Rezension Klinische Psychologie bei Querschnittlähmung

Fritz Vischer
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4106 Therwil
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www.fritzvischer.ch
Rezension
Klinische Psychologie bei Querschnittlähmung
● Die Lücke ist geschlossen
2015 ist es wahr geworden: Mit Klinische Psychologie bei Querschnittlähmung liegt nun ein Übersichtswerk vor, das die psychologischen Problemstellungen rund um die Querschnittlähmung
aufgreift und vertieft. Die sechs Herausgeber haben damit eine Lücke erfolgreich geschlossen, und das erst noch lückenlos. 66 Fachautoren, darunter auch die Herausgeber selbst, decken von einführenden Beiträgen bis zu Gedanken zur psychologischen Forschung und einem Stichwortverzeichnis Fragen aus allen Perspektiven ab - die der Betroffenen, die der Therapeuten sowie
Pflegenden sowie auch die der Partner und übrigen Angehörigen.
Mit 865 Seiten ist das Werk entsprechend umfangreich, aber keine
Bange: Dank der Aufgliederung in 95 Kapitel, die 12 Obertiteln zugeordnet sind, ist das Fachbuch sehr übersichtlich und leserfreundlich. Jedes Kapitel beginnt mit einem Vorspann und endet
mit einem Fazit. Die Autoren schreiben in allgemein verständlicher
Sachsprache und sprechen so von den Eltern des frisch verletzten
Tetraplegikers bis zum psychologisch zu wenig bewanderten
Facharzt alle denkbaren Interessenten an.
„Die Angehörigen zeigen das Belastungsbild, das man von den Direktbetroffenen erwartet“, lesen wir in Kapitel 67 zur Angehörigenbetreuung. Im
Gegensatz zum tatsächlich Gelähmten lähmt die Angehörigen das Schicksal des Mitmenschen. Ihnen fehlt der sogenannte <Airbag-Effekt>. Gemeint ist damit die Mobilisierung von Ressourcen, die sich bei Eintritt einer
Querschnittlähmung in praktisch allen Fällen beinahe reflexartig einstellt:
„Wer sich verschluckt, der hustet“, stellen der Herausgeber Peter Lude
und Jörg Eisenhuth, beide Psychologen, unter dem Zwischentitel Gesunde
Reaktionen fest und schliessen daraus: „Das Husten dient dem Überleben.“
Texte | Redaktion | Kommunikation
Die Betroffenen passen sich an
Der Stress, den eine Querschnittlähmung verursacht, befähigt die Betroffenen, Strategien zu entwickeln, um sich der veränderten Situation anzupassen. Coping strategies ist der englische Fachbegriff dafür. Ressourcenaktivierung, Resilienz, Stabilisierungstechniken, adaptive Auseinandersetzung, aber auch Lebendigkeit sind lauter Begriffe, die diesen Vorgang
bezeichnen. Sie durchziehen das Leben eines Menschen mit Querschnittlähmung und damit auch das Buch.
Nach medizinischen Einführungskapiteln beginnen die psychologischen
Schwerpunkte unter dem Obertitel Bewältigung zwar erst auf Seite 184.
Schon auf Seite 193 lautet das Fazit aber: „Bei der Rehabilitation handelt
es sich um einen Überlebensprozess.“ Nach Eintritt einer Querschnittlähmung durchlaufen wir nicht wie beim Sterben Phasen, die uns von der Ablehnung über die Wut bis zur Akzeptanz führen, sondern der Lebenswille
setzt enorme Energien im Umgang mit den aufgezwungenen Veränderungen, den <Stressoren>, frei. Das Fachpersonal in den Rehakliniken
kann diese Kräfte noch verstärken und in der Regel bahnt sich ein Erfolgsprozess an. Diese Erfahrung erklärt auch, warum Psychologen in den frühen Zeiten der Rehabilitation von Querschnittgelähmten einen schweren
Stand hatten. Inzwischen ist aber anerkannt, dass interdisziplinäre Teams,
zu denen natürlich auch Psychologen gehören, die Rehabilitation am besten gewährleisten. Das hat dazu geführt, dass sich die Rehabilitationsdauer verkürzt hat, aber „die psychische Bewältigung braucht nach wie vor
ihre Zeit“. Zu diesem Verarbeitungsprozess darf auch die bekanntlich
kaum realistische, aber durchaus gesunde Hoffnung auf Heilung gehören.
Gleichermassen werten die Autoren suizidale Gedanken als Ausdruck einer
im Grunde lebensbejahenden Auseinandersetzung. Als grösste Knacknüsse
für die Seele erweisen sich dabei der Verlust der Sensibilität und die Beeinträchtigung der Sexualfunktion. Alle weiteren Erschwernisse und die
damit verknüpfte Entschleunigung des Lebens folgen erst danach.
Psychische Probleme sind nicht häufiger
Trotzdem haben Menschen mit Querschnittlähmung mit einer Quote von
25% bis 30% weniger häufig psychische Probleme als die Allgemeinbevölkerung mit einem Anteil von einem Drittel. 15% bis 20% leiden an Depressionen, 10% an posttraumatischen Belastungsstörungen, was
ebenfalls kein überdurchschnittlicher Wert ist. Auch „die Gefahr, durch die
Querschnittlähmung zum Alkoholiker zu werden, besteht nicht“.
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Die Menschen sind unterschiedlich
Dagegen geht aus dem Buch klar hervor, dass die Persönlichkeitsprofile
sehr unterschiedlich sind. Entsprechend vielfältig sind auch die psychologischen Bilder. Einheitlich ist lediglich die Beobachtung des „posttraumatischen Wachstums“, das nach anfänglichem Durchhänger schliesslich auch
den Angehörigen zuteil wird. Wenn sie sich mit ihrem eigenen Los und
dem ihres Mitmenschen auseinander setzen, wachsen sie mit. Das bereichert Beziehungen. Vom Partner mit Querschnittlähmung verlangt das
aber, dass er sein Leben fortwährend aktiv gestaltet und seine Behinderung nicht in den Vordergrund stellt und sich in resignative Zufriedenheit
zurückzieht. Er muss sich und seine Beziehungsfähigkeit pflegen. Mit der
gut abgeleiteten Erhellung solcher Zusammenhänge gelingt es den Autoren, den Bezug von der grauen Theorie zum Alltagsleben zu schaffen.
Nebst Fachwissen vermittelt das Buch namentlich in der zweiten Hälfte
zahlreiche, theoretisch untermauerte Hinweise, die sich in der Praxis anwenden lassen. Beispiele sind Kapital wie Soziales Kompetenztraining oder
Entspannungstechniken.
Wir Paras und Tetras können uns so unsere eigenen Psychologen werden.
Fritz Vischer
Angaben zum Buch
Klinische Psychologie bei Querschnittlähmung
Psychologische und psychotherapeutische Interventionen bei psychischen, somatischen
und psychosozialen Folgen; Springer-Verlag Wien 2015, 865 Seiten, 49 Abbildungen
Die Herausgeber
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Prof. Dr. Wilhelm Strubreither MSc, Rehabilitationszentrum Bad Häring, Österreich
Dipl. Psych Martina Neikes, Berufsgenossenschaftliches Unfallkrankenhaus, Hamburg
Daniel Stirnimann, MSc., UZH, Uniklinik Balgrist, Zürich, Schweiz
Dipl. Psych. Jörg Eisenhuth, Werner- Wicker-Klinik, Bad Wildungen
Dipl. Psych. Barbara Schulz, BG Kliniken Bergmannstrost, Halle
Dr. Peter Lude MSc, Praxis für Psychologische Psychotherapie, Bad Zurzach, Schweiz
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Druckausgabe ISBN 978-3-7091-1600-5, CHF 85.00 | 68,08 € (D) | 69,99 € (A)
eBook ISBN 978-3-7091-1601-2, CHF 33.00 (bei buch.ch)
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