M. Tschannen: Optik für Schützen 2 M. Tschannen: Optik für Schützen Vorwort Der vorliegende Artikel erschien im Waffen-Digest 2004 des Verlags Stocker-Schmid unter dem Titel „Optik für Scharfschützen und Jäger“. Geschrieben wurde er bereits Ende Jahr 2002 und seither hat die Technik schon wieder erhebliche Fortschritte gemacht, namentlich was Restlichtverstärkung und Wärmebild anbelangt. Da der Artikel aber kein Marktführer sein soll, sondern in die Prinzipien einführen will, verzichtete ich auf eine entsprechende Aktualisierung. Das Layout ist für umseitigen Druck in schwarz-weiss vorbereitet. Marcel Tschannen 3 M. Tschannen: Optik für Schützen 4 M. Tschannen: Optik für Schützen Inhaltsverzeichnis 1. Winkelmasse (MOA, MIL und Rad) 7 2. Aufbau und Elemente des Zielfernrohrs 11 3. Vergrösserung 17 4. Parallaxe 21 5. Absehen und Distanzen schätzen 26 6. Nachtzielgeräte, Laser und andere 33 Zusammenfassung 39 5 M. Tschannen: Optik für Schützen 6 M. Tschannen: Optik für Schützen Optik für Schützen Die Optik ist in der Physik ein wohl erforschtes Gebiet, jedoch fehlen weitgehend Darstellungen, die sich konkret auf die Verwendung von optischen Geräten als Ziel-Optik ausrichten. Genau damit aber hat es der Schütze zu tun und dieser Artikel soll Fragen zu Themen wie Absehen, Parallaxe, Austrittspupille u.ä. beantworten. Die Perspektive auf das Thema ist die des Präzisions-Gewehrschützen, in deren Mittelpunkt das Zielfernrohr steht, aber auch andere Ziel-Optiken werden erklärt. 1. Winkelmasse (MOA, MIL und Rad) In der Anwendung und Beschreibung von Zielfernrohr-(ZF-)Gewehren muss man häufig mit kleinen Winkeln arbeiten. Deshalb seien hier einführend die wichtigsten Winkeleinheiten sowie einige Beziehungen dargestellt, die besonders im Umgang mit kleinen Winkeln von Nutzen sind. Das geläufigste Winkelmass ist wohl das „Grad“, welches man definiert, indem man den Vollkreis in 360 gleiche, schnitzförmige Sektoren aufteilt. Für die Arbeit mit kleinen Winkeln teilt man das Winkelgrad nochmals in sechzig gleiche Sektoren und erhält die Bogen- oder Winkelminute (engl.: minute of angle, MOA), also 1 MOA = 1/60 grad. Besonders praktisch für Rechnungen, wie sie beim Schiessen auftreten, ist das „Promille“, in der englischen Literatur häufig als „MIL“ bezeichnet. Mathematisch gesprochen ist dies eigentlich der Tangens (Formel 1.5) des Winkels, definiert als das Kathetenverhältnis G/g (Bild 1.1), angegeben in Tausendstel. Formel 1.1) α[MIL] = G/g · 1000 = G[mm] / g[m] (gilt nur für kleine Winkel; s.u.) In der Mathematik benutzt man ein drittes Mass, das sogenannte Bogenmass „Rad“. Das Bogenmass bezeichnet die Länge des Bogens, der vom Winkel bestrichen wird, am Einheitskreis (Kreis mit Radius 1). Der Vollkreis erhält das Mass 2π (π ≅ 3.14), was seinem Umfang entspricht. Da der Vollkreis in Grad das Mass 360 erhält, ergibt sich folgende Umrechnungsformel: Formel 1.2) α[grad] = α[rad] · 360/2π => α[grad] ≅ α[rad] · 57.32 α . G = sin α g = cos Bild 1.1: Kreis mit Radius = 1 Ein rechtwinkliges Dreieck wie in Bild 1.1 findet der Schütze z.B. im Verhältnis von Zielhöhe (= G) zu Zieldistanz (= g). Da die Zielhöhe immer viel kleiner ist als die Zieldistanz, erhalten wir die eingangs erwähnten kleinen Winkel, die wegen ihrer Kleinheit zeichnerisch gar nicht darstellbar sind. 7 M. Tschannen: Optik für Schützen Der Vollständigkeit halber seien noch kurz die Winkelfunktionen Cosinus, Sinus und Tangens eingeführt, mit Bezug auf Bild 1.1. Man muss diese Funktionen nicht unbedingt kennen, aber sie sind überaus nützlich und auf vielen Taschenrechnern fest programmiert. Formel 1.3) Formel 1.4) Formel 1.5) cos α = g sin α = G tan α = sin α / cos α = G/g Für kleine Winkel (kleiner als 1grad) gelten in Rad folgende Näherungen, die viele Berechnungen im Zusammenhang mit dem Büchsenschuss stark vereinfachen, weil man so die Winkelfunktionen weglassen kann: Formel 1.6) α ≅ sin α ≅ tan α ; cos α ≅ 1 (Winkel in Rad) Da Winkel in MIL wie schon erwähnt eigentlich den Tangens angeben, folgt aus Formel 1.6 die Umrechnung von MIL in Rad: Formel 1.7) α [rad] = α [MIL]/1000 (für kleine Winkel bis ca. 1grad) (Die Winkelfunktionen kann man natürlich auch umkehren, wenn man z.B. wissen will, welcher Winkel zu einem gegebenen Tangens gehört. Die Umkehrfunktionen bezeichnet man dabei mit „arc“ (für arcus = Bogen), also „arc sin“, „arc cos“ und „arc tan“.) Da wir nun die Winkelfunktionen kennen, können wir auch die Umrechnung von MIL in MOA angeben, welche in der Praxis sehr häufig benutzt wird: Formel 1.8) α[MIL] ≅ α[MOA] ·0.29 (für kleine Winkel bis ca. 60MOA bzw. 1grad) Dies gilt nur für kleine Winkel gemäss Formel 1.6. Genau müsste man eigentlich den Tangens benutzen, was aber kaum von Bedeutung ist. Formel 1.8a) α [MIL] = tan( α[MOA] / 60) · 1000 Formel 1.8b) α [MIL] = tan( α[MOA] ·0.00029) · 1000 (Rechnung in Grad) (Rechnung in Rad) Zur Untermauerung des Gesagten seien einige Winkel in verschiedenen Einheiten aufgelistet: [MOA] 1 2 3 5 10 60 600 1800 [rad] 0.00029074 0.00058148 0.00087222 0.0014537 0.00290741 0.01744444 0.17444444 0.52333333 [MIL] 0.29 0.58 0.87 1.45 2.91 17.45 176.24 577.00 cm auf 100m 2.91 5.81 8.72 14.54 29.07 174.46 1762.36 5769.96 Tabelle 1.1: Winkelmasse im Vergleich (nach Formeln 1.2 und 1.8a) Die Tabelle zeigt deutlich, wie die Gleichheiten aus Formel 1.6 eben nur für kleine Winkel gelten und nicht z.B. für 30 grad (1800 MOA). Für Kopfrechnungen im Felde sollte man sich merken, dass 1 MOA ≅ 0.3 MIL oder umgekehrt 1 MIL ≅ 3 MOA. In angelsächsischen Einheiten gilt ausserdem die besonders einfache Beziehung: 1 MOA ≅ 1 inch auf 100 yards 8 M. Tschannen: Optik für Schützen (1“ = 25.4mm, 1 yard = 0.9144m). Statt MIL oder Promille wird in wissenschaftlichem Zusammenhang auch oft die gleichwertige Einheit Milrad (1/1000 Rad) benutzt. Für die Anordnung gemäss Bild 1.2 ergibt sich ausserdem nach Formel 1.6, dass die Winkel α und α‘ gleich sind, immer unter der Voraussetzung genügend kleiner Winkel. g α‘ α G G Bild 1.2: Bezug auf Zentrum oder Fuss des Zieles ergeben gleichen Winkel Drei Beispiele sollen das bisher Dargestellte erläutern: Beispiel 1.1: Im Feldstecher mit Promill-Skala erscheint eine Türe, die 2 m hoch sei, unter einem Winkel von 8 MIL. Wie weit ist die Türe entfernt? Mit Formel 1.1 und den Bezeichnungen in Bild 1.1 können wir folgende Gleichung schreiben: 8 MIL = 2 m / g ·1000 Diese Gleichung umgeformt nach der Unbekannten g ergibt g = 2 m · 1000 / 8 MIL = 250 m Die Türe ist also 250m von uns entfernt (siehe auch Abschnitt 5). Beispiel 1.2: Beim Einschiessen auf 150 m liege der mittlere Treffpunkt unserer DreiSchuss-Gruppe 4 cm rechts der Mitte (vgl. Abschnitt 5). Wieviel müssen wir das ZF korrigieren? Nach Formel 1.1 ist der gesuchte Winkel in Promill α[MIL] = 40 mm / 150 m = 0.27 MIL Falls unser ZF für MOA graviert ist, rechnen wir um gemäss umgekehrter Formel 1.8 (oder aus Tabelle 1.1 geschätzt) α[MOA] = α[MIL] / 0.29 = 0.27 / 0.29 = 0.93 MOA ≅ 1 MOA Beispiel 1.3: Gemäss den Angaben des Herstellers habe unser Gewehr mit der empfohlenen Munition eine Streuung von ½ MOA. Können wir damit ein Hühnerei (Durchmesser 4 cm) auf 200 m treffen? Wenn die Streuung eines Gewehres in Winkelmassen angegeben wird, bedeutet dies, dass praktisch alle Schüsse in eine Fläche treffen, die aus der Schnittfläche einer lotrechten Ebene mit einem Kegel des angegebenen Oeffnungswinkels besteht. Die Verteilung der Einschüsse innerhalb dieser Fläche allerdings ist mehr oder weniger zufällig. Um ein Ziel sicher treffen zu können, muss demnach der Streukreis kleiner sein als das Ziel. 9 M. Tschannen: Optik für Schützen α Bild 1.3: Streukegel Für unser Hühnerei ergibt sich unter Ausnutzung der Beziehung, die in Bild 1.2 behauptet wird, ein Oeffnungswinkel von α = 0.04 m / 200 m = 0.2 MIL oder in MOA ausgedrückt nach Formel 1.8 α = 0.7 MOA > ½ MOA Um das Hühnerei zu treffen, darf der Oeffnungswinkel des Streukegels also 0.7 MOA nicht überschreiten. Da unser Gewehr mit 0.5 MOA deutlich weniger streut als zulässig, müssten wir das Ei treffen können - Schützenfehler natürlich ausgeschlossen. Man kann auch andersherum rechnen: ½ MOA Streuung entsprechen auf 200 m einem Streukreis von 29 mm (Formeln 1.1, 1.8, Tabelle 1.1). Da diese Streuung kleiner ist als unser Hühnerei mit Durchmesser 40 mm, sollte man es mit dem ersten Schuss treffen können. 10 M. Tschannen: Optik für Schützen 2. Aufbau und Elemente des Zielfernrohrs Die Linsensysteme und feinmechanischen Verstellmechanismen der modernen, qualitativ hochstehenden Zielfernrohre sind unglaublich kompliziert. Dieser Abschnitt und die drei folgenden sollen an Hand vereinfachter Modelle das Verständnis der Funktionsprinzipien ermöglichen. Zu diesem Zweck zeigt das Schema in Bild 2.1 den groben Aufbau eines 2x vergrössernden ZF. Für dünne Linsen gilt die sogenannte Abbildungsgleichung: Formel 2.1) 1/f = 1/g + 1/b (f: Brennweite „focus“; g: Gegenstandsweite; b: Bildweite) In realen ZF ist jede im Bild 2.1 als Strich dargestellte dünne Einzellinse (1), (2) und (3) ein ganzes System von Linsen, mit dem Zweck, die Gesamtlänge des Rohres kurz zu halten und Verzerrungen von Farbe und Form bis zum Rand des Rohres hin zu vermeiden. Ausserdem werden die Linsen beschichtet (engl.: coated), um ihre Lichtdurchlässigkeit zu erhöhen. Farbtreue, Randschärfe und Brillanz sind wichtige, einfach zu überprüfende Qualitätsmerkmale eines ZF. (2) (1) bOB gOB (3) bOK fOK gOK Objekt (1) Objektivlinse (2) Linse des Umkehrsystems (3) Okularlinse gOB Objektivgegenstandsweite bOB Objektivbildweite gOK Okulargegenstandsweite bOK Okularbildweite fOB Brennweite Objektiv fUM Brennweite des Umkehrsystems fOK Brennweite des Okulars fOB fOB 4 · fUM Bild 2.1: Strahlengang und Zwischenbilder in Zielfernrohr mit Vergrösserung 2x (siehe dazu auch Bild 2.2.) Der Teil des ZF, der dem Gegenstand („Objekt“) zugewandt ist, heisst „Objektiv“. Vom Gegenstand der Gegenstandsweite gOB erzeugt die Linse des Objektivs (1) ein kleines, reelles, auf dem Kopf stehendes Zwischenbild mit der Bildweite bOB (Objektivbildebene). In dieser Ebene montiert man üblicherweise das Absehen, manchmal aber auch in der Okulargegenstandsebene gOK („Fadenkreuz“; siehe Abschnitt 5: Absehen und Distanzen schätzen.) 11 Bild 2.2: Schnitt und Strahlengang eines Zielfernrohrs von Schmidt&Bender. Gut erkennbar das schwenkbar gelagerte Innenrohr mit dem Absehen und dem Umkehrsystem. M. Tschannen: Optik für Schützen 12 M. Tschannen: Optik für Schützen Die Lichtstrahlen gehen dann weiter in das Umkehrsystem (2), das die Grösse des Bildes nicht verändert, es aber auf die Füsse stellt, so dass der Betrachter ein richtig stehendes Bild zu sehen bekommt. Das Bild steht nun nicht mehr in bOB, sondern in gOK. Das Umkehrsystem ist der Hauptgrund dafür, dass Zielfernrohre immer ziemlich lang bauen. Der Teil des ZF, der dem Auge zugewandt ist, heisst „Okular“. Die Okularlinse (3) wirkt als Lupe, mit welcher der Betrachter das kleine Bildchen mit Abstand gOK im Innern des ZF betrachtet; dadurch kommt eigentlich die Vergrösserung zustande (vgl. Abschnitt 3). Dieses Bild der Lupe in bOK ist das eigentliche Zielbild und man nennt es ein „virtuelles“ Bild, weil man es nicht mit einem Schirm sichtbar machen kann und weil es nur durch die Lupenlinse hindurch gesehen werden kann; dies im Gegensatz zum „reellen“ Bild der Objektivlinse, welches mit einem Schirm sichtbar gemacht werden könnte (vgl. Projektoren, Photoapparate). In Bild 2.1 ist die Okulargegenstandsweite gOK etwas kleiner als die Brennweite fOK, was einem schlecht eingestellten ZF entspricht. Man sollte das Okular nämlich so einstellen, dass das Bildchen genau in den Brennpunkt der Okularlinse (gOK = fOK) fällt; die Bildweite bOK wird dann unendlich und das Auge kann entspannt in die Ferne sehen. Am besten findet man diese Einstellung, indem man mit dem ZF auf eine entfernte weisse Wand zielt und am Okular schraubt, bis man bei entspanntem Auge das Absehen scharf sieht. Es ist unbedingt zu vermeiden, in das Rohr zu starren, weil man es dann schlecht einstellt und das Auge beim Zielen ermüden wird. 1 1) 2) 3) 2 3 Bild 2.3: Okularverstellung. Okular mit Konterschraube zur Fixierung der Einstellung ohne weitere Bedienelemente (Leupold) Okular mit selbsthemmender Verstellung sowie Einstellring für Vergrösserung (Schmitd&Bender) Okular mit selbsthemmender Verstellung sowie Einstellring für Parallaxausgleich (Bausch&Lomb) Das Gehäuse sorgt dafür, dass alle Linsen und Verstellmechanismen beim Schuss an ihrem Ort bleiben (Schussfestigkeit) und dass keine Feuchtigkeit in das Rohr eindringt (Wasserdichtigkeit). Wie gut ein ZF diese Bedingungen erfüllt, lässt sich vor dem Kauf leider nicht zerstörungsfrei testen, der private Käufer muss sich da auf den guten Ruf des Herstellers verlassen. Zur Erhöhung der Lichtdurchlässigkeit und um ein Beschlagen der Linsen zu vermeiden, sind manche Rohre mit Stickstoff gefüllt. 13 Eintrittspupille Gesichtsfeldbegrenzung Austrittspupille M. Tschannen: Optik für Schützen Auge Absehen Bild 2.4: Lichtbündel im ZF Wegen der unterschiedlichen Weglängen der Randstrahlen gegenüber den Mittelstrahlen ist es nicht möglich, über den ganzen Linsendurchmesser ein brillantes Bild zu erhalten. Aus diesem Grund montieren die Hersteller eine Lochblende – die Gesichtsfeldbegrenzung - in das Strahlenbündel, um die unbrauchbaren Randstrahlen wegzuschneiden (Bild 2.4). Diese Massnahme gewährleistet eine gleichmässig hohe Schärfe und Farbtreue über das ganze sichtbare Bild, verkleinert aber natürlich den wirksamen Objektivdurchmesser und somit das Sehfeld. Damit die Begrenzung des virtuellen Zielbildes auch mit der realen Begrenzung durch das Okular übereinstimmt, muss das Auge einen bestimmten Abstand zu diesem einhalten. Um die Wahl des richtigen Rohres mit Rücksicht auf die Art der Waffe und deren Rückstoss zu ermöglichen, geben gewissenhafte Hersteller den Augenabstand in ihren Katalogen an; er beträgt meistens knapp 10cm. Zur Montage auf das Gewehr findet man den richtigen Ort für das ZF, indem der Schütze die Waffe in seiner bevorzugten Stellung anschlägt, wobei die Wange fest auf dem Kolben aufliegen muss. In dieser Stellung muss das ZF so hoch sein, dass das Auge des Schützen genau in der Seele des Rohres liegt. Natürlich muss der Schaft so gestaltet sein, dass dies auch möglich ist, mittels einer geeigneten Wangenauflage. falsch richtig Bild 2.5: Schlecht ausgeleuchtetes Absehen (links) wegen falschem Augenabstand Der Abstand des Rohres zum Auge des Schützen mit der Waffe im Anschlag muss so gewählt werden, dass der Schütze ein „sauber ausgeleuchtetes“ Absehen sieht. Das heisst, die Begrenzung des Gesichtsfeldes muss schön scharf sein und darf nicht diffus auslaufen (Bild 2.5). Zum Abschluss dieses Abschnitts seien noch die wichtigsten Kennzahlen eines ZF erklärt: 14 M. Tschannen: Optik für Schützen a) Ein ZF bezeichnet man nach der Vergrösserung und dem wirksamen Durchmesser des Objektivs (Eintrittspupille, Bild 2.4); z.B. 4x42 bedeutet 4x Vergrösserung und einen Objektivdurchmesser von 42mm, 3-9x50 bezeichnet ein ZF mit variabler Vergrösserung von 3x bis 9x und einem Objektivdurchmesser von 50mm. b) Wichtig zu wissen für die Wahl der Montage, also dem Verbindungsstück von ZF und Waffe, ist der Aussendurchmesser des Mittelrohres. Dabei findet man fast ausschliesslich zwei Masse: 1“ (=25.4 mm) oder 30 mm. (Für ausgesprochene Weitschuss-Büchsen bieten Schmidt&Bender neuerdings Rohre mit einem Mittelrohrdurchmesser von 34 mm.) Manche Rohre sind allerdings gar nicht nur rund, sondern schon für eine spezifische Montage vorbereitet (STANAG, Zeiss-Schiene u.ä.). Am verbreitetsten sind aber gewiss die runden Rohre, die mittels zwei bis vier Ringen auf die Hülse des Gewehrs montiert werden. Eine feste, sauber angebrachte Montage ist eine unbedingte Notwendigkeit, denn wenn sie wackelt, nutzt die beste Ausrüstung und gründlichste Einsatzvorbereitung nichts. Da Scharfschützengewehre in der Regel keine offene Visierung haben, kann man gut auf Schwenk- oder Schnellmontagen verzichten und stattdessen eine starke Festmontage wählen. Allerdings sollte die Montage verstellbar sein, um ein genaues Ausrichten des ZF zu ermöglichen. c) Nebst diesen elementaren Angaben findet man manchmal noch die Dämmerungszahl. Durch die Vergrösserung des ZF gibt sich gegenüber dem nackten Auge nämlich noch eine gewisse Aufhellung, so dass man mit ZF weiter in die Dämmerung sehen kann als von blossem Auge. Die Dämmerungszahl wird wie folgt definiert (Erfahrungswert): Formel 2.2) Dämmerungszahl = √(Vergrösserung · Objektivdurchmesser) Die Dämmerungszahl ist also die Wurzel aus dem Produkt genau der beiden Kennzahlen, die oben in a) erklärt werden und auf jedem ZF eingraviert sind. ZF mit einer Dämmerungszahl ab 20 erachtet man als nachttauglich. d) Mit den Angaben Vergrösserung und Objektivdurchmesser kann man ausserdem den Durchmesser der Austrittspupille berechnen. Das ist der Durchmesser des Lichtbündels, das aus dem Okular austritt und in das Auge eintritt (siehe Bild 2.4). Formel 2.3) Austrittspupille[mm] = Objektiv[mm] / Vergrösserung ZF Die Pupille des menschlichen Auges variiert von 1.2 mm (Sonne) bis 7 mm (Nacht). Wenn die Austrittspupille kleiner ist als die Augenpupille, nutzt das ZF die Fähigkeiten des Auges nur ungenügend, weshalb ein Nachtglas eine Austrittpupille von 7 mm haben sollte. Das Mass der Austrittspupille ist also wichtig für die Wahl eines Tagoder Nachtrohres und da es im Gegensatz zur Dämmerungszahl physikalisch begründet ist, als Kriterium derselben vorzuziehen. e) Manchmal findet man sogar noch die Angabe des Sehfeldes auf eine gewisse Distanz, meistens auf 100 m. Natürlich gilt, dass das Sehfeld grösser wird mit grösserem Objektiv und umso kleiner, je stärker das ZF vergrössert. Ein grosses Sehfeld bringt den Vorteil der raschen Zielerfassung, ein kleines bietet dafür ein Maximum an Präzision (vgl. Bild 3.3). Formel 2.4) Sehfeld[m] = (0.6 - 1.7) · Austrittspupille[mm] · Distanz[100 m] (Zusammenzug von Herstellerangaben) Die grosse Spanne 0.6 - 1.7 des theoretisch konstanten Faktors erklärt sich aus der konstruktiven Freiheit der Hersteller bei der Grösse der Gesichtsfeldbegrenzung (und 15 M. Tschannen: Optik für Schützen wahrscheinlich aus Fehlern in den Katalogen). Berechnen kann man das Sehfeld deshalb nicht ohne weitere Angaben über das Innere des ZF, aber die meisten Hersteller geben das Mass bezogen auf 100 m in ihren Katalogen an. Zum Umrechnen auf andere Distanzen als 100 m benutzt man die Formeln aus Abschnitt 1 und drückt das Sehfeld in Winkelmassen aus (vgl. Tabelle 1.1). f) Um die Schusslage korrigieren zu können, ist das Absehen verstellbar gelagert. Diese Verstellung hat natürlich ihre Schranken und der Bereich innerhalb dieser Schranken heisst Verstellbereich. Sinnvollerweise gibt man seine Grösse in MOA an und er sollte in der Höhe von Anschlag zu Anschlag mindestens 40 MOA betragen; für schwere, langsame Geschosse und/oder grosse Einsatzdistanzen sollte man ein ZF mit über 80 MOA Verstellbereich wählen. Da ein Scharfschütze den Verstellmechanismus nicht nur zum Einschiessen, sondern auch zum Ausgleich der Flugbahn benutzt, belastet er ihn mehr als z.B. ein Jäger dies tut. Deshalb sollte er darauf achten, dass sein Rohr über eine Mechanik aus Metall verfügt. Nebst der Fachliteratur bieten die grossen Hersteller (Zeiss, Schmidt&Bender, Leupold u.a.) in ihren Katalogen sehr viel gute Informationen, Schnittzeichnungen eingeschlossen. Wenn man dazu noch die Preislisten studiert, sollte man nicht erschrecken, wenn man sieht, dass ein Spitzen-ZF noch einmal soviel kostet wie das Gewehr selbst; gute Rohre sind diesen Preis wert. Beim Katalog-Studium sollte man auch nach nützlichem Zubehör wie Schutzdeckeln und besonders nach Sonnenblenden (röhrenförmige Verlängerung, die vor das Objektiv geschraubt wird) Ausschau halten. Eine Sonnenblende, deren Länge mindestens gleich dem Objektivdurchmesser ist, verhindert nämlich sehr wirksam verräterische Reflexionen der Objektivlinse und schützt das Auge vor direkter Sonneneinstrahlung; für Scharfschützen ein unerlässliches Zubehör. Bild 2.6: Objektiv mit aufgesetzter Sonnenblende (links) und ohne (rechts) Aber wieso braucht man überhaupt ein Zielfernrohr? Ein offenes Visier bestehend aus Kimme (bzw. Diopter) und Korn hat auch seine unbestreitbaren Vorteile: Es ist extrem robust und bietet eine sehr tiefe Visierhöhe. Demgegenüber sprechen für ein ZF folgende Vorteile (vgl. die folgenden Abschnitte): - es hilft, Zielfehler zu vermeiden; es fördert eine genaue Zielerkennung; es ermöglicht einen Schuss bis weit in die Dämmerung hinein; es bietet sehr feine Verstellmöglichkeiten. Keine andere Visierung vereint all diese Vorteile in sich, weshalb das ZF für Präzisionsschützen die erste Wahl darstellt (vgl. Alternativen gem. Abschnitt 6). 16 M. Tschannen: Optik für Schützen 3. Vergrösserung Physikalisch betrachtet ist die Vergrösserung eine Frage der Sehwinkel: Der Sehwinkel wird definiert durch das Verhältnis Gegenstandsgrösse / Gegenstandsweite und ein normalsichtiges Auge kann Winkel von 1 MOA noch auflösen. Die Vergrösserung V ist dann Formel 3.1) V = Sehwinkel mit Optik / Sehwinkel ohne Optik Die praktische Wirkung der Vergrösserung ist die, dass ich das Ziel sehe, als ob es entsprechend grösser oder näher wäre. D.h. einen Mann von 1.80 m Grösse sehe ich auf 100 m bei 4x-Vergrösserung, als ob er entweder bei gleicher Grösse bloss 25 m entfernt wäre oder bei Entfernung 100 m, als ob er 7.20 m gross wäre. Beispiel 3.1: Kann ich mit meinem ZF der Vergrösserung 6x ein Schussloch Kaliber 5.56 mm auf 50 m sehen? Mit Formel 1.1 berechnen wir den Sehwinkel, unter dem das Loch erscheint, zu 0.11 MIL oder ca. 0.4 MOA ohne ZF und 2.4 MOA mit ZF (Formel 3.1). Das Loch ist also von blossem Auge nicht, mit ZF jedoch erkennbar. Formel 3.1 kann man umformen, um folgende typische Fragestellung zu beantworten: Welche Vergrösserung brauche ich, um einen Gegenstand auf eine gewisse Distanz beobachten zu können? Dies führt zur praktischen „Spektiv-Formel“: Formel 3.1a) Vmin = 0.29 · g[m] / G[mm] g: Distanz (Gegenstandsweite) G: Objektgrösse (Gegenstandsgrösse) Beispiel 3.2: Was für ein Beobachtungsglas brauche ich, um auf 1000 m ein Schussloch Kal. .50 erkennen zu können? Nach Formel 3.1a gilt Vmin = 0.29 · 1000 m / 12.7 mm, also V 22.8 Handelsübliche Spektive erreichen problemlos Vergrösserungen über 40x, eine Vergrösserung von 22x und mehr ist auch mit speziellen Zielfernrohren möglich. Im Linsensystem des ZF berechnet sich die Vergrösserung aus dem Verhältnis aus Objektivbrennweite zu Okularbrennweite: Formel 3.2) V = fOB / fOK (Bezeichnungen aus Bild 2.1) d 2 · f1 2 · f2 Bild 3.1: System von zwei dünnen Linsen 17 M. Tschannen: Optik für Schützen Die Brennweite einer Linse ist durch ihre Form und das Material gegeben. Wie kann man nun eine variable Vergrösserung (engl.: zoom) erreichen? Die Linse des menschlichen Auges ist weich und durch Muskelspannung deformierbar; beim Bau von ZF hingegen ist man beim jetzigen Stand der Technik auf starre Linsen aus Glas angewiesen. Systeme von mehreren dünnen Linsen, die nahe beieinander liegen, haben die interessante Eigenschaft, dass sich ihre Brennweiten zu einer Gesamtbrennweite zusammenfassen lassen, gemäss Formel 3.3 für das einfachste System bestehend aus zwei Linsen: 1 1 Formel 3.3) = fgesamt 1 + f1 d (Bezeichnungen aus Bild 3.1) f2 f1 · f2 Wenn man nun die zwei Linsen so montiert, dass der Abstand d über eine Art Schraube mit Feingewinde verstellbar ist, erhält man eine variable Brennweite fOK und somit nach Formel 3.3 eine variable Vergrösserung. Grundsätzlich könnte man jede der drei Linsen gemäss Schema Bild 2.1 durch ein solches variables System ersetzen, aus gutem Grund tut man dies allerdings immer mit der Okularlinse (Probleme mit Scharfstellung und Parallaxe!). Selbstverständlich muss das Rohr so konstruiert sein, dass bei der Veränderung der Vergrösserung der Treffpunkt erhalten bleibt. Bild 3.2: Ring zur Einstellung der Vergrösserung bei variablem ZF Beispiel 3.3: Sei ein ZF mit Objektivbrennweite fOB = 12 cm, Brennweite der Umkehrlinse fUM = 3 cm (vgl. Bild 2.1). Das Okular bestehe aus zwei Linsen der Brennweite 3 cm. d [cm] 0.50 1.00 1.50 2.00 2.50 fOkular, gesamt [cm] 1.64 1.80 2.00 2.25 2.57 Vergrösserung 7.33 6.67 6.00 5.33 4.67 Tabelle 3.1: Variable Vergrösserung (nach Formel 3.3 und Bild 3.1) Dies wäre mit den zusammengezählten Teillängen nach Bild 2.1 ein ZF der ungefähren Gesamtlänge von ca. 27cm. Nach Tabelle 3.1 ergäbe dies ein ZF der variablen Vergrösserung von 4.7-7.3x. 18 M. Tschannen: Optik für Schützen Ein stark vergrösserndes Rohr bietet viele Vorteile: Es erlaubt ein sicheres Ansprechen (Jägerjargon für Erkennen, Identifizieren) des Zieles, es bringt eine hohe Dämmerungszahl (Formel 2.2) und es verspricht ein genaues Anbringen des Schusses. Man darf aber auch die Nachteile nicht übersehen: Ein starkes ZF vergrössert natürlich auch die Schützenfehler, wie z.B. das Wackeln. So juckt das Absehen bei einer Vergrösserung 6x im liegenden Anschlag schon merklich im Takt des Herzschlags auf und ab und stehend frei kann man die Waffe kaum mehr auf dem Ziel halten. Ausserdem verkleinert sich das Sehfeld mit zunehmender Vergrösserung (Formel 2.4), was die Zielerfassung sehr erschwert. Beim Scheibenschiessen, wie z.B. dem extrem präzisen Benchrest-Schiessen mit Vergrösserungen um 36x, spielt dies keine Rolle, auf der Pirsch oder im Einsatz als Scharfschütze hingegen sehr wohl. Man beachte in Bild 3.3, dass der Schütze zwar mit Vergrösserung 16x das Ziel sehr genau sieht, jedoch nicht mehr sagen kann, welches der drei X er im Visier hat! XXX Bild 3.3: Sehfeld. Links Vergrösserung 4x, rechts 16x Als letzter Nachteil eines ZF mit starker Vergrösserung bleibt noch seine Empfindlichkeit gegen das Wabern heisser Luft – genannt Mirage – zu erwähnen. Von jedem heissen Fleck der Umgebung und natürlich auch vom warmen Lauf steigen Luftschlieren hoch, durch die hindurch das Ziel unscharf wie eine Fata Morgana erscheint. Je stärker die Vergrösserung ist, umso mehr stört die Mirage den Schützen beim Zielen. Wer auf so starke Vergrösserungen nicht verzichten kann, benutzt mit Vorteil ein Flimmerband, also einen Streifen Tuch, der spannungsfrei über den Lauf gelegt wird und so die aufsteigenden Luftschlieren aus dem Gesichtsfeld lenkt. Namentlich für Sportschützen, die längere Schussfolgen schiessen, ist ein Flimmerband unabdingbar. (Bemerkung: Benchrester benutzen statt des Flimmerbandes lieber ein Rohr, das ähnlich einer Sonnenblende vor die Objektivlinse geschraubt wird, aber bis zur Mündung reicht; dank dieser Vorrichtung bleibt der Lauf wirklich vollständig freischwingend.) Rohre mit variabler Vergrösserung erscheinen gerne als Universallösung, aber auch sie haben ihre Nachteile. Zum einen hat jede zusätzliche Linse im System des ZF durch Reflexion ihre Verluste an Lichtdurchlässigkeit, zum andern erhöht der Mehraufwand an präziser Feinmechanik den Preis und die Störungsanfälligkeit des ZF. Wo darauf verzichtet werden kann, sollte man dies deshalb tun. Besonders geeignet sind ZF mit variabler Vergrösserung für Einsteiger, die damit wertvolle Erfahrungen sammeln können, oder bei geeigneter Wahl des Verstellbereichs für Jäger, die mit derselben Waffe sowohl pirschen als auch ansitzen, und für Polizeischarfschützen, weil solche Rohre sowohl genaues Erkennen als auch gute Uebersicht gewährleisten (Empfehlung: Bereich mindestens 4 – 9x, besser 3 – 12x, Objektivdurchmesser 42 mm – 50 mm). Aus all diesen Gründen ist es äusserst wichtig, bei der Wahl des geeigneten ZF eine realistische Einschätzung des geplanten Einsatzes zu haben. 19 M. Tschannen: Optik für Schützen Nachdem wir nun verstanden haben, wie die Vergrösserung grundsätzlich funktioniert und welche Vor- und Nachteile die verschiedenen Vergrösserungen bieten, stellt sich noch die Frage: Wieso gibt es ZF mit Vergrösserung 1x, also eigentlich ohne Vergrösserung? Das Auge kann sich – wie auch jedes technische Linsensystem – nur jeweils auf eine Distanz scharf stellen. Beim Zielen mit offenem Visier, also mit Kimme und Korn, sind aber drei Distanzen zugegen: die Distanz zum Ziel, die Distanz zum Korn und die Distanz zur Kimme; nur eines davon kann der Schütze scharf sehen, aber welches? Aus der Schiesslehre wissen wir, dass wir uns auf das Korn konzentrieren müssen, aber die Tatsache bleibt, dass dabei Ziel und Kimme unscharf bleiben. Nicht so beim ZF: Egal, welche Vergrösserung wir einsetzen, das Visierbild besteht nur noch aus der einen Ebene des Absehens und nicht mehr aus den zwei Ebenen von Kimme und Korn. Zusätzlich fällt bei geschickter Konstruktion des ZF die Bildebene des Zieles (bOB, siehe Bild 2.1) mit der Ebene des Absehens zusammen, womit also das Auge Visierung und Ziel zugleich scharf sehen kann. Aus drei verschiedenen Bildebenen ist plötzlich eine einzige entstanden, auf die sich das Auge sehr gut einstellen kann. So erleichtert also auch ein ZF mit Vergrösserung 1x das Zielen. 20 M. Tschannen: Optik für Schützen 4. Parallaxe Die Parallaxe erscheint vielen Schützen als sehr geheimnisvolles Phänomen und tatsächlich ist der Fehler durch Parallaxe beim Schiessen auch schwierig zu berechnen, aber vor allem deshalb, weil die entsprechenden Angaben durch die Hersteller von ZF häufig fehlen. Im Grunde genommen handelt es sich dabei aber um eine äusserst alltägliche Erscheinung, was zwei Beispiele verdeutlichen sollen. Beispiel 4.1: Bilden Sie mit Ihren zwei Zeigefingern ein Kreuz und zielen Sie damit auf ein Türschloss. Wenn Sie dann den Kopf bewegen, wird das Kreuz unweigerlich aus dem Ziel wandern. Gehen Sie nun zu dem Türschloss und legen Sie das Fingerkreuz direkt darauf: Wie auch immer Sie den Kopf bewegen, dass Kreuz bleibt auf dem Türschloss. Beispiel 4.2: Nehmen Sie ein dickes Lineal und versuchen Sie, aus einer Landkarte eine Distanz abzulesen. Wenn Sie den Kopf bewegen, bemerken Sie, dass die Strichmarken des Lineals mit Ihren Kopfbewegungen hin und her wandern, was ein genaues Ablesen erschwert, denn man muss den Kopf genau senkrecht über die Karte halten. Nehmen Sie nun ein Lineal mit geschliffener Messkante oder eines, bei dem die Strichmarken auf ein dünnes Blech geätzt sind: egal wie Sie nun den Kopf drehen und wenden, die Marken bleiben auf der Karte stehen. Auge eP: Bildabstand (Parallaxempfindlichkeit) γ: Betrachtungswinkel B: scheinbarer Bildversatz (Parallaxefehler) γ B eP Bild 4.1: Parallaxe Die in den Beispielen dargestellten Abweichungen nennt man Parallaxefehler. Er entsteht immer dann, wenn man versucht, zwei verschiedene Bildebenen in Einklang zu bringen, und er verschwindet, wenn die zwei Bildebenen zusammenfallen. Anders gesagt: der Parallaxfehler wird umso grösser, je weiter die zwei Bildebenen auseinander sind (eP gross) und je mehr der Betrachtungswinkel abweicht (γ gross). Was hat dies nun mit ZF zu tun, wo die eine Ebene des Absehens („Fadenkreuz“) unmöglich auf das Ziel gelegt werden kann, das ja mehrere zehn, wenn nicht hunderte von Metern entfernt liegt? Es ist gewiss nicht nötig, mit dem Gewehr bis zum Ziel zu laufen, denn aus Bild 2.1 sieht man, dass das Objektiv ein Bild des Zieles im Innern des ZF erzeugt. Wenn man nun das Absehen genau in dieser Objektivbildebene montiert, fallen die zwei Bildebenen von Ziel und Absehen zusammen und der Parallaxefehler verschwindet (Bild 4.2). Man braucht also nur die Bildweite bOB zu kennen, das Absehen dort zu montieren und der Parallaxfehler existiert nicht mehr. 21 M. Tschannen: Optik für Schützen Leider ist es nicht ganz so einfach, denn die Bildweite ändert sich beständig mit der Gegenstandsweite (Formel 2.1). Wer nun Ziele in verschiedenen Entfernungen beschiessen will, sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass sich die Bildweite ebenfalls ändert, womit das Zwischenbild aus der Ebene des Absehens heraus wandert und ein Parallaxefehler möglich wird. 2 1 Absehen Absehen Linse Zwischenbild Bild 4.2: Absehen in Bildebene (1): keine Parallaxe; neben Bildebene (2): Parallaxfehler möglich! Bild 4.2 zeigt einen wichtigen Nebeneffekt der Parallaxkorrektur: Durch die Nachführung der Bildebenen kann der Schütze immer Absehen und Bild zugleich scharf sehen, was sonst nicht gelingt. Aus den Beispielen 4.1 und 4.2 sowie Bild 4.1 wird klar, dass man mit einer immer gleichen Kopfhaltung den Parallaxefehler vermeiden kann. Schon in Abschnitt 2 wurde erwähnt, dass man das ZF so montieren soll, dass das Auge des Schützen beim Anschlag mit der Wange fest an den Schaft gedrückt möglichst genau in der Seele des Rohres liegen soll – eine Massnahme, welche Parallaxefehler wirksam verhindert. Für Schützen, die sich nicht auf das saubere Anschlagen der Waffe verlassen wollen, bieten die Hersteller Rohre mit Parallaxausgleich an. Dazu werden entweder die Objektivlinse und somit das Gegenstandsbild (Bild 4.3.1) oder das Absehen (Bild 4.3.2-3) verschoben, bis die beiden Bilder zusammenfallen. Solche Verstellmechanismen sind meistens von einigen Metern (z.B. 50m) bis „Unendlich ∞“ graviert, wobei „Unendlich“ bei einigen hundert Metern beginnt. Ab solchen Distanzen ändert sich die Objektivbildweite nämlich kaum noch, sie fällt praktisch mit der Brennweite zusammen und ein weiteres Abgleichen der Zwischenbilder lohnt sich nicht mehr (vgl. Bilder 4.4 und 4.5). 1 2 Bild 4.3: Drei Varianten des Parallaxausgleichs: 1) am Objektiv (Detail Leupold) 2) seitlich am Mittelrohr (Detail Schmidt&Bender) 3) am Okular (Detail Bausch&Lomb) Variante 1 verschiebt die Objektivlinse, Varianten 2 und 3 verschieben das Absehen. 22 3 M. Tschannen: Optik für Schützen Für die Parallaxverstellung gilt sinngemäss, was wir schon im vorderen Abschnitt über die variable Vergrösserung festgestellt haben: Die komplizierte Feinmechanik erhöht den Preis des ZF und verschlechtert dessen Robustheit. Jagd-ZF, die z.T. grosse Strapazen erdulden müssen, sind deshalb meistens fest so eingestellt, dass die Parallaxe bei einer jagdtypischen Schussdistanz von 100 m verschwindet. Da der Parallaxfehler kaum je mehr als ¼ MOA ausmacht - was bei Jagdbüchsen in der allgemeinen Streuung völlig untergeht - ist diese Wahl sicher gerechtfertigt (Bild 4.5). Ausserdem ist hier die Physik dem Schützen für einmal freundlich gesonnen: Bei weiten Distanzen im Bereich von Unendlich ändert sich die Bildweite kaum noch und das Absehen braucht keine Korrektur mehr. Bei kurzen Distanzen, wo der Parallaxefehler wichtig sein könnte, erscheint dafür das Ziel umso grösser. Der Parallaxefehler gleicht sich also ein Stück weit selber aus. Dies gilt nicht für extreme Präzisionsansprüche, namentlich im Bereich des PolizeiScharfschützenwesens, wo man nie im Vornherein weiss, auf welche Distanz man schiessen muss und das Ziel bloss einen Durchmesser von 4 cm hat, z.B. bei einer Geiselbefreiung (im jagdlichen Schiessen geht man von einer Zielgrösse von 8 cm aus). Für diesen Einsatz ist sicher ein ZF mit Parallaxausgleich zu empfehlen, ebenso wie eine variable Vergrösserung. Auch die Einwände bezüglich Robustheit eines so komplizierten ZF greifen hier nicht, da ein Polizeischarfschütze ja nicht tagelang durch Wälder robben muss. Ein (relativ) einfaches Rechenmodell soll die qualitativen Aussagen untermauern: Berechnet wird mit Formel 2.1 zuerst der Abstand (in mm) des Bildes des Objektes vom Bild des Absehens (vgl. Bild 4.2) in der Zwischenbildebene nach dem Umkehrsystem für ein einfaches ZF wie in Bild 2.1 dargestellt. Nach Bild 4.1 ist dieser Zwischenbildabstand massgeblich für die Grösse des Parallaxefehlers und somit ein taugliches Mass für die Parallaxempfindlichkeit eP eines Zielfernrohrs. Formel 2.1) 1/f = 1/g + 1/b 4.500 4.000 ObjektivBrennweite 3.500 3.000 100mm 2.500 150mm 2.000 200mm 1.500 1.000 0.500 90 10 0 20 0 30 0 40 0 50 0 60 0 70 0 80 0 90 0 10 00 80 70 60 50 40 30 Distanz [m] 20 10 0.000 Bild 4.4: Zwischenbildabstand eP in [mm] als Mass für die Parallaxempfindlichkeit Bild 4.4 zeigt den Betrag des Abstandes der zwei Zwischenbilder von Objekt und Absehen in [mm] für verschiedene Objektiv-Brennweiten und Zieldistanzen. Bei der Bezugsdistanz, für 23 M. Tschannen: Optik für Schützen welche das ZF ausgelegt wurde – hier bei 100 m – wird der Abstand 0, d.h. beide Bilder fallen zusammen und es ist keine Parallaxe mehr möglich. Zur Berechnung des Parallaxfehlers selbst bestimmt man weiter den scheinbaren Bildversatz B in der Zwischenbildebene gemäss Bild 4.1 unter Anwendung der Sinus-Funktion. Der Betrachtungswinkel γ - also der Winkel zwischen der Seele des Rohres und der Blickrichtung des Schützen – wird vorerst willkürlich mit 1 grad festgelegt. Formel 4.1) B[mm] = eP · sin γ (eP: Parallaxempfindlichkeit bzw. Zwischenbildabstand in [mm] gem. Bildern 4.1 und 4.4) Eine weitere Formel aus der Strahlenoptik erlaubt dann die letztendliche Berechnung des Parallaxefehlers, also die Umrechnung des Bildversatzes aus der Zwischenbildebene in die Gegenstandsebene (Bezeichnungen nach Abschnitt 2): Formel 4.2) G/B = g/b (Formel 4.2 besagt, dass das Verhältnis von Gegenstandsgrösse G zu Bildgrösse B gleich dem Verhältnis von Gegenstandsweite g zu Bildweite b sei.) Aus diesen Formeln folgt: Formel 4.3) Parallaxfehler[MIL] = eP · sin γ · (1/fOB – 1/gOB) (Objektivbrennweite fOB und Gegenstandsweite gOB in [m], eP in [mm]) Die Verwendung des Rechenmodells für eP (s.o., vgl. Bild 4.4) bringt das Resultat wie in Bild 4.5 dargestellt. Man stelle die Grösse des Parallaxfehlers in Relation zur zulässigen Gesamtstreuung! Parallaxfehler in MOA (Betrachtungswinkel = 1grad) ObjektivBrennweite 90 10 0 20 0 30 0 40 0 50 0 60 0 70 0 80 0 90 0 10 00 70 80 50 60 100mm 150mm 200mm 30 40 10 20 1.400 1.200 1.000 0.800 0.600 0.400 0.200 0.000 Distanz [m] Bild 4.5: Parallaxfehler Ein doppelt so grosser Betrachtungswinkel bringt einen doppelt so grossen Parallaxfehler; dieser wird jedoch für typische Gewehr-Einsatzdistanzen kaum je ¼ MOA überschreiten. Die Verläufe sind für drei verschiedene Objektivbrennweiten dargestellt (100mm, 150mm und 200mm). ZF mit grossen Brennweiten sind demnach anfälliger für Parallaxefehler, weshalb sich für solche Rohre ein mechanischer Parallaxausgleich eher lohnen kann. Das Modell zeigt auch, dass es hinsichtlich des Parallaxfehlers keine Rolle spielt, ob das Absehen in der Objektiv- oder in der Okularebene montiert wird. Insgesamt bestätigt das Modell die qualitativen physikalischen Ueberlegungen. 24 M. Tschannen: Optik für Schützen Den effektiven Parallaxfehler am eigenen ZF kann man mangels Daten damit nicht berechnen, aber man hat doch einige Kriterien gelernt, um seine Parallaxempfindlichkeit zu beurteilen: - bedeutende Parallaxfehler sind bei sehr kurzen (unter 50m) und sehr weiten (über 500m) Schüssen möglich (falls ZF für 100m ausgelegt ist); ZF mit grosser Brennweite (typisch bei starker Vergrösserung) sind besonders anfällig für Parallaxefehler. Man kann den Parallaxefehler am eigenen Rohr feststellen, indem man zielt, dann den Kopf leicht bewegt und versucht abzuschätzen, wie weit das Fadenkreuz auf dem Ziel wandert; so gewinnt man eine realistische Einschätzung des eigenen ZF. Letztlich bleibt auch am Ende dieses Abschnittes die Schlussfolgerung, dass ein ZF bloss ein Werkzeug ist, das man für den geplanten Einsatz gezielt auswählen muss. Obwohl der Parallaxfehler nicht immer vernachlässigbar ist und eine mechanische Verstellung wünschenswert erscheinen mag, soll man doch nicht vergessen, dass sich der Parallaxefehler durch eine geeignete Schäftung und saubere Schiessstellung mit korrekt ausgeleuchtetem Absehen (s. Bild 2.5) wirksam vermeiden lässt. 25 M. Tschannen: Optik für Schützen 5. Absehen und Distanzen schätzen Die beiden Themen sollen gemeinsam behandelt werden, da viele Absehen in ihrer Form so gestaltet sind, dass sie sich zum Distanzschätzen eignen; das Eine lässt sich ohne das Andere nicht verstehen. Die Hauptaufgabe des Absehens ist es jedoch, ein möglichst klares Zielbild zu ergeben. Die Absehen der ersten ZF bestanden aus feinen Drähten, was z.T. heute noch so gemacht wird und zur laienhaften Bezeichnung „Fadenkreuz“ geführt hat, die nur selten zutrifft. Häufig ätzen die Hersteller die Absehenmuster auf Glasplättchen, was eine wesentlich freiere Gestaltung (s. Bild 5.7) und robustere Befestigung erlaubt. Allerdings bringt die zusätzliche Scheibe im System auch einen zusätzlichen Verlust an Lichtdurchlässigkeit. Aus den vorderen Abschnitten wissen wir, dass das Absehen in eine der Zwischenbildebenen gelegt werden muss, damit man es scharf erkennen kann und der Parallaxefehler verschwindet (Bild 4.2). Nach der traditionell europäischen Bauweise kommt das Absehen in die Objektivbildebene bOB (1. Bildebene, s. Bild 2.1) zu liegen, die amerikanischen Hersteller bevorzugten ursprünglich die Okulargegenstandsebene gOK (2. Bildebene). Dies hat Konsequenzen, wenn es sich bei dem ZF um eines mit variabler Vergrösserung handelt: Liegt das Absehen in bOB, wird es bei ändernder Vergrösserung mitvergrössert, bleibt also relativ zum Bild gleich; liegt es in gOK, wird es nicht mitvergrössert, also relativ zum Bild mit zunehmender Vergrösserung immer feiner (was den Vorteil dieser Anordnung ausmacht, s. Bild 5.1). Will man das Absehen zum Distanzschätzen nutzen, ist es vorteilhaft, wenn die Bezüge zwischen Absehen und Bild erhalten bleiben; das Absehen sollte also in der Objektivbildebene liegen („europäisch“). Bild 5.1: Variable Vergrösserung: Absehen (A) europäisch (B) amerikanisch Absehen werden in Höhe und Seite beweglich montiert, um damit die Schusslage verstellen zu können. Die feinen Verstellschrauben sind von aussen zugänglich und häufig mit einer Klick-Rasterung versehen (vgl. Bild 5.2). Auf die Verstellschrauben sind Ringe oder Scheiben geschraubt oder geklemmt, die eine gravierte Skala zeigen. Diese Skala gibt an, um welchen Winkel und in welche Richtung sich die Schusslage ändert, wenn man die Verstellschraube entsprechend dreht; der Winkel wird meistens in MOA oder Bruchteilen davon angegeben (z.B. ¼ MOA pro Klick). Für Anwendungen, wo die Waffe, die Patrone und das ZF im Vornherein gegeben sind (militärische oder polizeiliche Korpswaffen), kann man auch gleich distanzbezogene Marken anbringen, was natürlich sehr praktisch ist, sofern die 26 M. Tschannen: Optik für Schützen Skala auch stimmt. Solchen Distanzskalen (engl.: BDC, Bullet Drop Compensator) auf kommerziellen ZF, wo der Hersteller gar nicht wissen kann, mit welcher Waffe und Munition sein Rohr eingesetzt werden soll, muss man allerdings mit grösstem Misstrauen begegnen. A B C Bild 5.2: Höhen- und Seitenverstellung (A) jagdlich mit Schutzdeckeln (Leupold) (B) sportlich (Leupold) (C) taktisch (Schmidt&Bender); als Option eine Skala mit BDC Die einfachste Art der Verstellung, bei welcher die Verstellschrauben direkt das Absehen bewegen, hat einen Nachteil: Es wandert aus der Seele des Rohres (nicht-zentriertes Absehen), was den Schützen erheblich stören kann. Um dies zu vermeiden, fasst man das Absehen und das Umkehrsystem in einem Innenrohr zusammen, das schwenkbar gelagert ist (Bild 2.2). Statt nur das Absehen zu verschieben, wird so das ganze Innenrohr geschwenkt, und das Absehen bleibt immer schön in der Mitte des Gesichtsfeldes (zentriertes Absehen); diese Konstruktion ist heute Standard. Bild 5.3: zentriertes Absehen links, nicht zentriertes Absehen rechts Wenn das Gewehr mit dem ZF eingeschossen ist, kann man die Skala von der Verstellschraube lösen und frei drehen, bis die Null-Marke der Skala mit der Null der Verstellschraube übereinstimmt, und dann wieder fixieren. Diesen Vorgang nennt man „Justieren“ (engl.: Zeroing) und er erlaubt dem Schützen, nach allfälligen Verstellungen immer wieder die ursprüngliche Einstellung zu finden. Zum Schutz des feinen Mechanismus ist die Verstellung bei Jagd-ZF meistens mit einer Schutzkappe zugedeckt und zum Verstellen selbst benötigt man ein Werkzeug, einen Schraubenzieher oder eine Münze. Scheiben-ZF hingegen haben häufig grosse, von blossen Händen drehbare und liegend ablesbare Verstelltürme. Das ist sehr bequem, um rasche Feinkorrekturen vorzunehmen, aber die weit abstehenden Türme könnten im Gelände rasch abbrechen. Für militärische Anwendungen findet man deshalb auf ZF flache Verstelltürme, 27 M. Tschannen: Optik für Schützen die weniger empfindlich sind, aber ebenfalls eine rasche Korrektur im liegenden Anschlag ermöglichen (vgl. Bild 5.2). Eine Auswahl von drei besonders wichtigen Absehen sei in Bild 5.4 dargestellt: Bild 5.4a: Jagdabsehen Nr. 1 Bild 5.4b: Duplex Bild 5.4c: Mildot Bild 5.4a – c: Bevorzugte Absehen Alle drei Absehen bieten die Möglichkeit, Distanzen zu schätzen. Im klassischen deutschen Jagdabsehen Nummer 1 mit Zielstachel sind die Enden der dicken Balken so gesetzt, dass sie einen querstehenden Rehbock (ca. 70 cm) auf hundert Meter genau einfassen (vgl. Bild 5.1A). Auf die doppelte Distanz 200m füllt derselbe Bock noch den Abstand von der Mitte des Zielstachels zum Rand eines der dicken Balken, also die Hälfte. So kann der Jäger während des Zielens nochmals rasch die Schussdistanz überprüfen und allenfalls ein bisschen höher oder tiefer halten. In der praktischen Sprache der Winkel, die wir in Abschnitt 1 eingeführt haben, bedeutet dies, dass die Enden der dicken Balken einen Winkel von 7 MIL (Formel 1.1) oder ca. 24 MOA (Formel 1.8) einschliessen. 28 M. Tschannen: Optik für Schützen Genau denselben Bezug auf den Rehbock halten auch die Duplex-Absehen, die für die Jagd wie für das Scheibenschiessen gleichermassen geeignet sind und immer mehr Beliebtheit gewinnen. Diese Spezialisierung auf Rehböcke ist jagdlich praxisnah, bringt aber wegen der ungeraden Zahlen (7 MIL) Nachteile, wenn man auf andere Ziele schiessen will. Auch beim Mildot-Absehen geben die Enden der dicken Balken einen wohldefinierten Sehwinkel (10 MIL) an, aber der eigentliche Clou liegt in den kleinen Punkten. Angeblich wurde dieses Absehen von amerikanischen Militärscharfschützen entwickelt und es bietet wirklich viele Vorteile für diese Anwendung, was wir im Folgenden genauer ausführen wollen. Erstens bietet die einfache kreuzförmige Gesamterscheinung des Mildot-Absehens ein klares Zielbild ohne allzu grosses Risiko, in Stresssituationen auf einen falschen Hilfspunkt zu verfallen. Zweitens bieten die kleinen Punkte auf den Linien, die jeweils genau 1MIL voneinander entfernt sind, ein einfaches Hilfsmittel zur Distanzschätzung. Bild 5.5: Distanzschätzen mit Mildot-Absehen In diesem engeren Zusammenhang sei das Beispiel 1.1 wiederholt: Eine Türe von 2m Höhe erscheine unter einem Winkel von 8MIL (Bild 5.5). Da diese Rechnung immer wieder vorkommt, wollen wir eine möglichst einfache Faustformel angeben (Formel 5.1): G α g Bild 5.6: Die Tangens-Beziehung 29 M. Tschannen: Optik für Schützen Formel 1.1) α[MIL] = G / g · 1000 Formel 5.1) g[m] = G[mm] / α[MIL] „Distanz-Formel“ zu Mildot-Absehen Mit den Zahlen aus Beispiel 1.1 G = 2 m = 2000 mm und α = 8 MIL ergibt sich die Entfernung g = 250 m. Dies ist eine praktische Anwendung der Tangens-Funktion und der Formel 1.6. Ausser dem einfachen Schätzen von Distanzen bietet das Mildot-Absehen noch den Vorteil, durch Zielen mit einem Hilfspunkt, also einem anderen als dem Mittelpunkt, rasch Korrekturen vorzunehmen oder den Verstellbereich um fünf MIL zu erweitern. Beispiel 5.1: Der Seitenwind von rechts sei so stark, dass ich auf 100m eine Abweichung von 10cm erwarten muss. Dies entspricht einem Winkel von 1MIL (Formel 1.1), weshalb ich mit dem ersten Punkt links der Mitte im Mildot-Absehen ziele. Eine noch bequemere Möglichkeit zum Schätzen von Distanzen bieten Absehen, wie sie z.B. in den russischen Dragunov-ZF zu finden sind. Diese Absehen zeigen nebst dem Fadenkreuz eine Hilfskurve wie in Bild 5.7 dargestellt: Bild 5.7: Hilfskurven zum Distanz-Schätzen: Links Detail aus Dragunov-Absehen, rechts modernes Bryant-Absehen Die Kurve im Dragunov-Absehen gibt jeweils die Höhe eines 1.70 m hohen Zieles an: Wenn es den Raum zwischen der Kurve und der Fusslinie ausfüllt, kann man die Schussdistanz auf der Skala ablesen (in Bild 5.7 also 400 m). Abwandlungen dieser Hilfskurve sind die Treppenstufen des Bryant-Absehens oder die 9“-Ringe der Nightforce-ZF. Variable Zielfernrohre mit dem Absehen in der Okularbildebene („amerikanisch“) bieten ebenfalls die Möglichkeit, Distanzen zu schätzen, indem man wie folgt vorgeht: Man fixiert das Ziel im Absehen und verändert die Vergrösserung, bis die zugeordneten Distanzmarken im Absehen (z.B. die Enden der Kreuzbalken) das Ziel bekannter Grösse (z.B. einen querstehenden Bock; vgl. Bemerkungen zu Absehen 1 und Duplex) genau einfassen. Im Bild 5.8a wäre dies also bei Vergrösserung 4x der Fall; aus dieser Vergrösserung kann nun der Schütze auf die Distanz schliessen. Leupold z.B. unterstützen diese Technik, indem sie bei den dafür vorgesehenen ZF zu jeder Vergrösserung gleich die zugeordnete Distanz mit eingravieren, z.B. beim 3.5-10x42 Tactical steht bei 3.5x die Marke 200 m, bei 8x 500 m und bei 10x 600 m. 30 M. Tschannen: Optik für Schützen 5X 4X 3X Bild 5.8a: Distanz schätzen „amerikanisch“ Beispiel 5.2: Ein ZF mit Duplex-Absehen in der Okularbildebene und variabler Vergrösserung 4-12x soll fürs Distanzen-Schätzen genutzt werden. Zuerst zielt man mit der kleinsten Vergrösserung 4x auf eine bekannte Distanz – z.B. 100 m – auf ein Objekt, das ein gutes Ablesen der Breite erlaubt, z.B. eine Standard-Zielscheibe. So stellt der Schütze fest, dass die waagerechten Stachel seines Absehens auf 100 m eine Zielbreite von z.B. 1 m einfassen – dies sei sein Bezugsmass. Zielt der Schütze nun auf ein Ziel der Breite 1 m auf eine unbekannte Distanz und verstellt die Vergrösserung, bis die waagerechten Stachel es einfassen, so kann er aus der resultierenden Vergrösserung auf die Distanz schliessen, denn da 4x 100 m entspricht, ergibt 8x 200 m und 12x 300 m. Ein Ziel der doppelten Breite 2 m ist bei gleicher Vergrösserung halb so weit weg (siehe Bild 5.8b). Dasselbe gilt sinngemäss auch für die Verwendung der Zielhöhe als Bezugsmass. Vergrösserung Bezugsmass 12X 8X 2xBezugsmass 4X Schussdistanz 100m 200m 300m 400m 500m 600m Bild 5.8b: Distanz schätzen „amerikanisch“ Theoretisch erlaubt diese Methode das Schätzen von Distanzen ohne Kopfrechnen, da das Resultat direkt vom ZF abgelesen werden kann. Die Nachteile in der Praxis sind jedoch offensichtlich: Die Methode ist nur anwendbar, wenn das Gewehr wirklich absolut ruhig auf das Ziel gerichtet liegt, und da der Schütze am ZF manipulieren muss, ist er während des Vorgangs nicht schussbereit. Daher die Bemerkung zu Beginn dieses Abschnittes, dass ein variables ZF mit Eignung zum Distanz-Schätzen das Absehen in der Objektivbildebene haben sollte. Diese ganzen Verfahren der Distanzbestimmung mit Hilfe von Skalen in optischen Geräten (man findet Aehnliches auch in Feldstechern) wurden bewusst immer als „Schätzung“ bezeichnet, denn nur zu gern wandert das Auge des Schützen zu einem Skalenpunkt, der eine besonders einfache Berechnung erlaubt. Ausserdem ist die Zielhöhe G in den seltensten Fällen so genau bekannt, wie dies für eine exakte Berechnung der Zieldistanz g 31 M. Tschannen: Optik für Schützen notwendig wäre. Der unbestreitbare Vorteil der genannten Methoden besteht zweifellos darin, dass kein Zusatzgerät erforderlich ist. Mit dem Fortschritt der Lasertechnologie sind aber sehr bemerkenswerte Geräte auf dem Markt erschienen, die für den Scharfschützen schlechterdings ein Muss sind. Laserentfernungsmesser mit Messbereichen bis tausend Meter in der Grösse eines Feldstechers sind schon zu recht bescheidenen Preisen zu haben. Sie befreien den ohnehin unter Druck stehenden Schützen von lästigen und fehlerträchtigen Kopfrechnungen und sollten weder im Einsatz noch beim Einschiessen fehlen. Aber Vorsicht im taktischen Einsatz: Laserdetektoren können das angepeilte Ziel warnen und den Schützen verraten! Bild 5.9: Der Leica „Vector“ bietet Beobachtung, Distanz- und Neigungsmessung in einem kompakten, feldtauglichen Gerät Eine andere einfache Möglichkeit, Distanzen zu bestimmen, besteht darin, sie aus einer Karte abzulesen. Der Massstab der Karte sollte allerdings höchstens so sein, dass 1 mm noch 50 m entspricht, also 1:50’000 oder feiner. Obwohl in diesem Abschnitt das Distanz-Schätzen einen Themenschwerpunkt bildet, weil die Methoden z.T. ausführlicher Erklärungen bedürfen, sollte man nicht vergessen, dass das Absehen vor allem ein einfaches, klares Zielbild ergeben soll. Dazu muss es auf die Form des Zieles und die Art des Schiessens abgestimmt sein: starke Zielstachel fördern eine rasche Zielerfassung, verdecken aber viel vom Ziel; feine Fadenkreuze sind günstig für eine maximale Präzision, springen aber weniger ins Auge. Ein Absehen, das mit Hilfsmarken überlastet ist, kann den Schützen auch eher verwirren, anstatt ihm zu helfen. Empfehlenswert sind beleuchtbare Absehen, wobei man darauf achten sollte, dass ihre Leuchtkraft fein einstellbar ist, damit sie nie blenden. Ausserdem muss entweder das ganze Absehen gleichmässig angeleuchtet werden oder aber nur ein bestimmtes Element desselben (z.B. der Mittelpunkt); eine ungleichmässige Beleuchtung des Absehens ist störend und ein Zeichen von schlechter Qualität. Meistens benötigt die Beleuchtung Strom aus einer Batterie, zum Teil kommen aber auch selbstleuchtende, radioaktive Materialien (Tritium) oder Glasfasern, die das Umgebungslicht sammeln, zum Einsatz. 32 M. Tschannen: Optik für Schützen 6. Nachtzielgeräte, Laser und andere Besondere Verhältnisse verlangen besondere Zielgeräte, besonders natürlich bei Nacht. Dazu gibt es Nachtsichtgeräte, die mit Absehen und Montagemöglichkeit ausgestattet, als Zielgerät benutzt werden können. Wie jedes andere Visier müssen auch diese eingeschossen werden, weshalb man mit Vorteil eine entsprechend ausgestattete „Nachtbüchse“ bereithält, weil man sonst vor jedem Nachteinsatz noch ein paar Kontrollschüsse abgeben müsste. Eine neue Generation von Nachtzielgeräten vermeidet diesen Nachteil, indem sie sich einfach vor das Zielfernrohr montieren lassen, das bereits eingeschossen ist (Bild 6.3). Diese Lösung ist sehr geschickt, erlaubt sie doch dem Schützen, bei Nacht das gleiche Absehen und dieselbe Visierkorrekturtabelle zu benutzen wie bei Tage, wobei allenfalls die höhere Visierlinie zu berücksichtigen bleibt. Grundsätzlich sind Nachtsicht-, bzw. Nachtzielgeräte (NVS: Night Vision Sights) in aktive und passive zu unterscheiden, wobei beide eine Stromquelle benötigen (Batterie oder Akku): a) aktive NVS: Diese Geräte nutzen die Tatsache, dass das menschliche Auge Licht nur in einem beschränkten Bereich von Wellenlängen wahrnehmen kann (ca. 450 – 700 nm). Die „aktive“ Komponente des Geräts besteht aus einem Scheinwerfer im unsichtbaren Infrarot-Bereich (über 700 nm); wie ein Scheinwerfer mit sichtbarem Weisslicht beleuchtet dieser das Ziel. Die vom Ziel reflektierte Infrarotstrahlung gelangt dann in einen Bildwandler, der diese für das Auge sichtbar macht (Bild 6.1). Der Schütze sieht dann die Umgebung auf dem grünlich fluoreszierenden Bildschirm seines Zielgerätes, als ob sie beleuchtet würde (was ja tatsächlich auch der Fall ist). Im taktischen Rahmen wird dieses System heute kaum noch eingesetzt, da die Lichtquelle natürlich von einem Gegner, der auch einen Infrarot-Bildwandler hat, sehr leicht geortet werden kann. Solche Geräte arbeiten nur in einem Bereich, der dem sichtbaren recht nahe ist; Wärmestrahlung, die noch langwelliger ist, kann nur ein Wärmebildgerät sichtbar machen (s.u.). Bildwandler Gegner IR-Strahler Schütze IR-Licht Ziel Bildwandler Bild 6.1: Infrarotbildwandler mit Lichtquelle im Einsatz b) passive NVS: Dabei handelt es sich um Restlichtverstärker, welche aus geringen Mengen sichtbaren Lichts ein für das Auge erkennbares Bild erzeugen können. Da sie ohne Lichtquelle auskommen, sind sie natürlich vom Gegner nicht zu orten, und die grosse, sperrige Leuchtquelle fällt weg. In der Regel bietet die Umgebung genügend Restlicht von den Sternen, dem Mond oder künstlichen Lichtquellen, um ein befriedigendes Bild zu erzeugen. Wie auch bei den aktiven NVS kommt das sichtbare Bild auf einem grünlichen Fluoreszenz-Bildschirm zustande. Falls Blendlicht in das 33 M. Tschannen: Optik für Schützen Gerät fällt – und sei es nur das Mündungsfeuer! -, kann dies wegen der Verstärkung den Schützen kurzzeitig blenden oder sogar das Gerät zerstören. Deshalb setzte man Restlichtverstärker früher immer in Verbindung mit hochwirksamen Feuerschein- oder gar Schalldämpfern ein; modernere Geräte haben elektronische Schutzvorrichtungen, die schwaches Licht mehr und starkes weniger verstärken. Elektron Photon (Lichtquant) Bildschirm Photokathode Bild 6.2: Restlicht(Bild)verstärker Die Leistungsfähigkeit von NVS bemisst man nach dem Verhältnis der vorhandenen Beleuchtungsstärke zu der resultierenden, gemessen in lux (lx). Tabelle 6.1 gibt einige natürliche Beleuchtungsstärken an: Sonnenlicht im Sommer Sonnenlicht im Winter Bedeckter Himmel im Sommer Bedeckter Himmel im Winter Grenze der Farbwahrnehmung Nachts bei Vollmond Mondlose Nacht 100000 10000 5000 ... 20000 1000 ... 2000 ca. 3 0.2 0.0003 Tabelle 6.1: Natürliche Beleuchtungsstärken in lx Je nachdem, wie sehr NVS die Intensität des einfallenden Lichts verstärken, ordnet man sie verschiedenen „Generationen“ zu: 1. Generation: Verstärkung max. 35000x 2. Generation: Verstärkung max. 65000x In einer Vollmondnacht erzeugt ein NVS 2. Generation also ein Bild wie an einem trüben Sommertag (allerdings in Grün)! Beim jetzigen Stand der Technik wären Verstärkungen bis 100000x machbar. Die Verstärkung der Lichtintensität darf man nicht mit der optischen Vergrösserung eines Zielfernrohrs verwechseln; NVS bieten in der Regel nur Vergrösserungen bis 4x. Aktive und passive Systeme werden gerne kombiniert, indem zum Restlichtverstärker noch eine feine Infrarotquelle eingesetzt wird, z.B. in Form eines Lasers (s.u.). Der feine Lichtstrahl kann vom Gegner nur schwierig geortet werden, gibt aber dem Restlichtverstärker genügend Licht, um ein besseres Bild zu erzeugen. Ein besonders mächtiges passives System ist die Wärmebildkamera. Ein solches Gerät macht die sehr langwellige infrarote Wärmestrahlung sichtbar, die von jedem Körper ausgeht, und kann Temperaturunterschiede von bloss 0.1° Celsius noch ausmachen; so kann es sogar durch dichten Nebel oder leichte Tarnung hindurch das Ziel zeigen. Wegen der aufwendigen Kühlung, die diese Geräte brauchen, sind sie allerdings ziemlich gross und schwer, was ihren Einsatz als Zielgerät für Handfeuerwaffen stark einschränkt; in Kampfpanzern und Hubschraubern hingegen sind sie sehr verbreitet. 34 M. Tschannen: Optik für Schützen Bild 6.3: Simrad-Restlichtverstärker auf Zielfernrohr aufgesetzt. Man beachte die um 7 cm erhöhte Visierlinie. Wie das Zielfernrohr ist auch das NVS ein optisches Gerät, das erst durch das Absehen zum Zielgerät wird. Eine ganz andere Kategorie von Zielhilfen sind die Laserzielgeräte: Ein Laser ist eine Lichtquelle, deren monochromatisches kohärentes Licht kaum streut. D.h. ein Laserlichtstrahl von 1 mm Durchmesser ist auf 100 m erst vielleicht 10 cm gross (je nach Qualität des Lasers), wodurch dieses Gerät zum idealen Zielpunktprojektor wird (Bild 6.4). Um es ganz deutlich zu machen: Wenn in ZF oder NVS die Zielmarke auf einem künstlich erzeugten Zwischenbild erscheint, markiert der Laser den Treffpunkt auf dem Ziel selbst. Der Vorteil ist offensichtlich, denn so wird jegliche Art von Zielfehlern unmöglich, ja man kann sogar „aus der Hüfte“ präzise schiessen. Ein unsichtbarer Infrarot-Laser kann bei einem geeigneten NVS das Absehen ersetzen, genauso wie auch ein sichtbarer (in der Regel roter) bei einem ZF. Gerade Polizeischarfschützen schätzen dieses Hilfsmittel, denn schon mancher Bankräuber soll aufgegeben haben, als er den roten Laserpunkt des Scharfschützen auf seiner Brust entdeckt hat. Geschossbahn Ziel Laserstrahl Bild 6.4: Anwendung des Zielpunktprojektors (Laserzielgerät) Leider haben Laser auch ihre Nachteile. Zum einen sind sie selbst bei Nacht nur auf ca. 150 m noch erkennbar, bei Tageslicht sogar noch weniger. Zum andern bieten sie in der Regel nicht die komfortablen Verstellmöglichkeiten des ZF, die es dem Schützen erlauben, das Gerät rasch auf eine andere Schussdistanz einzustellen. Der wohl wichtigste Nachteil aber ist der, dass die Zielmarke erst sichtbar wird, wenn sie auf dem Ziel ist; gerade bei kleinen freistehenden oder rasch bewegten Zielen gelingt es kaum, den Punkt auf das Ziel zu bringen. 35 M. Tschannen: Optik für Schützen Daher ist der eigentliche Einsatzzweck des Laserzielgerätes weniger das Scharfschützengewehr, sondern eher das Sturmgewehr oder die Maschinenpistole. Gerade bei kleinen Maschinenpistolen, die keinen Kolben haben und nur im Hüftanschlag zu schiessen sind, ist der Laser die einzige Möglichkeit zu zielen. Aber auch bei Handfeuerwaffen mit Kolben wird es schwierig, durch das Visier zu zielen, wenn man eine Schutzmaske und eine Kugelweste trägt; der Laser wird somit zur erwünschten Zielhilfe. In jedem Fall ist der Laser eher eine Deutschussunterstützung für den Nahkampf und weniger eine Hilfe für präzise Schüsse auf weite Distanzen. Eine weitere Kategorie von Zielgeräten sind die Kollimationsvisiere. Sie nutzen die Tatsache, dass der Mensch mit zwei Augen sieht, deren einzelne Wahrnehmungen dann im Gehirn zu einem Gesamtbild zusammengefasst werden (Bild 6.5). Das Kollimationsvisier nun stellt vor dem einen Auge eine Zielmarke dar, währenddem das andere am Zielgerät vorbei auf das Ziel sieht; im Gehirn entsteht dann der Eindruck einer auf das Ziel projizierten Zielmarke. Um dem Gehirn die Ueberlagerung der zwei Bilder zu ermöglichen, arbeiten Kollimationsvisiere ohne Vergrösserung. Im Gegensatz zum Laser also, der wirklich eine Marke auf das Ziel projiziert, erzeugt das Kollimationsvisier nur die Illusion davon. Gegenüber dem Laser ist der Vorteil der, dass der Schütze die Zielmarke auch sehen kann, wenn sie noch nicht auf dem Ziel liegt, wodurch er die Waffe sehr schnell ausrichten kann. Kollimationsvisiere vereinen die Schnelligkeit des Deutschusses mit der Präzision des sauber gezielten, wodurch sie zum vollkommenen Visier für die Drückjagd oder die Nachsuche werden, also für den flüchtigen Schuss. Taktisch nutzt man sie vorwiegend auf Maschinenpistolen und Sturmgewehren, für den Einsatz auf einem Scharfschützengewehr sind die Zielmarken zu grob (Punktdurchmesser von mehr als 3 MOA) und auch die fehlende Vergrösserung ist ein Nachteil. Bild des linken Auges Bild des rechten Auges Zielmarke Ziel Ueberlagerung beider Bilder Bild 6.5: Anwendung des Kollimationsvisiers Die einfachste Ausführung eines Kollimationsvisiers ist das Single-Point, bei welchem eine leuchtende Glasfaser vor eine Lupe in einen Metallblock als Träger eingelegt wird. Solche Geräte verdecken das Ziel völlig, der Schütze muss unbedingt mit beiden Augen zielen. Daher sind sie ausschliesslich für schnelle Schüsse zu gebrauchen, denn wenn man versucht, sorgfältig zu zielen, beginnt sich die Ueberlagerung im Gehirn zu verwirren. Dafür sind die Single-Points sehr klein, robust und brauchen keine Stromquelle. Die verbreitetste Variante sind die Reflexvisiere, in welchen das Licht einer kleinen Leuchtquelle über eine geeignete verspiegelte Linse ins zielende Auge reflektiert wird (Bild 6.6). Die Linse ist so geschliffen, dass alle reflektierten Lichtstrahlen immer parallel zur Visierlinie verlaufen; der Schütze kann also durch die Linse sehen, wie er will, die Zielmarke (normalerweise ein roter Punkt) bezeichnet immer den Zielpunkt, d.h. das Visier ist frei von Parallaxe. So verliert der Schütze keine Zeit damit, sein Visier auszurichten, und auch der 36 M. Tschannen: Optik für Schützen Augenabstand spielt keine Rolle. Nebst dem guten Ueberblick auf das Zielgelände ist dies mit ein Grund dafür, warum diese Visiere so schnell sind. durchlässig verspiegelte Linse Auge Ziellinie Leuchtdiode Bild 6.6: Prinzip des Reflexvisiers Reflexvisiere erlauben auch einen sorgfältig gezielten Schuss, indem der Schütze wie bei einem Zielfernrohr durch die Linse sieht; für diese Anwendung gibt es sogar Ausführungen mit leichter Vergrösserung, wodurch allerdings der gewichtige Vorteil des guten Ueberblicks und der damit verbundenen raschen Reaktionsmöglichkeit verloren geht. Als Vorteil gegenüber dem ZF bleiben die kontraststarke, leuchtende Zielmarke und die Parallaxfreiheit erhalten. Gute Reflexvisiere sind relativ teuer, denn die Form der Linse ist ziemlich kompliziert und muss bei der Herstellung sehr genau eingehalten werden. Ausserdem ist häufig die Lagerung der Leuchtquelle ein Problem; wenn diese zu wackeln beginnt, wird das Gerät unbrauchbar. Bild 6.7: Sturmgewehr SIG 551 mit Reflexvisier Die meisten benutzen batteriegespeiste Leuchtdioden als Lichtquelle, einige Ausführungen hingegen Glasfasern, die das Tageslicht sammeln, unterstützt durch selbstleuchtende radioaktive Materialien (z.B. Tritium); letztere Version, die ohne Stromquelle auskommt, ist natürlich gerade für den harten Gebrauch im Felde sehr vorteilhaft. Eine sehr junge Konstruktionsvariante sind Kollimationsvisiere, die die Zielmarke als Hologramm darstellen (Bild 6.8). Dies ist ein mit Computer berechnetes räumliches Feld von vielen möglichen Marken, von welchen das zielende Auge immer genau die zu sehen bekommt, die der Ziellinie entspricht. Auch hier kann der Schütze in beliebiger Weise durch das Gerät zielen, die Marke wird immer den Zielpunkt zeigen. Diese Lösung bietet viele Vorteile: Die Zielpunkttreue ist unabhängig von der Qualität, mit welcher allfällige Linsen geschliffen wurden, da das Absehen ja rechnerisch erzeugt wird; die Hologramm-Platte lässt 37 M. Tschannen: Optik für Schützen sich zuverlässiger lagern als kleine Leuchtdioden; die Gestalt der Marke ist nicht nur auf einen roten Punkt beschränkt, sondern kann nahezu beliebige Form annehmen. Hologramm Ziellinie Ziel Bild 6.8: Holografisches Absehen Einige der hier vorgestellten Zielhilfen zeigen beeindruckende Effekte, aber eines darf man nie vergessen: Jedes Visier muss immer auf die Waffe eingeschossen werden und stimmt immer nur genau für die eingeschossene Distanz. Dank der starken Vergrösserung, den feinen Zielmarken und umfangreichen Verstellmöglichkeiten ist sicher das Zielfernrohr das richtige Visier für den Scharfschützen, allenfalls ergänzt durch ein Nachtzielgerät. 38 M. Tschannen: Optik für Schützen Zusammenfassung Dem Schützen steht eine breite Palette von Zielvorrichtungen zur Verfügung. Das einfachste, billigste und robusteste Visier ist das mechanische Visier mit Kimme (bzw. Lochkimme, Diopter) und Korn. Die grobe Zielmarke verdeckt allerdings viel vom Ziel und der Schütze kann nicht Zielmarke und Ziel zugleich scharf sehen. Optische Visiere haben mindestens eine Linse, die eine virtuelle Zielmarke erzeugt, welche mit dem Ziel zugleich scharf gesehen werden kann. Zielfernrohre erlauben besonders genaues Zielen, weil sie das ganze Zielbild noch vergrössern und über feine Zielmarken verfügen. Im Gegensatz zum mechanischen Visier bieten die optischen Visiere präzises, ermüdungsfreies Zielen, sind dafür aber viel teurer und empfindlicher als die mechanischen Stahlvisiere. Die feinen Zielmarken und starke Vergrösserung des Zielfernrohres sind von Nachteil, wenn schnelle Zielerfassung wichtiger wird als Präzision. Deshalb gibt es elektronische Visiere, welche dem Schützen eine leuchtende Zielmarke darbieten und mit Rücksicht auf eine schnelle Zielerfassung nur mit geringen Vergrösserungen arbeiten. Solche Visiere sind kleiner und leichter als ein Zielfernrohr, aber eher noch empfindlicher, denn durch leere Batterien werden sie unbrauchbar. Die verschiedenen Konzepte werden gerne kombiniert: Die moderne Technik bietet mechanische Stahlvisiere mit eingelegten stromunabhängigen Leuchtquellen, Zielfernrohre mit beleuchtbaren Absehen und Reflexvisiere, deren Leuchtpunkte stromunabhängig von Tageslicht-Sammlern erzeugt werden; ausserdem wird den empfindlichen optischen und elektronischen Visieren gerne ein mechanisches Visier als „Notvisier“ beigestellt. Manche Visiere sind für spezielle Einsätze optimiert, andere sind sehr vielfältig verwendbar, jedoch kein Visier taugt für alles. Der Schütze muss sich bewusst machen, auf welche Distanzen er schiessen können will, welche Präzision er verlangt, aus was für Stellungen er normalerweise schiesst, was für Lichtverhältnisse er annehmen muss, wie gross und schwer die ganze Waffe werden darf, welchen Strapazen er seine Ausrüstung aussetzt und wie sorgfältig er sie warten kann. Natürlich muss das Visier auch auf die Präzision und den Einsatzzweck der Waffe abgestimmt sein, denn ein riesiges Zielfernrohr auf einer Maschinenpistole nutzt sowenig wie ein Reflexvisier auf einer Präzisions-Büchse. 39
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