mit freundlicher Genehmigung der Stämpfli Verlag AG Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Revue de la société des juristes bernois 151. Jahrgang Erscheint jeden Monat Juli/August 2015 7/8 2015 www.zbjv.ch Organ für schweizerische Rechtspflege und Gesetzgebung Redaktoren Prof. Dr. Jörg Schmid Prof. Dr. Sibylle Hofer Stämpfli Verlag Stämpfli Verlag AG Bern ZBJV · Band 151 · 2015 Inhaltsverzeichnis Abhandlungen 545 Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz Von Prof. Dr. Corinne Widmer Lüchinger, Basel/Cambridge 582 Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2014 Personenrecht und Erbrecht Von Prof. Dr. Regina E. AebiMüller, Luzern Aktuell aus dem Bundesgericht 592 Ergänzungsleistungen zur AHV/IV: interkantonale Zuständigkeit für die Festsetzung und die Auszahlung bei Heimbewohnern Von Marcel Attinger, Zürich 595 Schüler mit Schreibstörung darf Aufnahmeprüfung am Computer schreiben Von lic. iur. Christian Winiger, Olten/Lausanne 599 Zu Recht verweigerte Rechtsöffnung im Fall eines ausländischen, auf öffentlichem Recht beruhenden Entscheids Von Dr. Martin Kocher, Studen BE Rechtsprechung 605 Aus der Rechtsprechung des Handelsgerichts des Kantons Bern Von Roland Sarbach, Bern, und Michael Kündig, Bern 613 Aus der Rechtsprechung des Luzerner Kantonsgerichts Von Louis Iseli, Luzern I II ZBJV · Band 151 · 2015 Impressum Herausgeber Stämpfli Verlag AG, Wölflistrasse 1, Postfach 5662, 3001 Bern Tel. 031 300 63 12, Fax 031 300 66 88 EMail [email protected], Internet www.staempfli.com Verantwortliche Redaktoren Prof. Dr. Jörg Schmid, Luzern, Prof. Dr. Sibylle Hofer, Bern Redaktionelle Mitarbeiter: Prof. Dr. Regina AebiMüller, Luzern; Dr. Bernhard Berger, Bern; Prof. Dr. Felix Bommer, Luzern; Kantonsrichter Rolf Brunner, St. Gallen; Oberrichter Dr. Ruedi Bürgi, Aarau; Prof. Dr. Thomas Gächter, Zürich; Prof. Dr. Heinz Hausheer, Bern; Prof. Dr. Bettina HürlimannKaup, Freiburg; Prof. Dr. Marc M. 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Der Ver lag behält sich alle Rechte am Inhalt der ZBJV vor. Insbesondere die Vervielfältigung auf dem Weg der Fotokopie, der Mikrokopie, der Übernahme auf elektronische Datenträger und andere Verwertungen jedes Teils dieser Zeitschrift bedürfen der Zustimmung des Verlags. ZBJV · Band 151 · 2015 Schweizerisches und US-amerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz unter Berücksichtigung der Arzthaftung und der Haftung für Asbestschäden Von Prof. Dr. Corinne Widmer Lüchinger, Basel/Cambridge* I. Einleitung Vor wenigen Jahren erregte ein amerikanisches Gerichtsverfah ren die Aufmerksamkeit der Presse. Die Betreiber einer Kleiderreini gung in Washington DC hatten die Anzugshose eines Mannes verlegt und fanden sie erst nach einigen Tagen wieder. Der erboste Kunde, von Beruf Verwaltungsrichter, behauptete, es handle sich nicht um die gleiche Hose, die er abgegeben hatte.1 Als die Betreiber, eine korea nische Familie, dies bestritten und sich weigerten, ihm Ersatz zu leisten, verklagte er sie auf 67 Millionen Dollar.2 Zur Begründung brachte er vor, die Beklagten hätten im Ladenlokal mit der Aufschrift «satisfaction guaranteed» sowie «same day service» geworben.3 Dies * Überarbeitete und ergänzte Fassung der von der Autorin am 17. 10. 2012 in Basel gehaltenen Antrittsvorlesung. 1 Siehe die ausführliche Sachverhaltsdarstellung in Pearson v. Chung, Urt. Nr. 05 CA 4302 B vom 25. 6. 2007 (Superior Court of the District of Columbia, Civil Division), abrufbar unter <http://online.wsj.com/public/resources/documents/pear sonjudgment.pdf> (26. 2. 2015). Es hatte sich um die Hose eines Nadelstreifenanzugs im Wert von rund 1200 Dollar gehandelt: a. a. O., 10. 2 Siehe Pearson v. Chung (Fn. 1), 2. Presseberichten zufolge soll die Klage nachträglich auf 54 Millionen Dollar reduziert worden sein; siehe z. B. The Wall Street Journal vom 18. 6. 2007, abrufbar unter <http://online.wsj.com/articles/SB118212479 726338524> (26. 2. 2015). 3 Zur Begründung brachte der Kläger vor, dass «if a customer brings in an item of clothing to be dry cleaned, and the dry cleaner remembers the item, and the cus tomer then claims that the item is not his when the dry cleaner presents it back to the customer after it has been cleaned, the dry cleaner must pay the customer whatever the customer claims the item is worth if there is a ‹Satisfaction Guaranteed› sign in the store, even if the dry cleaner knows the customer is mistaken or lying»: siehe Pearson v. Chung, Urt. Nr. 07CV872 vom 18. 12. 2008 (District of Columbia Court of Appeals), 13 f. Das Urteil ist abrufbar unter <http://legaltimes.typepad.com/files/ pantsdecision.pdf> (26. 2. 2015). 545 546 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 sei eine absichtliche Täuschung der Kundschaft gewesen, denn er selber habe weder am gleichen Tag seine Hose zurückerhalten, noch sei er mit den Leistungen des Betriebes zufrieden.4 Die Forderung des Mannes setzte sich einerseits aus einer Ge nugtuungssumme zur Abgeltung der erlittenen «discomfort, inconve nience and mental distress», d. h. der Unannehmlichkeiten und des seelischen Leids, die der Kläger durch den vermeintlichen Verlust seiner Hose erlitten hatte.5 Der Hauptteil der eingeklagten Summe bestand jedoch aus einer Forderung auf «punitive damages», also Strafschadenersatz. «Punitive damages» gelten als charakteristisches Merkmal des amerikanischen Haftpflichtrechts.6 Dem schweizeri schen Privatrecht sind sie fremd, sieht man von der arbeitsrechtlichen Pönale7 gemäss Art. 336a und Art. 337c Abs. 3 OR ab. Um es vorwegzunehmen: Die Klage des unzufriedenen Kunden scheiterte vor zwei Instanzen.8 Für die Beklagten hatte das Verfahren dennoch weitreichende Konsequenzen. Während dreier Jahre waren sie in Gerichtsverfahren involviert und mussten ausserdem dem Rechts anwalt, der sie vor Gericht vertreten hatte, rund 100 000 Dollar bezah len.9 Anders als in der Schweiz erhalten Beklagte im amerikanischen Zivilprozess grundsätzlich keine Parteientschädigung, auch wenn die Klage vollumfänglich abgewiesen wird.10 Einen Anwalt konnten sich die Beklagten nur deshalb leisten, weil zwei Vereinigungen, die sich seit Jahren für eine Reform des amerikanischen Haftpflichtrechts stark machen, eine öffentliche Sammelaktion für sie durchführten.11 4 Pearson v. Chung (Fn. 3), 11 ff.,18. 5 Vgl. The Washington Post vom 14. 6. 2007, abrufbar unter <www.washington post.com/wpdyn/content/article/2007/06/13/AR2007061302033.html> (26. 2. 2015). 6 Dazu unten sub II.2. 7 Siehe dazu etwa Frank Vischer/Roland M. Müller, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl., Basel 2014, 332, 352. 8 Zu den betreffenden Entscheiden siehe oben Fn. 1 und 3. 9 Vgl. The Washington Post vom 26. 6. 2007, abrufbar unter <www.washington post.com/wpdyn/content/article/2007/06/25/AR2007062500443.html> (26. 2. 2015). 10 Dazu unten sub II.4. 11 Es handelte sich um die American Tort Reform Association (ATRA) und das Institute for Legal Reform der US Chamber of Commerce; vgl. <www.atra.org/news room/atracondemnsmultimilliondollarpantsuitoutrageousmanipulationdcs consumerprotection> (26. 2. 2015); vgl. auch Otto Sandrock, The Choice Between Forum Selection, Mediation and Arbitration Clauses: European Perspectives, 20 American Review of International Arbitration 8, 17, Fn. 45 (2009). Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz Fälle wie dieser, der in den Annalen der amerikanischen Presse als «The Great American Pants Suit»12 einging, sind einer der Haupt gründe für die Mischung aus Faszination und Widerwillen, die das europäische Rechtsempfinden beim Blick auf das amerikanische Haft pflichtrecht kennzeichnet. Doch auch in den USA selber wird seit den 70erJahren13 eine kontroverse Diskussion um das Haftpflichtrecht geführt. Kritische Stimmen sprechen von einem Klagefieber, das das amerikanische Volk befallen habe. Dieses Fieber habe zu einer «liti gation explosion», also einer explosionsartigen Zunahme der Gerichts verfahren, geführt.14 Die Kritik hat politischen Widerhall gefunden, der sich in mehr oder weniger weitgehenden Reformen niederschlägt.15 Solche Reformen werden primär in den Gliedstaaten umgesetzt, denn das Haftpflichtrecht (wie das Privatrecht generell) fällt in ihre Zustän digkeit. Allerdings ist es in den letzten Jahren auch auf Bundesebene zu verschiedenen Vorstössen gekommen, die sich mit Fragen der «tort reform» beschäftigen, wenn auch bislang ohne Erfolg.16 Mit dem Haftpflichtrecht beschäftigen sich aber nicht nur Wis senschaft und Politik, sondern auch die amerikanische Öffentlichkeit. Dieses Interesse ist zunächst auf die Medien zurückzuführen, die mit Vorliebe über spektakuläre Gerichtsverfahren berichten, in denen millionenhohe Geldsummen zugesprochen werden.17 Das amerikani sche Haftpflichtrecht hat jedoch nicht bloss Unterhaltungswert, son 12 Vgl. The Wall Street Journal vom 18. 6. 2007 (oben Fn. 2). 13 Vgl. David G. Owen, A Punitive Damages Overview: Functions, Problems and Reform, 39 Villanova Law Review 363, 371 (1994). 14 Siehe insbesondere Walter K. Olson, The Litigation Explosion: What Hap pened When America Unleashed the Lawsuit, New York 1991; vgl. auch Eric Hel land/Alexander Tabarrok, Judge and Jury: American Tort Law on Trial, Oakland 2006, 2 ff., unter Bezugnahme auf Datenerhebungen von TillinghastTowers Perrin (heute: Towers Watson), des Administrative Office of the US Courts und der RAND Corporation; vgl. ferner die Website der American Tort Reform Association (ATRA), <www.atra.org/about> (26. 2. 2015). Kritische Stimmen wenden allerdings ein, dass es für die behauptete «litigation crisis» keine verlässlichen empirischen Belege gebe: vgl. ausführlich William Haltom/Michael McCann, Distorting the Law: Politics, Media and the Litigation Crisis, Chicago 2004, 72 ff.; Arthur R. Miller, The Pretrial Rush to Judgment: Are the «Litigation Explosion», «Liability Crisis», and Efficiency Cliches Eroding Our Day in Court and Jury Trial Commitments?, 78 New York University Law Review 982, 996 (2003). 15 Vgl. unten sub III. 16 Siehe etwa zum HEALTHActVorstoss unten sub III.2. 17 Siehe allg. Haltom/McCann (Fn. 14), 147 ff. 547 548 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 dern spürbare Auswirkungen. Das lässt sich an zwei Bereichen auf zeigen, die seit vielen Jahren im Fokus der Debatte stehen. Es geht einerseits um die Haftung der Ärzte für medizinische Behandlungs fehler, die sogenannte «medical malpractice», und andererseits um die Haftung für Asbestschäden. Beide Bereiche sind auch für die Schweiz von Interesse, und zwar deshalb, weil sich die Angst vor «amerikani schen Verhältnissen» gerade hier besonders stark äussert. Dies wurde bei der Beratung des Medizinalberufegesetzes18 ebenso deutlich wie in der politischen Diskussion über die Verjährung bei Spätschäden.19 Mit dem Schlagwort der «Amerikanisierung» wird das Schreckge spenst exorbitanter Klagen, mutwilliger Gerichtsverfahren, einer zu nehmenden Klagewut und desaströser ökonomischer Konsequenzen an die Wand gemalt. Zumindest im Zusammenhang mit Asbestschä den mutet diese Furcht allerdings seltsam an. Der Entscheid des Bun desgerichts aus dem Jahre 2010,20 wonach eine Forderung gegen einen Arbeitgeber auf Ersatz des asbestbedingten Schadens verjähren kann, bevor sie überhaupt entstanden ist, deutet jedenfalls alles andere als auf eine «Amerikanisierung» hin. Gleiches gilt für die Vorlage zur Verjährungsreform.21 Eine Annäherung an das amerikanische Recht – oder zumindest eine vertiefte Auseinandersetzung damit – könnte jedoch durchaus auch positive Folgen zeitigen. So hat das Verjährungsproblem bei Spätschäden die amerikanische Praxis schon vor Jahrzehnten beschäf tigt. Ihre Lösungsansätze sind auch für die Schweiz interessant. Hier fragt sich, etwas provokativ ausgedrückt, ob das schweizerische Haft pflichtrecht von einer «Amerikanisierung» profitieren könnte. Die mögliche Konvergenz des amerikanischen und schweizerischen Haft pflichtrechts kann man demnach nicht nur als Bedrohung, sondern auch als prüfenswerte Option verstehen. Ob eine solche Annäherung droht, ob sie wünschenswert oder gar schon eingetreten ist, lässt sich 18 Siehe die Debatte im Nationalrat vom 4. 10. 2005, ABN 2005, 1359 (Voten Dunant und Guisan); Bericht des BAG zuhanden der SGKS, Auftrag SGKN vom 28. 4. 2005, Abklärungen zum Obligatorium der Berufshaftpflichtversicherung/Berufs haftpflicht, 2 ff., abrufbar unter <www.bag.admin.ch/themen/berufe/00993/01238/01268/ index.html> (26. 2. 2015). 19 Siehe die Debatte im Nationalrat vom 25. 9. 2014, ABN 2014, 1768, 1777 (Voten Stamm). 20 BGE 137 III 16 ff.; vgl. dazu unten sub IV.2.1. 21 Vgl. unten sub IV.2.1. Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz jedoch erst beurteilen, wenn man die Eigenheiten des jeweiligen Rechts versteht. Daher werden nachfolgend zuerst die Charakteristika des amerikanischen Rechts aufgezeigt, bevor auf die Frage der Kon vergenz und Divergenz eingegangen wird. II. Charakteristika des amerikanischen Haftpflichtrechts 1. Ausgangspunkt Das amerikanische Recht ruft bei kontinentaleuropäischen Ju risten häufig bestimmte Assoziationen hervor. Zu nennen sind insbe sondere (1) exorbitante Schadenersatzsummen, (2) Sammelklagen («class actions»), (3) das System des Geschworenengerichts («jury trial»), (4) das Erfolgshonorar des Anwalts («contingent fees») und schliesslich (5) abstruse Haftungsfälle. Gerne wird zur Illustration der berüchtigte Fall des nassen Pudels genannt, der zum Trocknen in die Mikrowelle gesteckt worden sein soll, mit fatalen Folgen für den Pu del, aber mit äusserst lukrativen Folgen für die Eigentümerin. Diese habe den Mikrowellenhersteller auf Millionen eingeklagt, mit der Begründung, dass die Gebrauchsanweisung keine entsprechende War nung enthalten hatte – eine Geschichte übrigens, die frei erfunden ist.22 Die Auflistung zeigt, dass unser Bild vom amerikanischen Recht von Fernsehserien, Kinofilmen und Romanen wie jenen von John Grisham geprägt ist. Die Populärkultur prägt unsere Sicht des ameri kanischen Rechts, und diese Sicht weicht stark von jener ab, die wir von unserem eigenen Recht haben. Dabei ist der Ausgangspunkt bei der Rechtsordnungen gleich. Sowohl nach amerikanischem als auch nach schweizerischem Recht soll das Haftpflichtrecht in erster Linie Ausgleich («compensation») schaffen, und zwar Ausgleich für geld werte Verluste sowie für immaterielle Schäden, also für seelisches Leid.23 22 Siehe Georg Wenglorz/Patrick S. Ryan, «Die Katze in der Mikrowelle?», Anmerkungen zum USamerikanischen System der punitive damages, RIW 2003, 598 ff. 23 Vgl. zum amerikanischen Recht etwa Dan B. Dobbs, The Law of Torts, St. Paul, Minn. 2000, 1047. 549 550 Corinne Widmer Lüchinger 2. ZBJV · Band 151 · 2015 Strafschadenersatz («punitive damages») Darüber hinaus verfolgt das amerikanische Haftpflichtrecht aber noch weitere Ziele, die dem schweizerischen Recht weitgehend fremd sind. Nach amerikanischem Verständnis soll das Haftpflicht recht nämlich nicht nur den Geschädigten kompensieren, sondern ausserdem auch den Schädiger bestrafen und weitere potenzielle Übeltäter abschrecken. Diesem Zweck dient die Zusprechung von «punitive damages».24 Strafe und Abschreckung als rechtliches Ziel kennt natürlich auch das schweizerische Recht. Nach kontinentaleuropäischem Ver ständnis ist die Bestrafung jedoch eine Prärogative des Staates und eine Funktion des Strafrechts.25 «Punitive damages» sind jedoch ein Instrument des Privatrechts. Sie werden in einem Zivilverfahren zu gesprochen, das nicht vom Staat, sondern von einer Privatperson ein geleitet worden ist. Anders als eine Busse werden «punitive damages» grundsätzlich auch nicht an den Staat geleistet.26 Die zugesprochene Summe fliesst vielmehr dem Kläger zu, und zwar deshalb, weil der Kläger, sozusagen stellvertretend für die Gesellschaft, sich die Mühe gemacht hat, gegen den Schädiger vorzugehen, und dafür belohnt 24 Siehe dazu Dobbs (Fn. 23), 1062 ff.; Corinne Widmer, A Civil Lawyer’s Introduction to AngloAmerican Law: Torts, Bern/Wien 2008, 297, 301 ff. m. w. H. Die Entwicklung des zivilrechtlichen Instruments der «punitive damages» wird häu fig damit erklärt, dass das materielle und prozessuale Strafrecht im Common Law Schwächen aufwies, die mittels privatrechtlicher Sanktionen aufgewogen werden sollten: vgl. Juliana MörsdorfSchulte, Funktion und Dogmatik USamerikani scher punitive damages – zugleich ein Beitrag zur Diskussion um die Zustellung und Anerkennung in Deutschland, Tübingen 1999, 63 ff. m. w. H. 25 Dass «punitive damages» eine quasistrafrechtliche Funktion wahrnehmen, wird auch in Rechtsordnungen des Common Law grundsätzlich anerkannt; vgl. etwa den englischen Entscheid Kuddus v. Chief Constable of Leicestershire Constabulary, [2001] UKHL 29, [52] (Lord Nicholls of Birkenhead), auszugsweise wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 310 ff.; siehe ferner MörsdorfSchulte (Fn. 24), 61 ff. m. w. H. 26 Vgl. § 908 Restatement (Second) of Torts, comment a (wiedergegeben bei Widmer [Fn. 24], 306). Im Zuge der punitive damages-Reformen haben allerdings verschiedene USGliedstaaten sogenannte split recovery statutes eingeführt, welche die Aufteilung der zugesprochenen punitive damages-Summen zwischen dem Kläger und dem Staat vorschreiben oder in das Ermessen des Gerichts stellen; siehe dazu Widmer (Fn. 24), 305 f., 327 f. m. w. H. Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz werden soll.27 Die Straffunktion der «punitive damages» erklärt, wes halb sie gemeinhin nur zugesprochen werden, wenn der Beklagte be sonders rücksichtslos oder böswillig gehandelt hat, d. h. für ein Ver halten, «that is outrageous, because of the defendant’s evil motive or his reckless indifference to the rights of others»28 bzw. das «some element of outrage similar to that usually found in crime»29 beinhaltet. Letztlich liegt es aber im Ermessen der entscheidenden Instanz, ob und, wenn ja, wie viel Strafschadenersatz im Einzelfall geleistet werden muss.30 Dieser Ermessensspielraum erklärt auch die bunte Palette an Fällen, in denen «punitive damages» zugesprochen werden. Es kann das Unternehmen, das Informationen über die Gefährlichkeit seiner Produkte unterdrückt,31 genauso treffen wie den Autohersteller, der Lackschäden an neuen Autos zu vertuschen versucht,32 aber auch – um einen Entscheid des berühmten Richters und Gelehrten Richard 27 Vgl. Dardinger (Executor) v. Anthem Blue Cross & Blue Shield, 98 Ohio St.3d 77, 104; 781 N. E.2d 121, 144 (2002), in dem allerdings der Supreme Court of Ohio eine «split recovery» einführte: «Clearly, we do not want to dissuade plaintiffs from moving forward with important societal undertakings. The distribution of the jury’s award must recognize the effort the plaintiff undertook in bringing about the award and the important role a plaintiff plays in bringing about necessary changes that society agrees need be made.» 28 § 908 Abs. 2 Restatement (Second) of Torts, wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 306. 29 § 908 Restatement (Second) of Torts, comment b, wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 309. Gemäss anderen Umschreibungen muss das Verhalten des Beklagten «willful or wanton» (siehe z. B. Mathias v. Accor Economy Lodging, 347 F.3d 672 [2003]) oder «egregiously improper» (BMW v. Gore, 116 S. Ct. 1589 [1996]) sein. 30 Siehe Widmer (Fn. 24), 304 f., 318 ff. m. w. H. 31 Zu erwähnen sind hier etwa die «tobacco cases», in denen Rauchern (bzw. ihren Hinterlassenen) teils sehr hohe «punitive damages»Summen zugesprochen worden sind, u. a. mit der Begründung, die Beklagten hätten die Gefahren des Rau chens verschwiegen; vgl. z. B. Burton v. R.J. Reynolds Tobacco Company 397 F.3d 906 (2005), US Court of Appeals for the 10 th Circuit; weitere Hinweise bei Widmer (Fn. 24), 192. Aus jüngerer Zeit ist der Entscheid Cynthia Robinson v. R.J. Reynolds Tobacco Company zu nennen, in dem der Witwe eines Kettenrauchers erstinstanzlich 23 Milliarden (sic!) Dollar zugesprochen wurden (EntscheidNr. 2008 CA 000098 des Circuit Court von Escambia County, Florida, vom 20. 7. 2014); vgl. die Presse mitteilung von Reuters, <www.reuters.com/article/2014/07/20/ususatobaccoaward idUSKBN0FO0ZM20140720> (26. 2. 2015). 32 Vgl. BMW v. Gore, 116 S. Ct. 1589 (1996); dazu unten sub II.3. 551 552 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 Posner zu nennen33 – den Betreiber eines Motels, der aus Kostengrün den auf die Beseitigung von Bettwanzen verzichtet. Nun sind «punitive damages» in ihrer heutigen Form34 nicht ein ausschliesslich amerikanisches Phänomen, sondern stammen viel mehr aus dem englischen Recht35 und sind im Common LawRechts kreis allgemein bekannt.36 Dennoch gelten sie als charakteristisch für das amerikanische Recht, und zwar deshalb, weil in den USA die weltweit grössten Summen zugesprochen werden. Der Grund dafür liegt nun aber nicht, wie man meinen könnte, im materiellen Recht. Zum Tragen kommen hier vielmehr prozessuale Besonderheiten des amerikanischen Rechts.37 Dazu gehört neben der Regelung der Kos tenverteilung im Prozess38 insbesondere der Geschworenenprozess, der sogenannte «jury trial». 3. Der Geschworenenprozess («jury trial») Der Geschworenenprozess ist bis heute eines der prägendsten Merkmale des amerikanischen Rechts und tief in der Geschichte Ame rikas verwurzelt.39 Im 11. Jahrhundert von William the Conqueror 33 Mathias v. Accor Economy Lodging, 347 F.3d 672 (2003), auszugsweise wie dergegeben bei Widmer (Fn. 24), 349 ff. 34 Die Wurzeln des Strafschadenersatzes werden teils bis auf den Kodex Ham murabi zurückgeführt; vgl. Owen (Fn. 13), 39 Villanova Law Review 363, 368 (1994). 35 Siehe MörsdorfSchulte (Fn. 24), 180; Owen (Fn. 13), 39 Villanova Law Review 363, 368 f. (1994). Zum Strafschadenersatz («exemplary damages») im eng lischen Recht siehe allg. Harvey McGregor, McGregor on Damages, 19. Aufl., London 2014, N 13001 ff.; aus der Rechtsprechung siehe Kuddus v. Chief Constable of Leicestershire, [2001] UKHL 29, [2002] 2 AC 122, [2001] 3 All ER 193, [2001] 2 WLR 1789, auszugsweise wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 310 ff. 36 Für eine Übersicht zu «punitive damages» in den zum Common Law gehö renden Rechtsordnungen siehe John Y. Gotanda, Punitive Damages: A Compara tive Analysis, 42 Columbia Journal of Transnational Law 391, 395 ff. (2004). 37 Vgl. allg. Widmer (Fn. 24), 58 f. m. w. H.; ausführlich dazu das immer noch sehr lesenswerte Buch von John G. Fleming, The American Tort Process, Oxford 1988. 38 Dazu unten sub II.4. 39 Zur geschichtlichen Entwicklung siehe Jack H. Friedenthal/Mary Kay Kane/Arthur R. Miller, Civil Procedure, 4. Aufl., St. Paul, Minn. 2005, 509; Valerie P. Hans/Neil Vidmar, Judging the Jury, New York 1986, 21 ff., 25 ff.; ausführlich Stephan Landsman, The Civil Jury in America: Scenes from an Un appreciated History, 44 Hastings Law Journal 579 (1992–1993). Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz nach England eingeführt40 und von dort in die amerikanischen Kolo nien exportiert,41 entwickelte sich der Geschworenenprozess während der Kolonialzeit zu einem politisch wichtigen Gegengewicht zu den von der britischen Regierung eingesetzten Gouverneuren.42 Die «jury»Mitglieder waren damals wie heute Laien und stammten aus der ortsansässigen Bevölkerung. Da sie von der britischen Regierung unabhängig waren, konnten sie politischen Druckversuchen besser widerstehen und galten darüber hinaus als «the most effective means available to secure the independence and integrity of the judicial branch of the colonial government».43 Die britische Kolonialmacht versuchte zunehmend, die «jury» zu beeinflussen oder gar ganz von Gerichtsverfahren auszuschliessen, was zu Konflikten mit der ortsan sässigen Bevölkerung führte und deren Widerstand hervorrief.44 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das «jury»Verfahren – trotz vereinzelter Kritik45 – bis heute in Amerika als Verkörperung demokratischer Werte verstanden wird.46 Auch andere Staaten kennen die Geschworenengerichtsbarkeit, so früher auch einzelne Schweizer Kantone. Diese Gerichtsbarkeit ist aber regelmässig auf strafrechtliche Verfahren beschränkt. In den USA dagegen besteht das Recht auf einen «jury trial» sowohl im Straf 40 So die traditionelle Sichtweise, die allerdings nicht unbestritten ist; siehe dazu Landsman (Fn. 39), 44 Hastings Law Journal 579, 582 (1992–1993) m. w. H. 41 Landsman (Fn. 39), 44 Hastings Law Journal 579, 592 (1992–1993). 42 Siehe ausführlich Landsman (Fn. 39), 44 Hastings Law Journal 579, 592 ff. (1992–1993); Hans/Vidmar (Fn. 39), 32 ff. 43 Landsman (Fn. 39), 44 Hastings Law Journal 579, 596 (1992–1993); siehe auch Paul D. Carrington, The Civil Jury and American Democracy, 13 Duke Journal of Comparative & International Law 79, 82 f. (2003), abrufbar unter <http:// scholarship.law.duke.edu/djcil/vol13/iss3/5> (26. 2. 2015). 44 Landsman (Fn. 39), 44 Hastings Law Journal 579, 594 ff. (1992–1993). 45 Vgl. die Hinweise bei Carrington (Fn. 43), 13 Duke Journal of Compara tive & International Law 79, 88 (2003). 46 Vgl. etwa Carrington (Fn. 43), 13 Duke Journal of Comparative & Interna tional Law 79 ff. (2003); Stephen N. Subrin/Margaret Y.K. Woo, Litigating in America: Civil Procedure in Context, New York 2006, 241; vgl. ferner Jeffrey B. Abramson, We, the Jury: the Jury System and the Ideal of Democracy, Cambridge, Mass. 2000; instruktiv auch die Ausführungen auf der Website der American Tort Reform Association (ATRA), <www.atra.org/issues/juryservicereform> (26. 2. 2015). 553 554 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 verfahren als auch in zentralen Bereichen des Privatrechts.47 Gerade im Haftpflichtrecht übt der Geschworenenprozess bis heute einen star ken Einfluss aus. Rund neun von zehn Haftpflichtprozessen vor ame rikanischen «state courts»48 werden unter Beizug einer «jury» ent schieden.49 Der Einfluss der Geschworenen auf das Haftpflichtrecht kann man erst erfassen, wenn man ihre Aufgabe im Prozess versteht. Zwischen dem Richter und den Geschworenen gibt es eine klare Rol lenverteilung.50 Der Richter stellt sicher, dass das Verfahren korrekt abläuft, und entscheidet über die Beweisanträge der Parteien. Sodann instruiert er die Geschworenen über das geltende Recht. Die Geschwo renen hingegen entscheiden, ob die Parteien den Beweis für ihre strei tigen Behauptungen erbracht haben oder nicht. Die Geschworenen entscheiden auch, wie das Recht auf den Sachverhalt Anwendung findet. Dazu gehört insbesondere die Frage, ob der Beklagte «puniti ve damages» bezahlen muss, und, wenn ja, wie viel.51 Nun zeigt die Gerichtspraxis, dass dieses «Wieviel» ausgepräg te Schwankungen aufweisen kann.52 Das liegt im Wesen des «jury» Verfahrens begründet, denn die Geschworenen sind Laien, die ein repräsentatives Abbild der Gesellschaft darstellen sollen. Sie sind juristisch ungeschult. Gegenüber Richtern gelten sie deshalb als emp fänglicher für «unjuristische» Argumente, die gezielt die Emotionen 47 In Verfahren vor den «federal courts» stützt sich das Recht auf einen «jury trial» in (gewissen) Zivilverfahren auf den Seventh Amendment der amerikanischen Bundesverfassung ab. In Verfahren vor Gerichten der Gliedstaaten («state courts») leitet sich das Recht auf einen «jury trial» dagegen aus dem Recht des jeweiligen Gliedstaates ab; vgl. Widmer (Fn. 24), 364 f. 48 Zum Gerichtssystem in den USA, insbesondere zum Nebeneinander der «sta te courts» und «federal courts», siehe Markus MüllerChen/Christoph Müller/ Corinne Widmer Lüchinger, Comparative Private Law, Zürich 2015, N 729 ff., 743 ff., 749 ff. 49 So die Ergebnisse der letzten Erhebung des US Department of Justice; siehe Lynn Langton/Thomas H. Cohen, Bureau of Justice Statistics: Special Report, Civil Bench and Jury Trials in State Courts, 2005, Oktober 2008, 2, abrufbar unter <www.bjs.gov/content/pub/pdf/cbjtsc05.pdf> (26. 2. 2015). 50 Dazu Widmer (Fn. 24), 366 ff. m. w. H. 51 Vgl. Widmer (Fn. 24), 318 ff. m. w. H. 52 Vgl. die Erhebung des US Department of Justice (Fn. 49), 6; vgl. auch Daniel Kahneman/David Schkade/Cass R. Sunstein, Shared Outrage and Erratic Awards: The Psychology of Punitive Damages, Journal of Risk and Uncertainty 16, 49, 75 ff. (1998). Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz ansprechen.53 Kritiker sehen deshalb in der «jury» eine unberechen bare und unwissende Macht, die ihre Entscheidungen nicht aus der Vernunft, sondern sozusagen aus dem Bauch heraus trifft.54 Aber ist diese Angst vor der «jury» auch wirklich gerechtfertigt? Statistiken des US Department of Justice zeigen ein differenziertes Bild. So hat ten in den Haftpflichtprozessen, die im Jahr 2005 vor den Gerichten der amerikanischen Gliedstaaten abgeschlossen wurden, lediglich 13% der erfolgreichen Kläger «punitive damages» verlangt. Von den erfolgreichen Klägern erhielten nur 5% «punitive damages» zugespro chen, wobei der Medianwert 64 000 Dollar betrug.55 Die Summen sind im Regelfall also recht gering. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Erfolgschancen einer «punitive damages» Klage für den Beklagten nur sehr schwer abschätzbar sind. Aus diesem Grund haben amerikanische Gerichte verschiedentlich versucht, das Ermessen der Geschworenen zu beschränken. Leitentscheid ist der 53 Vgl. die empirische Studie von Joni Hersch/W. Kip Viscusi, Punitive Da mages: How Judges and Juries Perform, Harvard Law School John M. Olin Center for Law, Economics and Business Discussion Paper Series, Discussion Paper No. 362 (2002), 34 ff., abrufbar unter <www.law.harvard.edu/programs/olin_center/papers/ pdf/362.pdf> (26. 2. 2015). Dagegen kommen andere Autoren zum Schluss, dass Ju roren nicht wesentlich anders entscheiden als Richter: Theodore Eisenberg/Neil LaFountain/Brian Ostrom/David Rottman/Martin T. Wells, Juries, Judges and Punitive Damages: An Empirical Study, 87 Cornell Law Review 743 (2002). 54 Berühmt geworden ist das Zitat von Erwin N. Griswold, seinerzeit Dean der Harvard Law School: «The jury trial, at best, is the apotheosis of the amateur. Why should anyone think that twelve persons brought in from the street, selected in vari ous ways, for their lack of general ability, should have any special capacity for deci ding controversies between persons?»: 1962–63 Harvard Law School Dean’s Reports, 5 f., wiedergegeben etwa bei Hans Zeisel, The Debate over the Civil Jury in Histo rical Perspective, 1990 University of Chicago Legal Forum 25, 26; vgl. auch das Zitat von Mark Twain, wiedergegeben bei Subrin/Woo (Fn. 46), 239: «The jury system puts a ban upon intelligence and honesty, and a premium upon ignorance, stupidity, and perjury»; Hans/Vidmar (Fn. 39), 113 ff.; siehe ferner Cass R. Sun stein/Reid Hastie/John W. Payne/David A. Schkade/W. Kip Viscusi, Punitive Damages: How Juries Decide, Chicago 2002; Paul Mogin, Why Judges, Not Juries, Should Set Punitive Damages, 65 University of Chicago Law Review 179 (1998). 55 Erhebung des US Department of Justice (Fn. 49), 6. Gemäss dieser Studie waren 27% der im Jahr 2005 zugesprochenen «punitive damages»Summen höher als 250 000 Dollar; 13% waren höher als 1 Million Dollar: a. a. O., 6. 555 556 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 Supreme CourtEntscheid BMW v. Gore56 aus dem Jahr 1996. Der Kläger, Dr. Gore, hatte einen neuen BMW gekauft. Ein paar Monate später entdeckte er durch Zufall, dass der Wagen bereits vor dem Verkauf einen Lackschaden gehabt hatte, der von BMW übermalt worden war. Es zeigte sich, dass BMW landesweit rund 1000 nachla ckierte Wagen als neu verkauft hatte. Dr. Gore verlangte deshalb Scha denersatz für den Minderwert seines Wagens sowie «punitive dama ges». Die Geschworenen gaben ihm recht. Für den Minderwert sprachen sie ihm 4000 Dollar zu, und ausserdem, um BMW zu be strafen, das Tausendfache an «punitive damages», insgesamt also vier Millionen Dollar. Dies entsprach dem Betrag, den BMW landesweit eingespart hatte, weil sie 1000 nachlackierte Wagen als neu verkauft hatte. Auf Berufung der Beklagten hin reduzierte der Supreme Court of Alabama die zugesprochene Summe immerhin auf zwei Millionen Dollar.57 BMW zog den Streit weiter bis an den US Supreme Court – und machte damit Geschichte, denn es wurde zum ersten Entscheid, in dem das oberste Gericht Amerikas ein Geschworenenurteil wegen Unverhältnismässigkeit aufhob. Das Gericht hielt unter anderem fest, dass zwischen dem eigentlichen Schadenersatz, der dem Ausgleich eines finanziellen Verlusts dient, und den «punitive damages» ein vernünftiges Verhältnis bestehen müsse. Bis zu einem Verhältnis von 1:10 sei die Zusprechung von «punitive damages» in der Regel un problematisch.58 Bei einem Verhältnis von 1:500 hingegen müssten «die richterlichen Augenbrauen argwöhnisch in die Höhe schnellen»59. 56 BMW of North America, Inc. v. Ira Gore, Jr., 116 S. Ct. 1589 (1996), auszugs weise wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 331 ff. Siehe zu diesem Entscheid etwa Bruce J. McKee, The Implications of BMW v. Gore for Future Punitive Damages Litigation: Observations from a Participant, 48 Alabama Law Review 175 (1996); Stephanie L. Nagel, BMW v. Gore: The United States Supreme Court Overturns an Award of Punitive Damages as Violative of the Due Process Clause of the Cons titution, 71 Tulane Law Review 1025 (1997). 57 Siehe BMW v. Gore, 116 S. Ct. 1589, 1593 ff. (1996), wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 331 ff. 58 BMW v. Gore, 116 S. Ct. 1589, 1602 (1996), wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 336 f., unter Bezugnahme auf den Supreme CourtEntscheid TXO Production Corp. v. Alliance Resources Corp., 113 S. Ct. 2711 (1993). 59 BMW v. Gore, 116 S. Ct. 1589, 1603 (1996), wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 337, wiederum unter Bezugnahme auf den TXOEntscheid (Fn. 58). Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz Nicht nur die Gerichte, sondern auch die Gesetzgeber zahlrei cher amerikanischer Gliedstaaten60 haben in den letzten Jahrzehnten versucht, die Zusprechung exorbitanter «punitive damages»-Summen gesetzlich einzudämmen.61 Die Reformen umfassen zum Beispiel so genannte «caps», also summenmässige Begrenzungen, oder strengere Anforderungen an das Beweismass. Die grosse Rechtsunsicherheit, die mit amerikanischen Haftpflichtprozessen verbunden ist,62 wird damit jedoch letztlich nicht beseitigt. Denn das Problem scheinen weniger die «punitive damages» zu sein als die Institution der «jury», und diese gilt politisch nach wie vor als unantastbar.63 Die Unwägbar keiten des Geschworenenprozesses bewegen Unternehmen zum Teil dazu, in ihre Verträge «jury»Ausschlussklauseln (sogenannte «jury waiver clauses») aufzunehmen.64 Solche Klauseln sollen gewährleisten, dass im Falle eines Prozesses keine «jury», sondern ausschliesslich ein (staatlicher) Richter entscheidet. Damit soll das Risiko überhöhter Strafschadenersatzsummen begrenzt werden, denn juristisch geschul te Richter werden im Allgemeinen weniger grosszügig sein als die Geschworenen.65 Aufgrund der verfassungsrechtlichen Verankerung des «jury trial»66 stellen amerikanische Gerichte allerdings hohe An forderungen an die Gültigkeit solcher Klauseln, die sogar strenger sind 60 Wie eingangs erwähnt, fällt das Haftpflichtrecht in die Zuständigkeit der Gliedstaaten. 61 Dazu ausführlich Widmer (Fn. 24), 321 ff m. w. H. 62 Siehe etwa aus deutscher Sicht Christoph G. Paulus, Abwehrstrategien gegen unberechtigte Klagen in den USA, RIW 2006, 258 ff.; Rolf A. Schütze, Klagen vor USamerikanischen Gerichten – Probleme und Abwehrstrategien, RIW 2006, 579 ff.; weitere Hinweise bei Widmer (Fn. 24), 58. 63 Siehe oben im Text nach Fn. 44. Zwar haben vereinzelte Gliedstaaten versucht, der «jury» die Zuständigkeit zur Festsetzung von «punitive damages» zu entziehen, doch ist dies von den höchsten «state courts» zum Teil für verfassungswidrig erklärt worden; vgl. Widmer (Fn. 24), 323 f. m. H. Zur Debatte um mögliche Reformen des «jury»Systems in den USA siehe Subrin/Woo (Fn. 46), 252 ff. m. w. H. 64 Vgl. Burkard Göpfert/Anja Gitta Berger, JuryAusschlussklauseln in Verträgen mit amerikanischen Unternehmen, ZIP 2005, 1540 ff.; Widmer (Fn. 24), 365 f. 65 Allerdings kommen empirische Studien zu dieser Frage zum Teil zu sich widersprechenden Ergebnissen; siehe die Hinweise oben, Fn. 53. 66 Zur verfassungsrechtlichen Verankerung siehe oben, Fn. 47. 557 558 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 als jene an Schiedsklauseln.67 Einzelne «state courts» haben die Zu lässigkeit solcher Klauseln sogar gänzlich verneint.68 4. Die Kostentragung im Prozess («American Rule») Neben dem «jury»Verfahren gibt es in den USA noch weitere prozessuale Besonderheiten, die das Haftpflichtrecht stark prägen. Sie alle dienen dem gleichen Ziel, nämlich den Zugang des Geschädigten zum Gericht zu erleichtern. Nach kontinentaleuropäischer Tradition gilt das Prozessieren dagegen eher als notwendiges Übel, das man nicht noch besonders fördern soll. Das zeigt sich in der Schweiz etwa daran, dass die Gerichte gemäss eidgenössischer Zivilprozessordnung generell vom Kläger einen Kostenvorschuss verlangen können.69 Die unterschiedliche Haltung erklärt, weshalb das amerikanische Haft pflichtrecht in der Praxis sehr viel klägerfreundlicher ist als das schweizerische, mit allen Vor und Nachteilen, die sich daraus ergeben. Die klägerfreundliche Haltung des amerikanischen Rechts zeigt sich insbesondere an der Kostenregelung im Zivilprozess. Nach schweizerischem Recht hat diejenige Partei, die den Prozess verliert, 67 Siehe Göpfert/Berger (Fn. 64), ZIP 2005, 1540, 1543 f.; Andrew M. Kep per, Contractual Waiver of Seventh Amendment Rights: Using the Public Rights Doctrine to Justify a Higher Standard of Waiver for JuryWaiver Clauses than for Arbitration Clauses, 91 Iowa Law Review 1345, 1347 ff. (2006) (zur Rechtslage bei Verfahren in den «federal courts»); Stephen J. Ware, Mandatory Arbitration: Ar bitration Clauses, JuryWaiver Clauses, and Other Contractual Waivers of Constitu tional Rights, 67 Law and Contemporary Problems 167, 170 (2004). 68 So der California Supreme Court in Grafton Partners L. P., et al. v. The Superior Court of Alameda County, 36 Cal.4th 944 (2005); ebenso der Supreme Court of Georgia in Bank South NA v. Howard, 444 S.E.2d 799 (Ga. 1994). 69 Art. 98 ZPO. Zu den Wirkungen vgl. Regula Müller Brunner, «Justiz nur noch für Arme und Reiche», plädoyer 4/12, 12 f.; Martin Hablützel, Schweizeri sche ZPO: Hat der Berg nur eine Maus geboren?, HAVE 2014, 297, 298 f.; Rechen schaftsbericht OGer ZH 2011, 7; Rechenschaftsbericht OGer ZH 2012, 9. In seinem Bericht zum kollektiven Rechtsschutz hat der Bundesrat die Frage aufgeworfen, ob mit Blick auf Massenschadensfälle bei subjektiver und objektiver Klagenhäufung grundsätzlich auf die Kostenvorschusspflicht verzichtet werden sollte: Kollektiver Rechtsschutz in der Schweiz – Bestandesaufnahme und Handlungsmöglichkeiten, Bericht des Bundesrates vom 3. 7. 2013, abrufbar unter <www.bj.admin.ch/dam/data/ bj/aktuell/news/2013/20130703/berbrd.pdf> (26. 2. 2015). Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz grundsätzlich auch die Kosten zu tragen.70 Zu diesen Kosten, die nach Tarifen berechnet werden,71 gehören einerseits die Gerichtskosten und andererseits die Entschädigung an die Gegenpartei.72 Nach der sogenannten «American Rule» dagegen hat jede Partei ihre eigenen Kosten zu tragen, und zwar unabhängig davon, ob sie den Prozess gewinnt oder verliert.73 Eine Ausnahme gilt nur, wenn dies in soge nannten «fee shifting statutes» ausdrücklich vorgesehen ist.74 Die Konsequenzen der schweizerischen Regelung liegen auf der Hand: Wer befürchten muss, im Falle des Unterliegens dem anderen eine Parteientschädigung leisten zu müssen, wird sich zweimal überlegen, ob er klagen will oder nicht.75 Da die Höhe der Kosten, die der ob 70 Art. 106 Abs. 1 ZPO; siehe dazu etwa David Jenny, in: SutterSomm/Hasen böhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl., Zürich 2013, Art. 106 N 1 ff. Eine abweichende Regel sieht das Fusionsgesetz bei Klagen auf Überprüfung der Anteils und Mitgliedschaftsrechte vor. Gemäss Art. 105 Abs. 3 FusG trägt hier der übernehmende Rechtsträger, d. h. der Beklagte, die Kosten des Verfahrens; nur bei Vorliegen besonderer Umstände kann das Gericht die Kosten ganz oder teilweise den Klägern auferlegen. Siehe dazu BGE 135 III 603, 606; BGer, Urt. 4A_341/2011 vom 21. 3. 2012. E. 6.3. Vgl. auch die entsprechende Regel des Art. 697g Abs. 1 OR. 71 Art. 96 ZPO; dazu Benedikt A. Suter/Cristina von Holzen, in: Sutter Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilpro zessordnung, 2. Aufl., Zürich 2013, Art. 96 N 10 ff. 72 Art. 95 ZPO. 73 Siehe Benjamin Kaplan/Kevin M. Clermont, England and the United States, in: Ordinary Proceedings in First Instance, Int’l Encycl. Comp. L. Volume XVI, Chapter 6, Tübingen 1984, N 663; Fleming (Fn. 37), 188 ff.; Jonathan B. Wilson, Out of Balance: Prescriptions for Reforming the American Litigation Sys tem, Lincoln 2005, 60 ff.; Widmer (Fn. 24), 303; Brandon Chad Bungard, Fee! Fie! Foe! Fum!: I Smell the Efficiency of the English Rule. Finding the Right Approach to Tort Reform, 31 Seton Hall Legislative Journal 1, 6 ff. (2006); Herbert M. Krit zer, Lawyer Fees and Lawyer Behavior in Litigation: What Does the Empirical Literature Really Say?, 80 Texas Law Review 1943, 1946 ff. (2002). 74 Kritzer (Fn. 73), 80 Texas Law Review 1943, 1946 (2002). In den USA kennt einzig Alaska die «American Rule» nicht: a. a. O., 1946. 75 Um diese abschreckende Wirkung bei Klagen von Privatkunden gegen Finanz dienstleister zu minimieren, sieht der Vorentwurf eines Bundesgesetzes über die Finanz dienstleistungen (FIDLEG) als eine von zwei Varianten einen Prozesskostenfonds vor, der in erster Linie durch Beiträge der Finanzdienstleister geäufnet werden soll; siehe Art. 85 ff. (Variante B) der Vernehmlassungsvorlage FIDLEG sowie den erläuternden Bericht zur Vernehmlassungsvorlage FIDLEG/FINIG vom 25. 6. 2014, 92 ff., jeweils abrufbar unter <www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/35437.pdf> resp. <www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/35423.pdf> (26. 2. 2015). 559 560 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 siegenden Partei zu ersetzen sind, zudem vom Mass des Unterliegens abhängt, wirkt die schweizerische Kostenregelung auch gegen das sogenannte Überklagen.76 Wo der Kläger hingegen keine Parteientschädigung zu leisten hat, ist sein finanzielles Risiko um ein Vielfaches geringer. Damit erleichtert die «American Rule» den Zugang zum Gericht, denn wenn das Kostenrisiko gering ist, können sich auch finanzschwache Kläger eher ein Gerichtsverfahren leisten.77 Die «American Rule» birgt je doch auch eine grosse Missbrauchsgefahr. So schuldete der Kläger, der im erwähnten amerikanischen Hosenfall 67 Millionen Dollar ein geklagt hatte, den Beklagten keine Parteientschädigung, obwohl er in zwei Instanzen unterlag.78 Hätte er dagegen vor dem Basler Zivilge richt geklagt und (wie getrost anzunehmen ist) den Prozess verloren, so hätte er den Beklagten gemäss kantonaler Honorarordnung im ordentlichen Verfahren mindestens 670 000 Franken bezahlen müssen,79 also mehr als eine halbe Million. Die abschreckende Wir kung einer solchen Kostenregelung liegt auf der Hand. 5. Das anwaltliche Erfolgshonorar («contingent fees») Klägerfreundlich ist auch die amerikanische Haltung zum An waltshonorar.80 USAnwälte dürfen mit ihren Klienten vereinbaren, dass sie im Falle des Erfolgs einen Prozentsatz der erstrittenen Sum 76 Vgl. BKZPO/Sterchi, Art. 106 N 6. 77 Vgl. etwa John F. Vargo, The American Rule on Attorney Fee Allocation: The Injured Person’s Access to Justice, 42 American University Law Review 1567 (1993); Subrin/Woo (Fn. 46), 31 f. 78 Die Überwälzung der Anwaltskosten der Beklagten auf den Kläger wäre al lenfalls gestützt auf Rule 11 der DC Superior Court Rules of Civil Procedure möglich gewesen, welche u. a. bei schikanösen Eingaben und «frivolen» Klagen eine Sank tionierung der betreffenden Partei ermöglicht; siehe Pearson v. Chung (Fn. 1), 3. Die Sanktionen gemäss Rule 11 stehen allerdings im Ermessen des Gerichts. Aufgrund der öffentlichen Unterstützung (oben Fn. 11) verzichteten die Beklagten darauf, eine entsprechende Sanktion zu beantragen. 79 § 4 Abs. 1 der Honorarordnung für die Anwältinnen und Anwälte des Kantons BaselStadt vom 29. 12. 2010 (SG 291.400). 80 Vgl. allg. MüllerChen/Müller/Widmer Lüchinger (Fn. 48), N 729 Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz me als Honorar behalten dürfen («contingent fee» oder «contingency fee»). Verlieren sie dagegen den Prozess, erhalten sie auch kein Ho norar. Damit trägt nicht der Kläger, sondern der Anwalt das Prozess risiko. Verliert der Kläger den Prozess, ist sein finanzielles Risiko gleich null.81 Ähnlich wie die «American Rule» erleichtert eine solche Regelung den Zugang zum Gericht.82 Sie bewirkt jedoch zugleich, dass Anwälte ein direktes finanzielles Interesse am Ausgang des Ver fahrens haben, und damit auch am Einklagen exorbitanter «punitive damages»Summen. Damit wird der Prozess für die Anwälte zu einem eigentlichen Investitionsobjekt.83 In Europa galten reine Erfolgshonorarvereinbarungen («no win, no fee») über Jahrhunderte hinweg als verpönt, denn sie bedrohen die anwaltliche Unabhängigkeit. In den letzten Jahren ist jedoch eine Öff nung im Gang, vor allem in Osteuropa,84 aber auch in England.85 Diese Entwicklung hat allerdings weniger mit einer ideellen Verschie bung zu tun als mit dem Staatshaushalt. Wenn die Anwälte das Pro 81 Dazu Corinne Widmer Lüchinger, Die zivilrechtliche Beurteilung von anwaltlichen Erfolgshonorarvereinbarungen, AJP 2011, 1445, 1447 f. m. w. H. 82 Vgl. etwa Alexander Tabarrok/Eric Helland, Two Cheers for Contingent Fees, Washington D.C 2005, 6 f., abrufbar unter <www.aei.org/wpcontent/uploads/ 2011/10/20050817_book827text.pdf> (26. 2. 2015). 83 Neuerdings investieren sogar «Hedge Funds» in amerikanische Haftpflicht rechtsverfahren. Siehe dazu den Bericht des US Chamber Institute for Legal Reform, Stopping the Sale on Lawsuits: A Proposal to Regulate ThirdParty Investments in Litigation, October 2012; der Bericht ist abrufbar unter <www.instituteforlegalreform. com/uploads/sites/1/TPLF_Solutions.pdf> (26. 2. 2015). 84 Siehe Matthias Kilian, Die erfolgsbasierte Vergütung des Rechtsanwaltes, in: Mirko Roš (Hrsg.), Der Erfolg und das Honorar des Anwalts, Zürich/St. Gallen 2007, 5, 20 ff.; Widmer Lüchinger (Fn. 81), AJP 2011, 1445, 1447. 85 Siehe Widmer Lüchinger (Fn. 81), AJP 2011, 1445, 1447, 1448 ff. m. w. H. In England sind seit April 2013 neben den bereits in den 90erJahren eingeführten «con ditional fee agreements» (CFAs) in gewissem Umfang auch sogenannte «damages based agreements» (DBAs) erlaubt. Im Unterschied zu den CFAs (dazu Widmer Lüchinger, a. a. O., 1448 ff.) handelt es sich bei den DBAs um eigentliche Streitan teilsvereinbarungen; siehe <www.justice.gov.uk/civiljusticereforms/mainchanges> (26. 2. 2015); Rachael Mulheron, The DamagesBased Agreements Regulations 2013: Some Conundrums in the «Brave New World» of Funding, (2013) 32 Civil Justice Quarterly 241 ff. 561 562 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 zessrisiko des Klägers tragen, kann nämlich der Staat die Ausgaben für die unentgeltliche Rechtspflege einsparen.86 6. Sammelklagen («class actions») Die geschädigtenfreundliche Haltung des amerikanischen Rechts manifestiert sich weiter im sogenannten «class action»Verfahren, wel ches der kollektiven Rechtsdurchsetzung dient. Bei einer amerikani schen «class action» klagt ein Einzelner für sich selbst sowie für eine Gruppe weiterer, nicht individualisierter Personen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden wie der Kläger. Diese Gruppe bildet die so genannte Klasse. Die Klassenmitglieder sind weder Prozesspartei, noch sind sie aktiv am Verfahren beteiligt. Dennoch ist das Urteil für sie verbindlich.87 In abgeschwächter Form kommen Gruppenklagen auch in anderen Ländern des Common Law vor.88 Instrumente des kollekti ven Rechtsschutzes finden ausserdem zunehmend in kontinentaleuro päischen Rechtsordnungen Eingang.89 Diese unterscheiden sich jedoch grösstenteils stark vom amerikanischen Modell.90 In der Schweiz ist die Diskussion um Vor und Nachteile des kollektiven Rechtsschutzes 86 Siehe Widmer Lüchinger (Fn. 81), AJP 2011, 1445, 1447 m. w. H. Die engli schen «conditional fee agreements» wurden ausdrücklich mit dem Ziel eingeführt, die staatlichen Kosten für die unentgeltliche Verbeiständung bedürftiger Personen zu ver ringern: a. a. O., 1449 m. w. H. Aufgrund von massiven Budgetkürzungen steht «legal aid» in Zivilverfahren auch in den USA nur sehr beschränkt zur Verfügung; siehe insbes. den Bericht der mit öffentlichen Geldern unterstützten Legal Services Corporation, Documenting the Justice Gap In America: The Current Unmet Civil Legal Needs of LowIncome Americans, An Updated Report, September 2009; Subrin/Woo (Fn. 46), 31 f. 87 Siehe Widmer (Fn. 24), 379 ff., 386 f. m. w. H. 88 Dazu Rachael Mulheron, The Class Action in Common Law Legal Sys tems, Oxford 2004; zur Rechtslage in England siehe dies., Third Party Funding and Class Actions Reform: Emerging Statutory and Legal Conundrums from a Com parative Perspective, (2015) Law Review Quarterly (bei Manuskriptabgabe noch nicht erschienen). 89 Für einen Überblick über die Rechtslage in kontinentaleuropäischen Rechtsord nungen und die Bestrebungen in der EU siehe Dirk Trüten, Kollektiver Rechtsschutz in Europa und der Schweiz – eine Standortbestimmung, EuZ 2015, 4, 7 ff. m. w. H. 90 Eine Ausnahme bildet offenbar das portugiesische Recht, welches sich nahe am amerikanischen Modell orientiert; siehe Trüten (Fn. 89), EuZ 2015, 4, 9. Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz ebenfalls in vollem Gange,91 insbesondere im Zusammenhang mit dem Vorentwurf eines Bundesgesetzes über die Finanzdienstleistungen (FIDLEG), der ein besonderes Gruppenvergleichsverfahren vorsieht.92 Auch die amerikanische Sammelklage bezweckt, den Zugang des Einzelnen zum Gericht zu erleichtern.93 Das zeigt sich besonders in Fällen, in denen zahlreiche Personen geschädigt worden sind, der Schaden des Einzelnen jedoch vernachlässigbar ist. Wer nur einen geringen Schaden erleidet, wird in der Regel darauf verzichten, Klage zu erheben. Da der Schädiger keine Klage zu befürchten hat, hat er auch keinen Anreiz, sich an das Recht zu halten. Werden nun aber die kleinen, individuellen Schadenssummen in einer Sammelklage zu sammengefasst, so wächst der Druck auf den Beklagten, sich rechts 91 Siehe neben dem in Fn. 89 genannten Beitrag insbesondere den erwähnten Bericht des Bundesrates vom 3. 7. 2013 (Fn. 69); siehe ferner Hansueli Schöchli, Das Gespenst der Sammelklagen, NZZ vom 14. 6. 2014; ferner etwa Christian Kölz, Braucht es in der Schweiz Sammelklagen?, ZBJV 2013, 865 ff.; François Bohnet, Les actions collectives, spécialement en matière de consommation, in: Blaise Carron/ Christoph Müller (Hrsg.), Droits de la consommation et de la distribution: Les nou veaux défis, Basel 2013, 159 ff.; Martin Bernet/Philipp Groz, Sammelklagen in Europa?, SZZP 2008, 75 ff.; Martin Bernet/Michael Hess, Sammelklagen und kollektiver Rechtsschutz – neueste Entwicklungen in Europa und der Schweiz, An waltsrevue 2012, 451 ff.; Lorenz Droese, Die Sammelklage in den USA und in Europa und die Auswirkungen auf die Rechtslage in der Schweiz, in: Walter Fellmann/ Stephan Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2010, Zürich 2010, 115 ff.; Leandro Pe rucchi, Class actions für die Schweiz, AJP 2011, 489 ff.; Daniel Fischer, Sammel klagen: Auch in der Schweiz sinnvoll?, plädoyer 2008/6, 48 ff., abrufbar unter <www. swissadvocate.com/assets/files/sammelklageninderschweiz.pdf> (26. 2. 2015). Zur Klage auf Überprüfung der Anteils und Mitgliedschaftsrechte nach Art. 105 FusG, welche aktuell der amerikanischen «class action» funktional am nächsten kommt, siehe den erwähnten Bericht des Bundesrates vom 3. 7. 2013 (Fn. 69), 33 m. w. H. 92 Siehe die bereits erwähnte Vernehmlassungsvorlage FIDLEG (Fn. 75) sowie den erläuternden Bericht des EFD vom 25. 6. 2014 (Fn. 75), 20 f., 100 ff.; zur Vorlage siehe Andreas Bohrer, FinanzmarktEnforcement 3.0: Ansätze für ein gesamtheit liches System der Normdurchsetzung, GesKR 2014, 318, 328 ff.; Harald Bärtschi, Finanzmarktregulierung im Fluss, SZW 2014, 459, 489 f.; Christian Kölz, Kollek tiver Rechtsschutz, Wem dient das Gruppenvergleichsverfahren im Finanzdienstleis tungsgesetz?, NZZ vom 8. 8. 2014; Patrick Schleiffer/Patrick Schärli, Ein Überblick über das künftige Finanzdienstleistungsgesetz und Finanzinstitutsgesetz, GesKR 2014, 334, 343; Domenic Oliver Brand, Anspruchsdurchsetzung in B2C Finanzdienstleistungsstreitigkeiten, AJP 2015, 86, 96 f. 93 Siehe etwa Subrin/Woo (Fn. 46), 200 f.; Mulheron (Fn. 88), 52 ff. m. w. H. 563 564 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 konform zu verhalten.94 Zugleich wächst aber auch die Gefahr, dass dieses Druckmittel missbräuchlich eingesetzt wird.95 Der Beklagte in einer «class action» weiss, dass das Verfahren jahrelang dauern kann, viele Ressourcen binden wird, den Wert der Aktien negativ beeinflus sen kann und zu schlechter Presse führt.96 Vor allem aber ist er sich aufgrund der «American Rule» bewusst, dass er – auch wenn die Kla ge schlussendlich abgewiesen wird – sämtliche Kosten selber tragen muss. Dies erklärt, weshalb «class action»Beklagte auch wenig fun dierte Klagen regelmässig mittels Vergleich erledigen. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit sind die Sammelklagen gegen Ferrero USA, Inc, welche Nutella herstellt. Ferrero hatte in ihrer Werbung suggeriert, dass der Genuss von Nutella zum Frühstück «gesund und bekömm lich» sei, was jedoch, so der Vorwurf der Kläger, gar nicht stimme (!). Um sich von diesen Verfahren zu befreien, hat Ferrero einem Vergleich in Höhe von insgesamt über drei Millionen Dollar zugestimmt.97 Ge nerell ist die Quote der Fälle, die in den USA mittels Vergleich abge schlossen werden, sehr hoch.98 Vom Missbrauchspotenzial der Sammelklagen profitieren in erster Linie die Klägeranwälte, denn sie führen die Prozesse regelmäs sig auf der Grundlage eines «contingent fee agreement».99 Damit er halten sie im Erfolgsfall einen Prozentsatz der Urteils oder Ver gleichssumme als Honorar. Im NutellaVerfahren betrug das Honorar der Klägeranwälte 30% der Bruttovergleichssumme.100 Demgegenüber 94 Vgl. Trüten (Fn. 89), EuZ 2015, 4, 5; Widmer (Fn. 24), 380 f. 95 Vgl. Mulheron (Fn. 88), 3 f., 72 ff.; Friedenthal/Kane/Miller (Fn. 39), 758 f.; Widmer (Fn. 24), 381; Trüten (Fn. 89), EuZ 2015, 4, 5 f. m. w. H. 96 Vgl. die Ausführungen bei Subrin/Woo (Fn. 46), 202. 97 Siehe <https://nutellaclassactionsettlement.com> (26. 2. 2015). 98 Vgl. Congressional Budget Office, The Economics of US Tort Liability: A Primer, October 2003, viii, 3, 5 f., abrufbar unter <www.cbo.gov/sites/default/files/10 22tortreformstudy.pdf> (26. 2. 2015), wonach in rund 97% aller Haftpflichtfälle Vergleiche geschlossen werden; vgl. auch Subrin/Woo (Fn. 46), 193, 202 f., 204.; siehe auch den Bericht des Bundesrates vom 3. 7. 2013 (Fn. 69), 37. 99 Zum Konnex zwischen «class actions» und «contingent fees» siehe Subrin/ Woo (Fn. 46), 203, 204. 100 Siehe In re: Nutella Marketing and Sales Practices Litigation, Class Action Settlement Agreement vom 10. 1. 2012, Civil Action No. 3:11cv01086FLWDEA (US District Court for the District of New Jersey), N 52, abrufbar unter <https:// nutellaclassactionsettlement.com/CourtDocuments.aspx> (26. 2. 2015). Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz erhielten die Gruppenmitglieder ganze vier Dollar pro Glas Nutella, das sie gekauft hatten. Pro Familie war der Maximalbetrag zudem auf 20 Dollar beschränkt.101 7. Beweisausforschung («discovery»-Verfahren) Als letztes Kennzeichen der amerikanischen «Geschädigten freundlichkeit» sei die sogenannte «pretrial discovery» erwähnt. Dieses prozessuale Instrument ermöglicht es den Parteien, das Be weismaterial des Gegners gezielt auszuforschen. Im Unterschied zur vorsorglichen Beweisführung102 und Editionspflicht103 nach schwei zerischem Zivilprozessrecht dient die «discovery» nicht bloss dem Beweis der eigenen Tatsachenbehauptungen.104 Das «discovery»Ver fahren soll den Parteien vielmehr ermöglichen, den Kenntnisstand des Gegners zu erforschen und die Schwachstellen seiner Argumentation aufzudecken. Dahinter steht der Gedanke der Waffengleichheit: Sieg oder Niederlage im Prozess sollen nicht von Beweisschwierigkeiten 101 Siehe In re: Nutella Marketing and Sales Practices Litigation (Fn. 100), Exhibit D, Notice of Class Settlement, 1 («Terms of the Settlement»), sowie In re Ferrero Litigation, Class Action Settlement Agreement vom 18. 1. 2012, Case No. 11CV205 H (CAB) (US District Court for the Southern District of California), Exhibit D, Notice of Class Settlement, 1, abrufbar unter <https://nutellaclassactions ettlement.com/Notice.aspx> (26. 2. 2015). Aufgrund der Höhe des Anwaltshonorars fochten mehrere Mitglieder der Klasse den gerichtlich genehmigten Vergleich an, allerdings ohne Erfolg; siehe In re: Nutella Marketing and Sales Practices Litigation, Urt. Nr. 123456, 123457 und 124629, und «Opinion» vom 29. 9. 2014 (US Court of Appeals for the Third Circuit), abrufbar unter <https://nutellaclassactionsettlement. com/CourtDocuments.aspx> (26. 2. 2015); In re Ferrero Litigation, Urt. Nr. 1256469 vom 16. 7. 2014 (US Court of Appeals for the Ninth Circuit), abrufbar unter <http:// cdn.ca9.uscourts.gov/datastore/memoranda/2014/07/16/1256469.pdf> (26. 2. 2015). 102 Art. 158 Abs.1 ZPO. 103 Art. 160 Abs.1 lit. b ZPO. 104 Vgl. Mark Schweizer, Vorsorgliche Beweisabnahme nach schweizerischer Zivilprozessordnung und Patentgesetz, ZZZ 2010, 1, 12 f.; Laurent Killias/Mi chael Kramer/Thomas Rohner, Gewährt Art. 158 ZPO eine «pretrial discovery» nach USamerikanischem Recht?, in: Franco Lorandi/Daniel Staehelin (Hrsg.), In novatives Recht, FS Ivo Schwander, Zürich 2011, 933 ff.; Walter Fellmann, in: SutterSomm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl., Zürich 2013, Art. 158 N 17a m. w. H. 565 566 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 abhängen.105 Auch hier besteht jedoch eine grosse Missbrauchsgefahr. Die Parteien können mit «discovery»Begehren regelrecht bombar diert werden.106 Je nach Umfang des Begehrens müssen unzählige Stunden mit dem Heraussuchen, Sichten, Kopieren und Bereitstellen des Materials verbracht werden. Die «discovery abuse» geht allerdings in beide Richtungen. Parteien, die «discovery» begehren, können mit Millionen (!) von unnützen Unterlagen überschüttet werden, um mög lichst zu verhindern, dass sie die wesentlichen Dokumente entde cken.107 Die «discovery abuse» steht deshalb auch in den USA in der Kritik.108 Aufgrund der «American Rule» muss wiederum jede Partei selber die mit der «discovery» verbundenen Kosten tragen. 8. Würdigung Der Überblick zeigt, dass sich die Situation des Geschädigten in der Schweiz und in den USA tatsächlich stark unterscheidet. Ursa che dafür ist aber primär das Prozessrecht.109 Das amerikanische Recht gibt dem Geschädigten sehr viele prozessuale Instrumente in die Hand, um den Beklagten unter Druck zu setzen, im Guten wie im Schlechten. Dies wirkt sich gerade im Haftpflichtrecht besonders stark aus. Das amerikanische Haftpflichtrecht ist deshalb nicht nur geschä digtenfreundlicher als das schweizerische, sondern auch missbrauchs anfälliger. 105 Siehe dazu ausführlich Friedenthal/Kane/Miller (Fn. 39), 396 ff.; Sub rin/Woo (Fn. 46), 129 ff. 106 Siehe die Beispiele bei Subrin/Woo (Fn. 46), 145 f. 107 Siehe die Beispiele bei Charles Yablon, Stupid Lawyer Tricks: An Essay on Discovery Abuse, 96 Columbua Law Review 1618 (1996); John K. Setear, The Barrister and The Bomb: The Dynamics of Cooperation, Nuclear Deterrence, and Discovery Abuse, 69 Boston University Law Review 569 (1989); Subrin/Woo (Fn. 46), 145 ff. 108 Siehe Subrin/Woo (Fn. 46), 143 ff. m. w. H. 109 Siehe auch den Bericht des Bundesrates vom 3. 7. 2013 (Fn. 69), 40. Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz III. Annäherung der USA an Europa (und damit an die Schweiz)? 1. Ausgangspunkt Was können denn nun die beiden Rechtssysteme voneinander lernen? Beginnen wir mit den USA. Um es gleich vorwegzunehmen: Mit Ausnahme des Bankgeheimnisses und des Krankenversicherungs systems findet das schweizerische Recht kaum Beachtung in den USA. In den letzten Jahren kann jedoch eine Annäherung an das europäische Recht – und damit auch an das schweizerische – beobachtet werden. Es handelt sich dabei nicht um eine bewusste Annäherung, denn die amerikanische Politik interessiert sich nicht besonders für europäische Rechtsordnungen, und auch die amerikanischen Gerichte verschlies sen sich zunehmend rechtsvergleichenden Überlegungen.110 Zahl reiche Reformen und Reformvorstösse111 gehen jedoch dahin, Klagean reize zu senken, den Beklagten besser zu schützen und exorbitante Urteilssummen einzudämmen, was in der Sache eine Annäherung an Europa bedeutet – beziehungsweise bedeuten würde, denn die bishe rigen Reformen scheinen nur beschränkt zu wirken.112 Das mag daran liegen, dass sie fast ausschliesslich auf das materielle Recht zielen. 110 Aufschlussreich etwa die Äusserung von US Supreme Court Justice Thomas im Entscheid Foster v. Florida 537 U. S. 990 (2002), wonach sich das oberste Gericht Amerikas nicht nach «foreign moods, fads, or fashions» zu richten habe. Die Mei nungen der Supreme Court Justices darüber, ob das oberste Gericht sich auch an ausländischen Rechtsordnungen orientieren soll resp. darf, gehen allerdings ausein ander; vgl. Paul Finkelman, Foreign Law and American Constitutional Interpreta tion: a Long and Venerable Tradition, 63 NYU Annual Survey of American Law 29 (2007). Siehe allg. auch Ewoud Hondius, Comparative Law in the CourtRoom, Europe and America Compared, FS Schwenzer, Bd. I, Bern 2011, 759 ff. 111 Überblick über den aktuellen Stand der Reformen auf der Website der Ame rican Tort Reform Association (ATRA), <www.atra.org> (26. 2. 2015). Siehe allg. zur amerikanischen «tort reform»Bewegung F. Patrick Hubbard, The Nature and Impact of the «Tort Reform» Movement, 35 Hofstra Law Review 437 (2006). 112 Vgl. den Bericht des Congressional Budget Office von Juni 2004, The Effects of Tort Reform: Evidence from the States, abrufbar unter <www.cbo.gov/sites/default/ files/report_2.pdf> (26. 2. 2015); Theodore Eisenberg, The Empirical Effects of Tort Reform, in: Jennifer Arlen (Hrsg.), Research Handbook on the Economics of Torts, Cheltenham 2013, 513 ff.; vgl. auch unten, Fn. 126. 567 568 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 Kaum angetastet oder auch nur in Frage gestellt wird dagegen das Prozessrecht, insbesondere das «jury»Verfahren und die «American Rule», obwohl gerade hier – zumindest aus europäischer Sicht – die «Hauptschuldigen» zu suchen sind. 2. Das Beispiel der Arzthaftung Eine eigentliche Kehrtwende wird in den USA vor allem in ei nem Bereich diskutiert, nämlich bei der Arzthaftung.113 Klagen gegen Ärzte wegen behaupteter Behandlungsfehler sind in den USA ausser ordentlich häufig. Gemäss einer Studie aus dem Jahr 2011 werden rund 75% aller Ärzte im Laufe ihrer Karriere mindestens einmal einge klagt; bei besonders risikoreichen Fachgebieten steigt dieser Anteil gar auf 99%.114 Zwar wird weniger als ein Viertel der Klagen gegen Ärzte tatsächlich gutgeheissen.115 Die Kosten der Verteidigung sind jedoch hoch, und aufgrund der «American Rule» können sie auch dann nicht auf den Kläger abgewälzt werden, wenn dieser unterliegt. Das grosse Risiko, eingeklagt zu werden, schlägt sich in den Prämien nieder, die amerikanische Ärzte für ihre Berufshaftpflicht versicherung bezahlen müssen. Je nach Region und Fachgebiet können diese Prämien über 200 000 Dollar pro Jahr betragen, wobei die Band breite allerdings beträchtlich ist.116 Zum Vergleich: In der Schweiz 113 Vgl. Hubbard (Fn. 111), 35 Hofstra Law Review 437, 469 f., 517 ff. (2006) m. w. H. 114 Anupam B. Jena/Seth Seabury/Darius Lakdawalla/Amitabh Chandra, Malpractice Risk According to Physician Specialty, 365 The New England Journal of Medicine 629, 633 (2011), abrufbar unter <www.nejm.org/doi/pdf/10.1056/NEJM sa1012370> (26. 2. 2015). 115 Jena/Seabury/Lakdawalla/Chandra (Fn. 114), 365 The New England Journal of Medicine 629, 634 (2011). 116 Siehe den 2014 Annual Survey of Medical Malpractice Rates des Medical Liability Monitor, erhältlich bei <www.medicalliabilitymonitor.com> (7. 2. 2015); vgl. ferner den ExcellusBericht zu Versicherungsprämien in New York, The Facts about New York State Medical Malpractice Coverage Premiums: 20132014 Standard Medical Malpractice Premium Rates, 2014, abrufbar unter <www.excellusbcbs.com/ wps/portal/xl/our/hpr/factsurveyreport> (26. 2. 2015) (ausgehend von einer Versiche rungssumme von 3,9 Mio. Dollar pro Jahr, wobei jedoch pro geschädigten Patienten maximal 1,3 Mio. Dollar zur Verfügung stehen). Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz betragen marktübliche Jahresprämien bei einer Versicherungssumme von fünf Millionen Franken (Einmalgarantie) und einem Selbstbehalt von 300 Franken aktuell rund 1100 Franken für Allgemeinmediziner, 5500 Franken für Urologen und 8100 Franken für Chirurgen.117 Der teils massive Prämienanstieg, der in den 70erJahren einsetzte, war der eigentliche Auslöser der Reformdiskussion in den USA.118 Die Prämienhöhe ist nicht nur für die Ärzte ein Problem. In Regionen mit besonders hohen Versicherungsprämien besteht zunehmend ein Ärzte mangel.119 Betroffen ist vor allem das Fachgebiet der Gynäkologie und Geburtshilfe; hier haben sich die Jahresprämien zwischen 1996 und 2006 durchschnittlich verdreifacht.120 Zugleich wird beobachtet, dass 117 Ich danke Herrn Roland Müller, Leiter Underwriting bei der AXA Win terthur, für diese ungefähren Angaben. Schwankungen sind ohne Weiteres möglich; ausserdem reduzieren sich die Prämien regelmässig aufgrund von Kollektiv oder Rahmenverträgen mit ärztlichen Berufsverbänden. Bei einer Versicherungssumme von zehn Mio. Franken (Einmalgarantie) steigen die Prämien auf 1200 Franken (All gemeinmedizin), 6200 Franken (Urologen) resp. 9200 Franken (Chirurgie) an. Zum Vergleich: Im Jahre 2005 betrugen die Jahresprämien gemäss Bundesamt für Ge sundheit rund 1000 Franken für Allgemeinmediziner, 6000 Franken für Urologen, 6500 Franken für Chirurgen und 20 000 bis maximal 60 000 Franken für plastische Chirurgen: siehe Bericht des BAG vom 28. 4. 2005 (Fn. 18), 4, (ausgehend von einer Versicherungssumme von fünf Mio. Franken und einem Selbstbehalt von 200 Fran ken). 118 Vgl. Hubbard (Fn. 111), 35 Hofstra Law Review 437 (2006); Brandon Van Grack, Recent Development: The Medical Malpractice Liability Limitation Bill, 42 Harvard Journal on Legislation 299, 302 f. (2005). 119 Ob zwischen Prämienhöhe und Ärztemängel ein direkter Kausalzusammen hang besteht, wird allerdings zum Teil in Frage gestellt; vgl. den Überblick über die unterschiedlichen Ergebnisse empirischer Studien bei Michelle M. Mello, Medi cal Malpractice: Impact of the Crisis and Effect of State Tort Reforms, Robert Wood Johnson Foundation Synthesis Project Report No. 10, 2006, 2 ff., 15, abrufbar unter <www.rwjf.org/content/dam/supplementaryassets/2006/05/15168.medmalprac ticeimpact.report.pdf> (26. 2. 2015). 120 Vgl. Thomas Edwards Williams/Bhagwan Satiani/E. Christopher Elli son, The Coming Shortage of Surgeons: Why They Are Disappearing and What That Means for Our Health, Santa Barbara 2009, 90; Pamela Robinson/Xiao Xu/Kristie Keeton/Dee Fenner/Timothy Johnson/Scott Ransom, The Impact of Medical Legal Risk on ObstetricianGynecologist Supply, 105 Obstetrics & Gynecology 1296, 1297, 129 ff. (2005), abrufbar unter <http://journals.lww.com/greenjournal/toc/ 2005/06000> (26. 2. 2015). Die Gründe für den Ärzterückgang in diesem Fachgebiet sind allerdings vielfältig; vgl. Mark Loafman/Shivani Nanda,Who Will Deliver our Babies?: Crisis in the Physician Workforce, 6 American Journal of Clinical Me dicine 11 (2009), abrufbar unter <www.aapsus.org/articles/10.pdf> (26. 2. 2015). 569 570 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 Ärzte aus Angst vor Klagen Hochrisikopatienten abweisen oder aber unnötige Untersuchungen durchführen, was die Gesundheitskosten in die Höhe treibt.121 Es besteht mithin die Sorge, dass das Haftpflicht recht letztlich die Gesundheitsversorgung beeinflusst, und das wiede rum erklärt, weshalb die Forderung nach einem besseren Schutz der Ärzte weit verbreitet ist. Reformen sind bislang vor allem in den Gliedstaaten umgesetzt worden.122 Sie umfassen insbesondere Begrenzungen («caps») von «noneconomic damages» (Genugtuung) und «punitive damages» sowie Beschränkungen der zulässigen «contingent fees» in Verfahren gegen medizinische Fachpersonen.123 Ziel ist vor allem, die Versiche rungsprämien in Schach zu halten und damit letztlich die medizini sche Versorgung zu gewährleisten.124 Zugleich soll die sogenannte Defensivmedizin zurückgebunden werden.125 Die Wirksamkeit sol 121 Vgl. Jena/Seabury/Lakdawalla/Chandra (Fn. 114), 365 The New England Journal of Medicine 629, 634 f. (2011); Daniel P. Kessler/Nicholas Summerton/ John R. Graham, Effects of the Medical Liability System in Australia, the UK, and the USA, 368 The Lancet 240 (2006); David M. Studdert/Michelle M. Mello/ William M. Sage et al., Defensive Medicine Among HighRisk Specialist Physi cians in a Volatile Malpractice Environment, 293 The Journal of the American Medical Association 2609 (2005); Michelle M. Mello/Amitabh Chandra/ Atul A. Gawande/David M. Studdert, National Costs Of the Medical Liability System, 29 Health Affairs 1569, 1572 ff. (2010), abrufbar unter <http://content.healt haffairs.org/content/29/9/1569.full.pdf> (26. 2. 2015); Tamu K. Floyd, Medical Mal practice: Trends in Litigation, 134 Gastroenterology 1822, 1823 (2008), abrufbar unter <www.gastrojournal.org/article/S00165085(08)007610/pdf> (26. 2. 2015), je m. w. H. 122 Siehe den Überblick bei Hubbard (Fn. 111), 35 Hofstra Law Review 437, 517 ff. (2006); Mello (Fn. 119), 6 ff.; siehe ferner die Website von ATRA, <www. atra.org/issues/medicalliabilityreform> (26. 2. 2015). 123 Hubbard (Fn. 111), 35 Hofstra Law Review 437, 469 f. (2006); Kessler/ Summerton/Graham (Fn. 121), 368 The Lancet 240, 242 f., 244 (2006); Floyd (Fn. 121), 134 Gastroenterology 1822, 1823 f. (2008). 124 Siehe den Überblick im Bericht des US General Accounting Office (GAO), Report to Congressional Requesters, Medical Malpractice Insurance: Multiple Factors Have Contributed to Increased Premium Rates, Juni 2003, 41 ff., abrufbar unter <www.gao.gov/new.items/d03702.pdf> (26. 2. 2015). 125 Vgl. Kessler/Summerton/Graham (Fn. 121), 368 The Lancet 240, 241 f. (2006). Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz cher Reformen ist allerdings umstritten,126 wie auch schon das Be stehen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Arzthaftung à l’américaine und dem Prämienanstieg.127 Immerhin wird seit ein paar Jahren in einigen Gliedstaaten eine leichte Reduktion (oder zumindest Stabilisierung) der Prämien für die Berufshaftpflichtver sicherung beobachtet.128 Obgleich das Haftpflichtrecht in die Zuständigkeit der US Gliedstaaten fällt, sind auch auf Bundesebene verschiedene Reform vorstösse zu verzeichnen. Diese gehen in der Regel von republikani schen Politikern aus, denn die Demokraten stehen Haftpflichtreformen traditionell ablehnend gegenüber. Für eine «medical malpractice» Reform sprach sich vor allem die Administration unter Präsident George W. Bush aus,129 allerdings ohne dass es in der Folge zu einer Reform kam. Später sprach sich auch Barack Obama für eine Reform 126 Vgl. Mello (Fn. 119), 9 ff., mit einem Überblick über die Ergebnisse ver schiedener empirischer Studien; Patricia Born/W. Kip Viscusi/Tom Baker, The Effects of Tort Reform on Medical Malpractice Insurers’ Ultimate Losses, 76 The Journal of Risk and Insurance 197 (2009); Ronen Avraham, An Empirical Study of the Impact of Tort Reforms on Medical Malpractice Settlement Payments, 36 Journal of Legal Studies 183 (2007); Kathryn Zeiler, Medical Malpractice Liability Crisis or Patient Compensation Crisis?, 59 DePaul Law Review 675, 679 ff., 682 ff. (2010), abrufbar unter <http://via.library.depaul.edu/lawreview/vol59/iss2/15> (26. 2. 2015), je m. w. H. 127 Den Kausalzusammenhang bejahend etwa der GAOBericht (Fn. 124), 43; verneinend Katherine Baicker/Amitabh Chandra, The Effect of Malpractice Liability on the Delivery of Health Care, 8 Forum for Health Economics & Policy 1, 21 (2005), abrufbar unter <www.hks.harvard.edu/fs/achandr/FHPR_EffectofMal practiceHealthCareDelivery_2005.pdf> (26. 2. 2015); Zeiler (Fn. 126), 59 DePaul Law Review 675, 694 (2010); differenzierend Floyd (Fn. 121), 134 Gastroenterology 1822, 1823 (2008); Mello (Fn. 119), 12. 128 Siehe den 2014 Annual Survey of Medical Malpractice Rates (Fn. 116) sowie den Überblick bei <http://medicalliabilitymonitor.com/news/2014/10/medicalliabi litymonitorpublishes2014annualsurveyofmedicalmalpracticerates> (26. 2. 2015). 129 Siehe etwa Baicker/Chandra (Fn. 127), 8 Forum for Health Economics & Policy 1 (2005); vgl. ferner den Bericht des US Department of Health and Human Services vom 24. 7. 2002, Confronting the New Health Care Crisis: Improving Health Care Quality and Lowering Costs By Fixing Our Medical Liability System, abrufbar unter <http://aspe.hhs.gov/daltcp/reports/litrefm.pdf> (26. 2. 2015). 571 572 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 aus.130 Im März 2012 hat das Repräsentantenhaus als Erste Kammer im Kongress den sogenannten «Protecting Access to Healthcare Act (Help Efficient, Accessible, Low Cost, Timely Healthcare [HEALTH] Act of 2012)» verabschiedet,131 der auf einen Vorschlag des republi kanischen Politikers Phil Gingrey zurückgeht.132 Der Gesetzesentwurf sollte den Zugang der Bevölkerung zur Gesundheitsversorgung ver bessern, insbesondere durch eine Einschränkung der Arzthaftung. Bis heute hat der Entwurf den Senat nicht passiert,133 was wohl daran liegt, dass die Demokraten bis im November 2014 im Senat die Mehrheit hatten. Wie dem auch sei: Auch der HEALTH Act sieht vor allem materiellrechtliche Reformen vor, insbesondere die Begrenzung von Genugtuungssummen, «punitive damages» und «contingent fees».134 Das Prozessrecht hingegen bleibt ausgeklammert. Es ist deshalb frag lich, ob das Gesetz das Problem tatsächlich lösen könnte. Ähnliche Reformen haben schon zahlreiche Gliedstaaten umgesetzt, bislang ohne klare Auswirkungen.135 Eine «Europäisierung» – oder gar «Helvetisierung» – des ame rikanischen Rechts ist also bisher nicht eingetreten. Wie sieht es nun umgekehrt aus? IV. Annäherung der Schweiz an die USA? 1. Ausgangspunkt In Europa wird die «Amerikanisierung» des Haftpflichtrechts traditionell als etwas Negatives aufgefasst, das es unbedingt zu ver meiden gilt.136 Dass wir jedoch auch Gutes von Amerika lernen können, zeigt das Beispiel des Produktehaftpflichtrechts. Die ver 130 Siehe Alex Nussbaum, Malpractice Lawsuits are «Red Herring» in Obama Plan, Bloomberg 16. 6. 2009, abrufbar unter <www.bloomberg.com/apps/news?pid= newsarchive&sid=az9qxQZNmf0o> (26. 2. 2015). 131 Siehe <www.govtrack.us/congress/bills/112/hr5/text/rds> (26. 2. 2015). 132 Siehe <www.congress.gov/bill/112thcongress/housebill/5> (26. 2. 2015). 133 Siehe <www.govtrack.us/congress/bills/112/hr5/text/rds> (26. 2. 2015). 134 Vgl. sec. 104(b) (Obergrenze von 250 000 Dollar bei der Zusprechung von Genugtuung); sec. 106 (punitive damages); sec. 105 (contingent fees). 135 Siehe die Hinweise in Fn. 126. 136 Siehe bereits oben sub I. Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz schuldensunabhängige Haftpflicht des Produktherstellers, die wir aufgrund einer EGRichtlinie137 heute in ganz Europa kennen, wur de bereits 20 Jahre zuvor in der amerikanischen Gerichtspraxis ent wickelt.138 Wenn wir heute etwas von den USA lernen können, dann ist es die Bereitschaft, vorhandene Spielräume zugunsten des Geschädigten zu nutzen, gerade auch als Richter. Dies lässt sich anhand der Asbest problematik aufzeigen. 2. Das Beispiel der Verjährung bei Asbestschäden 2.1 Die schweizerische Perspektive Das Bundesgericht hatte bekanntlich vor vier Jahren die Klage eines Arbeitnehmers, der eine asbestbedingte Erkrankung erlitten hatte, zu beurteilen.139 Der Fall betraf einen ehemaligen Turbinen monteur, der während der Arbeit Asbestfasern ausgesetzt gewesen war. Rund 40 Jahre später erkrankte er an einem malignen Pleurame sotheliom, einer besonders aggressiven Krebsart, die unweigerlich 137 Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. 7. 1985 zur Angleichung der Rechts und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte. 138 Leading case ist der Entscheid des Supreme Court of California in Greenman v. Yuba Power Products, Inc., 59 Cal. 2d 57, 377 P.2d 897, 27 Cal.Rptr. 697, 13 A. L. R.3d 1049 (1963), auszugsweise wiedergegeben bei Widmer (Fn. 24), 176 ff. Zu diesem historischen Entscheid siehe etwa David G. Owen, Products Liability Law Restated, 29 South Carolina Law Review 273, 276 ff. (1998). Zur Entwicklung der verschuldensunabhängigen Produktehaftpflicht in den USA siehe Widmer (Fn. 24), 155 ff.; ausführlich David G. Owen, Products Liability Law, St. Paul, Minn. 2005, 10 ff. 139 BGE 137 III 16 ff. Siehe zu diesem Entscheid Corinne Widmer Lüchinger, Die Verjährung bei Asbestschäden, ZBJV 2014, 460 ff.; Wolfgang Portmann/ Ivana StreuliNikolic, Zur Verjährung von Forderungen aus positiver Vertrags verletzung im Fall von Spätschäden, ArbR 2011, 13 ff.; Benoît Chappuis/Franz Werro, Délais de prescription et dommages différés: réflexions sur l’ATF 137 III 16 et la motion parlementaire 07.3763, HAVE 2011, 139 ff.; Massimo Aliotta/David Husmann, Die Verjährung von Ersatzforderungen aus Spätschäden – neue Entwick lungen in Rechtsprechung und Gesetzgebung, HAVE 2012, 90 ff. 573 574 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 zum Tod führt,140 und verklagte seinen früheren Arbeitgeber. Das Bundesgericht hielt die Forderung für verjährt und wies die Klage ab. Betrachtet man das Gesetz, könnte man versucht sein, den Ent scheid des Bundesgerichts für richtig zu halten. Nach Obligationen recht beträgt die Verjährungsfrist bei Personenschäden nämlich höchs tens zehn Jahre.141 Diese zehn Jahre sind weit weniger als die Latenzzeit beim Pleuramesotheliom, die rund 50 Jahre142 beträgt. Das Problem scheint also die zu kurze Verjährungsfrist zu sein. So sah es auch der Bundesrat, welcher die absolute Verjährungsfrist auf immer hin 30 Jahre anheben wollte.143 Wie bereits früher in dieser Zeitschrift ausführlich dargelegt,144 ist das Problem in Wirklichkeit jedoch nicht die Dauer der Frist, sondern der Beginn des Fristenlaufs. Bei vertrag lichen Ansprüchen, um die es auch im erwähnten Entscheid ging, sagt das Gesetz lediglich, dass die Verjährung mit der Fälligkeit zu laufen beginnt (Art. 130 Abs. 1 OR). Wesentliche Frage ist demnach, wann eine vertragliche Forderung fällig wird. Bei Asbestschäden besteht das Problem darin, dass es im Zeit punkt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer pflichtwidrig Asbest ausgesetzt hat, nicht möglich ist, die Folgen der Pflichtverletzung vor herzusagen. Ob der Betroffene überhaupt je krank werden wird, kann im Moment der Pflichtverletzung niemand wissen, denn eine gesund heitliche Beeinträchtigung ist in diesem Zeitpunkt objektiv nicht fest stellbar. Deshalb kann das Gericht auch nicht nach Art. 46 OR den Schaden schätzen, der in der Zukunft – vielleicht – entstehen wird.145 Daraus folgt, dass im Zeitpunkt der Pflichtverletzung noch gar keine Forderung existiert, die fällig werden und verjähren könnte. Dennoch hat das Bundesgericht entschieden, dass vertragliche Forderungen aufgrund pflichtwidriger Asbestexposition bereits in jenem Moment 140 Siehe die Hinweise bei Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 462 f. 141 Siehe Art. 127 OR (für vertragliche Ansprüche) und Art. 60 Abs. 1 OR (für ausservertragliche Ansprüche); vgl. auch Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 464 f. 142 Siehe Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 462 f. m. H. 143 Siehe die Botschaft zur Änderung des Obligationenrechts (Verjährungsrecht), BBl 2014, 235 ff. 144 Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460 ff. 145 Dazu Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 476 f.; Portmann/ StreuliNikolic (Fn. 139), ArbR 2011, 13, 23. Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz fällig werden, in dem der Arbeitgeber seine Pflichten verletzt hat. Erst diese dogmatisch wenig überzeugende Bestimmung der Fälligkeit durch das Bundesgericht führte dazu, dass die Forderungen des Be troffenen bzw. seiner Hinterlassenen verjährt waren, bevor sie über haupt entstanden waren. Dies drückt eine Abwehrhaltung gegenüber Geschädigten aus, die vom Gesetz nicht vorgegeben ist. Der vorhan dene gesetzliche Spielraum wurde nicht ausgeschöpft. Der Entscheid hat bekanntlich im März 2014 zu einer Verurteilung der Schweiz durch den EGMR geführt.146 Die Haltung des Bundesgerichts erklärt sich wohl aus der Zurückhaltung heraus, rechtspolitische Entscheidungen zu treffen, die nach kontinentaleuropäischem Verständnis nicht dem Gericht, sondern dem Gesetzgeber zustehen. Hier geht es jedoch nicht einmal primär um eine rechtspolitische Entscheidung, sondern um eine dogmatisch überzeugende Argumentation. Dass sie auch noch sachgerecht wäre, ist sozusagen ein «added bonus». Auch die aktuellen Bestrebungen zur Reform des schweizeri schen Verjährungsrechts lassen wenig Hoffnung aufkommen, dass dem Problem der Spätschäden ernsthaft zu Leibe gerückt werden soll. Im Gegenteil, das Verjährungsproblem wird im Entwurf des Bundes rats147 – jedenfalls für vertragliche Ersatzforderungen – sogar ver schärft, da der dies a quo nun gesetzlich an die Pflichtverletzung gekoppelt werden soll.148 Zwischen Pflichtverletzung und Erkrankung können aber ohne Weiteres mehr als 30 Jahre vergehen, wie das Bei spiel des Pleuramesothelioms zeigt. Dass die eigentliche Crux nicht 146 Howald Moor et autres c. Suisse, Urteil Nr. 52067/10 und 41072/11 vom 11. 3. 2014, abrufbar unter <http://hudoc.echr.coe.int> (26. 2. 2015). Zu diesem Ent scheid siehe Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460 ff.; Christoph Müller, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt die Schweiz wegen der absoluten Verjährung der Ansprüche von Asbestopfern, Jusletter 26. 3. 2014; Frédéric Krauskopf, EMRKwidriges Verjährungsrecht! – Die Schweiz muss die Verjährung im Schadensrecht überdenken, Jusletter 26. 3. 2014; David Husmann, Ein Tumor, der sich nicht an Fristen hält, plädoyer 2/2014, 13 ff.; Thierry Décaillet, Le droit suisse privetil vraiment les victimes de dommages différés de la possibilité de faire valoir leurs prétentions en justice?, HAVE 2014, 145 ff.; zur Frage der EMRKKonformität siehe auch Felix Schöbi, Lex dura sed lex? Zur Vereinbarkeit der (absoluten) Ver jährung mit der EMRK, Liber amicorum Brehm, Bern 2012, 417 ff. 147 Obligationenrecht (Revision des Verjährungsrechts) (Entwurf), BBl 2014, 287 ff. 148 Art. 128 EOR; vgl. Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 471 f. 575 576 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 die Dauer, sondern der Beginn der Verjährungsfrist ist, scheint auch im Parlament nicht erkannt worden zu sein, fokussiert sich dort doch die Diskussion auf die Länge der Frist.149 Nach dem Willen des Na tionalrats als behandelnden Erstrats soll diese nicht einmal mehr (wie vom Bundesrat vorgeschlagen) 30, sondern nur 20 Jahre betragen.150 Dies ist umso bedenklicher, als eine befriedigende Lösung bereits de lege lata möglich wäre.151 2.2 Die amerikanische Perspektive Auch in Amerika, wo man auf eine mehr als 40jährige Gerichts praxis zur Asbestfrage zurückblicken kann, stellte die Verjährungsfra ge eines der Hauptprobleme dar.152 Die Gliedstaaten, in deren Kompetenz das Verjährungsrecht fällt, kennen im Falle von Personen schäden grundsätzlich keine Verjährungsfristen, die bereits mit der pflichtwidrigen Handlung zu laufen beginnen würden.153 Stattdessen gilt traditionell die sogenannte «accrual rule», wonach der Fristenlauf erst beginnt, wenn die Pflichtverletzung zu einer Rechtsgutverletzung («injury») geführt hat. Bereits diese Regelung ist viel liberaler als die erwähnte Bundesgerichtspraxis und Verjährungsreformvorlage, die beide auf die Pflichtverletzung abstellen. Dennoch wurde die «accrual rule» als unbefriedigend betrachtet, da sie ausser Acht liess, ob der Betroffene von der Rechtsgutverletzung wissen konnte.154 Insbesonde re für Erkrankungen mit langen Latenzzeiten haben deshalb Gesetz geber und Gerichte die heute herrschende «discovery rule» einge 149 Zu den Beratungen siehe Amt.Bull. N 2014, 1760 ff. 150 Amt.Bull. N 2014, 1786. 151 Dazu ausführlich Widmer Lüchinger (Fn. 139), ZBJV 2014, 460, 475 ff. 152 Vgl. die vom RAND Institute for Civil Justice unterstützte Studie von Stephen J. Carroll/Deborah Hensler/Jennifer Gross/Elizabeth M. Sloss/Matthias Schonlau/Allan Abrahamse/J. Scott Ashwood, Asbestos Litigation, Santa Monica 2005, 25 f., abrufbar unter <www.rand.org/content/dam/rand/pubs/mono graphs/2005/RAND_MG162.pdf> (26. 2. 2015); James A. Henderson/Aaron D. Twerski, Asbestos Litigation Gone Mad: ExposureBased Recovery for Increased Risk, Mental Distress, and Medical Monitoring, 53 South Carolina Law Review 815, 820 (2002) m. w. H. 153 Dobbs (Fn. 23), 553 f. m. H. zu Ausnahmen, die teils für bestimmte Berufs gruppen eingeführt worden sind. 154 Dobbs (Fn. 23), 554 f. m. H. Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz führt.155 Danach beginnt die Verjährungsfrist erst zu laufen, wenn der Geschädigte die Rechtsgutverletzung sowie deren Verursachung durch den Schädiger kannte oder kennen musste.156 Dabei dauert die Verjäh rungsfrist («limitation period») im Falle fahrlässig verursachter Perso nenschäden je nach Gliedstaat ein bis sechs Jahre.157 155 Vgl. aus der Rechtsprechung etwa Louisville Trust Co. v. Johns-Manville Products Corp., 580 S.W.2d 497, 500, 501 (Supreme Court of Kentucky 1979): «The clear trend, in most [American] jurisdictions in cases dealing with drugs, chemicals and asbestos has been to apply some variation of the discovery rule …»; aus der Gesetzgebung siehe z. B. Section 214C des NY Code – Civil Practice Law and Rules: «[T]he three year period within which an action to recover damages for personal injury … caused by the latent effects of exposure to any substance … upon or within the body … must be commenced shall be computed from the date of discovery of the injury by the plaintiff or from the date when through the exercise of reasonable diligence such injury should have been discovered by the plaintiff, whichever is earlier»; spezifisch auf Asbestfälle zugeschnitten etwa Section 6230(b) Code of Alabama: «A civil action for any injury to the person or rights of another resulting from exposure to asbestos … shall be deemed to accrue on the first date the injured party, through reasonable diligence, should have reason to discover the injury giving rise to such civil action»; ferner § 340.2 des California Code of Civil Procedure: «(a) In any civil action for injury or illness based upon exposure to asbestos, the time for the commencement of the action shall be the later of the following: (1) Within one year after the date the plaintiff first suffered disability. (2) Within one year after the date the plaintiff either knew, or through the exercise of reasonable diligence should have known, that such disability was caused or contributed to by such exposure»; alle Gesetzesbestimmungen abrufbar unter <http://codes.lp.findlaw.com> (26. 2. 2015). 156 Siehe Dobbs (Fn. 23), 554 ff.; Michael D. Green, The Paradox of Statutes of Limitations in Toxic Substances Litigation, 76 California Law Review 965, 976 ff. (1988), je m. H. zur Rechtsprechung und zu verschiedenen Variationen der discovery rule; siehe auch die Hinweise in Fn. 155. Ähnlich das englische Recht, wonach die Verjährung bei Personenschäden in der Regel drei Jahre ab Entstehen des Ersatzan spruchs oder aber, falls später erlangt, ab Kenntnis (resp. Kennenmüssen) des Betrof fenen eintritt: siehe Section 11(4) i. V. m. Section 14 des Limitation Act 1980 (abruf bar unter <www.bailii.org/form/search_legis.html> [26. 2. 2015]); dazu Andrew McGee, Limitation Periods, 7. Aufl., London 2014, N 8.005 ff.; Frank Burton/ Andrew Roy, Personal Injury Limitation Law, 3. Aufl., Haywards Heath 2013, 20 ff.; Martin Canny, Limitation of Actions in England and Wales, Haywards Heath 2014, N 13.01 ff. 157 Eine Zusammenstellung der Einzelstaatenregelungen findet sich bei Frank August Schubert, Introduction to Law and the Legal System, 11. Aufl., Boston 2015, 198 ff. sowie online bei <http://statelaws.findlaw.com/accidentandinjurylaws/ civilstatuteoflimitationslaws.html> und <www.nolo.com/legalencyclopedia/ statuteoflimitationsstatelawschart29941.html> (26. 2. 2015); vgl. auch <www. mesothelioma.com/lawyer/statuteoflimitations.htm> (26. 2. 2015). 577 578 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 Absolute Verjährungsfristen, die bereits mit der schädigenden Handlung zu laufen beginnen (sogenannte «statutes of repose»), wur den erst in den 70er und 80erJahren von den Gesetzgebern verschie dener Gliedstaaten eingeführt. Sie gelten nach wie vor als singulär. Dort, wo sie eingeführt worden sind, gelten sie ausserdem nur für «particular groups that have lobbied for them»158, insbesondere Pro dukthersteller, Architekten, medizinische Fachpersonen und Regie rungseinheiten.159 Die Verfassungsmässigkeit solcher Regelungen ist zum Teil in Zweifel gezogen worden, versuchen sie doch «to declare the bread stale before it is baked».160 Trotz der sehr liberalen «discovery rule» waren auch in den USA Forderungen oftmals verjährt, bevor die Betroffenen überhaupt er krankt waren. Dies lag an der sogenannten «single action rule», wo nach Betroffene den gesamten Schaden, der auf ein und dieselbe Pflichtverletzung zurückzuführen war, in einem einzigen Verfahren geltend machen mussten.161 Wenn also die Pflichtverletzung des Ar beitgebers zunächst nur eine Krankheit (z. B. Asbestose) auslöste und sich erst viel später eine weitere, schwerwiegendere Erkrankung (z. B. ein Pleuramesotheliom) manifestierte, die auf dieselbe Ursache zu rückzuführen war, dann konnte der Betroffene für den aufgrund des Mesothelioms erlittenen Schaden keinen Ersatz mehr verlangen. Im Moment nämlich, in dem er aufgrund der Asbestose von der Pflicht verletzung des Arbeitgebers wusste oder wissen musste, begann nach der «discovery rule» in Verbindung mit der «single action rule» die Verjährung für sämtliche Schäden zu laufen, die sich – auch in ferner Zukunft – aus der Pflichtverletzung ergeben würden.162 Die Rigidität der «single action rule» wurde von zahlreichen Gerichten als unbefriedigend empfunden. Sie suchten deshalb nach 158 Dobbs (Fn. 23), 557 f. 159 Dobbs (Fn. 23), 557 f. m. H. 160 Siehe Dobbs (Fn. 23), 560 f., mit Anm. 20. 161 Siehe etwa Eagle-Picher Industries, Inc. v, Cox, 481 So.2d 517, 519 ff. (District Court of Appeal of Florida, 3rd District 1985); Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law Review 815, 819 ff. (2002); Dobbs (Fn. 23), 570 ff. m. w. H. Die «single action rule» wurde in der englischen Gerichtspraxis entwickelt; vgl. Johnston v. NEI International Combustion Limited [2007] UKHL 39, N 13 f. (abrufbar unter <www.bailii.org> [26. 2. 2015]), unter Bezugnahme auf Brunsden v. Humphrey (1884) 14 QBD 141. 162 Dobbs (Fn. 23), 570 ff. m. w. H. Schweizerisches und USamerikanisches Haftpflichtrecht: Konvergenz/Divergenz Möglichkeiten, um den Betroffenen zu helfen. Dazu setzten sie ver schiedene Kunstgriffe ein.163 So wurde verschiedentlich entschieden, dass bereits die Angst («mental distress»), infolge einer pflichtwidrigen Asbestexposition irgendwann einmal zu erkranken, einen Anspruch auf Genugtuung begründen könnte.164 Andere Gerichte gewährten Ersatz für die Kosten aus medizinischen Vorsorgeuntersuchungen («medical monitoring»),165 und auch die blosse Steigerung des Risikos, an einem asbestbedingten Leiden zu erkranken, wurde zum Teil als Haftungsgrund anerkannt («liability for increased risk»).166 Diese kre ative Gerichtspraxis war nicht unproblematisch, denn sie führte zu einer eigentlichen Klagewelle von Personen, die noch gar nicht krank waren und bei denen man überhaupt nicht wusste, ob sie je krank werden würden.167 Aufgrund der sehr hohen Zahl betroffener Personen trugen diese Entscheide ausserdem zu einer massiven Überbelastung der Gerichte bei.168 Gemäss einer Studie hatten bis 2002 bereits rund 730 000 Personen asbestbedingte Klagen eingereicht.169 Auch die öko nomischen Implikationen waren weitreichend, und zwar nicht nur für 163 Vgl. dazu kritisch Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law Review 815 (2002). 164 Dobbs (Fn. 23), 571; Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law Review 815, 823 ff. (2002) m. w. H. 165 Dobbs (Fn. 23), 571; Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law Review 815, 836 ff. (2002) m. w. H. 166 Dobbs (Fn. 23), 571; Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law Review 815, 822 f. (2002) m. w. H. Auch nach englischem Recht kann das Gericht Schadenersatz für eine Risikosteigerung zusprechen, allerdings nur dann, wenn die Pflichtverletzung nicht bloss das Risiko erhöht, sondern zudem zu einer Rechtsgut verletzung geführt hat, für die der Kläger im selben Verfahren Ersatz verlangt. So könnte ein Kläger, der an Asbestose leidet, sowohl für den dadurch verursachten Schaden als auch für das erhöhte Risiko einer späteren Mesotheliomerkrankung entschädigt werden. Dagegen genügt die blosse Risikosteigerung für sich alleine nicht, um die Haftung des Beklagten auszulösen; vgl. Johnston v. NEI International Combustion Limited [2007] UKHL 39 (Fn. 161), N 14. Zur Rechtslage nach Section 32A des Supreme Court Act 1981 siehe unten, Fn. 172. 167 Instruktiv die Begründung in Eagle-Picher Industries, Inc. v, Cox, 481 So.2d 517, 521 ff. (District Court of Appeal of Florida, 3rd District 1985), weshalb Ansprü che für «increased risk» abzuweisen seien. 168 Vgl. Carroll et al. (Fn. 152), 70 ff.; Green (Fn. 156), 76 California Law Review 965, 966 f. (1988) m. w. H. 169 Carroll et al. (Fn. 152), 70 ff. 579 580 Corinne Widmer Lüchinger ZBJV · Band 151 · 2015 die beklagten Unternehmen, von denen zahlreiche in Konkurs fielen,170 sondern auch für jene Arbeitnehmer, die infolge der Konkurse ihre Stelle verloren.171 Inzwischen hat diese Rechtsprechung weitgehend ihre Berechtigung verloren, denn die meisten USGliedstaaten haben für Erkrankungen mit langen Latenzzeiten die «single action rule» aufgehoben, sodass die Verjährung kein Hindernis mehr darstellt.172 Die Praxis zeugte jedoch vom Bemühen, für neue gesellschaftliche Probleme adäquate Lösungen zu finden. Dies lässt der Asbestentscheid des Bundesgerichts vermissen. V. Schlusswort Betrachtet man das amerikanische Haftpflichtrecht, so lässt sich festhalten, dass der Schweiz keine «Amerikanisierung» droht. Zu gross sind vor allem die prozessualen Unterschiede zwischen den beiden Staaten. Unser Prozessrecht, insbesondere die Regelung zur Kostenverteilung im Zivilverfahren, ist es, welches «amerikanische Verhältnisse» weitgehend verhindert. Wenn wir dieses Zusammenspiel zwischen Prozessrecht und Haftpflichtrecht besser verstehen, dann können wir auch den Spielraum, den uns das Gesetz gibt, mutiger 170 Gemäss der RANDStudie von Carroll et al. (Fn. 152), 109, waren bis Mitte 2004 73 asbestbedingte Konkurse von USUnternehmen zu verzeichnen. 171 Zu den Implikationen der «asbestosrelated bankruptcies» in den USA siehe Carroll et al. (Fn. 168), 107 ff. 172 Siehe Henderson/Twerski (Fn. 152), 53 South Carolina Law Review 815, 822 (2002) mit zahlreichen Hinweisen; aus der Gerichtspraxis vgl. insbes. Hagerty v. L & L Marine Services, Inc., 788 F.2d 315, 320 f. (US Court of Appeals, 5th Circuit 1986). In England gilt die «single action rule» an sich zwar nach wie vor, wird jedoch durch die erwähnte Gerichtspraxis (siehe Fn. 166) gemildert. Noch weiter einge schränkt wird sie aber durch Section 32A des Supreme Court Act 1981 (abrufbar unter <www.bailii.org/form/search_legis.html> [26. 2. 2015]). Danach kann das Ge richt einem Kläger, der aufgrund einer Pflichtverletzung einen Personenschaden er litten hat und bei dem erwiesen oder anerkannt ist, dass dieselbe Pflichtverletzung zugleich das Risiko einer zukünftigen schweren Erkrankung erhöht hat, sogenannte «provisional damages» zusprechen. Dies bedeutet, dass der Kläger vorerst nur für den bereits eingetretenen Schaden Ersatz erhält; falls sich jedoch später zudem das Risiko verwirklichen sollte, kann er erneut klagen, ohne sich die «single action rule» entgegenhalten lassen zu müssen. Vgl. Johnston v. NEI International Combustion Limited [2007] UKHL 39 (Fn. 161), N 15 f. ZBJV · Band 151 · 2015 zugunsten des Geschädigten ausschöpfen. Es ist bedauerlich, dass das Bundesgericht dies in seinem Entscheid zur Haftung für Asbestschä den versäumt hat, vor allem wenn man bedenkt, dass die laufende Gesetzesrevision keine wirkliche Verbesserung verspricht. Was den aktuellen Reformprozess betrifft, so ist zu bedauern, dass die amerikanische Verjährungsregelung (die sich übrigens weit gehend mit der englischen Lösung deckt173) nicht zumindest geprüft worden ist. Unabhängig davon, was man als «richtige» Lösung be trachten mag: Eine gute Reform setzt die offene und eingehende Aus einandersetzung mit verschiedenen Lösungsmöglichkeiten voraus. Dazu hätte die amerikanische «discovery rule» gehört. Schliesslich gilt auch für die Schweiz der berühmte Ausspruch von Lord Denning: «If we never do anything which has not been done before, we shall never get anywhere. The law will stand still whilst the rest of the world goes on; and that will be bad for both.»174 173 Vgl. oben Fn. 156 und 172. 174 Packer v. Packer, [1954] P. 15, 22. 581
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