzen
an die Wand gemalt. Zumindest im Zusammenhang mit Asbestschä­
den mutet diese Furcht allerdings seltsam an. Der Entscheid des Bun­
desgerichts aus dem Jahre 2010,20 wonach eine Forderung gegen einen
Arbeitgeber auf Ersatz des asbestbedingten Schadens verjähren kann,
bevor sie überhaupt entstanden ist, deutet jedenfalls alles andere als
auf eine «Amerikanisierung» hin. Gleiches gilt für die Vorlage zur
Verjährungsreform.21
Eine Annäherung an das amerikanische Recht – oder zumindest
eine vertiefte Auseinandersetzung damit – könnte jedoch durchaus
auch positive Folgen zeitigen. So hat das Verjährungsproblem bei
Spätschäden die amerikanische Praxis schon vor Jahrzehnten beschäf­
tigt. Ihre Lösungsansätze sind auch für die Schweiz interessant. Hier
fragt sich, etwas provokativ ausgedrückt, ob das schweizerische Haft­
pflichtrecht von einer «Amerikanisierung» profitieren könnte. Die
mögliche Konvergenz des amerikanischen und schweizerischen Haft­
pflichtrechts kann man demnach nicht nur als Bedrohung, sondern
auch als prüfenswerte Option verstehen. Ob eine solche Annäherung
droht, ob sie wünschenswert oder gar schon eingetreten ist, lässt sich
18 Siehe die Debatte im Nationalrat vom 4. 10. 2005, AB­N 2005, 1359 (Voten
Dunant und Guisan); Bericht des BAG zuhanden der SGK­S, Auftrag SGK­N vom
28. 4. 2005, Abklärungen zum Obligatorium der Berufshaftpflichtversicherung/Berufs­
haftpflicht, 2 ff., abrufbar unter <www.bag.admin.ch/themen/berufe/00993/01238/01268/
index.html> (26. 2. 2015).
19 Siehe die Debatte im Nationalrat vom 25. 9. 2014, AB­N 2014, 1768, 1777
(Voten Stamm).
20 BGE 137 III 16 ff.; vgl. dazu unten sub IV.2.1.
21 Vgl. unten sub IV.2.1.
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
jedoch erst beurteilen, wenn man die Eigenheiten des jeweiligen
Rechts versteht. Daher werden nachfolgend zuerst die Charakteristika
des amerikanischen Rechts aufgezeigt, bevor auf die Frage der Kon­
vergenz und Divergenz eingegangen wird.
II.
Charakteristika des amerikanischen Haftpflichtrechts
1.
Ausgangspunkt
Das amerikanische Recht ruft bei kontinentaleuropäischen Ju­
risten häufig bestimmte Assoziationen hervor. Zu nennen sind insbe­
sondere (1) exorbitante Schadenersatzsummen, (2) Sammelklagen
(«class actions»), (3) das System des Geschworenengerichts («jury
trial»), (4) das Erfolgshonorar des Anwalts («contingent fees») und
schliesslich (5) abstruse Haftungsfälle. Gerne wird zur Illustration der
berüchtigte Fall des nassen Pudels genannt, der zum Trocknen in die
Mikrowelle gesteckt worden sein soll, mit fatalen Folgen für den Pu­
del, aber mit äusserst lukrativen Folgen für die Eigentümerin. Diese
habe den Mikrowellenhersteller auf Millionen eingeklagt, mit der
Begründung, dass die Gebrauchsanweisung keine entsprechende War­
nung enthalten hatte – eine Geschichte übrigens, die frei erfunden
ist.22
Die Auflistung zeigt, dass unser Bild vom amerikanischen Recht
von Fernsehserien, Kinofilmen und Romanen wie jenen von John
Grisham geprägt ist. Die Populärkultur prägt unsere Sicht des ameri­
kanischen Rechts, und diese Sicht weicht stark von jener ab, die wir
von unserem eigenen Recht haben. Dabei ist der Ausgangspunkt bei­
der Rechtsordnungen gleich. Sowohl nach amerikanischem als auch
nach schweizerischem Recht soll das Haftpflichtrecht in erster Linie
Ausgleich («compensation») schaffen, und zwar Ausgleich für geld­
werte Verluste sowie für immaterielle Schäden, also für seelisches
Leid.23
22 Siehe Georg Wenglorz/Patrick S. Ryan, «Die Katze in der Mikrowelle?»,
Anmerkungen zum US­amerikanischen System der punitive damages, RIW 2003,
598 ff.
23 Vgl. zum amerikanischen Recht etwa Dan B. Dobbs, The Law of Torts, St. Paul,
Minn. 2000, 1047.
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Corinne Widmer Lüchinger
2.
ZBJV · Band 151 · 2015
Strafschadenersatz («punitive damages»)
Darüber hinaus verfolgt das amerikanische Haftpflichtrecht
aber noch weitere Ziele, die dem schweizerischen Recht weitgehend
fremd sind. Nach amerikanischem Verständnis soll das Haftpflicht­
recht nämlich nicht nur den Geschädigten kompensieren, sondern
ausserdem auch den Schädiger bestrafen und weitere potenzielle
Übeltäter abschrecken. Diesem Zweck dient die Zusprechung von
«punitive damages».24
Strafe und Abschreckung als rechtliches Ziel kennt natürlich
auch das schweizerische Recht. Nach kontinentaleuropäischem Ver­
ständnis ist die Bestrafung jedoch eine Prärogative des Staates und
eine Funktion des Strafrechts.25 «Punitive damages» sind jedoch ein
Instrument des Privatrechts. Sie werden in einem Zivilverfahren zu­
gesprochen, das nicht vom Staat, sondern von einer Privatperson ein­
geleitet worden ist. Anders als eine Busse werden «punitive damages»
grundsätzlich auch nicht an den Staat geleistet.26 Die zugesprochene
Summe fliesst vielmehr dem Kläger zu, und zwar deshalb, weil der
Kläger, sozusagen stellvertretend für die Gesellschaft, sich die Mühe
gemacht hat, gegen den Schädiger vorzugehen, und dafür belohnt
24 Siehe dazu Dobbs (Fn. 23), 1062 ff.; Corinne Widmer, A Civil Lawyer’s
Introduction to Anglo­American Law: Torts, Bern/Wien 2008, 297, 301 ff. m. w. H.
Die Entwicklung des zivilrechtlichen Instruments der «punitive damages» wird häu­
fig damit erklärt, dass das materielle und prozessuale Strafrecht im Common Law
Schwächen aufwies, die mittels privatrechtlicher Sanktionen aufgewogen werden
sollten: vgl. Juliana Mörsdorf­Schulte, Funktion und Dogmatik US­amerikani­
scher punitive damages – zugleich ein Beitrag zur Diskussion um die Zustellung und
Anerkennung in Deutschland, Tübingen 1999, 63 ff. m. w. H.
25 Dass «punitive damages» eine quasi­strafrechtliche Funktion wahrnehmen,
wird auch in Rechtsordnungen des Common Law grundsätzlich anerkannt; vgl. etwa
den englischen Entscheid Kuddus v. Chief Constable of Leicestershire Constabulary,
[2001] UKHL 29, [52] (Lord Nicholls of Birkenhead), auszugsweise wiedergegeben
bei Widmer (Fn. 24), 310 ff.; siehe ferner Mörsdorf­Schulte (Fn. 24), 61 ff. m. w. H.
26 Vgl. § 908 Restatement (Second) of Torts, comment a (wiedergegeben bei
Widmer [Fn. 24], 306). Im Zuge der punitive damages-Reformen haben allerdings
verschiedene US­Gliedstaaten sogenannte split recovery statutes eingeführt, welche
die Aufteilung der zugesprochenen punitive damages-Summen zwischen dem Kläger
und dem Staat vorschreiben oder in das Ermessen des Gerichts stellen; siehe dazu
Widmer (Fn. 24), 305 f., 327 f. m. w. H.
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
werden soll.27 Die Straffunktion der «punitive damages» erklärt, wes­
halb sie gemeinhin nur zugesprochen werden, wenn der Beklagte be­
sonders rücksichtslos oder böswillig gehandelt hat, d. h. für ein Ver­
halten, «that is outrageous, because of the defendant’s evil motive or
his reckless indifference to the rights of others»28 bzw. das «some
element of outrage similar to that usually found in crime»29 beinhaltet.
Letztlich liegt es aber im Ermessen der entscheidenden Instanz,
ob und, wenn ja, wie viel Strafschadenersatz im Einzelfall geleistet
werden muss.30 Dieser Ermessensspielraum erklärt auch die bunte
Palette an Fällen, in denen «punitive damages» zugesprochen werden.
Es kann das Unternehmen, das Informationen über die Gefährlichkeit
seiner Produkte unterdrückt,31 genauso treffen wie den Autohersteller,
der Lackschäden an neuen Autos zu vertuschen versucht,32 aber auch –
um einen Entscheid des berühmten Richters und Gelehrten Richard
27 Vgl. Dardinger (Executor) v. Anthem Blue Cross & Blue Shield, 98 Ohio St.3d
77, 104; 781 N. E.2d 121, 144 (2002), in dem allerdings der Supreme Court of Ohio
eine «split recovery» einführte: «Clearly, we do not want to dissuade plaintiffs from
moving forward with important societal undertakings. The distribution of the jury’s
award must recognize the effort the plaintiff undertook in bringing about the award
and the important role a plaintiff plays in bringing about necessary changes that
society agrees need be made.»
28 § 908 Abs. 2 Restatement (Second) of Torts, wiedergegeben bei Widmer
(Fn. 24), 306.
29 § 908 Restatement (Second) of Torts, comment b, wiedergegeben bei Widmer
(Fn. 24), 309. Gemäss anderen Umschreibungen muss das Verhalten des Beklagten
«willful or wanton» (siehe z. B. Mathias v. Accor Economy Lodging, 347 F.3d 672
[2003]) oder «egregiously improper» (BMW v. Gore, 116 S. Ct. 1589 [1996]) sein.
30 Siehe Widmer (Fn. 24), 304 f., 318 ff. m. w. H.
31 Zu erwähnen sind hier etwa die «tobacco cases», in denen Rauchern (bzw.
ihren Hinterlassenen) teils sehr hohe «punitive damages»­Summen zugesprochen
worden sind, u. a. mit der Begründung, die Beklagten hätten die Gefahren des Rau­
chens verschwiegen; vgl. z. B. Burton v. R.J. Reynolds Tobacco Company 397 F.3d
906 (2005), US Court of Appeals for the 10 th Circuit; weitere Hinweise bei Widmer
(Fn. 24), 192. Aus jüngerer Zeit ist der Entscheid Cynthia Robinson v. R.J. Reynolds
Tobacco Company zu nennen, in dem der Witwe eines Kettenrauchers erstinstanzlich
23 Milliarden (sic!) Dollar zugesprochen wurden (Entscheid­Nr. 2008 CA 000098
des Circuit Court von Escambia County, Florida, vom 20. 7. 2014); vgl. die Presse­
mitteilung von Reuters, <www.reuters.com/article/2014/07/20/us­usa­tobacco­award­
idUSKBN0FO0ZM20140720> (26. 2. 2015).
32 Vgl. BMW v. Gore, 116 S. Ct. 1589 (1996); dazu unten sub II.3.
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Corinne Widmer Lüchinger
ZBJV · Band 151 · 2015
Posner zu nennen33 – den Betreiber eines Motels, der aus Kostengrün­
den auf die Beseitigung von Bettwanzen verzichtet.
Nun sind «punitive damages» in ihrer heutigen Form34 nicht ein
ausschliesslich amerikanisches Phänomen, sondern stammen viel­
mehr aus dem englischen Recht35 und sind im Common Law­Rechts­
kreis allgemein bekannt.36 Dennoch gelten sie als charakteristisch für
das amerikanische Recht, und zwar deshalb, weil in den USA die
weltweit grössten Summen zugesprochen werden. Der Grund dafür
liegt nun aber nicht, wie man meinen könnte, im materiellen Recht.
Zum Tragen kommen hier vielmehr prozessuale Besonderheiten des
amerikanischen Rechts.37 Dazu gehört neben der Regelung der Kos­
tenverteilung im Prozess38 insbesondere der Geschworenenprozess,
der sogenannte «jury trial».
3.
Der Geschworenenprozess («jury trial»)
Der Geschworenenprozess ist bis heute eines der prägendsten
Merkmale des amerikanischen Rechts und tief in der Geschichte Ame­
rikas verwurzelt.39 Im 11. Jahrhundert von William the Conqueror
33 Mathias v. Accor Economy Lodging, 347 F.3d 672 (2003), auszugsweise wie­
dergegeben bei Widmer (Fn. 24), 349 ff.
34 Die Wurzeln des Strafschadenersatzes werden teils bis auf den Kodex Ham­
murabi zurückgeführt; vgl. Owen (Fn. 13), 39 Villanova Law Review 363, 368 (1994).
35 Siehe Mörsdorf­Schulte (Fn. 24), 180; Owen (Fn. 13), 39 Villanova Law
Review 363, 368 f. (1994). Zum Strafschadenersatz («exemplary damages») im eng­
lischen Recht siehe allg. Harvey McGregor, McGregor on Damages, 19. Aufl.,
London 2014, N 13­001 ff.; aus der Rechtsprechung siehe Kuddus v. Chief Constable
of Leicestershire, [2001] UKHL 29, [2002] 2 AC 122, [2001] 3 All ER 193, [2001] 2
WLR 1789, auszugsweise wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 310 ff.
36 Für eine Übersicht zu «punitive damages» in den zum Common Law gehö­
renden Rechtsordnungen siehe John Y. Gotanda, Punitive Damages: A Compara­
tive Analysis, 42 Columbia Journal of Transnational Law 391, 395 ff. (2004).
37 Vgl. allg. Widmer (Fn. 24), 58 f. m. w. H.; ausführlich dazu das immer noch sehr
lesenswerte Buch von John G. Fleming, The American Tort Process, Oxford 1988.
38 Dazu unten sub II.4.
39 Zur geschichtlichen Entwicklung siehe Jack H. Friedenthal/Mary Kay
Kane/Arthur R. Miller, Civil Procedure, 4. Aufl., St. Paul, Minn. 2005, 509;
Valerie P. Hans/Neil Vidmar, Judging the Jury, New York 1986, 21 ff., 25 ff.;
ausführlich Stephan Landsman, The Civil Jury in America: Scenes from an Un­
appreciated History, 44 Hastings Law Journal 579 (1992–1993).
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
nach England eingeführt40 und von dort in die amerikanischen Kolo­
nien exportiert,41 entwickelte sich der Geschworenenprozess während
der Kolonialzeit zu einem politisch wichtigen Gegengewicht zu den
von der britischen Regierung eingesetzten Gouverneuren.42 Die
«jury»­Mitglieder waren damals wie heute Laien und stammten aus
der ortsansässigen Bevölkerung. Da sie von der britischen Regierung
unabhängig waren, konnten sie politischen Druckversuchen besser
widerstehen und galten darüber hinaus als «the most effective means
available to secure the independence and integrity of the judicial
branch of the colonial government».43 Die britische Kolonialmacht
versuchte zunehmend, die «jury» zu beeinflussen oder gar ganz von
Gerichtsverfahren auszuschliessen, was zu Konflikten mit der ortsan­
sässigen Bevölkerung führte und deren Widerstand hervorrief.44 Vor
diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das «jury»­Verfahren –
trotz vereinzelter Kritik45 – bis heute in Amerika als Verkörperung
demokratischer Werte verstanden wird.46
Auch andere Staaten kennen die Geschworenengerichtsbarkeit,
so früher auch einzelne Schweizer Kantone. Diese Gerichtsbarkeit ist
aber regelmässig auf strafrechtliche Verfahren beschränkt. In den
USA dagegen besteht das Recht auf einen «jury trial» sowohl im Straf­
40 So die traditionelle Sichtweise, die allerdings nicht unbestritten ist; siehe
dazu Landsman (Fn. 39), 44 Hastings Law Journal 579, 582 (1992–1993) m. w. H.
41 Landsman (Fn. 39), 44 Hastings Law Journal 579, 592 (1992–1993).
42 Siehe ausführlich Landsman (Fn. 39), 44 Hastings Law Journal 579, 592 ff.
(1992–1993); Hans/Vidmar (Fn. 39), 32 ff.
43 Landsman (Fn. 39), 44 Hastings Law Journal 579, 596 (1992–1993); siehe
auch Paul D. Carrington, The Civil Jury and American Democracy, 13 Duke
Journal of Comparative & International Law 79, 82 f. (2003), abrufbar unter <http://
scholarship.law.duke.edu/djcil/vol13/iss3/5> (26. 2. 2015).
44 Landsman (Fn. 39), 44 Hastings Law Journal 579, 594 ff. (1992–1993).
45 Vgl. die Hinweise bei Carrington (Fn. 43), 13 Duke Journal of Compara­
tive & International Law 79, 88 (2003).
46 Vgl. etwa Carrington (Fn. 43), 13 Duke Journal of Comparative & Interna­
tional Law 79 ff. (2003); Stephen N. Subrin/Margaret Y.K. Woo, Litigating in
America: Civil Procedure in Context, New York 2006, 241; vgl. ferner Jeffrey B.
Abramson, We, the Jury: the Jury System and the Ideal of Democracy, Cambridge,
Mass. 2000; instruktiv auch die Ausführungen auf der Website der American Tort
Reform Association (ATRA), <www.atra.org/issues/jury­service­reform> (26. 2. 2015).
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Corinne Widmer Lüchinger
ZBJV · Band 151 · 2015
verfahren als auch in zentralen Bereichen des Privatrechts.47 Gerade
im Haftpflichtrecht übt der Geschworenenprozess bis heute einen star­
ken Einfluss aus. Rund neun von zehn Haftpflichtprozessen vor ame­
rikanischen «state courts»48 werden unter Beizug einer «jury» ent­
schieden.49 Der Einfluss der Geschworenen auf das Haftpflichtrecht
kann man erst erfassen, wenn man ihre Aufgabe im Prozess versteht.
Zwischen dem Richter und den Geschworenen gibt es eine klare Rol­
lenverteilung.50 Der Richter stellt sicher, dass das Verfahren korrekt
abläuft, und entscheidet über die Beweisanträge der Parteien. Sodann
instruiert er die Geschworenen über das geltende Recht. Die Geschwo­
renen hingegen entscheiden, ob die Parteien den Beweis für ihre strei­
tigen Behauptungen erbracht haben oder nicht. Die Geschworenen
entscheiden auch, wie das Recht auf den Sachverhalt Anwendung
findet. Dazu gehört insbesondere die Frage, ob der Beklagte «puniti­
ve damages» bezahlen muss, und, wenn ja, wie viel.51
Nun zeigt die Gerichtspraxis, dass dieses «Wieviel» ausgepräg­
te Schwankungen aufweisen kann.52 Das liegt im Wesen des «jury»­
Verfahrens begründet, denn die Geschworenen sind Laien, die ein
repräsentatives Abbild der Gesellschaft darstellen sollen. Sie sind
juristisch ungeschult. Gegenüber Richtern gelten sie deshalb als emp­
fänglicher für «unjuristische» Argumente, die gezielt die Emotionen
47 In Verfahren vor den «federal courts» stützt sich das Recht auf einen «jury
trial» in (gewissen) Zivilverfahren auf den Seventh Amendment der amerikanischen
Bundesverfassung ab. In Verfahren vor Gerichten der Gliedstaaten («state courts»)
leitet sich das Recht auf einen «jury trial» dagegen aus dem Recht des jeweiligen
Gliedstaates ab; vgl. Widmer (Fn. 24), 364 f.
48 Zum Gerichtssystem in den USA, insbesondere zum Nebeneinander der «sta­
te courts» und «federal courts», siehe Markus Müller­Chen/Christoph Müller/
Corinne Widmer Lüchinger, Comparative Private Law, Zürich 2015, N 729 ff.,
743 ff., 749 ff.
49 So die Ergebnisse der letzten Erhebung des US Department of Justice; siehe
Lynn Langton/Thomas H. Cohen, Bureau of Justice Statistics: Special Report,
Civil Bench and Jury Trials in State Courts, 2005, Oktober 2008, 2, abrufbar unter
<www.bjs.gov/content/pub/pdf/cbjtsc05.pdf> (26. 2. 2015).
50 Dazu Widmer (Fn. 24), 366 ff. m. w. H.
51 Vgl. Widmer (Fn. 24), 318 ff. m. w. H.
52 Vgl. die Erhebung des US Department of Justice (Fn. 49), 6; vgl. auch Daniel
Kahneman/David Schkade/Cass R. Sunstein, Shared Outrage and Erratic Awards:
The Psychology of Punitive Damages, Journal of Risk and Uncertainty 16, 49, 75 ff.
(1998).
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
ansprechen.53 Kritiker sehen deshalb in der «jury» eine unberechen­
bare und unwissende Macht, die ihre Entscheidungen nicht aus der
Vernunft, sondern sozusagen aus dem Bauch heraus trifft.54 Aber ist
diese Angst vor der «jury» auch wirklich gerechtfertigt? Statistiken
des US Department of Justice zeigen ein differenziertes Bild. So hat­
ten in den Haftpflichtprozessen, die im Jahr 2005 vor den Gerichten
der amerikanischen Gliedstaaten abgeschlossen wurden, lediglich
13% der erfolgreichen Kläger «punitive damages» verlangt. Von den
erfolgreichen Klägern erhielten nur 5% «punitive damages» zugespro­
chen, wobei der Medianwert 64 000 Dollar betrug.55
Die Summen sind im Regelfall also recht gering. Das ändert
jedoch nichts daran, dass die Erfolgschancen einer «punitive damages»­
Klage für den Beklagten nur sehr schwer abschätzbar sind. Aus diesem
Grund haben amerikanische Gerichte verschiedentlich versucht, das
Ermessen der Geschworenen zu beschränken. Leitentscheid ist der
53 Vgl. die empirische Studie von Joni Hersch/W. Kip Viscusi, Punitive Da­
mages: How Judges and Juries Perform, Harvard Law School John M. Olin Center
for Law, Economics and Business Discussion Paper Series, Discussion Paper No. 362
(2002), 34 ff., abrufbar unter <www.law.harvard.edu/programs/olin_center/papers/
pdf/362.pdf> (26. 2. 2015). Dagegen kommen andere Autoren zum Schluss, dass Ju­
roren nicht wesentlich anders entscheiden als Richter: Theodore Eisenberg/Neil
LaFountain/Brian Ostrom/David Rottman/Martin T. Wells, Juries, Judges
and Punitive Damages: An Empirical Study, 87 Cornell Law Review 743 (2002).
54 Berühmt geworden ist das Zitat von Erwin N. Griswold, seinerzeit Dean der
Harvard Law School: «The jury trial, at best, is the apotheosis of the amateur. Why
should anyone think that twelve persons brought in from the street, selected in vari­
ous ways, for their lack of general ability, should have any special capacity for deci­
ding controversies between persons?»: 1962–63 Harvard Law School Dean’s Reports,
5 f., wiedergegeben etwa bei Hans Zeisel, The Debate over the Civil Jury in Histo­
rical Perspective, 1990 University of Chicago Legal Forum 25, 26; vgl. auch das
Zitat von Mark Twain, wiedergegeben bei Subrin/Woo (Fn. 46), 239: «The jury
system puts a ban upon intelligence and honesty, and a premium upon ignorance,
stupidity, and perjury»; Hans/Vidmar (Fn. 39), 113 ff.; siehe ferner Cass R. Sun­
stein/Reid Hastie/John W. Payne/David A. Schkade/W. Kip Viscusi, Punitive
Damages: How Juries Decide, Chicago 2002; Paul Mogin, Why Judges, Not Juries,
Should Set Punitive Damages, 65 University of Chicago Law Review 179 (1998).
55 Erhebung des US Department of Justice (Fn. 49), 6. Gemäss dieser Studie
waren 27% der im Jahr 2005 zugesprochenen «punitive damages»­Summen höher
als 250 000 Dollar; 13% waren höher als 1 Million Dollar: a. a. O., 6.
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Corinne Widmer Lüchinger
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Supreme Court­Entscheid BMW v. Gore56 aus dem Jahr 1996. Der
Kläger, Dr. Gore, hatte einen neuen BMW gekauft. Ein paar Monate
später entdeckte er durch Zufall, dass der Wagen bereits vor dem
Verkauf einen Lackschaden gehabt hatte, der von BMW übermalt
worden war. Es zeigte sich, dass BMW landesweit rund 1000 nachla­
ckierte Wagen als neu verkauft hatte. Dr. Gore verlangte deshalb Scha­
denersatz für den Minderwert seines Wagens sowie «punitive dama­
ges». Die Geschworenen gaben ihm recht. Für den Minderwert
sprachen sie ihm 4000 Dollar zu, und ausserdem, um BMW zu be­
strafen, das Tausendfache an «punitive damages», insgesamt also vier
Millionen Dollar. Dies entsprach dem Betrag, den BMW landesweit
eingespart hatte, weil sie 1000 nachlackierte Wagen als neu verkauft
hatte. Auf Berufung der Beklagten hin reduzierte der Supreme Court
of Alabama die zugesprochene Summe immerhin auf zwei Millionen
Dollar.57 BMW zog den Streit weiter bis an den US Supreme Court –
und machte damit Geschichte, denn es wurde zum ersten Entscheid,
in dem das oberste Gericht Amerikas ein Geschworenenurteil wegen
Unverhältnismässigkeit aufhob. Das Gericht hielt unter anderem fest,
dass zwischen dem eigentlichen Schadenersatz, der dem Ausgleich
eines finanziellen Verlusts dient, und den «punitive damages» ein
vernünftiges Verhältnis bestehen müsse. Bis zu einem Verhältnis von
1:10 sei die Zusprechung von «punitive damages» in der Regel un­
problematisch.58 Bei einem Verhältnis von 1:500 hingegen müssten
«die richterlichen Augenbrauen argwöhnisch in die Höhe schnellen»59.
56 BMW of North America, Inc. v. Ira Gore, Jr., 116 S. Ct. 1589 (1996), auszugs­
weise wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 331 ff. Siehe zu diesem Entscheid etwa
Bruce J. McKee, The Implications of BMW v. Gore for Future Punitive Damages
Litigation: Observations from a Participant, 48 Alabama Law Review 175 (1996);
Stephanie L. Nagel, BMW v. Gore: The United States Supreme Court Overturns
an Award of Punitive Damages as Violative of the Due Process Clause of the Cons­
titution, 71 Tulane Law Review 1025 (1997).
57 Siehe BMW v. Gore, 116 S. Ct. 1589, 1593 ff. (1996), wiedergegeben bei
Widmer (Fn. 24), 331 ff.
58 BMW v. Gore, 116 S. Ct. 1589, 1602 (1996), wiedergegeben bei Widmer
(Fn. 24), 336 f., unter Bezugnahme auf den Supreme Court­Entscheid TXO Production Corp. v. Alliance Resources Corp., 113 S. Ct. 2711 (1993).
59 BMW v. Gore, 116 S. Ct. 1589, 1603 (1996), wiedergegeben bei Widmer
(Fn. 24), 337, wiederum unter Bezugnahme auf den TXO­Entscheid (Fn. 58).
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
Nicht nur die Gerichte, sondern auch die Gesetzgeber zahlrei­
cher amerikanischer Gliedstaaten60 haben in den letzten Jahrzehnten
versucht, die Zusprechung exorbitanter «punitive damages»-Summen
gesetzlich einzudämmen.61 Die Reformen umfassen zum Beispiel so­
genannte «caps», also summenmässige Begrenzungen, oder strengere
Anforderungen an das Beweismass. Die grosse Rechtsunsicherheit,
die mit amerikanischen Haftpflichtprozessen verbunden ist,62 wird
damit jedoch letztlich nicht beseitigt. Denn das Problem scheinen
weniger die «punitive damages» zu sein als die Institution der «jury»,
und diese gilt politisch nach wie vor als unantastbar.63 Die Unwägbar­
keiten des Geschworenenprozesses bewegen Unternehmen zum Teil
dazu, in ihre Verträge «jury»­Ausschlussklauseln (sogenannte «jury­
waiver clauses») aufzunehmen.64 Solche Klauseln sollen gewährleisten,
dass im Falle eines Prozesses keine «jury», sondern ausschliesslich ein
(staatlicher) Richter entscheidet. Damit soll das Risiko überhöhter
Strafschadenersatzsummen begrenzt werden, denn juristisch geschul­
te Richter werden im Allgemeinen weniger grosszügig sein als die
Geschworenen.65 Aufgrund der verfassungsrechtlichen Verankerung
des «jury trial»66 stellen amerikanische Gerichte allerdings hohe An­
forderungen an die Gültigkeit solcher Klauseln, die sogar strenger sind
60 Wie eingangs erwähnt, fällt das Haftpflichtrecht in die Zuständigkeit der
Gliedstaaten.
61 Dazu ausführlich Widmer (Fn. 24), 321 ff m. w. H.
62 Siehe etwa aus deutscher Sicht Christoph G. Paulus, Abwehrstrategien
gegen unberechtigte Klagen in den USA, RIW 2006, 258 ff.; Rolf A. Schütze,
Klagen vor US­amerikanischen Gerichten – Probleme und Abwehrstrategien, RIW
2006, 579 ff.; weitere Hinweise bei Widmer (Fn. 24), 58.
63 Siehe oben im Text nach Fn. 44. Zwar haben vereinzelte Gliedstaaten versucht,
der «jury» die Zuständigkeit zur Festsetzung von «punitive damages» zu entziehen,
doch ist dies von den höchsten «state courts» zum Teil für verfassungswidrig erklärt
worden; vgl. Widmer (Fn. 24), 323 f. m. H. Zur Debatte um mögliche Reformen des
«jury»­Systems in den USA siehe Subrin/Woo (Fn. 46), 252 ff. m. w. H.
64 Vgl. Burkard Göpfert/Anja Gitta Berger, Jury­Ausschlussklauseln in
Verträgen mit amerikanischen Unternehmen, ZIP 2005, 1540 ff.; Widmer (Fn. 24),
365 f.
65 Allerdings kommen empirische Studien zu dieser Frage zum Teil zu sich
widersprechenden Ergebnissen; siehe die Hinweise oben, Fn. 53.
66 Zur verfassungsrechtlichen Verankerung siehe oben, Fn. 47.
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als jene an Schiedsklauseln.67 Einzelne «state courts» haben die Zu­
lässigkeit solcher Klauseln sogar gänzlich verneint.68
4.
Die Kostentragung im Prozess («American Rule»)
Neben dem «jury»­Verfahren gibt es in den USA noch weitere
prozessuale Besonderheiten, die das Haftpflichtrecht stark prägen. Sie
alle dienen dem gleichen Ziel, nämlich den Zugang des Geschädigten
zum Gericht zu erleichtern. Nach kontinentaleuropäischer Tradition
gilt das Prozessieren dagegen eher als notwendiges Übel, das man
nicht noch besonders fördern soll. Das zeigt sich in der Schweiz etwa
daran, dass die Gerichte gemäss eidgenössischer Zivilprozessordnung
generell vom Kläger einen Kostenvorschuss verlangen können.69 Die
unterschiedliche Haltung erklärt, weshalb das amerikanische Haft­
pflichtrecht in der Praxis sehr viel klägerfreundlicher ist als das
schweizerische, mit allen Vor­ und Nachteilen, die sich daraus ergeben.
Die klägerfreundliche Haltung des amerikanischen Rechts zeigt
sich insbesondere an der Kostenregelung im Zivilprozess. Nach
schweizerischem Recht hat diejenige Partei, die den Prozess verliert,
67 Siehe Göpfert/Berger (Fn. 64), ZIP 2005, 1540, 1543 f.; Andrew M. Kep­
per, Contractual Waiver of Seventh Amendment Rights: Using the Public Rights
Doctrine to Justify a Higher Standard of Waiver for Jury­Waiver Clauses than for
Arbitration Clauses, 91 Iowa Law Review 1345, 1347 ff. (2006) (zur Rechtslage bei
Verfahren in den «federal courts»); Stephen J. Ware, Mandatory Arbitration: Ar­
bitration Clauses, Jury­Waiver Clauses, and Other Contractual Waivers of Constitu­
tional Rights, 67 Law and Contemporary Problems 167, 170 (2004).
68 So der California Supreme Court in Grafton Partners L. P., et al. v. The Superior Court of Alameda County, 36 Cal.4th 944 (2005); ebenso der Supreme Court
of Georgia in Bank South NA v. Howard, 444 S.E.2d 799 (Ga. 1994).
69 Art. 98 ZPO. Zu den Wirkungen vgl. Regula Müller Brunner, «Justiz nur
noch für Arme und Reiche», plädoyer 4/12, 12 f.; Martin Hablützel, Schweizeri­
sche ZPO: Hat der Berg nur eine Maus geboren?, HAVE 2014, 297, 298 f.; Rechen­
schaftsbericht OGer ZH 2011, 7; Rechenschaftsbericht OGer ZH 2012, 9. In seinem
Bericht zum kollektiven Rechtsschutz hat der Bundesrat die Frage aufgeworfen, ob
mit Blick auf Massenschadensfälle bei subjektiver und objektiver Klagenhäufung
grundsätzlich auf die Kostenvorschusspflicht verzichtet werden sollte: Kollektiver
Rechtsschutz in der Schweiz – Bestandesaufnahme und Handlungsmöglichkeiten,
Bericht des Bundesrates vom 3. 7. 2013, abrufbar unter <www.bj.admin.ch/dam/data/
bj/aktuell/news/2013/2013­07­03/ber­br­d.pdf> (26. 2. 2015).
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
grundsätzlich auch die Kosten zu tragen.70 Zu diesen Kosten, die nach
Tarifen berechnet werden,71 gehören einerseits die Gerichtskosten
und andererseits die Entschädigung an die Gegenpartei.72 Nach der
sogenannten «American Rule» dagegen hat jede Partei ihre eigenen
Kosten zu tragen, und zwar unabhängig davon, ob sie den Prozess
gewinnt oder verliert.73 Eine Ausnahme gilt nur, wenn dies in soge­
nannten «fee shifting statutes» ausdrücklich vorgesehen ist.74 Die
Konsequenzen der schweizerischen Regelung liegen auf der Hand:
Wer befürchten muss, im Falle des Unterliegens dem anderen eine
Parteientschädigung leisten zu müssen, wird sich zweimal überlegen,
ob er klagen will oder nicht.75 Da die Höhe der Kosten, die der ob­
70 Art. 106 Abs. 1 ZPO; siehe dazu etwa David Jenny, in: Sutter­Somm/Hasen­
böhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung,
2. Aufl., Zürich 2013, Art. 106 N 1 ff. Eine abweichende Regel sieht das Fusionsgesetz
bei Klagen auf Überprüfung der Anteils­ und Mitgliedschaftsrechte vor. Gemäss
Art. 105 Abs. 3 FusG trägt hier der übernehmende Rechtsträger, d. h. der Beklagte,
die Kosten des Verfahrens; nur bei Vorliegen besonderer Umstände kann das Gericht
die Kosten ganz oder teilweise den Klägern auferlegen. Siehe dazu BGE 135 III 603,
606; BGer, Urt. 4A_341/2011 vom 21. 3. 2012. E. 6.3. Vgl. auch die entsprechende
Regel des Art. 697g Abs. 1 OR.
71 Art. 96 ZPO; dazu Benedikt A. Suter/Cristina von Holzen, in: Sutter­
Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilpro­
zessordnung, 2. Aufl., Zürich 2013, Art. 96 N 10 ff.
72 Art. 95 ZPO.
73 Siehe Benjamin Kaplan/Kevin M. Clermont, England and the United
States, in: Ordinary Proceedings in First Instance, Int’l Encycl. Comp. L. Volume
XVI, Chapter 6, Tübingen 1984, N 6­63; Fleming (Fn. 37), 188 ff.; Jonathan B.
Wilson, Out of Balance: Prescriptions for Reforming the American Litigation Sys­
tem, Lincoln 2005, 60 ff.; Widmer (Fn. 24), 303; Brandon Chad Bungard, Fee!
Fie! Foe! Fum!: I Smell the Efficiency of the English Rule. Finding the Right Approach
to Tort Reform, 31 Seton Hall Legislative Journal 1, 6 ff. (2006); Herbert M. Krit­
zer, Lawyer Fees and Lawyer Behavior in Litigation: What Does the Empirical
Literature Really Say?, 80 Texas Law Review 1943, 1946 ff. (2002).
74 Kritzer (Fn. 73), 80 Texas Law Review 1943, 1946 (2002). In den USA kennt
einzig Alaska die «American Rule» nicht: a. a. O., 1946.
75 Um diese abschreckende Wirkung bei Klagen von Privatkunden gegen Finanz­
dienstleister zu minimieren, sieht der Vorentwurf eines Bundesgesetzes über die Finanz­
dienstleistungen (FIDLEG) als eine von zwei Varianten einen Prozesskostenfonds vor,
der in erster Linie durch Beiträge der Finanzdienstleister geäufnet werden soll; siehe
Art. 85 ff. (Variante B) der Vernehmlassungsvorlage FIDLEG sowie den erläuternden
Bericht zur Vernehmlassungsvorlage FIDLEG/FINIG vom 25. 6. 2014, 92 ff., jeweils
abrufbar unter <www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/35437.pdf>
resp. <www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/35423.pdf> (26. 2. 2015).
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Corinne Widmer Lüchinger
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siegenden Partei zu ersetzen sind, zudem vom Mass des Unterliegens
abhängt, wirkt die schweizerische Kostenregelung auch gegen das
sogenannte Überklagen.76
Wo der Kläger hingegen keine Parteientschädigung zu leisten
hat, ist sein finanzielles Risiko um ein Vielfaches geringer. Damit
erleichtert die «American Rule» den Zugang zum Gericht, denn wenn
das Kostenrisiko gering ist, können sich auch finanzschwache Kläger
eher ein Gerichtsverfahren leisten.77 Die «American Rule» birgt je­
doch auch eine grosse Missbrauchsgefahr. So schuldete der Kläger,
der im erwähnten amerikanischen Hosenfall 67 Millionen Dollar ein­
geklagt hatte, den Beklagten keine Parteientschädigung, obwohl er in
zwei Instanzen unterlag.78 Hätte er dagegen vor dem Basler Zivilge­
richt geklagt und (wie getrost anzunehmen ist) den Prozess verloren,
so hätte er den Beklagten gemäss kantonaler Honorarordnung im
ordentlichen Verfahren mindestens 670 000 Franken bezahlen
müssen,79 also mehr als eine halbe Million. Die abschreckende Wir­
kung einer solchen Kostenregelung liegt auf der Hand.
5.
Das anwaltliche Erfolgshonorar («contingent fees»)
Klägerfreundlich ist auch die amerikanische Haltung zum An­
waltshonorar.80 US­Anwälte dürfen mit ihren Klienten vereinbaren,
dass sie im Falle des Erfolgs einen Prozentsatz der erstrittenen Sum­
76 Vgl. BK­ZPO/Sterchi, Art. 106 N 6.
77 Vgl. etwa John F. Vargo, The American Rule on Attorney Fee Allocation:
The Injured Person’s Access to Justice, 42 American University Law Review 1567
(1993); Subrin/Woo (Fn. 46), 31 f.
78 Die Überwälzung der Anwaltskosten der Beklagten auf den Kläger wäre al­
lenfalls gestützt auf Rule 11 der DC Superior Court Rules of Civil Procedure möglich
gewesen, welche u. a. bei schikanösen Eingaben und «frivolen» Klagen eine Sank­
tionierung der betreffenden Partei ermöglicht; siehe Pearson v. Chung (Fn. 1), 3. Die
Sanktionen gemäss Rule 11 stehen allerdings im Ermessen des Gerichts. Aufgrund
der öffentlichen Unterstützung (oben Fn. 11) verzichteten die Beklagten darauf, eine
entsprechende Sanktion zu beantragen.
79 § 4 Abs. 1 der Honorarordnung für die Anwältinnen und Anwälte des Kantons
Basel­Stadt vom 29. 12. 2010 (SG 291.400).
80 Vgl. allg. Müller­Chen/Müller/Widmer Lüchinger (Fn. 48), N 729
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
me als Honorar behalten dürfen («contingent fee» oder «contingency
fee»). Verlieren sie dagegen den Prozess, erhalten sie auch kein Ho­
norar. Damit trägt nicht der Kläger, sondern der Anwalt das Prozess­
risiko. Verliert der Kläger den Prozess, ist sein finanzielles Risiko
gleich null.81 Ähnlich wie die «American Rule» erleichtert eine solche
Regelung den Zugang zum Gericht.82 Sie bewirkt jedoch zugleich,
dass Anwälte ein direktes finanzielles Interesse am Ausgang des Ver­
fahrens haben, und damit auch am Einklagen exorbitanter «punitive
damages»­Summen. Damit wird der Prozess für die Anwälte zu einem
eigentlichen Investitionsobjekt.83
In Europa galten reine Erfolgshonorarvereinbarungen («no win,
no fee») über Jahrhunderte hinweg als verpönt, denn sie bedrohen die
anwaltliche Unabhängigkeit. In den letzten Jahren ist jedoch eine Öff­
nung im Gang, vor allem in Osteuropa,84 aber auch in England.85
Diese Entwicklung hat allerdings weniger mit einer ideellen Verschie­
bung zu tun als mit dem Staatshaushalt. Wenn die Anwälte das Pro­
81 Dazu Corinne Widmer Lüchinger, Die zivilrechtliche Beurteilung von
anwaltlichen Erfolgshonorarvereinbarungen, AJP 2011, 1445, 1447 f. m. w. H.
82 Vgl. etwa Alexander Tabarrok/Eric Helland, Two Cheers for Contingent
Fees, Washington D.C 2005, 6 f., abrufbar unter <www.aei.org/wp­content/uploads/
2011/10/20050817_book827text.pdf> (26. 2. 2015).
83 Neuerdings investieren sogar «Hedge Funds» in amerikanische Haftpflicht­
rechtsverfahren. Siehe dazu den Bericht des US Chamber Institute for Legal Reform,
Stopping the Sale on Lawsuits: A Proposal to Regulate Third­Party Investments in
Litigation, October 2012; der Bericht ist abrufbar unter <www.instituteforlegalreform.
com/uploads/sites/1/TPLF_Solutions.pdf> (26. 2. 2015).
84 Siehe Matthias Kilian, Die erfolgsbasierte Vergütung des Rechtsanwaltes,
in: Mirko Roš (Hrsg.), Der Erfolg und das Honorar des Anwalts, Zürich/St. Gallen
2007, 5, 20 ff.; Widmer Lüchinger (Fn. 81), AJP 2011, 1445, 1447.
85 Siehe Widmer Lüchinger (Fn. 81), AJP 2011, 1445, 1447, 1448 ff. m. w. H. In
England sind seit April 2013 neben den bereits in den 90er­Jahren eingeführten «con­
ditional fee agreements» (CFAs) in gewissem Umfang auch sogenannte «damages­
based agreements» (DBAs) erlaubt. Im Unterschied zu den CFAs (dazu Widmer
Lüchinger, a. a. O., 1448 ff.) handelt es sich bei den DBAs um eigentliche Streitan­
teilsvereinbarungen; siehe <www.justice.gov.uk/civil­justice­reforms/main­changes>
(26. 2. 2015); Rachael Mulheron, The Damages­Based Agreements Regulations
2013: Some Conundrums in the «Brave New World» of Funding, (2013) 32 Civil
Justice Quarterly 241 ff.
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zessrisiko des Klägers tragen, kann nämlich der Staat die Ausgaben
für die unentgeltliche Rechtspflege einsparen.86
6.
Sammelklagen («class actions»)
Die geschädigtenfreundliche Haltung des amerikanischen Rechts
manifestiert sich weiter im sogenannten «class action»­Verfahren, wel­
ches der kollektiven Rechtsdurchsetzung dient. Bei einer amerikani­
schen «class action» klagt ein Einzelner für sich selbst sowie für eine
Gruppe weiterer, nicht individualisierter Personen, die sich in einer
ähnlichen Lage befinden wie der Kläger. Diese Gruppe bildet die so­
genannte Klasse. Die Klassenmitglieder sind weder Prozesspartei, noch
sind sie aktiv am Verfahren beteiligt. Dennoch ist das Urteil für sie
verbindlich.87 In abgeschwächter Form kommen Gruppenklagen auch
in anderen Ländern des Common Law vor.88 Instrumente des kollekti­
ven Rechtsschutzes finden ausserdem zunehmend in kontinentaleuro­
päischen Rechtsordnungen Eingang.89 Diese unterscheiden sich jedoch
grösstenteils stark vom amerikanischen Modell.90 In der Schweiz ist
die Diskussion um Vor­ und Nachteile des kollektiven Rechtsschutzes
86 Siehe Widmer Lüchinger (Fn. 81), AJP 2011, 1445, 1447 m. w. H. Die engli­
schen «conditional fee agreements» wurden ausdrücklich mit dem Ziel eingeführt, die
staatlichen Kosten für die unentgeltliche Verbeiständung bedürftiger Personen zu ver­
ringern: a. a. O., 1449 m. w. H. Aufgrund von massiven Budgetkürzungen steht «legal
aid» in Zivilverfahren auch in den USA nur sehr beschränkt zur Verfügung; siehe insbes.
den Bericht der mit öffentlichen Geldern unterstützten Legal Services Corporation,
Documenting the Justice Gap In America: The Current Unmet Civil Legal Needs of
Low­Income Americans, An Updated Report, September 2009; Subrin/Woo (Fn. 46),
31 f.
87 Siehe Widmer (Fn. 24), 379 ff., 386 f. m. w. H.
88 Dazu Rachael Mulheron, The Class Action in Common Law Legal Sys­
tems, Oxford 2004; zur Rechtslage in England siehe dies., Third Party Funding and
Class Actions Reform: Emerging Statutory and Legal Conundrums from a Com­
parative Perspective, (2015) Law Review Quarterly (bei Manuskriptabgabe noch nicht
erschienen).
89 Für einen Überblick über die Rechtslage in kontinentaleuropäischen Rechtsord­
nungen und die Bestrebungen in der EU siehe Dirk Trüten, Kollektiver Rechtsschutz
in Europa und der Schweiz – eine Standortbestimmung, EuZ 2015, 4, 7 ff. m. w. H.
90 Eine Ausnahme bildet offenbar das portugiesische Recht, welches sich nahe
am amerikanischen Modell orientiert; siehe Trüten (Fn. 89), EuZ 2015, 4, 9.
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
ebenfalls in vollem Gange,91 insbesondere im Zusammenhang mit dem
Vorentwurf eines Bundesgesetzes über die Finanzdienstleistungen
(FIDLEG), der ein besonderes Gruppenvergleichsverfahren vorsieht.92
Auch die amerikanische Sammelklage bezweckt, den Zugang
des Einzelnen zum Gericht zu erleichtern.93 Das zeigt sich besonders
in Fällen, in denen zahlreiche Personen geschädigt worden sind, der
Schaden des Einzelnen jedoch vernachlässigbar ist. Wer nur einen
geringen Schaden erleidet, wird in der Regel darauf verzichten, Klage
zu erheben. Da der Schädiger keine Klage zu befürchten hat, hat er
auch keinen Anreiz, sich an das Recht zu halten. Werden nun aber die
kleinen, individuellen Schadenssummen in einer Sammelklage zu­
sammengefasst, so wächst der Druck auf den Beklagten, sich rechts­
91 Siehe neben dem in Fn. 89 genannten Beitrag insbesondere den erwähnten
Bericht des Bundesrates vom 3. 7. 2013 (Fn. 69); siehe ferner Hansueli Schöchli,
Das Gespenst der Sammelklagen, NZZ vom 14. 6. 2014; ferner etwa Christian Kölz,
Braucht es in der Schweiz Sammelklagen?, ZBJV 2013, 865 ff.; François Bohnet,
Les actions collectives, spécialement en matière de consommation, in: Blaise Carron/
Christoph Müller (Hrsg.), Droits de la consommation et de la distribution: Les nou­
veaux défis, Basel 2013, 159 ff.; Martin Bernet/Philipp Groz, Sammelklagen in
Europa?, SZZP 2008, 75 ff.; Martin Bernet/Michael Hess, Sammelklagen und
kollektiver Rechtsschutz – neueste Entwicklungen in Europa und der Schweiz, An­
waltsrevue 2012, 451 ff.; Lorenz Droese, Die Sammelklage in den USA und in
Europa und die Auswirkungen auf die Rechtslage in der Schweiz, in: Walter Fellmann/
Stephan Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2010, Zürich 2010, 115 ff.; Leandro Pe­
rucchi, Class actions für die Schweiz, AJP 2011, 489 ff.; Daniel Fischer, Sammel­
klagen: Auch in der Schweiz sinnvoll?, plädoyer 2008/6, 48 ff., abrufbar unter <www.
swiss­advocate.com/assets/files/sammelklagen­in­der­schweiz.pdf> (26. 2. 2015). Zur
Klage auf Überprüfung der Anteils­ und Mitgliedschaftsrechte nach Art. 105 FusG,
welche aktuell der amerikanischen «class action» funktional am nächsten kommt,
siehe den erwähnten Bericht des Bundesrates vom 3. 7. 2013 (Fn. 69), 33 m. w. H.
92 Siehe die bereits erwähnte Vernehmlassungsvorlage FIDLEG (Fn. 75) sowie
den erläuternden Bericht des EFD vom 25. 6. 2014 (Fn. 75), 20 f., 100 ff.; zur Vorlage
siehe Andreas Bohrer, Finanzmarkt­Enforcement 3.0: Ansätze für ein gesamtheit­
liches System der Normdurchsetzung, GesKR 2014, 318, 328 ff.; Harald Bärtschi,
Finanzmarktregulierung im Fluss, SZW 2014, 459, 489 f.; Christian Kölz, Kollek­
tiver Rechtsschutz, Wem dient das Gruppenvergleichsverfahren im Finanzdienstleis­
tungsgesetz?, NZZ vom 8. 8. 2014; Patrick Schleiffer/Patrick Schärli, Ein
Überblick über das künftige Finanzdienstleistungsgesetz und Finanzinstitutsgesetz,
GesKR 2014, 334, 343; Domenic Oliver Brand, Anspruchsdurchsetzung in B2C­
Finanzdienstleistungsstreitigkeiten, AJP 2015, 86, 96 f.
93 Siehe etwa Subrin/Woo (Fn. 46), 200 f.; Mulheron (Fn. 88), 52 ff. m. w. H.
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Corinne Widmer Lüchinger
ZBJV · Band 151 · 2015
konform zu verhalten.94 Zugleich wächst aber auch die Gefahr, dass
dieses Druckmittel missbräuchlich eingesetzt wird.95 Der Beklagte in
einer «class action» weiss, dass das Verfahren jahrelang dauern kann,
viele Ressourcen binden wird, den Wert der Aktien negativ beeinflus­
sen kann und zu schlechter Presse führt.96 Vor allem aber ist er sich
aufgrund der «American Rule» bewusst, dass er – auch wenn die Kla­
ge schlussendlich abgewiesen wird – sämtliche Kosten selber tragen
muss. Dies erklärt, weshalb «class action»­Beklagte auch wenig fun­
dierte Klagen regelmässig mittels Vergleich erledigen. Ein Beispiel
aus jüngerer Zeit sind die Sammelklagen gegen Ferrero USA, Inc,
welche Nutella herstellt. Ferrero hatte in ihrer Werbung suggeriert,
dass der Genuss von Nutella zum Frühstück «gesund und bekömm­
lich» sei, was jedoch, so der Vorwurf der Kläger, gar nicht stimme (!).
Um sich von diesen Verfahren zu befreien, hat Ferrero einem Vergleich
in Höhe von insgesamt über drei Millionen Dollar zugestimmt.97 Ge­
nerell ist die Quote der Fälle, die in den USA mittels Vergleich abge­
schlossen werden, sehr hoch.98
Vom Missbrauchspotenzial der Sammelklagen profitieren in
erster Linie die Klägeranwälte, denn sie führen die Prozesse regelmäs­
sig auf der Grundlage eines «contingent fee agreement».99 Damit er­
halten sie im Erfolgsfall einen Prozentsatz der Urteils­ oder Ver­
gleichssumme als Honorar. Im Nutella­Verfahren betrug das Honorar
der Klägeranwälte 30% der Bruttovergleichssumme.100 Demgegenüber
94 Vgl. Trüten (Fn. 89), EuZ 2015, 4, 5; Widmer (Fn. 24), 380 f.
95 Vgl. Mulheron (Fn. 88), 3 f., 72 ff.; Friedenthal/Kane/Miller (Fn. 39),
758 f.; Widmer (Fn. 24), 381; Trüten (Fn. 89), EuZ 2015, 4, 5 f. m. w. H.
96 Vgl. die Ausführungen bei Subrin/Woo (Fn. 46), 202.
97 Siehe <https://nutellaclassactionsettlement.com> (26. 2. 2015).
98 Vgl. Congressional Budget Office, The Economics of US Tort Liability: A
Primer, October 2003, viii, 3, 5 f., abrufbar unter <www.cbo.gov/sites/default/files/10­
22­tortreform­study.pdf> (26. 2. 2015), wonach in rund 97% aller Haftpflichtfälle
Vergleiche geschlossen werden; vgl. auch Subrin/Woo (Fn. 46), 193, 202 f., 204.;
siehe auch den Bericht des Bundesrates vom 3. 7. 2013 (Fn. 69), 37.
99 Zum Konnex zwischen «class actions» und «contingent fees» siehe Subrin/
Woo (Fn. 46), 203, 204.
100 Siehe In re: Nutella Marketing and Sales Practices Litigation, Class Action
Settlement Agreement vom 10. 1. 2012, Civil Action No. 3:11­cv­01086­FLW­DEA
(US District Court for the District of New Jersey), N 52, abrufbar unter <https://
nutellaclassactionsettlement.com/CourtDocuments.aspx> (26. 2. 2015).
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
erhielten die Gruppenmitglieder ganze vier Dollar pro Glas Nutella,
das sie gekauft hatten. Pro Familie war der Maximalbetrag zudem auf
20 Dollar beschränkt.101
7.
Beweisausforschung («discovery»-Verfahren)
Als letztes Kennzeichen der amerikanischen «Geschädigten­
freundlichkeit» sei die sogenannte «pre­trial discovery» erwähnt.
Dieses prozessuale Instrument ermöglicht es den Parteien, das Be­
weismaterial des Gegners gezielt auszuforschen. Im Unterschied zur
vorsorglichen Beweisführung102 und Editionspflicht103 nach schwei­
zerischem Zivilprozessrecht dient die «discovery» nicht bloss dem
Beweis der eigenen Tatsachenbehauptungen.104 Das «discovery»­Ver­
fahren soll den Parteien vielmehr ermöglichen, den Kenntnisstand des
Gegners zu erforschen und die Schwachstellen seiner Argumentation
aufzudecken. Dahinter steht der Gedanke der Waffengleichheit: Sieg
oder Niederlage im Prozess sollen nicht von Beweisschwierigkeiten
101 Siehe In re: Nutella Marketing and Sales Practices Litigation (Fn. 100),
Exhibit D, Notice of Class Settlement, 1 («Terms of the Settlement»), sowie In re
Ferrero Litigation, Class Action Settlement Agreement vom 18. 1. 2012, Case
No. 11­CV­205 H (CAB) (US District Court for the Southern District of California),
Exhibit D, Notice of Class Settlement, 1, abrufbar unter <https://nutellaclassactions­
ettlement.com/Notice.aspx> (26. 2. 2015). Aufgrund der Höhe des Anwaltshonorars
fochten mehrere Mitglieder der Klasse den gerichtlich genehmigten Vergleich an,
allerdings ohne Erfolg; siehe In re: Nutella Marketing and Sales Practices Litigation,
Urt. Nr. 12­3456, 12­3457 und 12­4629, und «Opinion» vom 29. 9. 2014 (US Court of
Appeals for the Third Circuit), abrufbar unter <https://nutellaclassactionsettlement.
com/CourtDocuments.aspx> (26. 2. 2015); In re Ferrero Litigation, Urt. Nr. 12­56469
vom 16. 7. 2014 (US Court of Appeals for the Ninth Circuit), abrufbar unter <http://
cdn.ca9.uscourts.gov/datastore/memoranda/2014/07/16/12­56469.pdf> (26. 2. 2015).
102 Art. 158 Abs.1 ZPO.
103 Art. 160 Abs.1 lit. b ZPO.
104 Vgl. Mark Schweizer, Vorsorgliche Beweisabnahme nach schweizerischer
Zivilprozessordnung und Patentgesetz, ZZZ 2010, 1, 12 f.; Laurent Killias/Mi­
chael Kramer/Thomas Rohner, Gewährt Art. 158 ZPO eine «pre­trial discovery»
nach US­amerikanischem Recht?, in: Franco Lorandi/Daniel Staehelin (Hrsg.), In­
novatives Recht, FS Ivo Schwander, Zürich 2011, 933 ff.; Walter Fellmann, in:
Sutter­Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen
Zivilprozessordnung, 2. Aufl., Zürich 2013, Art. 158 N 17a m. w. H.
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ZBJV · Band 151 · 2015
abhängen.105 Auch hier besteht jedoch eine grosse Missbrauchsgefahr.
Die Parteien können mit «discovery»­Begehren regelrecht bombar­
diert werden.106 Je nach Umfang des Begehrens müssen unzählige
Stunden mit dem Heraussuchen, Sichten, Kopieren und Bereitstellen
des Materials verbracht werden. Die «discovery abuse» geht allerdings
in beide Richtungen. Parteien, die «discovery» begehren, können mit
Millionen (!) von unnützen Unterlagen überschüttet werden, um mög­
lichst zu verhindern, dass sie die wesentlichen Dokumente entde­
cken.107 Die «discovery abuse» steht deshalb auch in den USA in der
Kritik.108 Aufgrund der «American Rule» muss wiederum jede Partei
selber die mit der «discovery» verbundenen Kosten tragen.
8.
Würdigung
Der Überblick zeigt, dass sich die Situation des Geschädigten
in der Schweiz und in den USA tatsächlich stark unterscheidet. Ursa­
che dafür ist aber primär das Prozessrecht.109 Das amerikanische
Recht gibt dem Geschädigten sehr viele prozessuale Instrumente in
die Hand, um den Beklagten unter Druck zu setzen, im Guten wie im
Schlechten. Dies wirkt sich gerade im Haftpflichtrecht besonders stark
aus. Das amerikanische Haftpflichtrecht ist deshalb nicht nur geschä­
digtenfreundlicher als das schweizerische, sondern auch missbrauchs­
anfälliger.
105 Siehe dazu ausführlich Friedenthal/Kane/Miller (Fn. 39), 396 ff.; Sub­
rin/Woo (Fn. 46), 129 ff.
106 Siehe die Beispiele bei Subrin/Woo (Fn. 46), 145 f.
107 Siehe die Beispiele bei Charles Yablon, Stupid Lawyer Tricks: An Essay
on Discovery Abuse, 96 Columbua Law Review 1618 (1996); John K. Setear, The
Barrister and The Bomb: The Dynamics of Cooperation, Nuclear Deterrence, and
Discovery Abuse, 69 Boston University Law Review 569 (1989); Subrin/Woo
(Fn. 46), 145 ff.
108 Siehe Subrin/Woo (Fn. 46), 143 ff. m. w. H.
109 Siehe auch den Bericht des Bundesrates vom 3. 7. 2013 (Fn. 69), 40.
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
III. Annäherung der USA an Europa (und damit an
die Schweiz)?
1.
Ausgangspunkt
Was können denn nun die beiden Rechtssysteme voneinander
lernen? Beginnen wir mit den USA. Um es gleich vorwegzunehmen:
Mit Ausnahme des Bankgeheimnisses und des Krankenversicherungs­
systems findet das schweizerische Recht kaum Beachtung in den USA.
In den letzten Jahren kann jedoch eine Annäherung an das europäische
Recht – und damit auch an das schweizerische – beobachtet werden.
Es handelt sich dabei nicht um eine bewusste Annäherung, denn die
amerikanische Politik interessiert sich nicht besonders für europäische
Rechtsordnungen, und auch die amerikanischen Gerichte verschlies­
sen sich zunehmend rechtsvergleichenden Überlegungen.110 Zahl­
reiche Reformen und Reformvorstösse111 gehen jedoch dahin, Klagean­
reize zu senken, den Beklagten besser zu schützen und exorbitante
Urteilssummen einzudämmen, was in der Sache eine Annäherung an
Europa bedeutet – beziehungsweise bedeuten würde, denn die bishe­
rigen Reformen scheinen nur beschränkt zu wirken.112 Das mag daran
liegen, dass sie fast ausschliesslich auf das materielle Recht zielen.
110 Aufschlussreich etwa die Äusserung von US Supreme Court Justice Thomas
im Entscheid Foster v. Florida 537 U. S. 990 (2002), wonach sich das oberste Gericht
Amerikas nicht nach «foreign moods, fads, or fashions» zu richten habe. Die Mei­
nungen der Supreme Court Justices darüber, ob das oberste Gericht sich auch an
ausländischen Rechtsordnungen orientieren soll resp. darf, gehen allerdings ausein­
ander; vgl. Paul Finkelman, Foreign Law and American Constitutional Interpreta­
tion: a Long and Venerable Tradition, 63 NYU Annual Survey of American Law 29
(2007). Siehe allg. auch Ewoud Hondius, Comparative Law in the Court­Room,
Europe and America Compared, FS Schwenzer, Bd. I, Bern 2011, 759 ff.
111 Überblick über den aktuellen Stand der Reformen auf der Website der Ame­
rican Tort Reform Association (ATRA), <www.atra.org> (26. 2. 2015). Siehe allg. zur
amerikanischen «tort reform»­Bewegung F. Patrick Hubbard, The Nature and
Impact of the «Tort Reform» Movement, 35 Hofstra Law Review 437 (2006).
112 Vgl. den Bericht des Congressional Budget Office von Juni 2004, The Effects
of Tort Reform: Evidence from the States, abrufbar unter <www.cbo.gov/sites/default/
files/report_2.pdf> (26. 2. 2015); Theodore Eisenberg, The Empirical Effects of
Tort Reform, in: Jennifer Arlen (Hrsg.), Research Handbook on the Economics of
Torts, Cheltenham 2013, 513 ff.; vgl. auch unten, Fn. 126.
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Kaum angetastet oder auch nur in Frage gestellt wird dagegen das
Prozessrecht, insbesondere das «jury»­Verfahren und die «American
Rule», obwohl gerade hier – zumindest aus europäischer Sicht – die
«Hauptschuldigen» zu suchen sind.
2.
Das Beispiel der Arzthaftung
Eine eigentliche Kehrtwende wird in den USA vor allem in ei­
nem Bereich diskutiert, nämlich bei der Arzthaftung.113 Klagen gegen
Ärzte wegen behaupteter Behandlungsfehler sind in den USA ausser­
ordentlich häufig. Gemäss einer Studie aus dem Jahr 2011 werden rund
75% aller Ärzte im Laufe ihrer Karriere mindestens einmal einge­
klagt; bei besonders risikoreichen Fachgebieten steigt dieser Anteil
gar auf 99%.114 Zwar wird weniger als ein Viertel der Klagen gegen
Ärzte tatsächlich gutgeheissen.115 Die Kosten der Verteidigung sind
jedoch hoch, und aufgrund der «American Rule» können sie auch dann
nicht auf den Kläger abgewälzt werden, wenn dieser unterliegt.
Das grosse Risiko, eingeklagt zu werden, schlägt sich in den
Prämien nieder, die amerikanische Ärzte für ihre Berufshaftpflicht­
versicherung bezahlen müssen. Je nach Region und Fachgebiet können
diese Prämien über 200 000 Dollar pro Jahr betragen, wobei die Band­
breite allerdings beträchtlich ist.116 Zum Vergleich: In der Schweiz
113 Vgl. Hubbard (Fn. 111), 35 Hofstra Law Review 437, 469 f., 517 ff. (2006)
m. w. H.
114 Anupam B. Jena/Seth Seabury/Darius Lakdawalla/Amitabh Chandra,
Malpractice Risk According to Physician Specialty, 365 The New England Journal
of Medicine 629, 633 (2011), abrufbar unter <www.nejm.org/doi/pdf/10.1056/NEJM­
sa1012370> (26. 2. 2015).
115 Jena/Seabury/Lakdawalla/Chandra (Fn. 114), 365 The New England
Journal of Medicine 629, 634 (2011).
116 Siehe den 2014 Annual Survey of Medical Malpractice Rates des Medical
Liability Monitor, erhältlich bei <www.medicalliabilitymonitor.com> (7. 2. 2015);
vgl. ferner den Excellus­Bericht zu Versicherungsprämien in New York, The Facts
about New York State Medical Malpractice Coverage Premiums: 2013­2014 Standard
Medical Malpractice Premium Rates, 2014, abrufbar unter <www.excellusbcbs.com/
wps/portal/xl/our/hpr/factsurveyreport> (26. 2. 2015) (ausgehend von einer Versiche­
rungssumme von 3,9 Mio. Dollar pro Jahr, wobei jedoch pro geschädigten Patienten
maximal 1,3 Mio. Dollar zur Verfügung stehen).
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
betragen marktübliche Jahresprämien bei einer Versicherungssumme
von fünf Millionen Franken (Einmalgarantie) und einem Selbstbehalt
von 300 Franken aktuell rund 1100 Franken für Allgemeinmediziner,
5500 Franken für Urologen und 8100 Franken für Chirurgen.117 Der
teils massive Prämienanstieg, der in den 70er­Jahren einsetzte, war
der eigentliche Auslöser der Reformdiskussion in den USA.118 Die
Prämienhöhe ist nicht nur für die Ärzte ein Problem. In Regionen mit
besonders hohen Versicherungsprämien besteht zunehmend ein Ärzte­
mangel.119 Betroffen ist vor allem das Fachgebiet der Gynäkologie und
Geburtshilfe; hier haben sich die Jahresprämien zwischen 1996 und
2006 durchschnittlich verdreifacht.120 Zugleich wird beobachtet, dass
117 Ich danke Herrn Roland Müller, Leiter Underwriting bei der AXA Win­
terthur, für diese ungefähren Angaben. Schwankungen sind ohne Weiteres möglich;
ausserdem reduzieren sich die Prämien regelmässig aufgrund von Kollektiv­ oder
Rahmenverträgen mit ärztlichen Berufsverbänden. Bei einer Versicherungssumme
von zehn Mio. Franken (Einmalgarantie) steigen die Prämien auf 1200 Franken (All­
gemeinmedizin), 6200 Franken (Urologen) resp. 9200 Franken (Chirurgie) an. Zum
Vergleich: Im Jahre 2005 betrugen die Jahresprämien gemäss Bundesamt für Ge­
sundheit rund 1000 Franken für Allgemeinmediziner, 6000 Franken für Urologen,
6500 Franken für Chirurgen und 20 000 bis maximal 60 000 Franken für plastische
Chirurgen: siehe Bericht des BAG vom 28. 4. 2005 (Fn. 18), 4, (ausgehend von einer
Versicherungssumme von fünf Mio. Franken und einem Selbstbehalt von 200 Fran­
ken).
118 Vgl. Hubbard (Fn. 111), 35 Hofstra Law Review 437 (2006); Brandon Van
Grack, Recent Development: The Medical Malpractice Liability Limitation Bill, 42
Harvard Journal on Legislation 299, 302 f. (2005).
119 Ob zwischen Prämienhöhe und Ärztemängel ein direkter Kausalzusammen­
hang besteht, wird allerdings zum Teil in Frage gestellt; vgl. den Überblick über die
unterschiedlichen Ergebnisse empirischer Studien bei Michelle M. Mello, Medi­
cal Malpractice: Impact of the Crisis and Effect of State Tort Reforms, Robert Wood
Johnson Foundation Synthesis Project Report No. 10, 2006, 2 ff., 15, abrufbar unter
<www.rwjf.org/content/dam/supplementary­assets/2006/05/15168.medmalprac­
ticeimpact.report.pdf> (26. 2. 2015).
120 Vgl. Thomas Edwards Williams/Bhagwan Satiani/E. Christopher Elli­
son, The Coming Shortage of Surgeons: Why They Are Disappearing and What That
Means for Our Health, Santa Barbara 2009, 90; Pamela Robinson/Xiao Xu/Kristie
Keeton/Dee Fenner/Timothy Johnson/Scott Ransom, The Impact of Medical
Legal Risk on Obstetrician­Gynecologist Supply, 105 Obstetrics & Gynecology 1296,
1297, 129 ff. (2005), abrufbar unter <http://journals.lww.com/greenjournal/toc/
2005/06000> (26. 2. 2015). Die Gründe für den Ärzterückgang in diesem Fachgebiet
sind allerdings vielfältig; vgl. Mark Loafman/Shivani Nanda,Who Will Deliver
our Babies?: Crisis in the Physician Workforce, 6 American Journal of Clinical Me­
dicine 11 (2009), abrufbar unter <www.aapsus.org/articles/10.pdf> (26. 2. 2015).
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Ärzte aus Angst vor Klagen Hochrisikopatienten abweisen oder aber
unnötige Untersuchungen durchführen, was die Gesundheitskosten in
die Höhe treibt.121 Es besteht mithin die Sorge, dass das Haftpflicht­
recht letztlich die Gesundheitsversorgung beeinflusst, und das wiede­
rum erklärt, weshalb die Forderung nach einem besseren Schutz der
Ärzte weit verbreitet ist.
Reformen sind bislang vor allem in den Gliedstaaten umgesetzt
worden.122 Sie umfassen insbesondere Begrenzungen («caps») von
«noneconomic damages» (Genugtuung) und «punitive damages»
sowie Beschränkungen der zulässigen «contingent fees» in Verfahren
gegen medizinische Fachpersonen.123 Ziel ist vor allem, die Versiche­
rungsprämien in Schach zu halten und damit letztlich die medizini­
sche Versorgung zu gewährleisten.124 Zugleich soll die sogenannte
Defensivmedizin zurückgebunden werden.125 Die Wirksamkeit sol­
121 Vgl. Jena/Seabury/Lakdawalla/Chandra (Fn. 114), 365 The New England
Journal of Medicine 629, 634 f. (2011); Daniel P. Kessler/Nicholas Summerton/
John R. Graham, Effects of the Medical Liability System in Australia, the UK, and
the USA, 368 The Lancet 240 (2006); David M. Studdert/Michelle M. Mello/
William M. Sage et al., Defensive Medicine Among High­Risk Specialist Physi­
cians in a Volatile Malpractice Environment, 293 The Journal of the American
Medical Association 2609 (2005); Michelle M. Mello/Amitabh Chandra/
Atul A. Gawande/David M. Studdert, National Costs Of the Medical Liability
System, 29 Health Affairs 1569, 1572 ff. (2010), abrufbar unter <http://content.healt­
haffairs.org/content/29/9/1569.full.pdf> (26. 2. 2015); Tamu K. Floyd, Medical Mal­
practice: Trends in Litigation, 134 Gastroenterology 1822, 1823 (2008), abrufbar
unter <www.gastrojournal.org/article/S0016­5085(08)00761­0/pdf> (26. 2. 2015), je
m. w. H.
122 Siehe den Überblick bei Hubbard (Fn. 111), 35 Hofstra Law Review 437,
517 ff. (2006); Mello (Fn. 119), 6 ff.; siehe ferner die Website von ATRA, <www.
atra.org/issues/medical­liability­reform> (26. 2. 2015).
123 Hubbard (Fn. 111), 35 Hofstra Law Review 437, 469 f. (2006); Kessler/
Summerton/Graham (Fn. 121), 368 The Lancet 240, 242 f., 244 (2006); Floyd
(Fn. 121), 134 Gastroenterology 1822, 1823 f. (2008).
124 Siehe den Überblick im Bericht des US General Accounting Office (GAO),
Report to Congressional Requesters, Medical Malpractice Insurance: Multiple Factors
Have Contributed to Increased Premium Rates, Juni 2003, 41 ff., abrufbar unter
<www.gao.gov/new.items/d03702.pdf> (26. 2. 2015).
125 Vgl. Kessler/Summerton/Graham (Fn. 121), 368 The Lancet 240, 241 f.
(2006).
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
cher Reformen ist allerdings umstritten,126 wie auch schon das Be­
stehen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Arzthaftung à
l’américaine und dem Prämienanstieg.127 Immerhin wird seit ein
paar Jahren in einigen Gliedstaaten eine leichte Reduktion (oder
zumindest Stabilisierung) der Prämien für die Berufshaftpflichtver­
sicherung beobachtet.128
Obgleich das Haftpflichtrecht in die Zuständigkeit der US­
Gliedstaaten fällt, sind auch auf Bundesebene verschiedene Reform­
vorstösse zu verzeichnen. Diese gehen in der Regel von republikani­
schen Politikern aus, denn die Demokraten stehen Haftpflichtreformen
traditionell ablehnend gegenüber. Für eine «medical malpractice»­
Reform sprach sich vor allem die Administration unter Präsident
George W. Bush aus,129 allerdings ohne dass es in der Folge zu einer
Reform kam. Später sprach sich auch Barack Obama für eine Reform
126 Vgl. Mello (Fn. 119), 9 ff., mit einem Überblick über die Ergebnisse ver­
schiedener empirischer Studien; Patricia Born/W. Kip Viscusi/Tom Baker, The
Effects of Tort Reform on Medical Malpractice Insurers’ Ultimate Losses, 76 The
Journal of Risk and Insurance 197 (2009); Ronen Avraham, An Empirical Study
of the Impact of Tort Reforms on Medical Malpractice Settlement Payments, 36
Journal of Legal Studies 183 (2007); Kathryn Zeiler, Medical Malpractice Liability
Crisis or Patient Compensation Crisis?, 59 DePaul Law Review 675, 679 ff., 682 ff.
(2010), abrufbar unter <http://via.library.depaul.edu/law­review/vol59/iss2/15>
(26. 2. 2015), je m. w. H.
127 Den Kausalzusammenhang bejahend etwa der GAO­Bericht (Fn. 124), 43;
verneinend Katherine Baicker/Amitabh Chandra, The Effect of Malpractice
Liability on the Delivery of Health Care, 8 Forum for Health Economics & Policy 1,
21 (2005), abrufbar unter <www.hks.harvard.edu/fs/achandr/FHPR_EffectofMal­
practiceHealthCareDelivery_2005.pdf> (26. 2. 2015); Zeiler (Fn. 126), 59 DePaul
Law Review 675, 694 (2010); differenzierend Floyd (Fn. 121), 134 Gastroenterology
1822, 1823 (2008); Mello (Fn. 119), 12.
128 Siehe den 2014 Annual Survey of Medical Malpractice Rates (Fn. 116) sowie
den Überblick bei <http://medicalliabilitymonitor.com/news/2014/10/medical­liabi­
lity­monitor­publishes­2014­annual­survey­of­medical­malpractice­rates>
(26. 2. 2015).
129 Siehe etwa Baicker/Chandra (Fn. 127), 8 Forum for Health Economics &
Policy 1 (2005); vgl. ferner den Bericht des US Department of Health and Human
Services vom 24. 7. 2002, Confronting the New Health Care Crisis: Improving Health
Care Quality and Lowering Costs By Fixing Our Medical Liability System, abrufbar
unter <http://aspe.hhs.gov/daltcp/reports/litrefm.pdf> (26. 2. 2015).
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Corinne Widmer Lüchinger
ZBJV · Band 151 · 2015
aus.130 Im März 2012 hat das Repräsentantenhaus als Erste Kammer
im Kongress den sogenannten «Protecting Access to Healthcare Act
(Help Efficient, Accessible, Low Cost, Timely Healthcare [HEALTH]
Act of 2012)» verabschiedet,131 der auf einen Vorschlag des republi­
kanischen Politikers Phil Gingrey zurückgeht.132 Der Gesetzesentwurf
sollte den Zugang der Bevölkerung zur Gesundheitsversorgung ver­
bessern, insbesondere durch eine Einschränkung der Arzthaftung. Bis
heute hat der Entwurf den Senat nicht passiert,133 was wohl daran liegt,
dass die Demokraten bis im November 2014 im Senat die Mehrheit
hatten. Wie dem auch sei: Auch der HEALTH Act sieht vor allem
materiellrechtliche Reformen vor, insbesondere die Begrenzung von
Genugtuungssummen, «punitive damages» und «contingent fees».134
Das Prozessrecht hingegen bleibt ausgeklammert. Es ist deshalb frag­
lich, ob das Gesetz das Problem tatsächlich lösen könnte. Ähnliche
Reformen haben schon zahlreiche Gliedstaaten umgesetzt, bislang
ohne klare Auswirkungen.135
Eine «Europäisierung» – oder gar «Helvetisierung» – des ame­
rikanischen Rechts ist also bisher nicht eingetreten. Wie sieht es nun
umgekehrt aus?
IV. Annäherung der Schweiz an die USA?
1.
Ausgangspunkt
In Europa wird die «Amerikanisierung» des Haftpflichtrechts
traditionell als etwas Negatives aufgefasst, das es unbedingt zu ver­
meiden gilt.136 Dass wir jedoch auch Gutes von Amerika lernen
können, zeigt das Beispiel des Produktehaftpflichtrechts. Die ver­
130 Siehe Alex Nussbaum, Malpractice Lawsuits are «Red Herring» in Obama
Plan, Bloomberg 16. 6. 2009, abrufbar unter <www.bloomberg.com/apps/news?pid=
newsarchive&sid=az9qxQZNmf0o> (26. 2. 2015).
131 Siehe <www.govtrack.us/congress/bills/112/hr5/text/rds> (26. 2. 2015).
132 Siehe <www.congress.gov/bill/112th­congress/house­bill/5> (26. 2. 2015).
133 Siehe <www.govtrack.us/congress/bills/112/hr5/text/rds> (26. 2. 2015).
134 Vgl. sec. 104(b) (Obergrenze von 250 000 Dollar bei der Zusprechung von
Genugtuung); sec. 106 (punitive damages); sec. 105 (contingent fees).
135 Siehe die Hinweise in Fn. 126.
136 Siehe bereits oben sub I.
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
schuldensunabhängige Haftpflicht des Produktherstellers, die wir
aufgrund einer EG­Richtlinie137 heute in ganz Europa kennen, wur­
de bereits 20 Jahre zuvor in der amerikanischen Gerichtspraxis ent­
wickelt.138
Wenn wir heute etwas von den USA lernen können, dann ist es
die Bereitschaft, vorhandene Spielräume zugunsten des Geschädigten
zu nutzen, gerade auch als Richter. Dies lässt sich anhand der Asbest­
problematik aufzeigen.
2.
Das Beispiel der Verjährung bei Asbestschäden
2.1
Die schweizerische Perspektive
Das Bundesgericht hatte bekanntlich vor vier Jahren die Klage
eines Arbeitnehmers, der eine asbestbedingte Erkrankung erlitten
hatte, zu beurteilen.139 Der Fall betraf einen ehemaligen Turbinen­
monteur, der während der Arbeit Asbestfasern ausgesetzt gewesen
war. Rund 40 Jahre später erkrankte er an einem malignen Pleurame­
sotheliom, einer besonders aggressiven Krebsart, die unweigerlich
137 Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. 7. 1985 zur Angleichung der Rechts­
und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte
Produkte.
138 Leading case ist der Entscheid des Supreme Court of California in Greenman
v. Yuba Power Products, Inc., 59 Cal. 2d 57, 377 P.2d 897, 27 Cal.Rptr. 697, 13
A. L. R.3d 1049 (1963), auszugsweise wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 176 ff. Zu
diesem historischen Entscheid siehe etwa David G. Owen, Products Liability Law
Restated, 29 South Carolina Law Review 273, 276 ff. (1998). Zur Entwicklung der
verschuldensunabhängigen Produktehaftpflicht in den USA siehe Widmer (Fn. 24),
155 ff.; ausführlich David G. Owen, Products Liability Law, St. Paul, Minn. 2005,
10 ff.
139 BGE 137 III 16 ff. Siehe zu diesem Entscheid Corinne Widmer Lüchinger,
Die Verjährung bei Asbestschäden, ZBJV 2014, 460 ff.; Wolfgang Portmann/
Ivana Streuli­Nikolic, Zur Verjährung von Forderungen aus positiver Vertrags­
verletzung im Fall von Spätschäden, ArbR 2011, 13 ff.; Benoît Chappuis/Franz
Werro, Délais de prescription et dommages différés: réflexions sur l’ATF 137 III 16
et la motion parlementaire 07.3763, HAVE 2011, 139 ff.; Massimo Aliotta/David
Husmann, Die Verjährung von Ersatzforderungen aus Spätschäden – neue Entwick­
lungen in Rechtsprechung und Gesetzgebung, HAVE 2012, 90 ff.
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Corinne Widmer Lüchinger
ZBJV · Band 151 · 2015
zum Tod führt,140 und verklagte seinen früheren Arbeitgeber. Das
Bundesgericht hielt die Forderung für verjährt und wies die Klage ab.
Betrachtet man das Gesetz, könnte man versucht sein, den Ent­
scheid des Bundesgerichts für richtig zu halten. Nach Obligationen­
recht beträgt die Verjährungsfrist bei Personenschäden nämlich höchs­
tens zehn Jahre.141 Diese zehn Jahre sind weit weniger als die
Latenzzeit beim Pleuramesotheliom, die rund 50 Jahre142 beträgt. Das
Problem scheint also die zu kurze Verjährungsfrist zu sein. So sah es
auch der Bundesrat, welcher die absolute Verjährungsfrist auf immer­
hin 30 Jahre anheben wollte.143 Wie bereits früher in dieser Zeitschrift
ausführlich dargelegt,144 ist das Problem in Wirklichkeit jedoch nicht
die Dauer der Frist, sondern der Beginn des Fristenlaufs. Bei vertrag­
lichen Ansprüchen, um die es auch im erwähnten Entscheid ging, sagt
das Gesetz lediglich, dass die Verjährung mit der Fälligkeit zu laufen
beginnt (Art. 130 Abs. 1 OR). Wesentliche Frage ist demnach, wann
eine vertragliche Forderung fällig wird.
Bei Asbestschäden besteht das Problem darin, dass es im Zeit­
punkt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer pflichtwidrig Asbest
ausgesetzt hat, nicht möglich ist, die Folgen der Pflichtverletzung vor­
herzusagen. Ob der Betroffene überhaupt je krank werden wird, kann
im Moment der Pflichtverletzung niemand wissen, denn eine gesund­
heitliche Beeinträchtigung ist in diesem Zeitpunkt objektiv nicht fest­
stellbar. Deshalb kann das Gericht auch nicht nach Art. 46 OR den
Schaden schätzen, der in der Zukunft – vielleicht – entstehen wird.145
Daraus folgt, dass im Zeitpunkt der Pflichtverletzung noch gar keine
Forderung existiert, die fällig werden und verjähren könnte. Dennoch
hat das Bundesgericht entschieden, dass vertragliche Forderungen
aufgrund pflichtwidriger Asbestexposition bereits in jenem Moment
140 Siehe die Hinweise bei Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 462 f.
141 Siehe Art. 127 OR (für vertragliche Ansprüche) und Art. 60 Abs. 1 OR (für
ausservertragliche Ansprüche); vgl. auch Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014,
460, 464 f.
142 Siehe Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 462 f. m. H.
143 Siehe die Botschaft zur Änderung des Obligationenrechts (Verjährungsrecht),
BBl 2014, 235 ff.
144 Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460 ff.
145 Dazu Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 476 f.; Portmann/
Streuli­Nikolic (Fn. 139), ArbR 2011, 13, 23.
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
fällig werden, in dem der Arbeitgeber seine Pflichten verletzt hat. Erst
diese dogmatisch wenig überzeugende Bestimmung der Fälligkeit
durch das Bundesgericht führte dazu, dass die Forderungen des Be­
troffenen bzw. seiner Hinterlassenen verjährt waren, bevor sie über­
haupt entstanden waren. Dies drückt eine Abwehrhaltung gegenüber
Geschädigten aus, die vom Gesetz nicht vorgegeben ist. Der vorhan­
dene gesetzliche Spielraum wurde nicht ausgeschöpft. Der Entscheid
hat bekanntlich im März 2014 zu einer Verurteilung der Schweiz durch
den EGMR geführt.146 Die Haltung des Bundesgerichts erklärt sich
wohl aus der Zurückhaltung heraus, rechtspolitische Entscheidungen
zu treffen, die nach kontinentaleuropäischem Verständnis nicht dem
Gericht, sondern dem Gesetzgeber zustehen. Hier geht es jedoch nicht
einmal primär um eine rechtspolitische Entscheidung, sondern um
eine dogmatisch überzeugende Argumentation. Dass sie auch noch
sachgerecht wäre, ist sozusagen ein «added bonus».
Auch die aktuellen Bestrebungen zur Reform des schweizeri­
schen Verjährungsrechts lassen wenig Hoffnung aufkommen, dass
dem Problem der Spätschäden ernsthaft zu Leibe gerückt werden soll.
Im Gegenteil, das Verjährungsproblem wird im Entwurf des Bundes­
rats147 – jedenfalls für vertragliche Ersatzforderungen – sogar ver­
schärft, da der dies a quo nun gesetzlich an die Pflichtverletzung
gekoppelt werden soll.148 Zwischen Pflichtverletzung und Erkrankung
können aber ohne Weiteres mehr als 30 Jahre vergehen, wie das Bei­
spiel des Pleuramesothelioms zeigt. Dass die eigentliche Crux nicht
146 Howald Moor et autres c. Suisse, Urteil Nr. 52067/10 und 41072/11 vom
11. 3. 2014, abrufbar unter <http://hudoc.echr.coe.int> (26. 2. 2015). Zu diesem Ent­
scheid siehe Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460 ff.; Christoph Müller,
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt die Schweiz wegen der
absoluten Verjährung der Ansprüche von Asbestopfern, Jusletter 26. 3. 2014; Frédéric
Krauskopf, EMRK­widriges Verjährungsrecht! – Die Schweiz muss die Verjährung
im Schadensrecht überdenken, Jusletter 26. 3. 2014; David Husmann, Ein Tumor, der
sich nicht an Fristen hält, plädoyer 2/2014, 13 ff.; Thierry Décaillet, Le droit suisse
prive­t­il vraiment les victimes de dommages différés de la possibilité de faire valoir
leurs prétentions en justice?, HAVE 2014, 145 ff.; zur Frage der EMRK­Konformität
siehe auch Felix Schöbi, Lex dura sed lex? Zur Vereinbarkeit der (absoluten) Ver­
jährung mit der EMRK, Liber amicorum Brehm, Bern 2012, 417 ff.
147 Obligationenrecht (Revision des Verjährungsrechts) (Entwurf), BBl 2014, 287 ff.
148 Art. 128 E­OR; vgl. Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 471 f.
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Corinne Widmer Lüchinger
ZBJV · Band 151 · 2015
die Dauer, sondern der Beginn der Verjährungsfrist ist, scheint auch
im Parlament nicht erkannt worden zu sein, fokussiert sich dort doch
die Diskussion auf die Länge der Frist.149 Nach dem Willen des Na­
tionalrats als behandelnden Erstrats soll diese nicht einmal mehr (wie
vom Bundesrat vorgeschlagen) 30, sondern nur 20 Jahre betragen.150
Dies ist umso bedenklicher, als eine befriedigende Lösung bereits de
lege lata möglich wäre.151
2.2
Die amerikanische Perspektive
Auch in Amerika, wo man auf eine mehr als 40­jährige Gerichts­
praxis zur Asbestfrage zurückblicken kann, stellte die Verjährungsfra­
ge eines der Hauptprobleme dar.152 Die Gliedstaaten, in deren
Kompetenz das Verjährungsrecht fällt, kennen im Falle von Personen­
schäden grundsätzlich keine Verjährungsfristen, die bereits mit der
pflichtwidrigen Handlung zu laufen beginnen würden.153 Stattdessen
gilt traditionell die sogenannte «accrual rule», wonach der Fristenlauf
erst beginnt, wenn die Pflichtverletzung zu einer Rechtsgutverletzung
(«injury») geführt hat. Bereits diese Regelung ist viel liberaler als die
erwähnte Bundesgerichtspraxis und Verjährungsreformvorlage, die
beide auf die Pflichtverletzung abstellen. Dennoch wurde die «accrual
rule» als unbefriedigend betrachtet, da sie ausser Acht liess, ob der
Betroffene von der Rechtsgutverletzung wissen konnte.154 Insbesonde­
re für Erkrankungen mit langen Latenzzeiten haben deshalb Gesetz­
geber und Gerichte die heute herrschende «discovery rule» einge­
149 Zu den Beratungen siehe Amt.Bull. N 2014, 1760 ff.
150 Amt.Bull. N 2014, 1786.
151 Dazu ausführlich Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 475 ff.
152 Vgl. die vom RAND Institute for Civil Justice unterstützte Studie von Stephen
J. Carroll/Deborah Hensler/Jennifer Gross/Elizabeth M. Sloss/Matthias
Schonlau/Allan Abrahamse/J. Scott Ashwood, Asbestos Litigation, Santa
Monica 2005, 25 f., abrufbar unter <www.rand.org/content/dam/rand/pubs/mono­
graphs/2005/RAND_MG162.pdf> (26. 2. 2015); James A. Henderson/Aaron D.
Twerski, Asbestos Litigation Gone Mad: Exposure­Based Recovery for Increased
Risk, Mental Distress, and Medical Monitoring, 53 South Carolina Law Review 815,
820 (2002) m. w. H.
153 Dobbs (Fn. 23), 553 f. m. H. zu Ausnahmen, die teils für bestimmte Berufs­
gruppen eingeführt worden sind.
154 Dobbs (Fn. 23), 554 f. m. H.
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
führt.155 Danach beginnt die Verjährungsfrist erst zu laufen, wenn der
Geschädigte die Rechtsgutverletzung sowie deren Verursachung durch
den Schädiger kannte oder kennen musste.156 Dabei dauert die Verjäh­
rungsfrist («limitation period») im Falle fahrlässig verursachter Perso­
nenschäden je nach Gliedstaat ein bis sechs Jahre.157
155 Vgl. aus der Rechtsprechung etwa Louisville Trust Co. v. Johns-Manville
Products Corp., 580 S.W.2d 497, 500, 501 (Supreme Court of Kentucky 1979): «The
clear trend, in most [American] jurisdictions in cases dealing with drugs, chemicals
and asbestos has been to apply some variation of the discovery rule …»; aus der
Gesetzgebung siehe z. B. Section 214C des NY Code – Civil Practice Law and Rules:
«[T]he three year period within which an action to recover damages for personal
injury … caused by the latent effects of exposure to any substance … upon or within
the body … must be commenced shall be computed from the date of discovery of the
injury by the plaintiff or from the date when through the exercise of reasonable
diligence such injury should have been discovered by the plaintiff, whichever is
earlier»; spezifisch auf Asbestfälle zugeschnitten etwa Section 6­2­30(b) Code of
Alabama: «A civil action for any injury to the person or rights of another resulting
from exposure to asbestos … shall be deemed to accrue on the first date the injured
party, through reasonable diligence, should have reason to discover the injury giving
rise to such civil action»; ferner § 340.2 des California Code of Civil Procedure:
«(a) In any civil action for injury or illness based upon exposure to asbestos, the time
for the commencement of the action shall be the later of the following: (1) Within one
year after the date the plaintiff first suffered disability. (2) Within one year after the
date the plaintiff either knew, or through the exercise of reasonable diligence should
have known, that such disability was caused or contributed to by such exposure»;
alle Gesetzesbestimmungen abrufbar unter <http://codes.lp.findlaw.com> (26. 2. 2015).
156 Siehe Dobbs (Fn. 23), 554 ff.; Michael D. Green, The Paradox of Statutes
of Limitations in Toxic Substances Litigation, 76 California Law Review 965, 976 ff.
(1988), je m. H. zur Rechtsprechung und zu verschiedenen Variationen der discovery
rule; siehe auch die Hinweise in Fn. 155. Ähnlich das englische Recht, wonach die
Verjährung bei Personenschäden in der Regel drei Jahre ab Entstehen des Ersatzan­
spruchs oder aber, falls später erlangt, ab Kenntnis (resp. Kennenmüssen) des Betrof­
fenen eintritt: siehe Section 11(4) i. V. m. Section 14 des Limitation Act 1980 (abruf­
bar unter <www.bailii.org/form/search_legis.html> [26. 2. 2015]); dazu Andrew
McGee, Limitation Periods, 7. Aufl., London 2014, N 8.005 ff.; Frank Burton/
Andrew Roy, Personal Injury Limitation Law, 3. Aufl., Haywards Heath 2013, 20 ff.;
Martin Canny, Limitation of Actions in England and Wales, Haywards Heath 2014,
N 13.01 ff.
157 Eine Zusammenstellung der Einzelstaatenregelungen findet sich bei Frank
August Schubert, Introduction to Law and the Legal System, 11. Aufl., Boston
2015, 198 ff. sowie online bei <http://statelaws.findlaw.com/accident­and­injury­laws/
civil­statute­of­limitations­laws.html> und <www.nolo.com/legal­encyclopedia/
statute­of­limitations­state­laws­chart­29941.html> (26. 2. 2015); vgl. auch <www.
mesothelioma.com/lawyer/statute­of­limitations.htm> (26. 2. 2015).
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Absolute Verjährungsfristen, die bereits mit der schädigenden
Handlung zu laufen beginnen (sogenannte «statutes of repose»), wur­
den erst in den 70er­ und 80er­Jahren von den Gesetzgebern verschie­
dener Gliedstaaten eingeführt. Sie gelten nach wie vor als singulär.
Dort, wo sie eingeführt worden sind, gelten sie ausserdem nur für
«particular groups that have lobbied for them»158, insbesondere Pro­
dukthersteller, Architekten, medizinische Fachpersonen und Regie­
rungseinheiten.159 Die Verfassungsmässigkeit solcher Regelungen ist
zum Teil in Zweifel gezogen worden, versuchen sie doch «to declare
the bread stale before it is baked».160
Trotz der sehr liberalen «discovery rule» waren auch in den USA
Forderungen oftmals verjährt, bevor die Betroffenen überhaupt er­
krankt waren. Dies lag an der sogenannten «single action rule», wo­
nach Betroffene den gesamten Schaden, der auf ein und dieselbe
Pflichtverletzung zurückzuführen war, in einem einzigen Verfahren
geltend machen mussten.161 Wenn also die Pflichtverletzung des Ar­
beitgebers zunächst nur eine Krankheit (z. B. Asbestose) auslöste und
sich erst viel später eine weitere, schwerwiegendere Erkrankung (z. B.
ein Pleuramesotheliom) manifestierte, die auf dieselbe Ursache zu­
rückzuführen war, dann konnte der Betroffene für den aufgrund des
Mesothelioms erlittenen Schaden keinen Ersatz mehr verlangen. Im
Moment nämlich, in dem er aufgrund der Asbestose von der Pflicht­
verletzung des Arbeitgebers wusste oder wissen musste, begann nach
der «discovery rule» in Verbindung mit der «single action rule» die
Verjährung für sämtliche Schäden zu laufen, die sich – auch in ferner
Zukunft – aus der Pflichtverletzung ergeben würden.162
Die Rigidität der «single action rule» wurde von zahlreichen
Gerichten als unbefriedigend empfunden. Sie suchten deshalb nach
158 Dobbs (Fn. 23), 557 f.
159 Dobbs (Fn. 23), 557 f. m. H.
160 Siehe Dobbs (Fn. 23), 560 f., mit Anm. 20.
161 Siehe etwa Eagle-Picher Industries, Inc. v, Cox, 481 So.2d 517, 519 ff. (District
Court of Appeal of Florida, 3rd District 1985); Henderson/Twerski (Fn. 152), 53
South Carolina Law Review 815, 819 ff. (2002); Dobbs (Fn. 23), 570 ff. m. w. H. Die
«single action rule» wurde in der englischen Gerichtspraxis entwickelt; vgl. Johnston
v. NEI International Combustion Limited [2007] UKHL 39, N 13 f. (abrufbar unter
<www.bailii.org> [26. 2. 2015]), unter Bezugnahme auf Brunsden v. Humphrey (1884)
14 QBD 141.
162 Dobbs (Fn. 23), 570 ff. m. w. H.
Schweizerisches und US­amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz
Möglichkeiten, um den Betroffenen zu helfen. Dazu setzten sie ver­
schiedene Kunstgriffe ein.163 So wurde verschiedentlich entschieden,
dass bereits die Angst («mental distress»), infolge einer pflichtwidrigen
Asbestexposition irgendwann einmal zu erkranken, einen Anspruch
auf Genugtuung begründen könnte.164 Andere Gerichte gewährten
Ersatz für die Kosten aus medizinischen Vorsorgeuntersuchungen
(«medical monitoring»),165 und auch die blosse Steigerung des Risikos,
an einem asbestbedingten Leiden zu erkranken, wurde zum Teil als
Haftungsgrund anerkannt («liability for increased risk»).166 Diese kre­
ative Gerichtspraxis war nicht unproblematisch, denn sie führte zu
einer eigentlichen Klagewelle von Personen, die noch gar nicht krank
waren und bei denen man überhaupt nicht wusste, ob sie je krank
werden würden.167 Aufgrund der sehr hohen Zahl betroffener Personen
trugen diese Entscheide ausserdem zu einer massiven Überbelastung
der Gerichte bei.168 Gemäss einer Studie hatten bis 2002 bereits rund
730 000 Personen asbestbedingte Klagen eingereicht.169 Auch die öko­
nomischen Implikationen waren weitreichend, und zwar nicht nur für
163 Vgl. dazu kritisch Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law
Review 815 (2002).
164 Dobbs (Fn. 23), 571; Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law
Review 815, 823 ff. (2002) m. w. H.
165 Dobbs (Fn. 23), 571; Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law
Review 815, 836 ff. (2002) m. w. H.
166 Dobbs (Fn. 23), 571; Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law
Review 815, 822 f. (2002) m. w. H. Auch nach englischem Recht kann das Gericht
Schadenersatz für eine Risikosteigerung zusprechen, allerdings nur dann, wenn die
Pflichtverletzung nicht bloss das Risiko erhöht, sondern zudem zu einer Rechtsgut­
verletzung geführt hat, für die der Kläger im selben Verfahren Ersatz verlangt. So
könnte ein Kläger, der an Asbestose leidet, sowohl für den dadurch verursachten
Schaden als auch für das erhöhte Risiko einer späteren Mesotheliomerkrankung
entschädigt werden. Dagegen genügt die blosse Risikosteigerung für sich alleine nicht,
um die Haftung des Beklagten auszulösen; vgl. Johnston v. NEI International Combustion Limited [2007] UKHL 39 (Fn. 161), N 14. Zur Rechtslage nach Section 32A
des Supreme Court Act 1981 siehe unten, Fn. 172.
167 Instruktiv die Begründung in Eagle-Picher Industries, Inc. v, Cox, 481 So.2d
517, 521 ff. (District Court of Appeal of Florida, 3rd District 1985), weshalb Ansprü­
che für «increased risk» abzuweisen seien.
168 Vgl. Carroll et al. (Fn. 152), 70 ff.; Green (Fn. 156), 76 California Law
Review 965, 966 f. (1988) m. w. H.
169 Carroll et al. (Fn. 152), 70 ff.
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die beklagten Unternehmen, von denen zahlreiche in Konkurs fielen,170
sondern auch für jene Arbeitnehmer, die infolge der Konkurse ihre
Stelle verloren.171 Inzwischen hat diese Rechtsprechung weitgehend
ihre Berechtigung verloren, denn die meisten US­Gliedstaaten haben
für Erkrankungen mit langen Latenzzeiten die «single action rule»
aufgehoben, sodass die Verjährung kein Hindernis mehr darstellt.172
Die Praxis zeugte jedoch vom Bemühen, für neue gesellschaftliche
Probleme adäquate Lösungen zu finden. Dies lässt der Asbestentscheid
des Bundesgerichts vermissen.
V.
Schlusswort
Betrachtet man das amerikanische Haftpflichtrecht, so lässt sich
festhalten, dass der Schweiz keine «Amerikanisierung» droht. Zu
gross sind vor allem die prozessualen Unterschiede zwischen den
beiden Staaten. Unser Prozessrecht, insbesondere die Regelung zur
Kostenverteilung im Zivilverfahren, ist es, welches «amerikanische
Verhältnisse» weitgehend verhindert. Wenn wir dieses Zusammenspiel
zwischen Prozessrecht und Haftpflichtrecht besser verstehen, dann
können wir auch den Spielraum, den uns das Gesetz gibt, mutiger
170 Gemäss der RAND­Studie von Carroll et al. (Fn. 152), 109, waren bis
Mitte 2004 73 asbestbedingte Konkurse von US­Unternehmen zu verzeichnen.
171 Zu den Implikationen der «asbestos­related bankruptcies» in den USA siehe
Carroll et al. (Fn. 168), 107 ff.
172 Siehe Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law Review 815,
822 (2002) mit zahlreichen Hinweisen; aus der Gerichtspraxis vgl. insbes. Hagerty
v. L & L Marine Services, Inc., 788 F.2d 315, 320 f. (US Court of Appeals, 5th Circuit
1986). In England gilt die «single action rule» an sich zwar nach wie vor, wird jedoch
durch die erwähnte Gerichtspraxis (siehe Fn. 166) gemildert. Noch weiter einge­
schränkt wird sie aber durch Section 32A des Supreme Court Act 1981 (abrufbar
unter <www.bailii.org/form/search_legis.html> [26. 2. 2015]). Danach kann das Ge­
richt einem Kläger, der aufgrund einer Pflichtverletzung einen Personenschaden er­
litten hat und bei dem erwiesen oder anerkannt ist, dass dieselbe Pflichtverletzung
zugleich das Risiko einer zukünftigen schweren Erkrankung erhöht hat, sogenannte
«provisional damages» zusprechen. Dies bedeutet, dass der Kläger vorerst nur für
den bereits eingetretenen Schaden Ersatz erhält; falls sich jedoch später zudem das
Risiko verwirklichen sollte, kann er erneut klagen, ohne sich die «single action rule»
entgegenhalten lassen zu müssen. Vgl. Johnston v. NEI International Combustion
Limited [2007] UKHL 39 (Fn. 161), N 15 f.
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zugunsten des Geschädigten ausschöpfen. Es ist bedauerlich, dass das
Bundesgericht dies in seinem Entscheid zur Haftung für Asbestschä­
den versäumt hat, vor allem wenn man bedenkt, dass die laufende
Gesetzesrevision keine wirkliche Verbesserung verspricht.
Was den aktuellen Reformprozess betrifft, so ist zu bedauern,
dass die amerikanische Verjährungsregelung (die sich übrigens weit­
gehend mit der englischen Lösung deckt173) nicht zumindest geprüft
worden ist. Unabhängig davon, was man als «richtige» Lösung be­
trachten mag: Eine gute Reform setzt die offene und eingehende Aus­
einandersetzung mit verschiedenen Lösungsmöglichkeiten voraus.
Dazu hätte die amerikanische «discovery rule» gehört. Schliesslich
gilt auch für die Schweiz der berühmte Ausspruch von Lord Denning:
«If we never do anything which has not been done before, we shall
never get anywhere. The law will stand still whilst the rest of the world
goes on; and that will be bad for both.»174
173 Vgl. oben Fn. 156 und 172.
174 Packer v. Packer, [1954] P. 15, 22.
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