verrönscht und zugenetzt! #06 11. Oktober 2015 k 21:54h Nazi-Immobilie mit TerrorVerbindungen im Allgäu Antifa, Recherche | Das Beispiel eines von Neonazis genutzten ehemaligen Rieggis: Nazis räumen »Alte Sennküche« Landgasthofs zeigt deutlich, wie in Bayern mit rechten Immobilien umgegangen wird: Verschweigen und Wegschauen, oft über Jahre und Jahrzehnte. Eine Recherche über ein Haus bei Immenstadt und sein extrem rechtes Umfeld: Artgemeinschaft, NPD, Wehrsportgruppe Hoffmann. (Seite 7) Weitere Recherchen: Gefährliche Netzwerke: »Legion Werwolf Schwaben« und »Bloodline Streetwear« (Seite 11), »Möglicher Amokläufer« verurteilt (Seite 9), Angriff auf Nazis mit Polizeibeteiligung? (Seite 10) KAPITALISMUSKRITIK Inhalt »Die Große Transformation hat gerade erst angefangen« Über die Schranken des kapitalistischen Weltsystems und den Niedergang des mächtigsten und auch gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat | Der Kern dieses Systems, sein übergeordnetes Gesetz, ist die endlose Akkumulation von Kapital. Das ist sein Hauptzweck, dem alles andere untergeordnet wird. Mensch und Natur werden dafür benutzt, aus Geld mehr Geld zu machen, und deswegen werden wir tendenziell zu Maschinenrädchen in dieInterview sem Getriebe degradiert. Der Druck, die Kommerzialisierung, die Ausbeutung, all das nimmt tatsächlich zu. Aber das bleibt auf Dauer nicht ohne Reaktion. Die Geschichte verläuft nicht linear. Wo das hingeht, ist vollkommen ungewiss, aber die Risse im System werden immer deutlicher. (Seite 20) Immenstadt Nazis zerstören Zeichen der Solidarität Seite 9 Gender Mainstreaming und die Kaufbeurer CSU Seite 14 Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus Seite 14 ANTIFA Freispruch für Frei.Wild Der Jugendforscher Klaus Farin hat über die Band Frei.Wild geschrieben. Herausgekommen ist ein anbiederndes und unkritisches Fan-Buch inklusive Generalabsolution: Kritik an der Band sei substanzlos | Die Südtiroler Chart-Stürmer Frei.Wild haben kommerziellen Erfolg. Seit Jahren klettert die »Deutschrock-Band« aus Norditalien mit jedem ihrer Alben an die Spitze der deutschen Albumcharts und füllt die ganz großen Konzerthallen. Gleichzeitig polarisiert die Gruppe: der Bandleader war mal »rechts« und Liedtexte werden als nationalistisch kritisiert. Andererseits sagt die Band von sich, dass sie »gegen Extremismus und Rassismus« eintrete. Wie ist die Band wirklich drauf, wer sind die Fans, was ist dran an den »Vorwürfen«? Jugendforscher Klaus Farin hat sich solche Fragen gestellt, traf sich mit der Band und verwertete tausende von Fans ausgefüllte Fragebögen. (Seite 12) Eine Aktion in Kempten hielt dagegen. (Seite 2) Themen dieser Ausgabe Aktion Aktion, Anschlag, Antiatom, Antifa, Antisemitismus, Asyl, Autoritarismus, Demo, Demonstration, DNA, Film, Frontex, Geld, Gender, Geschichte, Grauzone, Interview, Journalismus, Kapitalismus, Kapitalismuskritik, Knast, Kritik, Mitte, Musik, Nazis, Neonazis, Neonazismus, NSU, Ökologie, Prozess, Rassimus, Rassismus, Recherche, Rechte, Rechtsextremismus, Rechtsterror, Religion, Repression, Sexismus, Sozialkritik, Studie, Termin, Terror, Überwachung, Veranstaltung, Verfassungsschutz, Verkehr, Wehrsportgruppe Hoffmann, Zukunft »129 das kennen wir schon - Feuer und Flamme der Repression!« Seite 16 Sozialkritik vs Sozialpolitik Seite 18 Erfolgreiche Aktionen gegen Rassismus Seite 27 verrönscht und zugenetzt! Offene Jugendzeitung [email protected] https://vruzt.resyst-a.net ISSN: 2195-7495 vruzt, 11. Oktober 2015 Aktuelles verrönscht und zugenetzt! #06 2 / 28 Editorial Editorial | Die vorliegende Ausgabe muss sich auch diesmal wie- der viel mit Antifaschismus beschäftigen. Die Behörden wollen wie so oft von den Aktivitäten der Rechten nichts wissen (Seite 5), wir schauen dafür umso genauer hin. Nichts wissen will die örtliche Polizei von einer Immobilie bei Immenstadt, die von Neonazis mit vielschichtigen Verbindungen in die unterschiedlichen Bereiche der bundesweiten auch militanten bis terroristischen Szene genutzt wird. (7) In Immenstadt selbst wurde ein Zeichen der Solidarität mit Flüchtlingen mutmaßlich von Angehörigen des neonazistischen »Bündnis freies Allgäu« zerstört. (9) Andernorts werden gefährliche Faschisten verurteilt (11, 9), während Frei.Wild Generalabsolution erteilt wird: »Kritik an dieser nationalistischen Band, die Rechtsterrorismus verherrleicht, sei ohne jede Substanz«, fasst Nico Werner den Tenor eines neu erschienenen Buches auf Seite 12 zusammen. Immerhin wurde dagegen während eines Auftrittes der Band in Kempten interveniert (2). Eine Veranstaltung (4) und zwei Buchbesprechungen (15) widmen sich dem Komplex um das NSU-Netzwerk und den Verfassungsschutz. Gleichzeitig zum Prozess gegen einen Teil des rechten Terrornetzwerkes deckelt das Münchner Landgericht die Aufklärung über einen möglicherweise von der Polizei zum Vorgehen gegen Antifas angezettelten Angriff auf einen NaziInfostand. Gute Nachrichten haben wir trotzdem. Nicht nur die Antifas, denen eine Tatbeteiligung vorgeworfen wurde, wurden frei gesprochen. Weil sich ein Umweltaktivist gegen den Vorwurf der Beleidigung eines Polizisten offensiv verteidigte, wurde er nicht verurteilt - weil der Aufwand nicht lohnt! (17) »Feuer und Flamme der Repression« wurde sogar jüngst auf einer Solikundgebung vor der Kemptener JVA skandiert. (16) Neben der Auseinandersetzung mit den derzeit unerträglich-rassistischen Zuständen (23, 26) gibt es Berichte zu erfolgreichen Aktionen. In Memmingen wurde der Fischer- tag antirassistisch begleitet (27), gegen die lokalen Nazistrukturen demonstriert (24), in Augsburg wurde ein Vertreter von Frontex vom Podium gejagt (25) und der aus rassistischen Gründen in Haft geratene Usman ist wieder frei - womöglich auch durch die unterstützenden Aktionen in Memmingen. (26) Natürlich kommen die bestehenden Verhältnisse auch wieder insgesamt nicht gut weg. In »Sozialkritik versus Sozialpolitik« plädieren Petra Ziegler und Franz Schandl dafür, alle sozialen Schranken als nichtig zu erkennen und einzureißen statt ein Mehr vom immer gleichen alten und abgestandenen Kuchen zu fordern. (18) Eske Bockelmann fragt, welcher Weg vom Geld weg führt (19), während Anette Schlemm einen Blick in die Zukunft wagt, um »die letzten Zuckungen einer stolzen Zivilisation zu beobachten«. (18) Optimisischer ist Fabian Scheidler im Interview über sein neues Buch »Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation«: »Die Risse im System werden immer deutlicher.« Die Risse verbreitern wollte eine Zugfahrt durch halb Deutschland - ohne Ticket - und lieferte Direct-Action nach Bilderbuch für ganz andere Verhältnisse. (5) Denn dass es so nicht weitergehen kann, weiß sogar Gablers Wirtschaftslexikon zum Stichwort Wirtschaft: Ziel der Wirtschaft ist die Sicherstellung des Lebensunterhalts und, in ihrer kapitalistischen Form, die Maximierung von Gewinn und Lust mithilfe unternehmerischer Freiheit, zugleich die Erzeugung von Abhängigkeit, ob von Anbietern oder Produkten, und Wachstum, bis zum (nicht unbedingt gewünschten, aber erwartbaren) Kollaps des Systems. Sage niemand, er/sie habe es nicht gewusst. AKTUELLES kurz notiert Eine unvollständige Chronik bedenkenswerter Vorfälle und einiger Aktivitäten dagegen Sebastian Lipp, Rassismus, Antifa, Neonazismus, Aktion | NU: »Sicherheitsgespräch« zu Asylunterkünften In einer gemeinsamen Pressemitteilung erklären das Polizeipräsidium Schwaben Süd/West und das LRA NeuUlm sich am 15.1 zu einem »Sicherheitsgespräch« getroffen zu haben. Zwar fänden diese Gespräche regelmäßig statt und es gäbe »durch die Flüchtlinge keine erhöhte Kriminalität«. Trotzdem trafen sich die Behörden nach einem sexuellen Übergriff in einer Illertissener »Gemeinschaftsunterkunft« umgehend am nächsten Tag, um »die Sicherheitslage in Unterkünften für Asylbewerber« zu besprechen und festzustellen, dass die Polizei weiterhin regelmäßig Präsenz im Umfeld der Unterkünfte zeigen soll. So wird die Unterbringung von Flüchtlingen zur Sicherheitsfrage gemacht, die Untergebrachten entgegen jeder Empirie verdächtigt und deren Umfeld besonders beSome rights reserved. wacht. Aus Perspektive der Betroffenen wurde die Unterbringung offenbar nicht hinterfragt. Bad Saulgau: Busfahrer richtet Nazi-Grüße an Schüler In Bad Saulgau soll ein Busfahrer Schüler wiederholt mit Nazisprüchen verabschiedet haben. Er selbst bestreitet das nicht prinzipiell - er habe den Originalgruß abgewandelt. Ein Fahrgast ist aber wie schwaebische.de am 8.1. berichtet überzeugt, wörtlich »Sieg Heil« gehört zu haben. Die Staatsanwaltschaft sah jedenfalls keinen genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage und stellte ein. Der Fahrer ist weiterhin beim Betreiber der Stadtbuslinie angestellt. Immenstadt: Auf Brust geritztes Hakenkreuz Am 2.3. berichtete die Allgäuer Zeitung von einer »Rangelei« am vorhergehenden Samstag in Immenstadt-Akams. Beteiligt waren ein 26-jähriger und ein 22-jähriger, der dem anderen ein auf seine Brust geritztes Hakenkreuz zeigte. Die Polizei hat »keine Hinweise, wonach ein Bezug dieses Mannes zur rechten Szene herstellbar wäre.« Ein Strafbefehl wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen wurde erlassen, der Täter aber nur unter Strafvorbehalt verwarnt. Der Staatsanwaltschaft nach gäbe es »keine Anhaltspunkte« einer Zugehörigkeit zur rechten, wohl aber »Indizien für eine Angehörigkeit zur linken Szene«. Bad Saulgau: Hakenkreuze in Umkleide Wie schwäbische.de am 22.1. meldet, »haben Unbekannte in der SonnenhofTherme in Bad Saulgau mehrere Hakenkreuze in die Wände von Umkleidekabinen geritzt.« Das selbe passierte am 12.3 und 21.3., sowie am 24.3. Täter_innen konnten bis dahin nicht ermittelt werden. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 KF: NPD will »Asylanten von der Straße jagen« »Unter der Überschrift Äsylanten von der Straße jagen« berichtet die NPD von ihrem großen Erfolg am [21.3.] in Kaufbeuren: »Als zählbare Früchte unserer Arbeit war ein Interessent zu verzeichnen, der Einladungen zu unseren Veranstaltung wünscht, sowie ein Neumitglied, das künftig den Kreisverband im Ostallgäu unterstützen will.« »Dagegen«, so heißt es in einem Bericht über den Infostand um den Kreisvorsitzenden der NPD Neu-Ulm/Günzburg Stefan Winkler, »trommelte eine Gruppe junger Asylsuchender, während andere Nazigegner und -gegnerinnen menschenfreundliche Flugblätter verteilten.« KF: Reifen an Asyl-UK zerstochen Wie die Allgäuer Zeitung vom 27.4 berichtete, wurden bei zehn der an der Asylunterkunft in Kaufbeuren abgestellten Fahrräder Reifen zerstochen. Tatverdächtige konnten laut Polizeisprecher Eckel nicht ermittelt werden. KE: »FCK FR.WLD« Zu Beginn des Frei.Wild Konzerts am 2.5. in der bigBOX Allgäu in Kempten wurde ein Banner mit der Aufschrift »FCK FR.WLD« vom Dach des Forums entrollt. Die Aktion wurde mit einer deutlichen Änderung der Tonlage und Lautstärke hunderter versammelter Fans der Rechtsrocker quittiert. Aktuelles des G7-Gipfels bei einer »heimattreuen« Familie im Unterallgäu. Der »Mann des Hauses« sei engagiert in der »jungen nationalrevolutionären Partei ›Der III. Weg‹«. Die Beamten wurden abgewiesen. Der polizeiliche Pressestab G7Gipfel verweigert genaue Auskünfte, der angesprochene Personenkreis gilt dort aber als »weitgehend unstrukturiert«. MM: NPD Infostand unbehelligt Am 6.6. führten Mitglieder der NPD Unterallgäu und Neu-Ulm von 9 bis 13 Uhr nach eigenen Angaben einen Infostand in der Memminger Innenstadt »völlig störungsfrei« durch und verteilten darüber hinaus angeblich 600 Flugblätter in Briefkästen. Erst durch eine Nachfrage bei Corinna Steiger - Mitglied im Stadtrat und dem Memminger Bündnis gegen Rechts - wurde diese auf den Vorgang aufmerksam. Sie hätte schon früher den Bürgermeister verärgert, als sie eine entsprechende Information an die Öffentlichkeit trug. Daher hätte sie kein Interesse mehr, an einer Aufdeckung solcher Aktivitäten im Vorfeld mitzuwirken. Pfaffenhausen: Hakenkreuze, SS-Runen und »88« Die Polizei meldet, dass Hakenkreuze, SS-Runen und der Zahlencode »88« auf die Fahrbahn und verschiedene Objekte in der Blumen- und Industriestraße in Pfaffenhausen aufgesprüht wurden - vermutlich in der Nacht vom 12. auf den 13.6. »Lunikoff« in Murnau festgenommen Konstanz: III. Weg verteilt rassistische Flyer Wie die Nazis von »Der III. Weg« angeben, haben sie am 9.5. ihre rassistischen Anti-Asyl Pamphlete auch um dortige Gemeinschaftsunterkünfte verteilt. Immenstadt: »Sieg Heil« im Festzelt Zwei Sonthofener, 28 und 34 Jahre alt, bedienten sich im Festzelt der Allgäu Schau in Immenstadt laut Polizeimeldung vom 18.5. mehrmals lautstark der Worte »Sieg Heil« und »Heil Hitler«. Gegen beide wurden rechtskräftige Haftbefehle wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen erlassen. UA: Staatsschutz beim III. Weg Wie die Nazis selbst berichten, versuchte der Memminger Staatsschutz am 2.6. eine Gefährderansprache aus Anlass Some rights reserved. Am 6.7. wurde der ehemalige Sänger der als kriminelle Vereinigung verbotenen Naziband »Landser« in Murnau festgenommen, weil er einen als Taschenlampe getarnten Elektroschocker mit sich führte. »Lunikoff«, mit bürgerlichem Namen Michael Regener, war auf dem Weg zu einem »Liederabend« im Neonaziladen »Hobbyland/Versand der Bewegung« des NPD-Kaders Matthias Polt. Als »Lunikoff Verschwörung« sollte Regener hier Auftreten. Die etwa 40 Gäste der Veranstaltung sollten wohl auch helfen, die immer wieder von Unbekannten verursachten Schäden am Sortiment und Gebäude des Naziladens finanziell aufzufangen. KF: Volksverhetzende Annonce Laut einer Polizeimeldung wurde am 18.7. im (wie der Marktleiter bestätigt) Kaufland in der Mauerstettener Straße eine Anzeige mit »fremdenfeindlichen Äußerungen« aufgehängt. Ermittelt werde wegen Volksverhetzung und verrönscht und zugenetzt! #06 3 / 28 übler Nachrede. Letzteres weil die Annonce fälschlicherweise im Namen einer Firma aufgegeben worden sein soll. Zum Inhalt will sich die Polizei nicht äußern. Outing: Stefan Sch. aus Krumbach Laut einem Artikel auf linksunten.indymedia.org wurde der Neonazi Stefan Sch. am 20.7. von Antifaschist_innen in seiner Nachbarschaft in Krumbach geoutet. Sch. sei Mitglied bei Voice of Anger und sei 2014 in Nienhagen auf »einem großen faschistischen Konzert« gewesen. Seine Emailadresse enthielte einen Szenecode für Heil Hitler und er betätige sich »neben seinem Hauptjob« als Vertriebspartner eines Internetund Telefonanbieters. KE: Hitlergruß auf Festwoche Ein 23-jähriger Kemptener zeigte während des ersten Wochenendes auf der Festwoche einen Hitlergruß, legte mit Zeige- und Mittelfinger einen passenden Bart an und rief »Sieg Heil«. Bad Wörishofen: Flüchtlinge »gefährden Existenzen« Wie Augsburger Allgemeine am 28.8. berichtet, lehnt Paul Gruschka (FW), Bürgermeister Bad Wörishofens, ein Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in seiner Stadt ab. Begründung: Das könne »den Kur- und Tourismusbetrieb weiter gefährden«. Es könne nicht sein, dass durch die Geflüchteten Existenzgrundlagen gefährdet würden. Wertingen: Angriff auf Asyl-Unterkunft Unbekannte haben in Wertingen am 29.8. gegen 2:45 Uhr eine AsylUnterkunft attackiert. Einer der beiden warf eine Fensterscheibe mittels eines Steins ein. Die beiden brüllten »die sehr oft verwendeten Parolen wie ›Deutschland den Deutschen oder Sch... Asylanten‹«, wie die Polizei mitteilt. MM: NPD-Propaganda Ende August/Anfang September wurde in Amendingen/Memmingen ihr rassistisches Pamphlet »Iller Günz Blättle« verteilt. Die Herausgeber bezeichnen es als »das eigene Mitteilungsblatt des NPD-Kreisverbands NeuUlm/Günzburg«. Bregenz: Attacke auf Asyl-UK und Schussabgabe https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Ein 27-Jähriger ist am 1.9. in eine Bregenzer Asylunterkunft eingedrungen und hat den Inhalt eines Feuerlöscher versprüht. Am Folgetag soll er aus einem Fenster auf Fußgänger geschossen haben, woraufhin er festgenommen wurde. Die Polizei findet trotz behördlichem Waffenverbot einen selbstgebauten Lauf und verschiedene Kaliber Munition. Als Motiv für die Randale in der Asylunterkunft benennt die Vorarlberger Landespolizeidirektion Fremdenfeindlichkeit. Seine Einstellung trage der Bregenzer »offen zur Schau«, sonst gebe er sich zu den Tatvorwürfen verschlossen. Auf Nachfrage hat die Polizei keine Erkenntnisse über eine Zugehörigkeit zu einer rechten Gruppierung des Festgenommenen, der sich nun wegen eines Vergehens nach dem Waffengesetz, Sachbescädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und schwerer Körperverletzung verantworten muss. MM: Hakenkreuz und SS-Runen Am Wochenende 4.-6.9. wurde ein Straßenschild In der Neuen Welt (MMAmendingen) mit einen Hakenkreuz und zwei SS-Runen beschmiert. Bad Wörishofen: Nazis greifen Bürgermeister-Argumentation auf Die als Ersatzstruktur für das verbotene neonazistische FNS genutzte Partei Aktuelles »Der III. Weg« berichtet auf ihrer Homepage von ihrer Anwesenheit am 16.9. auf einer »Asyl-Propaganda-Show in Bad Wörishofen«, bei der sie ihre rassistischen Flugblätter verteilt haben wollen. Die Neonazi-Partei greift die Aussagen des Bürgermeisters (siehe oben) auf: »Es könne nicht sein, dass durch diese überproportional hohe Anzahl an Flüchtlingen und Asylbewerbern Existenzgrundlagen, die auf Kur und Tourismus ausgerichtet sind, gefährdet werden.« Der Bericht beschwert sich über die »deutschfeindlichen Ausführungen von Thomas Maier, dem Dienststellenleiter der PI in Bad Wörishofen.« Demnach meine dieser, mensch solle vor Fremdenfeindlichkeit und den »betrunkenen Deutschen in den Bierzelten Angst haben«. In Bad Wörishofen wohnt der Partei-Aktivist Stefan Friedmann. Riedlingen: Brand und Hakenkreuze an Asyl-UK Die Pforzheimer Zeitung berichtet davon, dass am 19.9. früh morgens an einer Flychtlings-Unterkunft in Riedlingen (Lkr Biberach) zwei Mülltonnen in Flammen aufgingen und Hakenkreuze und rechte Parolen geschmiert wurden. Bei den Parolen handelt es sich laut der Ulmer Polizei um »Sieg Heil« und »Refugees go home«, letztere allerdings in unkorrekter Rechtschreibung. Auch die acht Hakenkreuze an drei Seiten des Gebäudes verrönscht und zugenetzt! #06 4 / 28 seien sämtlich falsch herum angebracht worden. MM: Hakenkreuz Laut Polizei wurde in der Nacht vom 19. auf den 20.9. »zwischen 22 Uhr und 04.10 Uhr ein Hakenkreuz auf die Kreisstraße MN 19« bei Woringen (Bad Grönenbach Richtung Memmingen) »quer über einen Fahrstreifen« aufgebracht. Benutzt worden sei ein Farbmarkierungsspray. Burgberg: Hakenkreuze In Burgberg bei Sonthofen wurden am 26.9. hinter der Sporthalle zwei Hakenkreuze entdeckt, die dort ins Gras gebrannt wurden. Laut Polizei waren die von Unbekannten angebrachten Zeichen circa 40 mal 40 und 100 mal 100 cm groß. Oberteuringen: Brandstiftung an Asyl-UK Am frühen Morgen des 29.9. wurde gegen 4:50 Uhr ein Brand an der Außenfassade einer noch unbewohnten Geflüchtetenunterkunft in Oberteuringen (Bodenseekreis) gelegt. Wie Polizei und Staatsanwaltschaft mitteilen wurden Spuren eines Brandbeschleunigers gefunden und eine zwölfköpfige Ermittlungsgruppe eigens gegründet. H TERMIN Der NSU-VS-Komplex: Panne oder Vorsatz? Vortrag am Freitag, 23. Oktober 2015, 19 Uhr mit Wolf Wetzel im react!OR, Frühling Str. 17, Kempten Sebastian Lipp, Antifa, Termin, NSU, Verfassungsschutz, Prozess | Der Prozess zur Aufklärung der Terror- und Mordserie des NSU läuft nun seit über zwei Jahren. Ein Ende ist nicht absehbar. Die Anklageschrift geht bis heute von der ›Erkenntnis‹ aus, dass der NSU Some rights reserved. aus drei Mitgliedern bestanden habe, die letzte Überlebende säße auf der Anklagebank: Beate Zschäpe. Die zweite Gewissheit der Anklagevertretung besteht darin, dass der NSU eine hoch konspirative Zelle gewesen sei und keine strukturellen Verknüpfungen zu anderen neonazistischen Gruppierungen (Blood & Honour, Combat 18 usw.) unterhalten hätte. Verbindungen und Übereinkünfte, die auch im Kontext der Terror- und Mordserie genutzt und wirksam wurden. Die dritte Gewissheit besteht darin, dass staatliche Stellen in keiner strafrechtlichen Weise darin verwickelt sind, weder am Aufbau dieser terroristischen Struktur (durch V-Leute z.B.), noch an der Nicht-Aufklärung der Terror- und Mordserie (z.B. durch falsche und unterschlagene Spuren, die zu den Tätern geführt hätten). Bekanntlich gibt es zahlreiche Bedenken zu diesen Ermittlungserkenntnissen. In dieser Veranstaltung geht es nicht dar- um, dass man auch eine andere Meinung haben darf. Es geht vielmehr darum, dass diese ›Ermittlungserkenntnisse‹ vorsätzlich falsch sind. Dazu braucht man weder obskure noch waghalsige Annahmen. Zu diesem Schluss kommt man, wenn man exakt jene polizeilichen Ermittlungsstandards anwendet, die an fast jedem Tatort außer Kraft gesetzt wurden. Der Autor und Journalist Wolf Wetzel wird dies anhand zentraler Punkte im NSU-Komplex belegen. Eine Veranstaltung des Kurt-EisnerVereins in Kooperation mit dem Antirassistischen Jugendaktionsbüro. Die Ergebnisse der dreijährigen Recherche des Referenten finden sich auch in seinem Buch: »Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf?« Der Band wurde in vruzt #04 besprochen und ist nun in der dritten aktualisierten und erweiterten Auflage beim Unrast Verlag erschienen. H https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Aktuelles verrönscht und zugenetzt! #06 5 / 28 ANTIFA »völliger Unsinn« Außer dem Vorfall in Immenstadt, bei dem Neonazis ein Zeichen der Solidarität mit Flüchtlingen zerstörten und faschistische Aufkleber verlebten gäbe es »keinerlei fremdenfeindliche Aktivitäten«, sagen die Polizeichefs von Kempten und Immenstadt, wie die AZ am 26.8. berichtet. Diese Aussage ist völliger Unsinn. Sebastian Lipp, Antifa | Leser_innenbrief zu: Keine Sicherheitsprobleme, in: AZ 26.8.2015 Es wäre eine (peinliche) Sache, wenn das zuständige Präsidium Schwaben Süd West von entsprechenden Aktivitäten nichts wüsste. So musste deren Pressesprecher kürzlich einräumen, dass die Kripo vor Veröffentlichung einer unabhänigen Recherche über die Aktivitäten der neonazistischen und rassistischen völkischen »Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung« in einer Immobilie im Allgäu keine Ahnung hatte. Das Haus ist im Besitz von Anton Pfahler, einst »Offizier« der paramilitärischen »Wehrsportgruppe Hoffmann« und früherer Aktivist der neonazistischen in- zwischen verbotenen »Wiking-Jugend«. Über weitere Kontakte der »Artgemeinschaft« in militante rechte Kreise bis hin zum NSU wird berichtet. Etwas völlig anderes allerdings ist es, wenn solche Behauptungen wider besseren Wissens kolportiert werden. Erst am 16. April diesen Jahres durchsuchte die Polizei bundesweit 16 Objekte wegen eines Tonträgers: »Ein Haus, halb explodiert, eine Frau war’s, eine Neonazifrau. Und weil die Frau für uns alle Vorbild ist, wallfähren wir die nächsten Jahre zu dem Haus, dass sie mir nichts dir nichts kaputt gemacht hat und wir, wir huldigten ihr, der hübschen Nazimaus.« Der Bezug auf Beate Zschäpe und den NSU ist unverkennbar. Betroffen von der Durchsuchung ist das Label »Oldschool Records« in Bad Grönenbach, das die CD produziert und vertreibt. Mit weiteren Verfahren wegen Volksverhetzung und dem Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen beschäftigt sich die Allgäuer Polizei aktuell, die NPD berichtet von einem Infostand in Kaufbeuren (»Asylanten von der Straße jagen«) und einem in Memmingen. Und dieser Auszug kann längst nicht alles sein: Laut bayerischem LKA meldete das Präsidium 213 extrem rechte Straftaten für das Jahr 2014 im Bereich Schwaben Süd West, Nachmeldungen nicht eingeschlossen. Diese Zahl wird wenigstens seit 2010 jedes Jahr größer. Von »keinerlei fremdenfeindliche Aktivitäten« kann also nicht die Rede sein. H AKTION Erfolgreiche Aktionsfahrt: »Freie Fahrt für alle: Nulltarif im öffentlichen Personenverkehr!« Direct-Action nach Bilderbuch: Mit einer 30-stündigen Aktionsserie haben einige Aktivist_innen eine Debatte angezettelt um den Unsinn des Bestrafens von Schwarzfahrer_innen, von Fahrkarten überhaupt und gleich noch für eine andere Verkehrspolitik geworben. Start war in Kempten, es folgte eine erste AktionsZugfahrt nach München, dort Aktionen, Demos und ein Strafprozess. Die nachfolgende Aktions-Zugfahrt nach Frankfurt war am aufreibendsten, aber nötig. Denn am 3.3. ging es - wieder per Aktionszugfahrt - nach Gießen und dem Prozess dort Richtig toll: Unabhängig organisierten Aktivist_innen abends eine weitere Aktionszugfahrt ab Göttingen. Nach einem Tag Pause folgte am 5.3.2015 in Gießen dann noch ein weiterer Strafprozess. k.o.b.r.a., Repression, Aktion, Verkehr | Dieser Arti- kel erchien auch auf Indymedia1 . Dort ist eine Vielzahl weiterer Berichte und Pressereaktionen neben weiterführenden Infos verlinkt. Der Hintergrund: Mobilität für alle & Nulltarif in Bussen und Bahnen - weg mit dem Autowahn! Es ging von Anfang an um mehr als »nur« die Kritik an der Kriminalisierung des Fahrens ohne Ticket. So wurde auf dem dann während der Aktion genutzten Flugblatt. Dort wurde das gesamte Fahrkartensystem und überhaupt die Unterwerfung der Mobilität unter Kapitalzwänge kritisiert. Auszug: • Wer sich kein Ticket leisten kann oder will, tut das oft aus Mangel an Geld. So sind die arm gehaltenen Menschen weniger unterwegs, leben sozial isolierter und sind in ihren Möglichkeiten erheblich eingeschränkt. Für Menschen mit sehr wenig Geld bleibt nur die Qual der Wahl zwischen Schwarzfahren oder dem Verzicht auf Fortbewegung. • Wenn etwas richtig viel Geld verschwendet, dann das Fahrkartenwesen selbst. Ungefähr ein Fünftel der Einnahmen werden von Buchhaltung, Automaten, Preisberatung, Kontrollen und der Werbung für Fahrkarten aufgefressen. Dabei sind die Kosten für Gerichtsverfahren und Gefängnisse noch gar nicht mitgerechnet. Fazit: Wenn Sie mit Ticket in einer Bahn sitzen, neben Ihnen jemensch schwarz fährt oder sein_ihr Ticket teilt, dann ist Ihr Fahrpreis dadurch nicht höher geworden. Stattdessen müssen Sie aber nicht die Kontrolleur _innen mitbezahlen, sondern den_die Kontrolleur_in. • Es geht auch anders! Wir fordern eine Abkehr vom Fahrkartenwesen. Mobilität ist Menschenrecht. Daher: Nulltarif für alle! Fahrpreise halten Menschen davon ab, den öffentlichen Verkehr zu nutzen. Würden jedoch mehr Menschen Busse und Bahnen nutzen, müssten mehr Linien in dichterem Takt fahren - auch in abgelegene Bezirke und Regionen. Das wäre doch gut, oder? Das verbessert die Mobilität für alle. Und hat noch weitere Vorteile: • Freiflächen und sichere Aufenthaltsräume in Dörfern und Städten verschwinden durch den massiven Autoverkehr. Wenn mehr Menschen mit Bussen und Bahnen unterwegs sind, könnten Tiere, Kinder oder Erwachsene viele der bisher für den Autoverkehr genutzten Parkplätze und Straßen zurückerobern als ruhige und kreative Spiel-, Flanier-, Erholungsoder Gestaltungsräume direkt am Wohnort. 1 https://linksunten.indymedia.org/de/node/136745 Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 • Ob Millionär_in oder HartzIV das Ticket von A nach B kostet für beide gleich viel. Ist das nicht völlig ungerecht? Mit einem Nulltarif können alle Menschen in gleicher Weise mobil sein. Der Anlass: Prozessserie gegen Schwarzfahrer (trotz Hinweisschild) Geboren wurde die Idee der Aktionstage aber durch den Versuch des Staates, ein Schlupfloch zu schließen, mit dem Schwarzfahren straffrei war - jedenfalls nach Gesetzestext, einschlägigen Kommentaren und höchstrichterlichen Urteilen. So fuhren etliche Menschen schon länger mit offener Kennzeichnung ohne Ticket - und nutzten das noch zu Werbung für ein Nulltarifsystem im öffentlichen Personenverkehr. Entsprechende Erklärungen standen immer wieder auf den Schildern, die die Freifahrer_innen an Jacke, Hut oder an anderen Stellen befestigten und die oft hohe Aufmerksamkeit erregten. Doch Verkehrsunternehmen, viele Kontrolleur_innen (aber längst nicht alle ...), Staatsanwaltschaften und Gerichte rückten mit vereintem Potential gegen die kreativen Schwarzfahrer_innen an. Es kam zu Prozessen und extrem unterschiedlichen Urteilen, bei denen allerdings alle anerkannten: Im Prinzip ist gekennzeichnetes Schwarzfahren tatsächlich straffrei, nur in diesem Ausnahmefall und blablabla ... (jede_r Richter_in dachte sich irgendwas Besonderes und Unvorhersehbares aus) irgendwie doch nicht. Allein das Amtsgericht Eschwege stellte das Naheliegende und einfach Erkennbare fest: Freispruch - wegen Schild. Der Angeklagte hat zwar eingeräumt, jeweils den Zug der Cantus Verkehrsgesellschaft benutzt zu haben, ohne im Besitz des erforderlichen Fahrscheins gewesen zu sein. Seine Einlassung, dass er jedoch in allen 3 Fällen vor Fahrtantritt deutlich sichtbar einen Zettel an seine Kleidung geheftet hatte mit der Aufschrift »Ich fahre umsonst« war nicht zu widerlegen. Damit hat er allerdings gerade offenbart, kein zahlungswilliger Fahrgast zu sein, weshalb bereits der objektive Tatbestand des § 265 a Abs. 1 StGB nicht erfüllt ist. (Aus dem Freispruch des Amtsgerichts Eschwege vom 12.11.2013) Überall anders führten die Verfahren mit abstrusen Begründungen zu Verurteilungen und wanderten durch Instanzen. Noch hat kein höheres Gericht darüber entschieden, dort aber würde es Aktuelles wohl spannend werden. In München wurde im Laufe der Aktionstage das Verfahren am Landgericht zwar eingestellt, aber selbst der Staatsanwalt bedauerte dort, dass es doch eigentlich mal interessant gewesen wäre, die Rechtsfrage des Schwarzfahrens mit Kennzeichnung genauer juristisch zu prüfen (keine Angst: das wird kommen!). So versuchten die Schwarzfahris mit Hinweisschild, alles mehr in die Öffentlichkeit zu bringen. Das Fahren selbst war schon auffällig, nun sollten die Prozesse genutzt werden. Erstmals gelang das mit dem Prozess beim Amtsgericht Starnberg. Der Prozess wurde intensiv in den Medien dargestellt. Danach überlegten einige Betroffene und Interessierte, mit den Mittel einer Mischung verschiedener Aktionsformen das Thema stärker nach außen zu tragen. Was dabei herauskam, war eine Aktionsserie mit drei Strafprozessen, inhaltlicher Vermittlung und mehr ... Der Ablauf im Kurzprotokoll Teil 1: Start war am Montag, 2.3. um 10.32 Uhr in Kempten/Allgäu mit der Aktionszugfahrt nach München, Flyern, Auseinandersetzungen mit Schaffner_innen, aber dennoch Aktion in allen Teilen des Zuges. Kurz vor Pasing erklärte die inzwischen im Zug aufgelaufene Polizei die Festnahme. Eine geplante Räumung in Pasing wurde aber abgesagt, stattdessen folgten 40min Polizeikessel im Hauptbahnhof. Die Aktivistis machten weiter: Demo durch den Hauptbahnhof, dann in der U-Bahn-Unterwelt. Der nächste Kessel entstand, diesmal durch MVG-Leute, am Ausgang der U-BahnStation Stiglmaierplatz. Später erreichten alle das Landgericht. Dort stand der Prozess gegen Dirk Jessen an - zweite Instanz (Berufung) wegen Schwarzfahrens mit Schild. Das Flyerverteilen auf den Gerichtsfluren wurde nach einiger Zeit untersagt: »Sie dürfen hier keine Flyer verteilen ... jedenfalls keine in die Richtung«, sprach ein Justizwachtmeister - eine der vielen Stilblüten des Tages. Dann der Prozess. Jörg B. wurde als Verteidiger zugelassen, zu zweit kämpfte es sich mit offensiver Prozessführung schon ganz gut gegen die Justizmacht. Das Ergebnis: Eine Einstellung, also Abgang ohne Verurteilung. Teil 2, der anstrengendste: Aktionsschwarzfahrt Richtung Gießen, wo am Folgemorgen der nächste Schwarzfahrprozess anstand. Die Tour gestaltete sich stressig. Einige Kontrolleure versuchten sogar mit körperlicher Gewalt, die Aktionsgruppe im Zug zu behindern. Wortgefechte bis und großes Polizeiaufgebot in Nürnberg. Zwangsweiser Ausstieg, aber gute Stimmung auf beiden Seiten. Mehrere Polizeibeamt_innen wollten Fotos machen von der Gruppe, die Info von Aktion und Nicht-Verurteilung war inzwischen rum. Die Gruppe war prominent in Radio, Pressemitteilungen und verrönscht und zugenetzt! #06 6 / 28 internen Polizeikanälen vertreten. Höhepunkt: Die Bundespolizei gab eine Warnmeldung2 (natürlich mit ziemlich willkürlicher Rechtsauslegung) heraus - das hat sicherlich selten so schnell eine MiniAktionsgruppe geschafft. Direct Action zeigte hier, warum sie den Latschdemos und langweiligen Durchschnittsaktionsformen deutscher Protestbewegungen überlegen ist. Im nächsten ICE nach Würzburg folgte das gleiche Spiel, wenn auch nicht ganz so aggressiv. Einen Zug später traf die Aktionsgruppen dann auf einen richtig netten Kontrolleur, der die Kritik an der Firmenpolitik der Bahn teilte - kein Wunder, er ist ja schließlich auch eher ein Opfer. Bahnchef Grube hatte vier Tage vorher als Hauptziel der Bahn rausgegeben, ein berechenbarer Partner am Kapitalmarkt zu sein. Personenbeförderung wird zur Nebensache im Kapitalismus, Profitinteresse dominieren. Weiter als bis Frankfurt klappte das Zugfahren dann nicht mehr. Es folgten wenige Stunden Schlaf bei Unterstützer_innen in der Mainmetropole. Teil 3: Früh morgens ging’s dann mit Flyern, Diskutieren und Schwarzfahrkennzeichnung nach Gießen. Keine Probleme unterwegs. Demo im Bahnhof Gießen und durch die Stadt. 9.30 Uhr startete der Prozess gegen Jörg B. Nach knapp 30min brauchte er das Verfahren mit Anträgen zum Abbruch. Außer dem Aufruf der Sache war genau nichts passiert. Vom Gericht zum Bahnhof ging’s nochmal als Demo zurück und dann auf die letzte Aktions-Schwarzfahrt nach Saasen mit dem gewalttätigsten Schaffner (HLBBediensteter), dessen Freiheitsberaubung nur per Notbremse zu stoppen war. Ein Tag und zwei Nächte Pause für die Aktionsgruppe, die nun in der Projektwerkstatt den 5.3. vorbereitete. Teil 4: Dafür wurden andere aktiv. Von Göttingen aus fuhr eine kleine Gruppe offensiv schwarz und verteilte einen eigenen Flyer. Teil 5: Am 5.3. fand der zweite Prozess in Gießen statt. Er war sehr kurz. Der Angeklagte Jörg B. stellte sofort einen Befangenheitsantrag gegen Richter Nink. Der hatte ihn 2009 für eine Feldbefreiung sechs Monate hinter Gitter geschickt und die hohe Strafe unter anderem mit der staatskritischen Einstellung des Aktivisten begründet. Diese offensichtlich politische Justiz war zentraler Punkt der Richterablehnung. Nink brach den Prozess ab, ließ sich aber noch auf eine halb juristische, halb politische Debatte mit dem Angeklagten ein. Das könnte noch spannend werden... Reaktionen Das Presseecho war gewaltig. Hier waren nur sehr wenige Aktivistis unterwegs - aber eben in einer gut vorbereiteten, gleichzeitig spektakulären als auch inhaltsreichen Aktion. Es war endlich mal wieder eine richtig gute DirectAction: Erregung schaffen, Inhalte ver- 2 http://www.presseportal.de/polizeipresse/pm/64017/2962446/bundespolizeidirektion-muenchen-bundespolizei-warnt-schwarzfahren-mit Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 mitteln, widerspenstig sein, Menschen direkt ansprechen, Konkretes und Utopisches fordern. An verschiedenen Ecken brandeten juristische Debatten auf, z.B. in der taz und auf einem Jurablog (wo leider Beiträge der Aktivistis zensiert werden - offenbar möchten sich selbsternannte Rechtsexperten mit solchen Leuten nicht abgeben). Ganz schlecht, fast peinlich, aber andererseits leider auch trostlos üblich war das Verhalten der etabliert-verkrusteten Teile politischer Bewegung mit ihren starren Apparaten. Rechtshilfeorganisationen und Umweltverbände wurden vorher angesprochen. Reaktion: Null. Das ist typisch. Die Apparate und schwerfälligen Hierarchien haben gar kein Interesse, dass die Menschen selbst Aktionen machen. Die sollen spenden, Mitglied werden, Anwält_innen finanzieren und sonst die Klappe halten. Solche Strukturen braucht politischer Widerstand nicht. Sondern mehr Menschen, die ihre Ideen entwickeln, sich Knowhow aneignen und agieren. Richtig grausam ist inzwischen der Widerstand aus Rechtshilfegruppen gegen die offensive Prozessführung. Denn diese stellt sich immer deutlicher als die politisch interessantere und juristisch er- Antifa folgreichere Strategie heraus. Wenn Rote Hilfe & Co. (zum Glück dort nicht alle!) davon nicht nur abraten, sondern richtig Druck ausüben, das nicht zu tun, so helfen sie der herrschenden Politik, den Repressionsapparaten und schaden den politischen Akteur_innen. Offensive Prozessführung hat im Laufe der vier Tage Aktionen einen Prozess zur Einstellung gebracht und zwei zum Absturz. Gute Quote - lohnt sich! Mehr davon, egal was die verkrusteten Bewegungsführungen sagen! Wie weiter? Viele weitere Aktionen sind möglich, unter anderem die Idee kleinerer Aktionsschwarzfahrten an verschiedenen Orten (z.B. bei einer Station einsteigen, flyern und informieren, wieder raus). Wie wäre es, wenn Leute, die sowieso schwarzfahren, das künftig mit Kennzeichnung, offensiv und mit Flyern machen? Und die, die vor Gericht stehen, daraus Aktionen machen? Wer beteiligt sich an einer Massenzeitung, die als bunter, inhaltsreicher Flyer überall eingesetzt werden kann? Wo laufen noch Prozesse? Wer macht darauf Aktion? In Gießen gehen die beiden Prozesse ohnehin weiter. Wichtiger als Mitlatschen oder Zugucken ist Selbermachen! Sicher ist wohl auch: Es wer- verrönscht und zugenetzt! #06 7 / 28 den nicht die einzigen Prozesse bleiben und am Ende dürften ohnehin Revisionsoder sogar Verfassungsgericht darüber entscheiden, ob provinzielle Richter_innen so einfach mit ihren Urteilen unter Strafe stellen können, wofür es keine gesetzliche Grundlage gibt. Unabhängig davon wäre es schön, die Kampagnen für Fahrkarten-Teilen, pinke Punkte, Nulltarife in Kommunen usw. wieder in Gang zu bringen. Die sind vielfach eingeschlafen. Kreative Aktionsformen können helfen, das Thema nochmals auf die politische Agenda zu bringen - als Ende des Nazi-§265a und als Beginn des Freifahrens in Bussen und Bahnen. H RECHERCHE Allgäu: Nazi-Immobilie mit Terror-Verbindungen Das Beispiel eines von Neonazis genutzten ehemaligen Landgasthofs im schwäbischen Rieggis zeigt deutlich, wie in Bayern mit rechten Immobilien umgegangen wird: Verschweigen und Wegschauen, oft über Jahre und Jahrzehnte. Eine Recherche von Robert Andreasch und Sebastian Lipp; zuerst erschienen bei a.i.d.a. Sebastian Lipp, Antifa, Recherche, Terror, NSU, Wehrsportgruppe | Verschweigen und Wegschauen München, 30 Juli 2015: Die Landtagsabgeordnete Katharina Schulze hat Anfang Juli eine schriftliche Anfrage über »von Rechtsextremisten genutzte Immobilien in Bayern« eingereicht. Jetzt ist die Bayerische Staatsregierung am Zuge, Zahlen und Details zu nennen. Zum Vergleich: Im Mai 2013 schrieb die Bundesregierung auf eine SPD-Anfrage zu »Rechtsextremismus im ländlichen Raum« hin von 260 Immobilien, die im Bundesgebiet »zu Veranstaltungszwecken der Rechtsextremen- und Neonaziszene genutzt werden«. 26 dieser Häuser lägen in Bayern. Das ist jetzt gewissermaßen die Messlatte für das bayerische Innenministerium. Die Landtagsanfrage der Grünen-Politikerin Schulze beantwortet der Staatssekretär Gerhard Eck: Er nennt erstens das Ladengeschäft des »Versands der Bewegung« in Murnau und zweitens den zeitweise an die neonazistische Partei »Die Rechte« überlasSome rights reserved. senen ehemaligen Gasthof in der Winzerstraße von Kolitzheim-Stammheim. Mehr nicht. Zwei statt 26. »Mit Ausnahme der zuvor genannten Objekte in Kolitzheim und Murnau«, so schreibt der Staatssekretär, »gibt es in Bayern keine Immobilie, die von Rechtsextremisten über bloße Wohnzwecke hinaus wiederholt und in größerem Ausmaß für politische Zwecke genutzt wird.« Und lobt sein Ministerium gleich mit: »Dies ist auch auf die konzertierten Aktionen der bayerischen Sicherheitsbehörden im präventiven und repressiven Bereich zurückzuführen«. An der Wirklichkeit geht das meilenweit vorbei. Was ist beispielsweise mit dem Gebäude in der Münchner Paosostraße, in dem seit Jahrzehnten die »Nationalzeitung« produziert wird? Was mit der völkischen Siedlung »Dorflinde« in Pöttmes? Warum wird die Villa in Tutzing nicht erwähnt, in der »Bund für Gotterkenntnis - Ludendorff« sich seit 70 Jahren versammelt? Was ist mit Neonazizusammenkünften im alten Schulhaus von Feilitzsch-Unterhartmannsreuth? Warum sind die Immobilie des neonazistischen »Wikinger-Versands« in Geiselhöring oder die Verlagsräume rechter Publizistik in Bayern, z. B. des “Druffel und Vowinckel”-Verlags in Gilching, nicht aufgeführt? Warum fehlen Burschenschaftshäuser, in denen extrem Rechte und Neonazis Veranstaltungen besuchen, wie in der Erlanger Loewenichstraße oder der Münchner Möhlstraße? Die »Artgemeinschaft« in der »Alten Sennküche« Eine von Neonazis genutzte Immobilie in Bayern, die das Innenministerium auch nicht nennt, befindet sich im Allgäu: Im schwäbischen Rieggis, abgelegen in den Hügeln zwischen Kempten und Immenstadt, besitzt Anton Pfahler (Sinning) den ehemaligen Landgasthof »Alte Sennküche« in der Ortsmitte. Das Haus ist gut in Schuss, das Grundstück über 1400 Quadratmeter groß, zeitweise betrug der Versicherungswert des Ensembles fast eine Million Euro. Das Anwesen in Rieggis ist nicht die einzige Immobilie im Besitz von Pfahler, einst »Offizier« der paramilitärischen »Wehrsportgruppe Hoffmann« und früherer Aktivist der neonazistischen »Wiking-Jugend«. Pfahler ist auch am völkischen Siedlungsprojekt in EchsheimPöttmes beteiligt. Und sein Gelände im https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 oberbayerischen Oberhausen-Sinning bei Neuburg an der Donau vermietete er in den Jahren 1998 bis 2000 an den »Deutsche Stimme«-Verlag der NPD sowie an zahlreiche bekannte Neonazis aus dem In- und Ausland. Bei einer Razzia im Juni 1998 fanden Polizeibeamt_innen dort Maschinenpistolen, Sturmgewehre, Handgranaten, Munition und Tretminen. Im Oktober 1999 wurde Anton Pfahler wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffengesetzes zu drei Jahren und acht Monaten Haft veruteilt. Gegen die braunen Umtriebe von Pfahler und Co. entstand damals vor Ort die vielbeachtete »Sinninger Initiative gegen rechts« und ein breites antifaschistisches Bündnis. In der Allgäuer Gemeinde Niedersonthofen-Waltenhofen, zu dem das Pfahlersche Anwesen in Rieggis gehört, regte sich bisher kein Protest. Pfahler hat den Gasthof an Bernd Burger und dessen Ehefrau verpachtet und liess in den Jahren 2011 bis 2014 für die Familie der Pächter_innen (Teil-) Wohnrechte und Nutzungsrechte ins Grundbuch eintragen. Bernd Burger ist der »erster stellvertretender Leiter« der »Artgemeinschaft«. Im nahegelegenen Kempten wird das Postfach des »Asatru-Buchdienstes« der »Artgemeinschaft« eingerichtet. Der Versand bietet NS-Autoren wie Hans F. K. Günther, völkische Literatur (»Von der christlichen Moral zu einer biologisch begründeten Ethik«) und Neonazibücher wie »Jürgen Rieger - Anwalt für Deutschland« zum Verkauf an. Der völkische Sippenverband Abseits einer fehlenden öffentlichen Aufmerksamkeit ist die seit 1951 bestehende »Artgemeinschaft« in der radikalen Rechten von hoher Bedeutung. Vor allem unter dem Vorsitz des Hamburger Neonazis Jürgen Rieger (1989-2009) fand die »Artgemeinschaft« engen Anschluss an den militanten Neonazismus. Norddeutsche Wehrsport-Aktivisten, Funktionär_innen der »Heimattreuen Deutschen Jugend« (HDJ) sowie Anführer von »Blood&Honour« aus Norddeutschland tummelten sich dort in den vergangenen Jahren. Andrea Röpke veröffentlichte vor zwei Jahren im OnlineInformationsdienst »blick nach rechts« ihre Recherchen über enge Verbindungen der »Artgemeinschaft« zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU): »Sogar einer der Angeklagten im Münchener Verfahren gegen die braune Terror-Zelle ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ (NSU), André E. aus Zwickau, beteiligte sich vor Jahren mindestens zwei Mal mit seiner Ehefrau sowie dem Zwillingsbruder mit Gemahlin an Treffen in Ilfeld. Susann E., die Frau des mutmaßlichen NSU-TerrornetzwerkUnterstützers bestellte beim Versand der Some rights reserved. Antifa ›Artgemeinschaft‹ Kleidung oder Utensilien. Als die ›Artgemeinschaft‹ sich noch in der Lüneburger Heide zu germanischem Sechskampf, Feuer und Schulungen traf, nahm auch die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe 1997 an einer so genannten ›Hetendorfer Tagungswoche‹ von Jürgen Rieger teil.« Nach dem Tod Riegers übernahm Axel Schunk aus dem bayerischen Stockstadt die Führung. Schatzmeisterin war (Stand: aktuelle Vereinsunterlagen, zuletzt eingereicht für 2012) Ute R. aus dem bayerischen Schillingsfürst. In der Zeitschrift der »Artgemeinschaft«, der »Nordischen Zeitung«, erscheinen viele Artikel von NS-Wissenschaftlern und Artikel über nationalistische Dichter und Politiker. In den »Sippennachrichten« finden sich mit Runensymbolik versehene Todes-, Geburts- und Hochzeitsanzeigen aus den Reihen der mehreren hundert Mitglieder. Bei der »germanischen Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung« verschmelzen die Verherrlichung des Nationalsozialismus mit einem religiösen Überbau. Als Äquivalent zu einem christlichen Glaubensbekenntnis und den »Zehn Geboten« gilt in der »Artgemeinschaft« ein »Artbekenntnis« und »Sittengesetz«. Die antifaschistische Zeitschrift »Lotta« hat die Grundsätze der »Artgemeinschaft« in ihrer aktuellen Ausgabe (Juli 2015) analysiert: »Im Zentrum steht ein Ahnen und Rassenkult (...) die Formulierung ›die Menschenarten sind verschieden in Gestalt und Wesen‹ ist kaum verklausulierter Rassismus und ›ohne den Tod des Einzelwesenes sind die Arten nicht lebens- und entwicklungsfähig‹ faktisch eine Aufforderung zum ›race war‹«. Ahnungslose Behörden Wir fragen bei der lokalen Kriminalpolizei nach der »Artgemeinschaft«, doch die will von nichts wissen: »Im Zuständigkeitsbereich des Präsidiums Schwaben Süd/West sind keine Aktivitäten der ›Vereinigung Artgemeinschaft‹ bekannt«, schreibt der Polizeipressesprecher Christian Eckel zurück. Während unserer Recherche hat sich die Situation um die Immobilie da schon längst zugespitzt. Anton Pfahler machte zuletzt im Jahr 2011 Schlagzeilen, als er sich vor Polizeibeamten mit einer Ceska-Pistole in den Bauch schoss. Aktuell soll der 69Jährige schwerer erkrankt sein. Jedenfalls scheinen ihm seine Vermögenverhältnisse zu entgleiten, die »Alte Sennküche«, auf der seit 2011 eine sechsstellige Hypothek liegt, wird, das ist spätestens im Februar 2015 klar, zwangsversteigert werden. Die Ende Juli 2015 drohende Auktion erstreckt sich nach Gerichtsangaben - unabhängig von eventuellen, späteren Her- verrönscht und zugenetzt! #06 8 / 28 ausgabeforderungen - zunächst auch auf Zubehör, Bestandteile und Gegenstände im Gebäude. Ob man deswegen bei der »Artgemeinschaft« in Panik gerät? Fürchtet man den Verlust von Büchern und Schriften? Am 11. Juli 2015 kommt es jedenfalls zu einem Treffen in Rieggis: Aktivist_innen und Familien der Artgemeinschaft reisen aus dem ganzen Bundesgebiet (u. a. Berlin, Burgenlandkreis, Rosenheim) sowie aus dem österreichischen Salzburg an. Im Ort versuchen die Beteiligten erst gar nicht, sich zu verbergen. Offen prangen auf den Fahrzeugen die Aufkleber mit dem Symbol der »Artgemeinschaft«, auf denen der (germanische) Adler den (christlichen) Fisch fängt. Der »Buchdienst der Artgemeinschaft - GGG e. V.« hat sie für 2,50 Euro im Angebot. Die Männer in den bündischen Kniebundhosen müssen schwer schuften. Stundenlang schleppen sie schwere Pappkisten und Umzugskartons aus dem Haus und wuchten sie in die Fahrzeuge. Sie beladen einen kompletten 7,5 TonnerLkw, Kleinbusse und große Autoanhänger. Dass es sich bei dem schweren Kartons um Bücherkisten handelt, ist durchaus naheliegend. Dafür spricht auch eine Änderung auf der »Asatru«-Website wenige Tage später: die Kontaktadresse für den Buchdienst der »Artgemeinschaft« wechselt Ende Juli 2015 von Kempten nach Zeitz. Schluss jetzt?! Am 24. Juli 2015 findet am Amtsgericht Kempten vormittags der erste Zwangsversteigerungsversuch für die »Alte Sennküche« statt. Der Verkehrswert für das Gebäude mit Hauptwohnung, sechs Appartements und ehemaliger Gaststätte, für das Grundstück und eine Doppelgarage beträgt einem Gutachten zufolge 291 600 Euro. 114 836,85 Euro müssten mindestens als Gebot genannt werden. Auch einer der Männer, die vor zwei Wochen beim Rausschleppen der Kartons geholfen haben, setzt sich nun zu den Interessent_innen und Nachbar_innen im Publikum. Neonazis, Strohmänner oder -Frauen bieten zunächst nicht mit. Schließlich kommt kein Gebot zustande, das die Gläubigerbank akzeptiert, ein neuer Versteigerungstermin muss angesetzt werden. Sollten Neonazis oder für sie auftretende Personen auch beim zweiten Termin nicht zum Zuge kommen, könnte die von der »Artgemeinschaft« genutzte Immobilie von Rieggis vielleicht bald Geschichte sein. Am bayerischen Innenministerium oder an irgendwelchen »konzertierten Aktionen der bayerischen Sicherheitsbehörden im präventiven und repressiven Bereich« hat das dann aber nicht gelegen. H https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Antifa verrönscht und zugenetzt! #06 9 / 28 ANTIFA »Möglicher Amokläufer« verurteilt Ein 24-jähriger Weilheimer wurde zu einer Haftstrafe wegen Verstößen gegen das Waffengesetz und dem Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verurteilt. Der Verteidiger des Ex-NPDMitglieds hält ihn für einen »möglichen Amokläufer«. Seine Ärztin meint, »es ist der Wille, den Heldentod zu sterben.« Sebastian Lipp, Antifa, Prozess | »Notfalls hole ich mir meine Sachen mit Waffengewalt zurück.« Mehr hatte der 24-jährige während des ersten Verhandlungstages vor dem Weilheimer Amtsgericht nicht gesagt (bnr.de berichtete3 ). Was ihm genommen wurde, sind verschiedene NS-Devotionalien und Waffen. Unter Anderem einen SSTotenkopfring photographierte der Weilheimer und veröffentlichte ihn auf Facebook, weshalb er sich wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Verstößen gegen das Waffengesetz verantworten muss. Bei seiner Festnahme trug er laut Merkur.de4 eine durchgeladene Pistole am Gürtel, die er sich gekauft habe, »weil mir die an- deren Waffen weggenommen worden waren«. Damals, vor rund einem Jahr, besaß der Angeklagte als Sportschütze noch einen Waffenschein, der ihm ebenfalls genommen wurde. Der Prozess musste zur Einholung eines psychiatrischen Gutachtens unterbrochen werden. Das Ergebnis: »Der Angeklagte befinde sich zwar im Grenzbereich zu einer Persönlichkeitsstörung und an der Grenze zu einer schizophrenen Psychose, er halte ihn aber dennoch für schuldfähig, weil er in seiner Steuerungsfähigkeit nicht beeinträchtigt sei, so der Gutachter am zweiten Verhandlungstag.5 « Der Verteidiger versuchte dagegen über die Vernehmung der Ärztin des An- geklagten eine Schuldunfähigkeit zu belegen. Die Psychiaterin, die ihn in der Tagespsychiatrie in Peißenberg behandelt hatte, erklärte, ihr Patient sei besessen davon, die Hausdurchsuchung zu rächen, er wolle eine Bombe bauen und auf das Gebäude der örtlichen Polizei werfen und »den Heldentod sterben.« Trotzdem wurde er am 23.9., dem dritten Verhandlungstag, ohne Bewährung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Die Richterin sah in ihm eine »erhebliche Gefahr«. Weil er seine Flucht angekündigt hatte, wurde der »Waffennarr« direkt abgeführt. Rechtsmittel wurden eingelegt. H ANTIFA Neonazis zerstören Zeichen der Solidarität In der Nacht vom 21. auf den 22. Juli wurden in Immenstadt im Allgäu eine Reihe rassistisch motivierter Sachbeschädigungen begangen. Es wurden unter anderem an einer vor wenigen Tagen eröffneten Flüchtlingsunterkunft über 100 neonazistische Aufkleber verklebt, eine flüchtlingssolidarische Installation an einer evengelischen Kirche und ein Fahnenmast der örtlichen muslimischen Gemeinde zerstört. Die betroffene Gemeinde gewährte kürzlich zwei Kirchenaslyplätze. 1991 wurde in der Stadt ein Pfarrhof, in dem Flüchtlinge ungergebracht waren, angezündet. Sebastian Lipp, Antifa, Neonazis, Rassismus | Unbekann- te zerstörten den vor der Immenstädter Erlöserkirche aufgestellten Schriftzug »Menschlichkeit« und einen Fahnenmast der nahe gelgenen Moschee. An den beiden Tatorten und zusätzlich an der Flüchtlingsunterkunft und der Berufsschule verklebten die Täter wie sich aus einer Polizeimeldung ergibt insgesamt etwa 150 neonazistische Aufkleber: »Multikulti Nein Danke!«, »Todesstrafe für Kinderschänder!« oder »Nationaler Sozialismus ist wahre Demokratie!« etwa. Die Motive der »Heimattreuen Bewegung« machen die Motivation für die Taten klar. Diese Aktion sollte nicht unwidersprochen bleiben, weshalb die betroffene Kirchengemeinde noch am folgenden Abend eine Solidaritätskundgebung gegen Fremdenfeindlichkeit und in »Solidarität mit allen Asylsuchenden und Flüchtlingen« organisierte. Es fanden sich bis zu 150 Personen zu einer Kundgebung und Gebet. Ein Vertreter der Kirchengemeinde und der Bürgermeister ergriffen das Wort. Es gäbe »keinen Platz für Menschenfeindlichkeit, Hass und Rechtsradikalismus« in BayerischSchwaben. Aus dem Umstand, dass viele der Aufkleber von der lokalen Neonazitruppe »Bündnis Freies Allgäu« stammen lässt sich der Verdacht ableiten, dass diese für den rassistischen Ausbruch verantwortlich sind. Bereits 2012 fiel die Gruppe mit einer ähnlich ausgerichteten Aktion auf: In Immenstadt hängten sie in der Nacht vom 14. auf den 15. März ein Banner »Je mehr desto schlechter - Asylheim Immenstadt. BfA«, nachdem Bürger_innen gegen die Unterbringung protestierten und Unterschriften sammelten. Drei damals 19, 22 und 25 jährige werden in der Nähe mit einem weiteren BfA-Transparent aufgegriffen. Einen der drei ordnet die Polizei der »Skinhead-Szene« zu. Am Volkstrauertag 2013 gedachte die Gruppe ihren »Helden« aus dem zweiten Weltkrieg: »Opa war in Ordnung. Heldengedenken« Die angegriffene Kirchengemeinde will sich nicht nur mittels des zerstörten Schriftzuges aus hüfthohen Betonbuchstaben solidarisch mit Asylsuchenden zeigen. Im Mai gewährte sie zwei Frauen und einem Kind Kirchenasyl, um sie vor einer drohenden Abschiebung nach Italien zu bewahren. Es gibt aber auch andere Stimmen. Sowohl vor Ort auf der Kundgebung als auch prominent patziert auf dem Titel des Lokalteils der Allgäuer Zeitung. Hier formulierte der Mitarbeiter der Zeitung Peter Januschke seinen Standpunkt: »Tag für Tag das gleiche. Man könnte meinen, das öffentliche Leben dreht sich fast nur noch ums Thema Asyl. [. . . ] Und jetzt um Hetze und Rassimus.« Das sei neu in der Gegend. Er fragt, ob die Gesellschaft das durchstehe, »wenn immer noch mehr Flüchtlinge kommen?« Darüber wegzuschauen sei gefährlich. Januschke fragt weiter, was man einem Hartz-IV-Empfänger, der sich nur noch Leitungswasser leisten könne während »Asylbewerber übers Essen klagen« entgegenen könne. Solche Sichtweisen dürfe man - da ist dem Kommentar sicher recht zu geben - nicht ignorieren. Ohne eine qualifizierte Antwort und vor dem formulierten Hintergrund der Angst um den eigenen Wohlstand droht der Standpunkt Januschkes aber 3 http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/recht-gegen-recht 4 http://www.merkur.de/lokales/weilheim/weilheim/waffennarr-24-weilheim-gericht-5542441.html 5 http://www.merkur.de/lokales/weilheim/weilheim/waffennarr-weilheim-muss-gefaengnis-5569847.html Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 eher zur Stärkung der Täter als der Solidarität mit Geflüchteten beizutragen. 1991 waren Flüchtlinge in einem alten Pfarrhof in Immenstadt untergebracht. Dieser wurde bei einem Brand- Antifa anschlag am 13.10. völlig zerstört. Daran fühlten sich laut Pfarrer Ulrich Gampert, der zur Kundgebung einlud, viele Gemeindemitglieder erinnert. Zwei Kurden überlebten schwer verletzt, nachdem sie verrönscht und zugenetzt! #06 10 / 28 sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten konnten. Drei rechte Skinheads waren die Brandstifter. H AKTUELLES SS-Mörder Sören Kam tot Am 23.3.2015 verstarb in Kempten mit über 93 Jahren Sören Kam. Der Däne trat freiwillig der SS bei und erschoß mit zwei weiteren SS-Leuten 1943 einen den dänischen Journalisten J. H. Clemmensen im Rahmen einer »Säuberungsaktion«, bei der mindestens 125 Menschen ermodert wurden. Kurt Wirth, Antifa | Er war auch maßgeblich an der Vorbereitung der Deportation der dänischen Juden beteiligt (die sich allerdings nur als geringer Erfolg erwies, weil den meisten Juden die Flucht nach Schweden gelang). In Dänemark wurde er nach 1945 in Abwesenheit wegen Mordes verurteilt. Er hatte sich nach Deutschland abgesetzt, wo er zunächst unter falschem Namen lebte und ihn später der sog. »Führererlaß«, der auch in der BRD weiterhin Gültigkeit hatte, lange Jahre vor Auslieferung schützte: Ausländer, die freiwillig der SS beitraten, wurden au- tomatisch deutsche Staatsbürger. Deutsche Gerichte - zuletzt das OLG München im Jahre 2006 - bewerteten die Tat als Totschlag und der sei verjährt (nicht so in Dänemark). Dänische Auslieferungsanträge wurden so regelmäßig abgelehnt. Schon ab einer ersten Vernehmung 1968 behauptete er auch stets, er habe »nur« auf den bereits tot am Boden liegenden Clemmensen geschossen. Damit stellten deutsche Gerichte auch »mangelnden Beweis« fest. Im Jahre 1997 tauchte jedoch der Obduktionsbericht auf. Dieser stellte fest, dass Clemmensen stehend von allen acht abgegebenen Schüssen getroffen wurde. Sören Kam wurde 1995 in einem Filmbericht der ARD von dänischen Zuschauern erkannt, als er beim Ulrichsbergtreffen, ein SS-Veteranentreffen in Kärnten, im Beisein von Jörg Haider und einer Himmler-Tochter mit dem Hitlergruß in Erscheinung trat. Er arbeitete jahrelang in Kempten (Allgäu) als Vertriebsleiter einer größeren Brauerei. Im vorigen Jahr weilte ein Team des französischen Fernsehens in Kempten, um die Frage, ob auch alte SSMörder noch vor Gericht gestellt werden sollten, zu thematisieren. H ANTIFA Angriff auf Nazis: Freispruch für Antifas, Polizeibeteiligung ungeklärt Am 10.03.2012 veranstalte die rechte »Bürgerinitiative Ausländerstopp« (BIA) mehrere von antifaschistischen Aktivitäten begleitete Infostände in München. Am Rande eines der Stände kam es zur Rangelei zwischen Rassist_innen und ihren Gegner_innen. Dabei sollen sich Zivilpolizisten beteiligt haben. Kollegen bestätigen, dass sie vor Ort waren, Namen will aber keiner kennen. Aufklären könnte der ermittelnde Staatsschützer, an der entscheidenden Stelle verließ ihn allerdings vor Gericht seine Aussagegenehmigung. Dafür sorgte er für Auffälligkeiten in den Vernehmungen, bei denen die Zivilpolizisten erwähnt worden seien aber nicht ins Protokoll aufgenommen wurden. Wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung wurde Anklage gegen fünf (damalige) Antifaschist_innen erhoben. Sie wurden zunächst mangels Tatnachweis freigesprochen, woraufhin die Staatsanwaltschaft Berufung einlegte aber in der Hauptverhandlung am 26.3.2015 einsah, dass sich hieran nichts ändern würde und zurück zog. Damit wurden die Freisprüche rechtskräftig. Zuvor noch konnte Rechtsterrorist Karl-Heinz Statzberger und einer seiner Kameraden spontan aus dem Publikum in den Zeugenstand bestellt und von Antifaschist_innen und ihrer Verteidigung vernommen werden. Sebastian Lipp, Repression, Aktion, Antifa, Prozess | Die »Bürgerinitiative Ausländerstopp« führte am 10.03.2012 eine Infostandserie im Münchner Stadtgebiet durch. Begleitet wurde diese von antifaschistischen Protesten. Am ersten Stand an der Ecke Ganhoferstraße/Heimeranstraße kam es zu einem Gerangel zwischen den Neonazis der BIA und Antifaschist_innen, als letztere auf die Rassist_innen zu- und nach wenigen Sekunden wieder auseinanderstürmten. Einer der Rechten wurde dabei leicht verletzt. So weit hat sich der Vorgang schon während der Erstinstanz unstrittig gezeigt. Ein Antifaschist wurde noch vor Ort von der Polizei festgenommen, alle anderen Beschuldigten wollen die Neonazis Friedmann, Bissinger, Meierhofer, MeiSome rights reserved. er und Meier später in Versammlungsgeschehen und auf Photos wieder erkannt haben, obwohl die nach Aussagen der Zeugen vermummt gewesen seien. Flaschen und Steine wollen sie teils auch fliegen gesehen haben, während Polizeizeugen vom Gegenteil überzeugt sind - entsprechende Spuren »hätten wir ja gleich gesichert.« Ebenso widersprüchlich sind die Auffassungen zum Hergang der Vernehmungen einiger der genannten Zeugen. Die sind nämlich zum Teil überzeugt, dass im Pulk der Angreifer zwei Personen aktiv beteiligt waren, die später als Zivilbeamte Festnahmen durchführten. In den Vernehmungen taucht dieser Sachverhalt nicht auf, weshalb einer der Neonazis die Unterschrift verweigerte, wie er sagt. Ungewöhnlich ist auch die Dauer der fragli- chen Vernehmungen. Einmal soll es laut Protokoll über 5, ein anderes Mal sogar über 20 Stunden gedauert haben. Beide Zeugen sind von einer Dauer unter einer Stunde überzeugt, der Vernehmende Staatsschützer kann sich die Dauer ebenfalls nicht erklären. Im Laufe der Berufungsverhandlung versuchten die Neonazis ihre Auffassung der Beteiligung von Zivilbeamten zu bekräftigen, indem sie versuchten unerkannt über die Anwältin der ehemalig antifaschistischen Angeklagten K. ein Photo der Polizisten in den Prozess einzubringen. Bei der Übergabe stellten sie sich so ungeschickt an, dass die Kameraden Statzberger und Hering spontan aus dem Publikum in den Zeugenstand berufen und zur Herkunft des Bildes befragt wurden. Statzberger meinte, er sei spähttps://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 ter ein weiteres mal von einigen »Linken« angegriffen worden. Als er sich in Abwehrhaltung begab, hätten sich die Abgebildeten - die auch hier an der Provokation beteiligt gewesen seien - als Polizeibeamte ausgewiesen. Ab diesem Zeitpunkt wird jedem Zeugen die Aufnahme vorgelegt. Die meisten Polizeizeugen bestätigen, dass es sich um Kollegen handelt, keiner will aber deren Namen oder Dienststelle kennen. Antifa Zur Aufklärung könnte der damals ermittelnde Staatsschützer beitragen - er darf es nur nicht. Es gibt zwar eine »Gesa-Liste« auf der vermerkt ist, wer an diesem Tag welche Festnahmen durchführte. Stimmte die Aussage der Rechten, gingen hieraus die Namen der Beamten hervor und sie könnten befragt werden. Interessant ist allerdings, dass dem Gericht nur die erste Seite dieser Liste zur Verfügung gestellt wurde, über deren verrönscht und zugenetzt! #06 11 / 28 weiteren Inhalt hat der Staatsschutzbeamte keine Aussagegenehmigung. So bleibt der Vorwurf gegenüber der Polizei ebenso unbestimmt wie der Tatnachweis gegen die Angeklagten. Darin waren sich das Gericht und die Staatsanwaltschaft gegen Ende des zweiten Prozesstages einig, sodass die Anklagebehörde ihre Berufung6 zurückzog und den erstinstanzlichen Freispruch7 rechtskräftig werden ließ. H RECHERCHE Gefährliche Netzwerke: »Legion Werwolf Schwaben« und »Bloodline Streetwear« »Adolf Hitler Europa Tour 1939 bis 1945« - weil er solche und ähnliche Sprüche auf T-Shirts druckte wurde der Neonazi Harald Frank zu einer Haftstrafe verurteilt. Der Gründer der »Legion Werwolf Schwaben«, einer Neonazigruppe mit Rocker-Habitus hatte dem Urteil nach volksverhetzende Motive und Propagandamittel verbotener Organisationen auf Textilien gedruckt und gemeinsam mit Rechtsterrorist Martin Wiese vertrieben. Er legte Berufung ein, die nun am Landgericht Augsburg verhandelt wurde. Der Schweizer Ableger der »Legion Werwolf« unterhält Verbindungen zu einem länderübergreifenden Netzwerk gegen das wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt wurde. Sebastian Lipp, Antifa, Prozess, Recherche, Rechtsterror | Unter seinem Modelabel »Bloodline Streetwear« produzierte und vertrieb der (ehemals) Mertinger Beschuldigte Motive wie »Nichtjude/Nichtjüdin«, »Bündnis 33 - Die braunen«, »Wir sind wieder da!!! 5:45«, »Drei gute Gründe gegen Kinderschänder« mit einem Strang, einer Guillotine und einer Pistole, »88 mm« mit dem entsprechenden Flakgeschütz, »Nazisupermenschen sind unbesiegbar« so gesetzt, dass sich vertikal »NSU« lesen ließ oder »Adolf Hitler Europatour 1939 bis 1945« mit den Deutschen Invasionsdaten und einem Portrait Hitlers im Stile von bei Rockbands üblichen Tourshirts. Für die Volksverhetzung und die Verbreitung verbotener Propagandamittel, die das Gericht als gegeben ansah, urteilte es auf zwei Jahre und neun Monate Haft. Ein bei der Hausdurchsuchung und Festnahme am 13.11.2013 gefundener Schlagring, Erpressung, Betrug und falsche Versicherung an Eides Statt waren außerdem Gegenstand des Urteils. Terroristische Kontakte Harald Frank behauptet, er und seine »Bruderschaft« seien nicht rechts und nicht rassistisch, er ausgestiegen. Mit Martin Wiese8 wählte er sich allerdings einen Geschäftspartner, der anderes vermuten lässt. Laut Staatsschutz hat der verurteilte Rechtsterrorist die »Arbeitsteilung vorgegeben« und beteiligte sich an Vertrieb und Motivwahl. Immer wieder zog es Frank in die Schweiz. Vielleicht auch, weil es in der Schweiz ebenfalls9 ein Chapter der Legion Werwolf gibt. So posiert Frank auf einem Photo zusammen mit dem Schweizer Jonas Schneeberger und Anderen - allesamt in Klamotten der Legion. Schneeberger musste 2011 als Kandidat der Schweizer Demokraten zurücktreten. Der Grund: Eine Ablichtung10 zeigt, wie er in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald vor einem Bild ermordeter Juden den Arm zum Hitlergruß erhebt. 2012 berichtet11 das Antifaschistische Infoblatt von einer Verbindung zwischen ihm und dem Waffenschmuggler12 Sebastien Nussbaumer, welcher im gleichen Jahr nach einem misslungenen Mordversuch an einem anderen Neonazi in Zürich bewaffnet nach Hamburg flüchtete und dort festgenommen wurde. SPIEGEL.TV schreibt ihm eine Führungsrolle13 im länderübergreifenden Netzwerk Kommando Werwolf zu. Es wird vermutet, dass sich Nussbaumer nach der Schießerei zu seinen norddeutschen militanten Kameraden der Weisse Wölfe Terrorcrew14 absetzen wollte. Strafbarkeit des Szenecodes »88« bleibt ungeklärt Auch Harald Frank wollte sich, wie die Telefonüberwachung ergab, bei erneuter Repression absetzen - in die Schweiz oder nach Norwegen. Das brachte ihn in U-Haft. Zwischen dem ersten und zweiten Prozesstag am 20. Februar ist dem Gericht aufgefallen, dass schon das Amtsgericht in der ersten Instanz gar nicht zuständig war. Vor die Wahl gestellt, das erstinstanzliche Urteil zu akzeptieren oder das Risiko einzugehen, seine letztendliche Haftdauer durch bis zum nächstens Prozess fortdauernde Untersuchungshaft zu verlängern, gibt der Beschuldigte sich trotzig: »Akzeptieren werde ich das Urteil garantiert nicht.« Also wurde das Verfahren an die Staatsschutzkammer am Landgericht in München verwiesen, wo es von neuem beginnen wird. Die Entscheidung beruht sicher auch auf einer Überlegung des Verteidigers Frank Miksch. Wie Endstation Rechts Bayern berichtet15 sah das Amtsgericht bei dem Motiv »88 mm« in Verbindung mit dem abgebildeten Geschütz erstmals strafbegründend »eine Gewaltverherrlichung und einen Aufruf zur gewaltsamen Durchsetzung der Politik Adolf Hitlers« verwirklicht. Der Szeneanwalt16 möchte einer Rechtskraft dieser neuen Rechtsauffassung entgegenwir- 6 https://linksunten.indymedia.org/node/80764 7 https://linksunten.indymedia.org/de/node/78169 8 http://www.aida-archiv.de/index.php?option=com_content&view=article&id=2002:martin-wiese-aus-der-haft-entlassen& catid=40:kameradschaften&Itemid=151 9 http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Schweizer-Neonazis-gruenden--Legion-Werwolf--31592204 10 http://www.20min.ch/myvote/news/story/Jungpolitiker-bei-Hitlergruss-erwischt-19528616 11 https://www.antifainfoblatt.de/artikel/schweizer-neonazi-nach-mordversuch-deutschland-festgenommen 12 https://www.antifainfoblatt.de/artikel/schweizer-neonazi-nach-mordversuch-deutschland-festgenommen 13 http://www.spiegel.tv/filme/terrornetzwerk-werwolf 14 https://linksunten.indymedia.org/de/node/90947 15 http://www.endstation-rechts-bayern.de/2014/06/amtsgericht-augsburg-sperrt-nazisupermensch-fuer-fast-drei-jahre-weg/ 16 http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2012/07/03/further-neonazikader-wegen-ubergriff-auf-antifaschist-verurteilt_8990 Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 ken. Vor der Staatsschutzkammer am Landgericht München I wurde Frank dann zu lediglich 10 Monaten Freiheitsstrafe wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Besitzes eines Schlagrings als verbotener Waffe, Nötigung und falscher Versicherung an Eides statt verurteilt. Vom Betrug wurde er freigesprochen. Die Kammer sah das Propagandadelikt dadurch Antifa verwirklicht, dass der Verurteilte das TShirt »Europa Tour« in dem Wissen, dass dieser es an Dritte weiter geben würde an Martin Wiese lieferte. Die Strafbarkeit des Szenecodes »88« bleibt demnach weiter ungeklärt. Im Verfahren gegen Wiese wurde von der Verfolgung abgesehen, weil ein mögliches Urteil hier gegenüber einem Urteil vom Landgericht Würzburg nicht beträchtlich ins Gewicht fiele. Hier wurde er wegen Volksverhet- verrönscht und zugenetzt! #06 12 / 28 zung, Bedrohung und dem Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu einer Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt17 . Nach Verbüßung von 2/3 der Strafe wurde er auf Bewährung entlassen. Unter Anderem hatte er Pressevertretern gedroht, sie würden eines Nacht abgeholt und nach Verurteilung vor dem Volksgerichtshof standesrechtlich erschossen werden. H ANTIFA Freispruch für Frei.Wild Der Jugendforscher Klaus Farin hat über die Band Frei.Wild geschrieben. Herausgekommen ist ein anbiederndes und unkritisches Fan-Buch: es gibt schöne Fotos, nette Worte und eine Generalabsolution: Kritik an dieser nationalistischen Band, die Rechtsterrorismus verherrlicht, sei ohne jede Substanz. c Nico Werner, Grauzone, Rechte, Antifa, Musik | Die Süd- tiroler Chart-Stürmer Frei.Wild haben kommerziellen Erfolg. Seit Jahren klettert die »Deutschrock-Band« aus Norditalien mit jedem ihrer Alben an die Spitze der deutschen Albumcharts und füllt die ganz großen Konzerthallen. Gleichzeitig polarisiert die Gruppe: der Bandleader war mal »rechts« und Liedtexte werden als nationalistisch kritisiert. Andererseits sagt die Band von sich, dass sie »gegen Extremismus und Rassismus« eintrete. Wie ist die Band wirklich drauf, wer sind die Fans, was ist dran an den »Vorwürfen«? Jugendforscher Klaus Farin hat sich solche Fragen gestellt, traf sich mit der Band und verwertete tausende von Fans ausgefüllte Fragebögen. Das von Farin mitgegründete »Archiv der Jugendkulturen«, beziehungsweise die Partnerinstitution »Archiv der Jugendkulturen Verlag« scheinen prädestiniert für solch ein Vorhaben zu sein. Seit Jahren wird dort an einer Schnittstelle zwischen eigener Szenenähe und Wissenschaft zu allem geforscht, gesammelt, veröffentlicht, was die Jugendkulturen in Deutschland zu bieten haben. Gegen allen Kulturpessimismus werden Jugendkulturen als positive Sozialisierungsinstanzen verteidigt, ohne dabei problematische Entwicklungen zu beschönigen. Das neue Buch von Farin ist geeignet, den guten Ruf des »Archivs der Jugendkulturen« zu schädigen. Grundregeln seriöser journalistischer oder wissenschaftlicher Arbeit hat Farin über Bord geworfen. Das Buch ist PR, es geht keineswegs nur darum, Bands und Fans »selbst zu Wort kommen« zu lassen, damit sich ein jeder »ein eigenes Urteil« bilden kann. Sondern es beschönigt und verfolgt damit einen Zweck: die Band gegen Kritik zu immunisieren. Dass auch ein paar Frei.Wild-Kritiker zu Wort kommen, ändert nichts an dieser Grundkonstellation. Farin wählte als Titel »Südti- rols konservative Antifaschisten« und das ist programmatisch gemeint. Das Buch mag keine Auftragsarbeit sein, wie Farin nahe legt, es ist jedoch in jedem Fall ein win-win-Projekt für Band und Autor. Frei.Wild haben eine Verteidigungsschrift auf dem Markt. Und Farin selbst hat mit dem Buch einen Kassenschlager. Frei.Wild bewerben das Buch großzügig, die Verkäufe laufen gut. Es gab sogar eine gemeinsame Buchpräsentation mit Autogrammstunde. »Wenn es gegen ›rechts‹ geht, sind viele schnell dabei«, kritisiert Farin gleich zu Beginn. Zwei Sorten Menschen seien beim Kampf gegen Rechts laut Farin besonders engagiert: »moralisch-emotional motivierte« Gutmenschen, die immer alarmiert sind, vom Thema aber leider keine Ahnung haben. Und dann gibt es die »Profiteure«, »Geschäftsleute«, für die ihre Kampagnen eine »Gelddruckmaschine« seien, denen es um Macht und die »Selbsterhaltung ihrer aufgeblähten Strukturen« gehe. Dass Farin und das »Archiv der Jugendkulturen« selbst schon so manchen Förder-Euro aus den Programmen gegen Rechts eingeworben haben, bleibt unerwähnt. 2010 kassierte das Archiv der Jugendkulturen für die Erforschung der »Autonomen« hingegen mehr als 20.000 Euro aus Fördertöpfen zur Bekämpfung des »Linksextremismus«. 2015 brachte Klaus Farin zum gleichen Thema ein Buch heraus. Die in düsteren Farben gemalte AntiRechts-Industrie mit ihren naiven Fußtruppen ist schuld, so legt es Farin nahe, dass eine durch und durch anständige und obendrein »antifaschistische« Musikgruppe Verfolgungen ausgesetzt ist. Farin geriert sich als Meinungsrebell und biedert sich mit solchen Passagen dem Anti-Gutmenschen-Lamento und »Lügenpresse«-Gerufe der entsprechenden Milieus an. Das Ergebnis seiner Frei.WildForschung präsentiert Farin am Ende des Buches: »Frei.Wild distanzieren sich ein- deutig und glaubwürdig von Faschismus jeglicher Art und sind auch als Personen nicht Teil der rechten Szene.« Ihr »Patriotismus« sei »konservativ, aber nicht ausgrenzend und nicht nationalistisch«. Der schale »Kern« der Frei.Wild-Kritik sei, »dass sie keine ›linke‹ Band sind«. Sänger »Philipp Burger geht mit seiner Vergangenheit als rechter Skin (. . . ) vor rund 15 Jahren offensiv und geradezu vorbildhaft um und verschweigt nichts.« Tatsächlich war Philipp Burger bis 2001 Sänger der Neonazi-Band »Kaiserjäger«. Es gibt Fotos von ihm (die auch im Buch abgedruckt sind), auf denen er den Hitlergruß zeigt. Burger räumt ein, dass er mal Skinhead war, sich »rechts« fühlte, mit der Südtirol-Liebe etwas übertrieb und dass dies ein Fehler gewesen sei. Genauso bestreitet Burger in Interviews allerdings immer wieder, dass er damals überhaupt ein Neonazi war. Hitlergrüße im Booklet der Demo-CD? Haben nichts zu bedeuten! Kaiserjäger »war keine Naziband, sondern eine Band von drei Jugendlichen«, sagte Burger beispielsweise 2012 den »Ruhr Nachrichten«. Auch gegenüber Farin gab er die gleiche Auskunft: »Philipp sieht seine Zugehörigkeit zur rechte Skinhead-Szene heute noch als ›unpolitische‹ Phase.« Burger selbst: »Man hat sich die Hörner abgestoßen, nicht mehr und nicht weniger.« Kann man solche Äußerungen wirklich als »offensive und geradezu vorbildhafte« Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit adeln? Frei.Wild hat den Song »Wir reiten in den Untergang« im Programm, in dem sie sich als Opfer ihrer Kritiker hinstellt. Die Band würde verfolgt werden so wie damals die Nazis die Juden verfolgt hätten. Einziger Unterschied zu damals: »Heut gibt es den Stempel, keinen Stern mehr«. Gitarrist Jonas Notdurfter entschuldigt im Buch diese Entgleisung als ein Versehen, die Provokation sei nicht beabsichtigt gewesen: »Wenn wir das im vornherein geahnt hätten, hätten wir es 17 http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/straftaten/artikel/nach-drohung-mit-volksgerichtshof-neonazi-wiese-muss-wiederhtml Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 anders formuliert.« Philipp Burger wird die gleiche Frage gestellt. Seine Antwort: »Ich habe mir natürlich schon gedacht, dass es ein paar Leute stören könnte, aber damit kann ich leben.« Überhaupt ärgern ihn die ständigen Sprechverbote: »Selbst das Wort Jude darfst du in Deutschland nirgendwo mehr nennen, dabei ist es doch eine der Weltreligionen überhaupt und ein ganz normales Wort.« Himmelschreiend, aber wieder von Farin nicht kommentiert: Plattenmillionäre tun in einem Lied so, als stünden sie kurz vor der Deportation ins Konzentrationslager und der Sänger sieht in der Kritik an einer solchen Geschmacklosigkeit ein angebliches Verbot, das Wort »Jude« zu benutzen. Und: War der Song nicht als Provokation gedacht, wie Jonas Notdurfter sagt, oder eben doch, wie es Philipp Burger beschreibt? Warum fragt Farin nicht nach? Um Frei.Wild von allen »Verdächtigungen« freizusprechen, arbeitet Farin zudem mit Suggestivfragen. Burger wird gefragt: »Gibt es für dich einen Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus - abgesehen davon, dass ihr als Südtiroler eigentlich gar keine Nationalisten sein könnt - ihr seid ja nicht mal eine. . . «. Der Sänger greift diese Vorlage dankbar auf: »Nein, Südtirol ist kein Staat, uns wegen unseren Texten über dieses Land Nationalismus vorzuwerfen, grenzt schon an politisch-geschichtliche Missbildung.« Seit wann braucht es einen eigenen Staat, um Nationalist zu sein? Noch suggestiver ist eine spätere Frage an Burger. Der ehemalige Neonazi, Rechtsrockbandleader, regionale NaziSkin-Anführer wird von Farin allen Ernstes gefragt: »Warum bist du kein Neonazi geworden?« Burger antwortet: »Allein schon von meinem Herzen aus könnte ich das nicht vereinbaren.« Das professionelle und bewusst gewählte Image von Frei.Wild fußt auf einem starken Bezug auf der »Liebe« zur Heimat Südtirol, auf der eigenen »Bodenständigkeit« und auf den »patriotischen« Texten. Die entsprechenden Lieder gehören bei Frei.Wild-Fans zu den populärsten. Genauso gehört zu Frei.Wild ein Bekenntnis, irgendwie »unpolitisch« zu sein sowie eine aggressive Abwehr jeder Kritik. Die Leute, die Frei.Wild kritisieren sind »die größten Kokser, die zu Kinderstrichern gehen«, geifert es im Lied »Gutmenschen und Moralapostel«. Der Frei.Wild-Erfolg in Deutschland beruht auch darauf, dass sich die Fans mit ihrer Band endlich einmal als eine »Minderheit« fühlen dürfen. »Heimatliebe« ist in Deutschland angeblich verpönt und da nimmt man den unverdächtigen »Patriotismus« der Südtiroler gern für sich selbst in Anspruch. Im bei Fans beliebten Frei.Wild-Lied »Südtirol« heißt es: »Ich dulde keine Kritik an diesem heiligen Land, das unsere Heimat ist«. Ein Land »heilig« zu erklären und keine Kritik daran zu dulden, das ist radikaler Nationalismus. Farin hingegen umschreibt das Lied mit der Nullvokabel Some rights reserved. Antifa »umstritten« und findet im Text lediglich einen »religiös-patriotischen Pathos«. Im »Frei.Wild«-Video zum Lied »Wahre Werte« werden wiederum die politischen Aufmärsche der Südtiroler Schützen gezeigt und gefeiert. Ein Gedenkstein für den »Befreiungsausschuss Südtirol« (BAS) wird eingeblendet. Das Video entstand, so ist bei Farin zu lesen, in enger Zusammenarbeit mit dem »Schützenbund«, der die »patriotischen Texte« von Frei.Wild mag und die BAS»Freiheitskämpfer« für »Vorbilder für die Jugend« hält. Der BAS war eine militante Nationalistengruppe in den 1950er und 1960er Jahren in Südtirol, eine Terrororganisation, durch deren Aktionen 21 Menschen zu Tode kamen. Warum verherrlichen Frei.Wild den BAS in ihrem Video? Ist das positive Gedenken an Rechtsterrorismus wirklich »unpolitisch«? Was genau soll der »Extremismus« sein, von dem Frei.Wild sich distanzieren, wenn nationalistischer Terrorismus offenkundig damit nicht gemeint ist? Farin stellt solche Fragen nicht. Ein Argument von Frei.WildVerteidigern ist die Erklärung, dass Südtirol eine andere Geschichte als Deutschland habe. Die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols habe unter dem Faschismus gelitten und sei darum mehr oder minder immun gegen jede Sorte von Totalitarismus. Eines der besseren Kapitel im Buch ist der Geschichte Südtirols gewidmet. Die Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung in Südtirol hoffte in den 1930er Jahren, dass die von vielen verehrte Lichtgestalt Adolf Hitler Südtirol »heim ins Reich« holen würde, ist dort zu erfahren. Am Mussolini-Faschismus störte weniger dessen faschistischer Charakter, sondern der Fakt, dass er italienisch war und die deutsche Minderheit mit Repressionen belegte. Als die Wehrmacht 1943 Südtirol besetzte, wurde sie als Befreier begrüßt. Kurzum: Der Antifaschismus in Südtirol ist ein Mythos. Farin schreibt: »Südtirols antifaschistische Haltung ist zu erheblichen Teilen zugleich eine pro-nationalsozialistische. So werden bezeichnenderweise zum Zeichen des Widerstandes gegen die Faschisten Hauswände mit Hakenkreuzen verziert.« Diese historischen Einordnungen sind hilfreich und verdeutlichen den Kontext der leeren Frei.Wild-Abgrenzungen gegen »Faschismus«. Warum nur trägt das Buch trotzdem den Titel »Südtirols konservative Antifaschisten«? Eine mögliche Erklärung für diesen Wirrwarr wäre übrigens, dass Farin gar nicht der alleinige Autor des Buches ist. Selbst der Sprachstil weicht in den unterschiedlichen Kapiteln des Buches auffallend stark voneinander ab. Dementsprechend zieht sich das begriffliche Chaos durch das ganze Buch. So lässt Farin kaum eine Gelegenheit aus, den Begriff der »Grauzone« als Bezeichnung für das Lavieren von Bands wie Frei.Wild als ungeeignet zu denunzieren. Das Wort die- verrönscht und zugenetzt! #06 13 / 28 ne Linken nur dazu, alle Nicht-Linken als »irgendwie doch rechts« abzuqualifizieren. Andererseits wird der der Begriff im Farinbuch selbst genutzt: Der SPD-Sachbuchmillionär Thilo Sarrazin, der Migranten für weniger intelligent als Deutsche hält, wird als ein »GrauzoneAutor« kritisiert. Farin beschreibt in seinem Buch alles Mögliche. Umso spannender ist darum, dass er die zentralen Begriffe Rassismus und Nationalismus nicht diskutiert. Das hat System, denn wenn er definieren würde, würde er Gefahr laufen, einer Frei.Wild-Kritik zuzuarbeiten. Frei.Wild-Musiker Jochen »Zegga« Gargitter wird gefragt, wo für ihn »rechts« anfange. Der fabuliert daraufhin in ehrlicher Empörung darüber, wie arme Südtiroler Familien am »Lebensminimum leben« würden, während »eine Familie aus Gott weiß woher zugewandert hier ankommt und sofort eine Wohnung sowie Sozialleistungen für drei Jahre gestellt bekommt, auch in den Krankenhäusern eine kostenlose Behandlung erhält und sich gleichzeitig eine einheimische Familie trotz Arbeit (. . . ) dasselbe vielleicht nicht oder nur schwer leisten kann.« So würde man das sehen in Südtirol und diese Ansicht sei natürlich keine »rechte Haltung«. Gleich schiebt der Bassist nach, dass er selbstverständlich »überhaupt nichts gegen Migranten« habe. Den schnellen Reflex, bei einer solchen Frage einen Kontrast von kinderreichen Migrantenfamilien in der sozialen Hängematte und dazu hungernden Einheimischen aufzumachen - den muss man sehr wohl rassistisch nennen. Farin unterlässt systematisch jede Einordnung von solchen Zitaten, im Zweifel segelt alles unter Labeln wie »Patriotismus« und »Konservatismus«. Fängt Rassismus denn erst beim KuKlux-Klan an und Nationalismus erst bei Hakenkreuzen? Natürlich sind Frei.Wild keine Neonazi-Band. Und, nein, die allermeisten Frei.Wild-Fans sind keine Neonazis (wenngleich es sehr wohl habituelle Überschneidungen gibt). Und, ja, die Band sagt von sich, dass sie »gegen Faschismus«, »gegen Extremismus und Rassismus« ist. Aber was hilft es? All diese Punkte treffen beispielsweise auch auf Pegida zu. Und dennoch darf man Pegida zurecht als ein Sammelbecken für rassistische Deutsche bezeichnen, in dem regelmäßig die Grenze zum Rechtsextremismus überschritten wird. Frei.Wild sind politischer Kommerzrock und keine politische Bewegung, doch beide Phänomene sind Ausdruck der gleichen gesellschaftlichen Entwicklung. Der derzeit wirkmächtigste Rassismus fängt seine Sätze an mit »Ich habe nichts gegen Migranten, aber«. Und genau hierfür bieten Frei.Wild einen kulturellen Ausdruck und manchmal sogar Vorlagen. Auf der 2013er Frei.WildDVD skandierten die Fans »Lügenpresse auf die Fresse«. Ein Jahr später wurde der Spruch zum Schlachtruf der Pegidahttps://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Märsche. Farin wirft mit seinem unkritischen Buch die Auseinandersetzung mit Jugendkulturen, der extremen Rechten und mit Rassismus zurück. Es ist zweifelhaft und fahrlässig, dass eine verdienstvolle Organisation wie »Schule ohne Rassismus« den Band bewirbt und ihn zum Vorzugspreis Schulen und Jugendeinrichtungen anbietet. Zur Selbstbestätigung der Frei.Wild-Fans mag es taugen, als Antifa Bildungsmaterial ist es völlig ungeeignet. Klaus Farin: Frei.Wild. Südtirols konservative Antifaschisten. 400 Seiten, 36 Euro. Archiv der Jugendkulturen Verlag, Berlin 2015. Bald auch als E-Book mit zusätzlichem Material. HINWEIS: In der ursprünglichen Version des Textes hatte der Autor geschrieben, dass Klaus Farin 20.000 Euro aus dem Linksextremismus-Programm des Familienministeriums für ein Buch verrönscht und zugenetzt! #06 14 / 28 über »Die Autonomen« bekommen hätte. Korrekt ist, dass nicht Farin, sondern das Archiv der Jugendkulturen das Geld 2010 zur Forschung über »Die Autonomen« bekommen hat. Farin hat lediglich später ein Buch zum selben Thema veröffentlicht. Zuerst erscheinen beim Störungsmelder18 . H ANTIFA Was ist Gender Mainstreaming? Birgit Kelle antwortet für die Kaufbeurer CSU Die Stadtratsfraktion der CSU lud wohl zu einer »Talk-Veranstaltung« am 21.5.2015 gegen Gender Mainstreaming mit Birgit Kelle ins Kolpinghaus Kaufbeuren. Gefolgt seien über 100 Personen. Sebastian Lipp, Antifa, Veranstaltung, Gender | Das jeden- falls berichtet »conservo«, ein der Selbstbezeichnung nach »konservativer u. liberaler Blog«. Der Autor stehe »für ein Europa der Vaterländer« und hätte die »Deutsche Konservative Partei« mitbegründet. Diese ist eine Ausgründung der rechtskonservativen, reachtspopulistischen »Partei Rechtsstaatlicher Offensive« oder »Schill-Partei«. Der CSU-Fraktionsvorsitzende Thomas Jahn leistete demnach die Einführung. Für ihn sei die »Gender-Ideologie« menschenverachtend. weil ihr wenigstens ein Mensch zum Opfer gefallen sein soll. Er bezieht sich dabei auf den Fall »John/Joan« um John Money. Kelle, die unter Anderem für eigentümlch frei, das Online-Magazin des Kopp-Verlags und die Junge Freiheit schreibt, sähe im Gender Mainstreaming zudem einen »immer rigoroseren Kampf gegen die deutsche Sprache«, weil gegendert (gendergerecht formuliert) werde. Die »moderne Feministin« organisiert zusammen mit der Zivilen Koalition der AfDlerin Beatrix von Storch Demonstrationen gegen den Baden-Württembergischen Bildungsplan 2015 in Stuttgart - das Motto »Demo für alle« ist Frankreichs homophoben Auf- märschen aus dem letzten Jahr entlehnt. Der Soziologe Andreas Kemper bescheinigt19 ihrem Antifeminismus, so »alt und erstickend wie der missionarische Eifer der Legionäre Christi«, einer von ihr unterstützen erzkonservativen Organisation, zu sein. Dagegen kann es mit Petra Ziegler und Franz Schandl (siehe den Beitrag Sozialkritik versus Sozialpolitik in diesem Heft) nur heißen: Fixe Zuordnungen sozialer Rollen hat es nicht zu geben. Eine Schublade ist kein menschenwürdiges Habitat. H REZENSION Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus Sebastian Lipp, Rechtsextremismus, Mitte, Rassismus, Antisemitismus, Neonazismus, Autoritarismus, Studie | Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler (Hg.): Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus. , Psychosozial-Verlag, ISBN: 978-3.8379-2490-9, 200 S., 19,90 Euro In Kapitel 1 stellen die Autoren nochmals ausführlich ihre Studie »Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014«20 vor wie sie bereits in vruzt #5 zusammen mit ihrer bielefelder Kollegin »Fragile Mitte - Feindselige Zustände« besprochen wurde. Beide Studien erkennen einen Rückgang in dem was als Bestandteil rechtsextremer Einstellungen gefasst wird und einen eklatanten Anstieg bestimmter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeiten. Wo die Bielefelder eine bloße Diskursverschiebung annehmen geht der vorliegende Band tiefer: »Mit dem Befund allein ist der empirische Zusammenhang von ökonomischer Krise und autoritärer Dynamik weder erklärt noch verstanden.« (24) Hier gehen die Autoren deutlich weiter. Das bundesdeutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre legitimierte die junge Demokratie durch eine starke Ökonomie und schuf gleichzeitig - als narzisstische Plombe - Ersatz für verlorene Größe. Nun wird sichtbar, dass die Ökonomie mehr als eine Plombenfunktion hat. Die Identifikation mit dieser Autorität gestattet dem Einzelnen die Teilhabe an ihrer Größe und Stärke. Die Abnahme der recht[s]extremen Einstellung bei gleichzeitiger Zunahme der Abwertung bestimmter Gruppen ist nicht nur eine Verschiebung auf ein anderes Objekt. Im Ressentiment gegen bestimmte Gruppen selbst unter besten Bedingungen zeigt sich eine autoritäre Dynamik, wird ein 19 http://www.taz.de/!5033760/ 20 http://www.uni-leipzig.de/~kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 sekundärer Autoritarismus erkennbar. Was landläufig als ›Ökonomisierung‹ kritisiert wird, ist faktisch die Durchsetzung des Primats einer sekundären Autorität. (66) Repression verrönscht und zugenetzt! #06 15 / 28 Als neu schließt sich dem in Kapitel 2 eine Untersuchung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Wähler_innen von NPD und AfD, eine Analyse der Parteigründungsrede Bernd Luckes und eine Behandlung der Zusammenhänge politischer Einstellungen und Europa-Skepsis an. Abgeschlossen wird der Sammelband mit drei Aufsätzen »zum Stand der Zivilgesellschaft mit Vorschlägen und Darstellungen zum Umgang mit extrem rechten und menschenfeindlichen Einstellungen. H ausführlich in Teil III des Buches, nachdem er zunächst die drei »Kernrätsel« des Komplexes - Heilbronn, die Nagelbombe und den Mord an Halit Yozgat - (Teil I) und die Genese der rechten Terrornetzwerke aus denen der NSU hervorging (Teil II) nachzeichnet. Beleuchtet wird dabei die Rolle der Behörden als »Brandbeschleuniger« der Szene. Zur Interpretation der Vorgänge um den NSU-Komplex findet der Autor klare Worte. Er verwirft 1. die These der Bundesanwaltschaft, beim NSU handelte es sich um ein isoliertes Trio als »Verschwörungsideologie«. Er warnt 2. davor, in die »Rationalitätsfalle« zu tappen und die Vorgänge als Versagen der Sicherheitsbehörden durch »Pannen, Schlamperei und ›maximales Bescheuert-sein‹« zu verklären. Stattdessen orientiert sich seine Position an der Linie des Erfurter Untersuchungsauschusses zum Komplex. Demnach ist klar, dass der NSU ohne die spezifische Rolle der Behörden (so) nicht möglich gewesen wäre und heute Aufklärung von eben jenen Stellen sabotiert und unterbunden wird. Der Rechtsextremismusexperte setzt Hoffnung in eine Reform des Verfassungsschutzwesens (Teil IV). Leider wurde auf ein Sach- und Personenregister verzichtet. H REZENSION Staatsaffäre NSU Eine offene Untersuchung Sebastian Lipp, Antifa, NSU | Hajo Funke: Staats- affäre NSU. Eine offene Untersuchung, Kontur-Verlag, ISBN: 9783-944998-06-0, 408 S., 20,00 Euro Seinen Band zur »Staatsaffäre NSU« bezeichnet der Autor Hajo Funke als »offene Untersuchung«. Gemeint ist damit wohl der notwendigerweise unvollständige Charakter der Arbeit - Funke spricht von »Notizen«. Geschuldet ist dies nicht zuletzt dem immensen Aufwand, den staatliche Behörden in die Vermeidung von Aufklärung investieren. Diesem Sachverhalt widmet sich Funke REZENSION Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet Sebastian Lipp, NSU, Nazis, Terror | Barbara John (Hrsg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSUTerror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, Herder, ISBN: 9783-451-6727-3, 176 S., 12,99 Euro Es mangelt nicht an Veröffentlichen zum NSU-Komplex. Viel wurde und wird ge- schrieben über die Täter, ihr Umfeld und die Rolle der Behörden. Seltener schon wird über die Opfer geschrieben und kaum kommen diese selbst zu Wort. Anders in »Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen«. Mit der Herausgabe dieses Buches gibt Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Hinterbliebenenfamilien den vom NSU-Terror betroffenen ein Gesicht und eine Stimme. So sehr die Tötung Michèle Kiesewetters aus der Mordserie des NSU-Netzwerks hervorsticht, fällt allerdings auch im vorliegenden Band eine Besonderheit auf. Wo zu allen Taten ausschließlich direkt Betroffene oder deren engste Verwandte zu Wort kommen, wird von mehreren von Kiesewetters Freund_innen ein Beitrag abgedruckt. H REZENSION Die willigen Vollstrecker in Robe: Justiz im 3. Reich Die Behauptung, fast alle Deutschen seien nach 1933 Nazis gewesen, ist falsch. Ebenso falsch ist, dass die Nazis irgendwie von außerhalb gekommen wären und das eigentlich gute Deutschland missbraucht hätten. Vielmehr zeigte sich im Nationalsozialismus und seinen Verbrechen in einer beeindruckenden Art, dass williges Vollstreckertum beliebige, auch brutalste Handlungsweisen ermöglicht. Die NSDAP musste nicht viele Menschen austauschen oder umerziehen. Sie trafen auf eine Mehrheit, die jeden Befehl ausführen würde, wenn das nur ausreichend propagandistisch unterfüttert oder als Dienstanweisung im Job oder anderen Hierarchien geschah. Jörg Bergstedt, | Schonungslos zeigt das Buch »NS-Justiz und Nachkriegsjustiz« von Albrecht Pohle und Mitautorinnen (2014, Wochenschau in Schwalbach, 222 S.) das Wirken der Richter im Nationalsozialismus - im Gericht und im politischen Raum. Repression, Geschichte, Antifa Some rights reserved. Und schlimmer: Nach 1945 setzten viele ihre Karrieren in Robe. Nur wenige Verbrechen »im Namen des deutschen Volkes« wurden zwar überhaupt geahndet, aber selbst dann kamen die Richter nach kurzer Zeit wieder frei und konnten neue Karrieren beginnen. Das Buch zeigt das an konkreten Personen und an den Orten des Grauens, unter anderem den Lagern Esterwegen und Hinzert. Im Mittelpunkt stehen dabei die Nacht-undNebel-Deportierten, also denen, bei denen die NS-Führung politische Unruhen befürchtete und die deshalb »verschwinden« statt öffentlich abgeurteilt werden sollten. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 In ebenso beeindruckenden Büchern haben Autor_innen im Suhrkamp-Verlag das für die Justiz und das Rechtsdenken insgesamt untersucht. Dabei stehen weniger die konkreten Taten als Motive und Denkkulturen im Mittelpunkt - so in »Recht und Justiz im ›Dritten Reich‹«, herausgegeben von Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (1989, 373 S., 15 Euro). Hier werden in verschriftlichten Fachbeiträgen zu einer gleichnamigen Ringvorlesung an der Universität Göttingen die Beeinflussungsgrößen untersucht, Repression die aus der Justiz eine Stütze der Tötungsmaschinerie machte - vom Jurastudium über die Gesetze bis zur Personalpolitik. Wer die unfassbaren Denklogiken in Originaltexten nachvollziehen will, kann zum Buch »Rechtfertigung des Unrechts« von Herlinde Pauer-Studer und Julian Fink (2014, 563 S., 22 Euro) greifen. Hier sind die maßgeblichen Gesetze, Anweisungen und Leitlinien - meist auszugsweise - zitiert. Damit das mörderische Treiben der Täter in Robe, die ja vom Schreibtisch aus agierten, auch zur verrönscht und zugenetzt! #06 16 / 28 Praxis wurde, brauchte es willige Vollstrecker_innen, die zu umfangreichen Gewaltorgien ohne Tötungshemmung bereit waren. Wie solche Organisationen und in ihnen die brutalisierten Rädchen im System geschaffen wurden, beschreibt Stefan Kühn in »Ganz normale Organisation« (2014, 411 S., 16 Euro). Die »Soziologie des Holocaust«, wie der Untertitel heißt, vermittelt einen intensiven Einblick in Gehorsams- und Anpassungsstrategien mit einer Mischung aus Manipulation und Drohung. H REPRESSION »129 das kennen wir schon - Feuer und Flamme der Repression!« Knastkundgebung vor der Kemptener JVA in Solidarität mit den inhaftierten Mitgliedern der ATIK Sebastian Lipp, Repression, Aktion, Demonstration, Knast | Am 15. und 18. April wurden in Deutschland, Frankreich, Griechenland und der Schweiz insgesamt 11 Mitglieder der linken MigrantInnenorganisation ATIK von Sondereinheiten der Polizei festgenommen. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer türkischen kommunistischen Partei. Da eine der inhaftierten, Müslüm Elma, in der JVA Kempten festgehalten wird wurde dort am 23.05.2015 eine Solidaritätskundgebung für die Freiheit aller politischen Gefangenen und die Abschaffung der Paragraphen 129a/b abgehalten. Dem Aufruf der ATIK folgten deutlich über 50 Personen, die Parolen wie »129 das kennen wir schon - Feuer und Flamme der Repression« auf türkisch und deutsch skandierten und einige Redebeiträge abhielten. Zum Hintergrund ein Artikel von buvo-heinz aus der Zeitung der Roten Hilfe: Erneute Razzien gegen linke AktivistInnen ATIK im Fokus der europäischen Ermittlungsbehörden Am 15. und 18. April wurden in Deutschland, Frankreich, Griechenland und der Schweiz insgesamt 11 Mitglieder der linken MigrantInnenorganisation ATIK (Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa) von Sondereinheiten der Polizei festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, der TKP/ML (Türkische Kommunistische ParteiMarxistisch-Leninistisch) anzugehören. Allen Inhaftierten droht eine Anklage nach dem Gesinnungsparagraphen 129b (Mitgliedschaft in einer ausländischen Some rights reserved. terroristischen Vereinigung), die im Ausland Festgenommenen sollen nach Information des ATIK Vorstandes nach Deutschland ausgeliefert werden. Hierzulande finden derzeit bereits seit Jahren Prozesse und Ermittlungsverfahren gegen vermeintliche Mitglieder linker Exilorganisationen PKK (Kurdische Arbeiterpartei) und DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) statt. Etliche Verurteilungen zu mehrjährigen Haftstrafen hat es schon gegeben. In einer Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft begründet diese die Festnahmen unter anderem damit, dass es eine enge Kooperation zwischen der TKP/ML und der PKK gegeben habe. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, indem Friedensverhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Befreiungsbewegung stattfinden. Des weiteren waren die Medienberichterstattungen in Deutschland in den vergangenen Monaten im Gegensatz zu den vergangenen Jahren zum Teil positiv, ist es doch unbestritten dass vor allem die PKK die Bevölkerung des selbstverwalteten Kantons Kobane auf syrischem Territorium gegen die Milizen des sog. Islamischen Staates (IS) verteidigt hatte. Weitere linke Organisationen wie eben auch die TKP/ML beteiligten sich an den YPG/YPJ (Volks- und Frauenverteidigungseinheiten) und verhinderten Massaker an verschiedenen Volks- und Religionsgruppen, die andernorts stattfanden, da es keinen effektiven Schutz gegeben hatte. Dieser Versuch der Legitimierung des Repressionsschlages, während die Bundesregierung Waffen an die nordirakischen Peschmerga liefert, ist höchst widersprüchlich, es sei denn, er reiht sich in die allgemeine Unterstützung des autoritären AKP Regimes in Ankara durch die Bundesregierung in ihrem Kampf gegen sämtliche oppositionelle Kräfte ein. Eine neue Qualität der Repression sind die in Aussicht gestellten Anklagen nach dem §129b vor allem aus dem Grund, dass die TKP/ML in Deutschland bisher keinem Verbot unterliegt. Auch eine Listung auf den »Terrorlisten« der USA und EU ist bisher nicht erfolgt. Bundesweite Durchsuchungen gegen Vereinsräume von ATIK in Deutschland im Jahre 2007 hatten nicht zu Festnahmen, sondern lediglich zur Beschlagnahmung zahlreicher Datenträger geführt. Über den Zeitpunkt der Festnahmewelle in Europa kann viel spekuliert werden. Wenig jedoch darüber, dass offenkundig eine Exilorganisation der migrantischen Linken zerschlagen werden soll. ATIK ist bereits seit Ende der 80er Jahre in zahlreichen europäischen Ländern aktiv. Neben den Protesten gegen das Regime in Ankara und deren militaristische Politik, ist ATIK seit seinem Bestehen für die Rechte migrantischer ArbeiterInnen und gegen Rassismus in den jeweiligen Ländern aktiv und engagiert sich in zahlreichen linken Bündnissen. Es ist ein positives Zeichen, dass es zeitnah kleinere Demonstrationen im Inund Ausland gegen die Inhaftierungen gegeben hat. Der Protest an der Repression gegen ATIK wie auch andere betroffene linke MigrantInnenorganisation sollte allerdings unabhängig von der jeweiligen Ausrichtung oder politischen Übereinstimmung eine Aufgabe der gesamten Linken sein. Denn hier geht es einmal mehr um nicht weniger als die Verteidigung der Organisationsfreiheit und die Legitimität des Kampfes gegen reaktionäre, militaristische Regime. Den Gesinnungsparagraphen 129ff. sollte deswegen geschlossen entgegengetreten werden, wenn der politische Kampf gegen den Abbau demokratischer Grundrechte perspektivisch erfolgreich sein soll. Informationen zur Solidaritätskampagne unter: www.atik-online.net H https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Repression verrönscht und zugenetzt! #06 17 / 28 AKTION Bombenanschlag an der syrisch/türkischen Grenze: Solidarität in Memmingen Am Tag nach dem Bombenanschlag an der syrisch/türkischen Grenze gegen eine 300-köpfige Jugenddelegation, die Aufbauhilfe in Kobanê leisten wollte, gab es am Dienstag, den 21. Juli eine spontane Solidaritätsaktion in Memmingen. Sebastian Lipp, Terror, Anschlag, Demonstration, Aktion | Aufgerufen hatte der YXK, der Verband der Studierenden aus Kurdistan, zu bundesweiten Demos unter dem Motto »Stehe zu Pirsus - Stehe zu Kobanê - Stehe zu Rojava«. Dem waren in Memmingen laut Berichten etwa 80 bis 90 Personen gefolgt. Eine Gruppe junger Aktivist_innen stieß als spontaner Demonstrationszug vom Weinmarkt zur Kundgebung am Marktplatz. Hier wurde ein Redebeitrag des alevitischen Kulturvereins auf deutsch und türkisch verlesen. Außerdem wurde sich kritisch zum Verbot er PKK geäußert. Eine Schweigeminute und die Niederlegung von Blumen für die Opfer des Anschlages beendeten die Aktion. Wie es im Aufruf zu den Aktionen heißt, reiste die Jugenddelegation auf Grund eines Appells der Föderation Sozialistischer Jugendvereine SGDF nach Pirsus/Suruc auf der türkischen Seite der Greneze, um sich am Wiederaufbau der Stadt Kobanê in Rojava zu beteiligen. Bei dem Anschlag, für den die YXK »sowohl die AKP des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, als auch ihre Handlanger und de facto Verbündete, der IS (Islamischer Staat)« in der Verantwortung sieht, starben mindestens 30 Menschen, mehr als 100 wurden verletzt. H REPRESSION Polizisten beleidigt: Verurteilung lohnt nicht, weil Betroffener sich verteidigt Während einer Blockade des AKW Neckarwestheim Ende April 2013 raste ein PKW durch mehrere Absperrungen bis in die Demonstration hinein. Der Fahrer, der ohne das Eingreifen der Protestierenden bei dieser massiven Gefährdung nicht nur einen von ihnen verletzt hätte, wird von Polizei und Justiz geschützt. Diese geht gegen die eigentlich Betroffenen: Mit Polizeigewalt vor Ort und lächerlichen Ermittlungen und Anklagen im Nachgang. So fand sich ein Aktivist am Freitag, den 10. Juli bereits in der zweiten Instanz vor dem Landgericht Heilbronn dem Vorwurf einer »Beleidiung« ausgesetzt: »Laber doch ned so ne Scheiße, Mann«, soll er zu einem Polizisten gesagt haben. Nach mehreren Stunden wurde der Prozess schließlich eingestellt. Der Aufwand lohne dem Gericht nicht die geringe zu erwartende Strafe. Sebastian Lipp, Repression, Aktion, Ökologie, Antiatom | Im Laufe der etwa 10-stündigen Blockadeaktion für einen sofortigen Atomausstieg21 durchbrach plötzlich ein PKW die Absperrungen und Transparente an der Zufahrt zum Gelände, die ihm die Sicht auf möglicherweise dahinter befindliche Personen versperrt haben müssen und fuhr in die Demonstartion hinein auf weitere hölzerne Blockadekonstruktionen auf denen sich in fünf Metern Höhe Menschen befanden - zu. Herbeieilende Aktivist_innen zwangen den Fahrer vorerst anzuhalten. Der blieb aber nicht dabei. Trotz der Aufforderung, den Wagen zu stoppen, gab er erneut Gas und setzte mehrmals vor und zurück. Hierbei zogen sich mehrere Personen Prellungen zu, einem Demonstranten fuhr er trotz Warnrufen über den Fuß und blieb mehrere Sekunden darauf stehen. Erst nachdem der Fahrer überzeugt war, vom Fuß herunter zu fahren und weitere Fahrversuche zu unterlassen kam die Polizei herbei, die sich bis dahin nicht in ihrer passiven Beobachtung der Versammlung stören ließ. Als sie sich einmischte, beschwerte sich der Amokfahrer darüber, dass sein Auto beschädigt worden sei - was augenscheinlich nichteinmal der Fall war - so dass die Polizist_innen gegen die Demonstrant_innen vorgingen und diese mit Gewalt (schlagen und würgen) abzudrängen und Personalien aufzunehmen versuchten. Dabei wurde einer Aktivistin ein Finger gebrochen und möglicherweise die Bänder gerissen. Derjenige dessen Fuß unter den Reifen geriet, klagt bis heute über Schmerzen. Statt Spurensicherung zu betreiben verharmloste die Polizei den Vorgang als »Verkehrsunfall« und »fahrlässig« und weigerte sich Anzeigen der Betroffenen aufzunehmen. Nun, nachdem die trotzdem erwirkten Verfahren gegen den Mann, der seiner Aussage zufolge wegen des »Packs« Umweltaktivist_innen »schon viel Geld verloren« habe, eingestellt wurden, sollten sich die Aktivist_innen wegen Lächerlichkeiten und Kleinigkeiten verantworten. So wurden einige der rund 40 Aktivist_innen vorgeladen, um wegen angeblicher Sachbeschädigung, Bedrohung und Beleidigung vernommen zu werden. Einem sollte am Freitag, den 10. Juli 2015 vor dem Landgericht Heilbronn er- neut der Prozess gemacht werden, nachdem er gegen seine Verurteilung vor dem Amtsgericht Besigheim Berufung eingelegt hatte. Er hätte einen Polizisten geduzt und aufgefordert: »Laber doch ned so ne Scheiße, Mann!«, weshalb er sich beleidigt fühle. Diesmal schien dem Richter allerdings der Aufwand, eine Verurteilung zu erreichen zu hoch und er stellte das Verfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein, bevor der Prozesstag zu Ende war und durch den sich offensiv selbst verteidigenden22 Angeklagten und seine Verteidigung23 neue Sachverhalte vorgebracht werden sollten, die einen Freispruch hätten nahelegen müssen. Die Identität des Täters nämlich war keineswegs sicher geklärt. »Es hätte uns zwar sehr gejuckt, aber die zu erwartende Strafe steht einfach in keinem Verhältnis zum Aufwand«, begründete der Richter seine Entscheidung. Es sei außerdem eine Frechheit, dass der Angeklagte sich nicht vorbehaltlos über die Einstellung freue sondern auch noch fordere, dass die Staatskasse seine Auslagen übernähme. H 21 http://blog.eichhoernchen.fr/post/Atomausstieg-selber-machen-AkW-Neckarwestheim-blockiert 22 http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/tipps_prozess_verteidigung.html 23 http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/kobra/laien.html Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Kapitalismuskritik verrönscht und zugenetzt! #06 18 / 28 ASTRONAUTIK Notiz vom Ende einer Lebensform j.w.d. Nein, diese hier waren noch nicht unsere Brüder und Schwestern. Um zu erfahren, was auf diesem Planeten hier passiert, reicht es aus, nach ungefähr 5000 Umkreisungen des Planeten um die Sonne wieder vorbeizukommen. Für Trauerspiele ist uns unsere Zeit zu schade. . . Anette Schlemm, Zukunft, Ökologie | Sie schreiben das Jahr 2050. Das Jahr, in dem sie die Welt gerettet haben wollten. Wir, die Beobachter, verschwenden hier nur unsere Zeit. Es war schon spannend, die letzten Zuckungen einer stolzen Zivilisation zu beobachten und zu protokollieren, aber jetzt gibt’s nichts mehr zu berichten. Auch in diesem Sonnensystem, am Rande unserer Galaxie, bestätigt sich die tausendfache Erfahrung: Alle Zivilisationen verbrauchen am Anfang in ihrem ungestümen Wachstum die Ressourcen ihres Planeten, erzeugen eine ihnen gemäße Natur und müssen dann mit den Folgen ihres Tuns zurecht kommen. Fast überall brechen die Populationen ein, weil die neue Biosphäre ihre Ernährung nicht mehr sichern kann Das wird von unschönen Kämpfen begleitet, die sich nur dadurch unterscheiden, welchen Entwicklungsstand die Waffentechnik bis dahin erreicht hat. Die Logik, nach welcher sich die Menschen in diesem Entwicklungsstadium verhalten, ist immer dieselbe. Unvernünftige Rauferei um die verbliebenden Reste - Verlust der bereits erreichten Reife. Das müssen wir uns nicht wieder und wieder anschauen. Aber wir hatten wieder einmal gehofft, dass eine, dass diese eine Zivilisation un- sere Erfahrung widerlegen würde und im ersten Anlauf den Sprung zu einer vernünftigen Produktions- und Lebensweise schaffen könnte. Es ist wohl doch eine Gesetzmäßigkeit, dass alle Zivilisationen ihren zuerst paradiesischen Planeten zerstören, um dann ohne die vorige Menge an Erzen und Bodenmineralien, ohne ein relativ stabiles Klima von vorn anfangen zu müssen. Erst wenn die Zivilisation gar keine Möglichkeiten mehr hat zur Verschwendung, kommt sie zur Vernunft. Wenn sie diese Möglichkeit überhaupt bekommt und nicht ganz verschwindet. Nein, diese hier waren noch nicht unsere Brüder und Schwestern. Um zu erfahren, was auf diesem Planeten hier passiert, reicht es aus, nach ungefähr 5000 Umkreisungen des Planeten um die Sonne wieder vorbeizukommen. Für Trauerspiele ist uns unsere Zeit zu schade. . . H KAPITALISMUSKRITIK Sozialkritik versus Sozialpolitik Sozialpolitik hat wie Politik überhaupt ihre besten Zeiten hinter sich. Die Spielräume werden enger und ihre Parolen fahler. Sozialpolitik fällt zur Gänze in den Rayon der Immanenz. Permanent soll repariert werden, was das System an Mensch und Stoff bedroht und schädigt. Sozialkämpfe verkommen in aussichtslosen Abwehrgefechten, die mürbe machen und sich kaum noch gegen die immer neuen Zumutungen »der Märkte« behaupten können. Natürlich, solange bürgerliche Verhältnisse herrschen, kann man auf Sozialpolitik wie Politik nicht einfach verzichten. Es ist aber doch etwas anderes, ob man sich negativ oder positiv darauf bezieht. Petra Ziegler und Franz Schandl, Sozialkritik | Sozialpolitik denkt das So- ziale in der Form von Geld und Recht, ihre Ziele sind Umverteilung und Sicherheit, kurzum die Etablierung eines Sozialstaats. Materielles Zukommen transportiert sich als Geldleistung oder Verbot respektive Gebot. Sozialpolitik meint das unermüdliche Ausbessern und Mildern der Folgen bei völliger Akzeptanz der bürgerlichen Formprinzipien. Sozialkritik hingegen macht diese Form selbst zum zentralen Gegenstand ihrer Analyse und Forderungen. Sie will nicht Feuerwehr sein, sondern Treibsatz. Ihr Trieb ist die Transformation. Sozialpolitik will Sicherheiten innerhalb der Unsicherheiten bauen, Sozialkritik die soziale Unsicherheit überhaupt abschaffen. Um uns nicht misszuverstehen: Ein angstfreies Leben kann es nie geben. Die Furcht vor Krankheit und Schmerz, vor Unfällen und Unglücken, oder gar vor dem Sterben, kann nicht überwunden werden. Die Angst jedoch zu verhungern oder zu verelenden, die ist sehr wohl zu beseitigen, weil sozial gemacht. Sozialkritik dient dieser IntervenSome rights reserved. tion. Angestrebt wird ein kollektiver sozialer Halt, eine gemeinschaftliche Fürsorge, die außer Frage steht. Diese Fürsorge ist allerdings nicht an ein Äquivalent einer Vorsorge gekoppelt, sie ist frei von Paternalismus und jedweder Bevormundung. Zuwendung und Mitgefühl, Pflege und Stütze stehen uns zu. Als Menschen. Bedingungslos. zialkritik erkennt die eigene Not und die des Gegenübers. Mit Blick auf das scheinbar Utopische setzt sie auf die Möglichkeiten und den Einfallsreichtum unserer Spezies, deren Experimentierlust und Improvisationsgeschick und vor allem ihr immenses kreatives Potential. Hier gilt es zu schöpfen. Und zwar alle für alle. Es ist genug da und es ist noch mehr möglich. Sozialkritik fragt nicht nach Finanzierbarkeit. Wenn menschliches Wohlergehen, selbst bloßes Überleben und der Schutz unserer Umwelt als Kostenfaktoren firmieren, wenn der Ausbau oder auch nur Erhalt erreichter Standards sich erst rechnen müssen, führt sich deren Abhängigkeit von gelingender Wertverwertung ad absurdum, nicht der Wunsch nach einem besseren Leben. Nicht das unsoziale, aber oft durchaus marktadäquate Verhalten einzelner, die Verhältnisse selbst sind zu skandalisieren - der Wahnsinn unserer »Normalität«. Im Fokus steht der Realismus einer Gesellschaft, nach deren Rationalität wir noch am Nötigsten sparen sollen und ansonsten die Augen verschließen vor den großen Miseren bürgerlichen Daseins. So- Sozialkritik will die Akzeptanz des Gegebenen zerstören, sie kennt keine Selbstverständlichkeiten, geschweige denn, dass sie sie anerkennt. Nichts hat zu bleiben, allein weil es so ist. Die Zwänge marktwirtschaftlicher Konkurrenz sind ihr kollektive Zumutung, nicht individuelle Herausforderung. Als Selbstkritik fordert sie zur Distanzierung von der eigenen Charaktermaske auf und zur Beseitigung geschlechtlicher wie sonstiger Etikettierungen. Ein Sensorium für Privilegien, die unsereins genießt, gehört dazu ebenso wie das Aufzeigen von Diskriminierung, gerade auch vonseiten nicht direkt Betroffener. Strukturelle und persönliche Gewaltverhältnisse müssen aufgedeckt und eliminiert werden. Fixe Zuordnungen sozialer Rollen hat es nicht zu https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 geben. Eine Schublade ist kein menschenwürdiges Habitat. Sozialkritik führt weg von den einschlägigen, aber defensiven Forderungen wie »Verteidigt die. . . !«, »Hände weg von. . . !«, »Nein zu. . . !«, aber ebenso weg von den ewigen Komparativen des Mehr vom Gleichen: »Mehr Lohn!«, »Mehr Gerechtigkeit!«, »Mehr Urlaub«, »Mehr Konsum« und erst recht vom gänzlich ideen- wie trostlosen Gerede von Wachstum und Beschäftigung. Es geht ihr nicht vorrangig um Mitbestimmung und Demokratisierung der Arbeitswelt. Es geht um die Überwindung des Systems der Arbeit. Sozialkritik ist daher ein Versuch, den Klassenstandpunkt zu überwinden. Nicht die Rekonstitution des Klassenbewusstseins ist gefordert, sondern ein Fühlen, ein Denken, ein Tun wider die normierten und absehbaren Schicksale. Alle Kapitalismuskritik sozialen Schranken sind als nichtig zu erkennen und einzureißen. Jetzt! Sozialkritik dechiffriert die bürgerlichen Verhältnisse als Konsequenz einer blinden Dynamik. Ware und Geld verlangen Ergebenheit unter ihre eigenen Gesetze. Diesem Frondienst wollen wir uns entziehen, nicht nur klammheimlich, hin und wieder, sondern kategorisch. Mit dem guten Leben verträgt sich kein strukturelles Diktat, mit freier Assoziation, mithin der bewussten Absprache und Auseinandersetzung über die gemeinsamen Belange, ist es gänzlich unvereinbar. Freiheit kann nur jenseits fetischistischer Zwänge liegen. Nicht unterworfen zu sein, nichts und niemandem, darum geht es. Das gute Leben ist machbar. Alles, was darunter zu machen ist, begeistert uns kaum. Der Sozialstaat war stets eine fragile Notlösung, nicht mehr. verrönscht und zugenetzt! #06 19 / 28 Die Zeit der Notoperationen geht jedoch zu Ende, sie sind, wie das Wort nahelegt, nur Operationen (in) der Not. Sie lösen nichts und perpetuieren alles. Sie beschränken unser Denken auf das, was im kapitalistischen Selbstzweckgetriebe gerade noch für uns abfällt. Sporadische Sozialkämpfe erscheinen fast schon als das »Rette-sich-wer-kann« der noch verbliebenen Stärkeren. Anstatt über die reichhaltigen materiellen und ideellen Portionierungen zu reden, streiten wir noch immer über die adäquaten Proportionierungen entlang der Verwertungsschiene. Perspektive geht im abstiegsängstlichen Kleinklein verloren. Wir sollen das nicht wollen. (zuerst erschienen in: Streifzüge 64/2015) H KAPITALISMUSKRITIK Welcher Weg führt weg vom Geld? Ein aktueller Witz über Griechenland - ein Kabarettist gibt ihn im Ersten Deutschen Fernsehen zum besten - geht so: Hans hat vier Äpfel. Er isst neun. . . Und das war er schon, der Witz. Eske Bockelmann, Kapitalismus, Geld, Kritik | Wir verstehen: »Die Griechen« haben über ihre Verhältnisse gelebt, haben mehr verbraucht, als sie erwirtschaftet haben, und nun sind es die Steuerzahler erfolgreicherer Nationen, die die vorwitzig gefressenen fünf Äpfel von ihrem Sparguthaben rütteln und schütteln sollen. Griechenland leidet derzeit zwar nicht unter einer Krise seiner Apfelbäume, sondern unter einer, in der es um Geld und Finanzen geht. Aber da weiß der hochintelligente Kabarettist: Geld ist Apfel und Apfel ist Geld, denn mit Geld kauft man Äpfel, und wer sie verkauft, für den sind Äpfel Geld. Nur, bitte, es gibt da einen kleinen Unterschied: Äpfel kann man essen, ja, aber ganz sicher nur diejenigen, die wirklich da sind, und keinen einzigen mehr. Geld dagegen kann man - nun gut, nicht einmal essen - aber weitergeben, selbst wenn man es schuldet. Und jetzt kommt’s: Weiß der Witzbold, dass heute alle Geldmengen der Welt grundsätzlich und ausnahmslos als Schulden unterwegs sind? Schwer vorzustellen, ist aber so. Wir alle leben, da wir von Geld leben, insofern auf Pump und verbrauchen Geld, das wir genausowenig »haben«, wie jener Hans die fünf verbotenen Äpfel, die er trotzdem gegessen haben soll. Geld ist kursierender Kredit, und Kredit, das sind nun einmal Schulden. Mit denen kann man zahlen, aber kein Grieche kann sich den Magen mit Äpfeln vollgeschlagen oder überhaupt etwas verbraucht haben, was nicht auch wirklich da war. Aha, aber hätte er auch die Äpfel, die wirklich da waren, nicht essen dürfen? Weil seine Wirtschaft im Umgang mit diesen Kreditgeldern nicht Some rights reserved. genug an Gewinnen abgeworfen hat, mit denen er irgendwelche anderen in der Welt ausreichend hätte bezahlen können? Und das, weil es um dieses Geld, das man da zu zahlen hat, eine weltweite und knochenharte Konkurrenz gibt. Und weil diese Konkurrenz - big surprise - doch allen Ernstes die Wirkung hat, dass sie ihre Wirkung hat: dass sich da nämlich einige durchsetzen gegen andere und dass die also, tja, in dieser Konkurrenz unterliegen. Selber Schuld: Warum sind sie nicht wettbewerbsfähiger und haben, anstatt zu unterliegen, andere zum Unterliegen gebracht? So machen es »wir« - also, Beweis: Es geht doch! Wir haben zum Beispiel, unter anderem mit siemensen Schmiergeld-Summen, Griechenland niederkonkurriert. Hm, ach so. Aber - musste doch sein, oder nicht? Für mich wäre schon dieser dumme Witz Grund genug, das Geld abzuschaffen. Aber natürlich gibt es dringlichere, weiter reichende und vor allem blutigere Gründe. Warum jedoch dringen die so wenig durch? Weshalb wird all die Jahre ohne jede Ermüdung und mit allem Ernst noch das kleinste Problem einer Finanzwelt bedacht, abgeklopft und prognostiziert, die ganze Länder zu Boden schlägt, statt dass man sich minutenweise einmal der Möglichkeit widmet: die Versorgung mit Äpfeln nicht vom Gelingen all der tausendfach einander widerstreitenden Geld-Notwendigkeiten abhängen zu lassen, sondern einfach und allein von einer guten Pflege der Apfelbäume! Der dumme Kabarettisten-Witz: Er ist Beleg für einen der hartleibigsten Gründe, weshalb diese Möglichkeit gar nicht erst in den Blick kommt: Geld und Äpfel, oder Geld und alles, wovon wir Menschen nun einmal wirklich leben, es gilt uns für ein und dasselbe. Weil Äpfel und alles für Geld zu bekommen ist und weil wir tatsächlich - verrückterweise - von Geld leben, scheint in unseren Augen alles, wovon wir wirklich leben, Geld zu sein: dasselbe wie Geld. Geld abzuschaffen, das hieße für uns: das abschaffen, wovon wir leben. Wer kann so verrückt sein? Wer kann überhaupt auf die Idee kommen? Ich sage: Jeder, der die Folgen und Bedingungen dessen erlebt, dass unser Wirtschaften nicht einfach und direkt nur dem gilt, uns möglichst gut zu versorgen, sondern zuerst und zuletzt und vor allem dem Erwirtschaften von Geld - und davon und von dessen unguten Gesetzen ist unsere Versorgung dann abhängig. Jedes Wirtschaften insgesamt vom Erwirtschaften von Geld abhängen zu lassen, so zwingend uns beides heute als dasselbe erscheint, das hat sich kein Mensch ausgedacht. Es hat sich auch nicht aus dem Geld »als solchem« ergeben, in einer naturgesetzlichen Entwicklung von den Kauris bis zum Girokonto. Es war vielmehr eine - bedauerliche - europäische Sonderentwicklung. Geld hatte jahrtausendelang sehr stabil immer nur den geringeren Teil der Güter an den Mann gebracht, von denen eine Gemeinschaft lebte, während die Hauptsache an Gütern den Menschen auf andere Weise zukam, zuletzt meist feudalistisch. In den westeuropäischen Ländern aber und aufgrund ganz eigener Bedingungen schlug dieses Verhältnis gegen Ende des 16. Jahrhunderts zum ersten Mal um, und nun wurde es das Geld, über das der Hauptteil der Güter an die Menschen vermittelt wurde: Sie mussten sie kaufen, brauchten dafür ständig Geld und so https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 auch ständig etwas zum Verkaufen. Damit wird Geld zum Geldsystem. Und das ist leider unumkehrbar. Wie das? Von diesem Anfang an gilt: Jeder, der gegen Geld etwas verkauft hat, hat nur dann weiterhin Geld in Händen, wenn er später wieder etwas dafür kaufen kann. Jeder Kauf und Verkauf ist damit eine Anweisung auf die Zukunft, in der es notwendig weiterhin Käufe und Verkäufe geben muss, damit das Geld, für das ich etwas weggegeben habe, auch Geld bleibt, für das ich etwas bekomme. Nein, bis dahin war das nicht so: Da wurde aus dem Gold, mit dem vielleicht eben noch getauscht und gehandelt wurde, ohne weiteres ein kunstreicher Kerzenständer gefertigt und der bleibt der Kerzenständer, der er ist, egal ob nun weiter in der Welt gehandelt und getauscht wird oder nicht. Und falls, dann lässt er sich notfalls wieder einschmelzen. Unsere auf Konten notierten Guthaben dagegen lassen sich nicht verarbeiten und nicht einschmelzen, sie bestehen aus nichts: Sie müssen als Geld fungieren können, um weiter Geld zu sein. Und diese Funktion des Geldes, die jede Gegenwart an alle Zukunft bindet, die lässt sich nicht teilen, die kann nicht allmählich zerfallen. Sie kann ganze Länder zerfallen lassen, das wohl, und das tut sie reichlich, aber davon löst sich der Zwang nicht auf, in dem sie als ganze besteht. Das bringt manche auf die Idee, der Weg weg von einem Geld, das uns per Finanzwirtschaft in Krisen stürzt, wäre eben der, Geld zurückzuführen in die Form einer kerzenständermäßig wirklichen Substanz - so wirklich wie ein Apfel, den man essen kann. Aber auch das geht nicht, oder genauer: Dann könnte man das Geld gleich ganz abschaffen. Denn eine insgesamt über Geld vermittelte Wirtschaft unterliegt einer stählernen Notwendigkeit: dass Geld mehr Geld wird. Und dazu muss es immer mehr werden können - was keine wirkliche Substanz vermag. Es ist ein bedauerlich harmloses Missverständnis des Wachstumszwangs, ihn durch menschliche Gier bedingt zu sehen. Dabei weiß jeder: Ein Geschäft ist Kapitalismuskritik nur eines, wenn es mehr Geld abwirft, als es an Aufwendungen verschlingt. Und auf Geschäften basiert eine geldvermittelte Wirtschaft. Die müssen nicht alle gelingen, aber, wie alles in der Geldwelt, in der Hauptsache. Und wenn - es gibt Krisen - zu wenige Geschäfte gelingen und Geld nicht oder zu wenig mehr wird? Keine Hoffnung, dann stürzt nicht das Geld, dann stürzt es nur die Menschen, die ja von ihm leben müssen, in die Krise. In Krisen stirbt das Geld nicht ab, es verpufft womöglich in großen Mengen, aber nur, um dann auf niedrigerer Stufenleiter dasselbe Spiel weiter und weiter zu betreiben und zu erfordern. Geld, wie es damals wurde und wie es heute ist, wurde zum System. Und das kann nur als ganzes fallen. Und es hält leider vieles aus, was ihm nicht gehorcht. Wenn es nach dem Geldsystem geht, können Menschen, die es zu keiner ordentlichen Teilnahme an der kapitalistischen Konkurrenz bringen, glatt verrecken. Und jeder Versuch im Kleinen, das Zusammenleben, die Produktion von Gütern und ihre Verteilung nicht über Geld und nicht nach seiner Logik laufen zu lassen, ist wertvoll und kostbar - gerade da er kostenlos daherkommt. Doch selbst wenn es noch viel mehr von solchen Ansätzen gäbe, als es tatsächlich gibt, und wenn sie alle schön zusammenwirken würden, um etwas ganz Anderes zu verwirklichen, am Geldsystem würden sie nicht kratzen: Sie könnten es nicht. Keiner von den sympathischen Leuten, die sich solchen Ansätzen widmen, der nicht letztlich auch auf Geld angewiesen ist - und wäre es das Geld derjenigen, die ihm ein Leben ohne Geld ermöglichen. Und so bleibt es einfach bei der Crux: Wir bleiben angewiesen auf Geld und damit darauf, dass es als dieses System funktioniert. Folglich bleibt es auch dabei, dass Geld - in seiner so wenig menschen- und weltverträglichen Weise - erwirtschaftet werden muss: bedient, wie man es von Krediten so schön deutlich sagt. Aus Kredit besteht unser Geld, seit es zum Hauptvermittler wurde, und kann nicht anders: Da bereits hat- verrönscht und zugenetzt! #06 20 / 28 ten die Goldreserven, wie lange sie auch noch für Onkel-Dagobert-Phantasien zur Verfügung standen, grundsätzlich ausgedient. Und wenn das Wunder doch einträte und die allmähliche Vermehrung der sympathischen Ansätze erreichte ein Maß, dass sie in der Lage wären, Geld zu ersetzen und die Versorgung an seiner statt zu übernehmen? Dann wäre das Geld abgeschafft, ja - vorher aber gibt es Mächte und eine Supermacht, denen es Jahrzehnte eines Kalten Kriegs wert war, jede Einschränkung eines heute »alternativlos« gewordenen Geldgebrauchs zu verhindern. Und nicht bloß einen Kalten Krieg: Auch die Zahl der heißen, die sie betreiben, ist nicht von Pappe. Wer glaubt, dass sie dieses Mal zögern würden? Geld, wie es heute ist, hat sich allmählich ergeben, aber es kann nicht ebenso allmählich wieder vergehen. Es kann nicht allmählich zerfallen oder übergehen in eine Form der Gesellschaft und ihrer Wirtschaft, die nicht mehr über Geld vermittelt wäre. Vergehen wird es, da bin ich sicher, nur steht sehr zu fürchten: mit einem großen Knall. Vielleicht kann man es sich so vorstellen wie bei der Löschung eines Großbrands: Wasser ist da nutzlos, es muss eine ganze Sprengladung her, deren Explosion für einen kurzen Moment das Flammenmeer auspustet; und dann kann man mit den Schläuchen kommen, die erledigen den Rest. Also: Geld wäre der Großbrand; eine Mordskrise, die gleich in mehreren Staaten das Finanzsystem zum Einsturz bringt, wäre die Explosion; und dann müssten viele, viele von denen bereit stehen, die endgültig nicht mehr Geld bedienen, sondern - für die Äpfel sorgen wollen. Gemütlich wird es sicher nicht. Eske Bockelmann hat viel Kritik am Geld. Wer mehr davon lesen möchte, findet seinen Artikel Abschaffung des Geldes24 in der Streifzüge 36/2006 oder unsere Besprechung seines Buches »Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens« in vruzt #03. H KAPITALISMUSKRITIK »Die Große Transformation hat gerade erst angefangen« Über die Schranken des kapitalistischen Weltsystems und den Niedergang des mächtigsten und auch gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat. Tomasz Konicz interviewt Fabian Scheidler Tomasz Konicz, Kapitalismuskritik, Interview | Sie verwenden in ihrem Buch für das gegenwärtige kapitalistische Weltsystem das Bild einer riesigen, weltumspannenden Maschine, der titelgebenden Megamaschine. Können Sie diesen Begriff etwas erläutern? Zielt er auf technische Aspekte ab, oder ist es ein Herrschaftsbegriff ? Fabian Scheidler: Megamaschine ist eine Metapher für ein ökonomisches, politisches, militärisches und ideologisches System, das vor etwa 500 Jahren in Europa entstanden ist und sich seither um den ganzen Globus verbreitet hat. Wir wachsen mit dem Mythos auf, dass Europa der Ausgangspunkt von allem Fortschritt ist, dass wir der Welt die Wissenschaft, die Freiheit, die Demokratie, den Wohlstand, die Zivilisation 24 http://www.streifzuege.org/2006/abschaffung-des-geldes Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 und so weiter gebracht hätten. In meinem Buch geht es ein Stück weit darum, diesen Mythos zu demontieren und zu zeigen, dass die Expansion der Megamaschine von Anfang an mit extremer Gewalt, Ungleichheit und Naturzerstörung verbunden war, und dass viele unserer heutigen globalen Krisen genau aus dieser Dynamik entspringen. Dieses System ist unter verschiedenen Namen bekannt - kapitalistische Weltwirtschaft, modernes Weltsystem, die »Moderne« usw. Ich benutze die Metapher einer Maschine, weil dieses System teilweise wie eine Maschine zu funktionieren scheint, wenn man sich etwa die internationale Arbeitsteilung anschaut, das Finanzsystem, die globale Energieversorgung, Medien- oder Militärapparate, die ja alle eng miteinander verflochten sind. Der Kern dieses Systems, sein übergeordnetes Gesetz, ist die endlose Akkumulation von Kapital. Das ist sein Hauptzweck, dem alles andere untergeordnet wird. Mensch und Natur werden dafür benutzt, aus Geld mehr Geld zu machen, und deswegen werden wir tendenziell zu Maschinenrädchen in diesem Getriebe degradiert. Natürlich darf man die Metapher nicht zu wörtlich nehmen, denn letztlich besteht das System aus Menschen, die sich zwar teilweise wie Maschinenteile verhalten, aber trotzdem nicht aufhören, menschliche Wesen zu sein. Die meisten Lebensbereiche sind zwar von der Macht der Maschine infiziert, aber wir haben auch Freiheiten, ein Leben jenseits der Maschine, und das gilt es zu verteidigen und zu erweitern. Sind Sie da nicht etwas zu optimistisch? Mir scheint es eher, dass die letzten nichtkapitalistischen Nischen, die letzten Freiräume gerade in der Krise verschwinden. Alles scheint der Verwertungslogik unterworfen zu werden, selbst die Subkultur. Wo sehen sie noch ein »Leben jenseits der Maschine«? Fabian Scheidler: Der Druck, die Kommerzialisierung, die Ausbeutung, all das nimmt tatsächlich zu. Aber das bleibt auf Dauer nicht ohne Reaktion. Die Geschichte verläuft nicht linear. Schauen Sie nach Südeuropa, da gibt es enormen Aufruhr, neue Subkulturen. Auch in den USA übrigens. Der Widerstand, der Wille zur Freiheit beginnt ja im Kopf. Und wir können beobachten, wie der Glaube an das System langsam bröckelt, ja teilweise in sich zusammenbricht. Der Lack ist ab, die Leute sehen zunehmend die Gewalt und auch die Sinnlosigkeit dahinter. Damit schwindet ein Stück weit die ideologische Macht, die ja ein wichtiger Teil der Herrschaft ist. Wo das hingeht, ist vollkommen ungewiss, aber die Risse im System werden immer deutlicher. Verzahnung von Militärstaat und Geldverwertungslogik Some rights reserved. Kapitalismuskritik Ich fand den langfristigen Ansatz ihres Buches interessant. Sie versuchen, die Genese des gegenwärtigen Systems über einen langen historischen Zeitraum zurückzuverfolgen. Wie weit reichen Ihrer Ansicht nach die »Ursprünge« der »Megamaschine«? Fabian Scheidler: Die Ursprünge der kapitalistischen Weltwirtschaft reichen bis ins Spätmittelalter zurück. Eine der Keimzellen waren die hoch militarisierten Stadtstaaten Genua und Venedig, die sich damals zu Handelsimperien entwickelten, die von Spanien bis zur Krim reichten. Einen erheblichen Teil ihres Reichtums ging auf Raubzüge zurück. Genua und Venedig etwa finanzierten viele der Kreuzzüge, einschließlich ihrer Massaker, und bekamen dafür als Rendite einen Teil der Beute, Monopole und Militärstützpunkte. Die Handelshäuser gründeten dann Banken, die etwas von diesem erbeuteten Reichtum verliehen, nicht nur an andere Händler sondern auch an Staaten. Es gibt ja den hartnäckigen Mythos, dass Staat und Markt Gegenspieler seien, dass sich der Kapitalismus aus dem Pioniergeist freier und friedlicher Händler entwickelt hätte, jenseits staatlicher Despotie. Aber Kapital und moderner Staat waren von Anfang an eng verflochten, sie haben sich gemeinsam, ko-evolutionär entwickelt und konnten niemals ohne einander auskommen. Die Kapitalbesitzer brauchten die physische Macht des Staates für ihre gewaltsame Expansion und auch für das Niederschlagen von Widerstand in der Bevölkerung gegen die zunehmende Ausbeutung, der von Anfang an massiv war. Und die Staaten brauchten das Handels- und Finanzkapital, um ihre Söldnerarmeen zu finanzieren. Der moderne Staat war ja vor allem ein Militär- und Repressionsapparat, und es brauchte enorm viel Geld, um die neuen Armeen mit Hunderttausenden von Soldaten und großen Kanonen aufzubauen, mit denen man die Welt erobern konnte. Diese Verzahnung von Militärstaat und Geldverwertungslogik hat dann die ungeheure Aggressivität des Systems hervorgebracht, die sich durch die gesamte Geschichte der letzten 500 Jahre zieht. Die Conquista, die gewaltsame Eroberung Mittel- und Südamerikas, etwa wurde von den Banken in Genua, Augsburg und Antwerpen finanziert. Ihr »return on investment« waren die ungeheuren Gold- und Silbermengen, die dort erbeutet wurden und wiederum die europäische Geldökonomie antrieben. Für die Indigenen Amerikas war das Ergebnis der größte Völkermord, den die menschliche Geschichte bis dahin erlebt hatte. Oft waren staatliche und ökonomische Gewalt in denselben Händen konzentriert, zum Beispiel in den frühen Aktiengesellschaften, die über eigene Armeen, ja eine Art eigenen Staatsapparat verfügten und auf den Trümmern der von ihnen eroberten Re- verrönscht und zugenetzt! #06 21 / 28 gionen die modernen Kolonialreiche aufbauten. Sie gehen ja mitunter noch weiter zurück, bis in das frühe Altertum, um die Entstehung von Macht und Herrschaft darzustellen. Worin besteht den Ihrer Ansicht nach der fundamentale, qualitative Bruch zwischen dem Kapitalismus und den vorherigen Gesellschaftsformationen, dem Altertum oder dem Mittelalter? Fabian Scheidler: Es gab in der Antike auch schon Marktsysteme, die eng mit dem militarisierten Staat zusammenhingen. Eine wichtige Rolle hat dabei die Erfindung des Münzgeldes gespielt, das erstmals dauerhafte, große Söldnerheere ermöglichte und zu einer enormen Kommerzialisierung des Mittelmeerraums geführt hat. Ohne diese Erfindung wäre zum Beispiel das Römische Reich mit seinen riesigen Armeen nicht denkbar gewesen. Trotzdem unterscheidet sich das moderne Weltsystem in einigen wesentlichen Punkten davon. In der Megamaschine hat sich die Kapitalakkumulation verselbständigt, automatisiert, sie ist zur Institution mit einer Eigenlogik geworden. In Rom gab es zwar auch eine enorme Anhäufung von Reichtum in den Händen Weniger, aber es gab so etwas wie einen stabilen Endpunkt, eine maximale Ausdehnung sowohl des Reichs als auch des Reichtums. Die Stabilität dieses Zustands war oberste politische Priorität. Die Megamaschine aber verlangt nach endloser Expansion, endlosem Wachstum. Einer der Gründe dafür ist, dass das Verhältnis von Staat und privatem Kapital anders ist. Vereinfacht ausgedrückt konnte der Staat in Rom die Ökonomie autoritär kontrollieren, während in der Moderne die international organisierten Kapitalbesitzer von Anfang an die einzelnen Nationalstaaten vor sich her getrieben haben, in eine irrsinnige Standortkonkurrenz und auch militärische Konkurrenz, was wiederum die Akkumulation enorm angeheizt hat. Eine Besonderheit der Megamaschine ist auch, dass sie irgendwann begonnen hat, ganz neue Energiequellen zu erschließen, nämlich Kohle und später Öl. Das hat ihr überhaupt die technischen Mittel gegeben, den ganzen Planeten zu beherrschen - und uns das Klimadesaster zu bescheren. Warum aber ausgerechnet in England ab dem 18. Jahrhundert plötzlich Steinkohle verbrannt wurde, die ja seit der Antike bekannt war, kann man nur aus der Eigendynamik des Systems verstehen. Die Produktion, insbesondere die Metallund Rüstungsproduktion, stieß damals an energetische Grenzen, die Holzkohle wurde knapp und teuer, und deshalb wurde fieberhaft nach neuen Energiequellen gesucht, um weiter akkumulieren und neue Kanonen bauen zu können. Die https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Kohle war dafür die Lösung. Die Eigenlogik der Institutionen ist mächtiger als ihre vermeintlichen Steuermänner Wer »steuert« diese monströse Maschinerie? Ist es einfach die herrschende Klasse, oder sehen sie hier eine systemische Eigendynamik walten? Fabian Scheidler: Die Megamaschine ist aus Kräften entstanden, die nach neuen Methoden gesucht haben, um ihren Reichtum und ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Das ist ihnen auf spektakuläre Weise gelungen, auf Kosten der Mehrheit der Weltbevölkerung. Dafür gab es aber keinen Masterplan. Das moderne Weltsystem ist nicht aus einer Verschwörung hervorgegangen, sondern aus einem jahrhundertelangen Ringen verschiedener Kräfte miteinander und teilweise gegeneinander: Kaufleute, Bankiers, Landesherren, Fabrikanten, Grundbesitzer, Kirchen, Warlords. Es hat von Anfang an auch massiven Widerstand gegen die kapitalistische Produktionsweise gegeben, gegen Vertreibungen, Einhegungen, Lohnsklaverei, und dieser Kampf hat das System geprägt und immer wieder tiefgreifend verändert, von den Bauernkriegen über die Französische Revolution, die Arbeiter- und Frauenbewegungen, die antikolonialen Befreiungsbewegungen bis 1968. Was dabei herauskam, ist so komplex und auch in sich widersprüchlich, dass es sich einer planbaren, vorhersagbaren Steuerung entzieht, auch wenn natürlich Eliten ständig versuchen, es zu steuern. Herrschaft in diesem System bedeutet daher nicht, dass man seine Dynamik wirklich kontrollieren kann, sondern dass man - zumindest vorübergehend eine gewisse Hegemonie hat, und zwar in drei zentralen Bereichen: der physischen Macht des Staates, der strukturellen Gewalt der Ökonomie - also Eigentum, Geld, Schulden - und der ideologischen Macht, wie sie etwa durch das Bildungssystem, die Medien, politische Parteien und so weiter ausgeübt wird. Aber auch Leute, die all diese Machtfaktoren hinter sich haben, sind oft selbst Getriebene des Systems und beherrschen es nicht. Der CEO einer großen Aktiengesellschaft zum Beispiel ist Teil eines großen Räderwerks, und wenn er die Renditeziele verfehlt, spuckt die Company ihn einfach aus. Er ist letztlich auch nur ein austauschbares Zahnrad, wenn auch ein gut bezahltes. Die Eigenlogik der Institutionen ist mächtiger als ihre vermeintlichen Steuermänner. Deswegen hilft es auch nicht weiter, über die Gier einzelner Banker zu klagen. Wir müssen die institutionellen Logiken ändern, den genetischen Code des Systems. Die kapitalistische Verwertungsmaschine, diese Megamaschine, Some rights reserved. Kapitalismuskritik stößt immer stärker an ihre Entwicklungsgrenzen. Sie sprechen von ökologischen und sozialen, inneren Schranken. Können Sie das erläutern? Fabian Scheidler: Die systemimmanenten Schranken sind ökonomischer, sozialer und politischer Art. Nach dem Nachkriegsboom ist die Weltwirtschaft Mitte der 70er Jahre in eine tiefe Krise gerutscht, die Akkumulationsmaschine stotterte, die Renditen brachen ein. Die Antwort darauf war das, was wir heute als »Neoliberalismus« kennen: Löhne drücken, Gewerkschaften kaputt machen, Privatisierungen, Flucht in Billiglohnländer und Steueroasen, Finanzspekulationen usw. Das hat die Profite der großen Unternehmen und die Klassenmacht des oberen ein Prozent wiederhergestellt; aber es hat dazu geführt, dass die Leute tendenziell nicht mehr das Geld haben, die ganzen Waren und Dienstleistungen zu kaufen, zumindest nicht zu profitablen Preisen. Um das System in Gang zu halten, mussten daher überall Schulden angehäuft werden: Konsumenten mussten sich verschulden, um trotz geringerer Löhne weiter zu konsumieren; Staaten mussten sich verschulden, um fehlende Steuereinnahmen auszugleichen; Banken haben riesige Schulden-Dominosysteme kreiert. Solche Schuldenblasen platzen natürlich irgendwann, etwa in der Finanzkrise 2007-2009, und es sind dann in der Regel die Staaten, die diese Schulden übernehmen und auf die Bevölkerung abwälzen. Die Finanzkrisen werden zu Staatskrisen und zu politischen Krisen, etwa in der Eurokrise. Der Clou dabei ist: Je mehr die Kapitalbesitzer ihre kurzfristigen Interessen durchsetzen können, desto mehr destabilisieren sie das System, von dem sie sich langfristig ernähren. Hinzu kommt ein anderer Prozess: Menschliche Arbeit wird zunehmend durch Technik ersetzt, und durch die Computerisierung betrifft das nicht nur die Landwirtschaft und Industrie, sondern auch die Dienstleistungsberufe der Mittelschicht. Die Folge von beiden Prozessen ist eine strukturelle globale Massenarbeitslosigkeit, die sich immer weiter ausbreitet. In Südeuropa etwa liegt die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen bei über 50 Prozent. Das System ist nicht mehr in der Lage, den Menschen eine Perspektive zu geben, und sei es nur die, sich ausbeuten zu lassen. Das führt natürlich zu sozialem Aufruhr, politischen Krisen, Umstürzen, Chaos. Die äußere Schranke des Systems ist ökologischer Art. Die kapitalistische Weltwirtschaft ist, wie jedes andere soziale System, ein Subsystem der Biosphäre. Alles, was wir tun, hängt in jedem Moment davon ab, dass die lebenserhaltenden Systeme der Erde funktionieren: Wasser, Atemluft, ein erträgliches Klima, Nahrungsmittelzufuhr, Energie etc. Nun zwingt die Logik der endlosen verrönscht und zugenetzt! #06 22 / 28 Akkumulation zu einer ständigen Wirtschaftsexpansion, und diese Expansion zerstört die lebenserhaltenden Systeme inzwischen global in atemberaubendem Tempo. Das betrifft nicht nur das Klima, sondern auch die Süßwasserversorgung, die Böden, Wälder, Ozeane und die Artenvielfalt. Neuste Studien zeigen, dass wir bereits das schnellste Artensterben in der Geschichte des Lebens auf der Erde in Gang gesetzt haben. Wir verlieren jedes Jahr ein Prozent unserer fruchtbaren Böden durch die industrielle Landwirtschaft. Der Westen der USA und Nordchina bewegen sich in eine gigantische Süßwasserkrise hinein - und das sind nur einige wenige Beispiele. Der Klimawandel macht all das noch viel schlimmer. Diese ökologischen Krisen wiederum treten mit den ökonomischen, politischen, sozialen Krisen in Wechselwirkung. Der Bürgerkrieg in Syrien zum Beispiel wurde nicht zuletzt durch eine klimabedingte Dürre entfacht, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Das Ergebnis ist noch mehr Chaos, und dieses Chaos untergräbt das weltumspannende, extrem komplexe, verwundbare System, das von einer ununterbrochenen Versorgung mit Energie, Material und Geld abhängig ist und auch ein Minimum an politischer Stabilität braucht. Wenn diese Zuflüsse unterbrochen werden, etwa durch Finanzkrisen, Energiekrisen, Revolten, entstehen Systemausfälle, die wiederum unbeherrschbare Kettenreaktionen auslösen können - und davon werden wir zweifellos immer mehr erleben in den kommenden Jahrzehnten. Das Verrückte ist, dass man diese Maschinerie nicht stoppen oder drosseln kann Sehen Sie auch eine Wechselwirkung zwischen diesen inneren und äußeren Schranken des Kapitals? Verhält es sich nicht gerade so, dass die steigende Produktivität der »Megamaschine« die Ressourcenverschwendung befeuert, da ja die Verwertung des Werts den irrationalen Selbstzweck dieser amoklaufenden Monstermaschine bildet? Fabian Scheidler: Ja, die endlose Produktivitätssteigerung als Selbstzweck, um aus Geld mehr Geld zu machen, treibt uns an die ökologischen und stofflichen Grenzen und untergräbt zugleich die ökonomische Basis, weil sie Menschen überflüssig macht. Das Verrückte ist ja, dass man diese Maschinerie nicht stoppen oder drosseln kann. Wer die Produktivität drosselt, der wird von den Märkten bestraft und fällt zurück. In diesem Hamsterrad sind alle gefangen, und deswegen treiben alle das Rad weiter an, obwohl es uns gegen die Wand fährt. Sie haben den Ausstieg aus der Megamaschine ein ganzes Kapitel ihres Buches gewidmet. Wie könnte so ein transformatorischer Prozess sich abspielen? https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Fabian Scheidler: Die Transformation wird auf jeden Fall geschehen, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nur, wie sie aussieht und wohin sie führt. Es ist durchaus möglich, dass das, was kommt, noch schlimmer ist, als das, was wir jetzt haben. In der EU zeichnet sich etwa eine neue Form von autoritärem Regime ab, eine Diktatur der Gläubiger in Verbindung mit einer Plünderungsökonomie. Zugleich sehen wir von Zentralafrika bis zum Mittleren Osten einen Korridor von gescheiterten Staaten: vom Kongo über Somalia, Libyen, Syrien und den Irak bis nach Afghanistan. Dort regieren die Warlords und Mafias. Das gilt auch für die Ukraine. Oder für Mexiko, das nach den neoliberalen Rosskuren längst Beute rivalisierender Gangsterbanden ist. Wohin die Reise geht, hängt ganz wesentlich von uns allen ab, davon, ob wir in der Lage sind, neue Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens aufzubauen und zugleich erfolgreich Widerstand gegen Repression, Enteignung und Ausbeutung zu leisten. In meinem Buch zeige ich eine Reihe von vielversprechende Ansätzen, kleinen wie großen, zum Beispiel den Aufbau von großen Netzwerken solidarischer Ökonomie, wie man sie etwa in Brasilien sehen kann; oder die bemerkenswerte Welle von Genossenschaftsgründungen im Energiesektor. Entscheidend ist es dabei, die Versorgung mit den lebensnotwendigen Gütern wie Wohnen, Essen, Gesundheit, Wasser, Bildung, Energie, Kommunikation, Kultur langfristig aus der Profitlogik und dem Markt herauszulösen und neu zu organisieren. Damit solche Formen der Selbstorganisation tatsächlich in der Breite Fuß fassen können und nicht vom Strudel der Krisenereignisse weggespült werden, braucht es auch neue Formen der politischen Organisation, um dort, wo Risse im System auftauchen, politische Räume besetzen zu können und Rahmenbedingungen für eine andere Wirtschaft zu schaffen. Davon sind wir aber noch ziemlich weit entfernt. Das Weltsozialforum etwa ist so ein Versuch, aber es hat in den letzten Jahren etwas an Dynamik verloren. Ich denke aber, dass es neue Versuche Rassismus geben wird, die verschiedenen Bewegungen für einen Ausstieg aus der Megamaschine enger miteinander zu verknüpfen. Die große Transformation hat ja gerade erst angefangen, und zu ihren Eigenheiten gehört es, dass man nichts vorhersagen kann. Der Niedergang des mächtigsten und auch gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat Dieser »Transformationskampf« hat ja offensichtlich in der kollabierenden Peripherie des kapitalistischen Weltsystems schon mit unglaublicher Brutalität eingesetzt. Glauben Sie, dass man in den Zentren und in der Peripherie diesen Absturz in Barbarei wird verhindern können? Können wir einen demokratischen und zivilisierten Transformationsprozess organisieren? Oder, anders gefragt: Der real existierende Sozialismus ist ja relativ friedlich implodiert, ohne die Welt in ein Flammenmeer zu tauchen - kann dies der real existierende Kapitalismus ebenfalls leisten? Fabian Scheidler: Man kann den Untergang des Realsozialismus nicht mit dem Niedergang des kapitalistischen Weltsystems vergleichen. Denn der Ostblock war ja - zumindest in den letzten Jahrzehnten seiner Existenz - in mancher Hinsicht Teil dieses Systems, auch wenn viele das bis heute nicht wahrhaben wollen. Und er ist einigermaßen kontrolliert abgewickelt worden, mithilfe der Leute auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, die auf diese Gelegenheit nur gewartet haben. Es gab ja ein funktionierendes größeres System, das den Osten einfach schlucken konnte. Was wir jetzt vor uns haben, ist von ganz anderen Dimensionen, es ist der Niedergang des mächtigsten und auch gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat. Es ist weltumspannend. Und es gibt kein Ersatzsystem. Ich glaube nicht, dass ein gelenkter, geplanter, kontrollierter Übergang zu etwas an- verrönscht und zugenetzt! #06 23 / 28 derem möglich ist. Wer sollte das steuern? Und wohin? Ohne größere Brüche und ohne chaotische Phasen wird es nicht gehen. Die Frage ist, wer in diesem Chaos die Oberhand gewinnt. Die jetzigen Eliten werden mit allen Mitteln dafür kämpfen, ihre Privilegien und ihre Macht zu erhalten. Sie werden langfristig auch nicht davor zurückschrecken, mit ultrarechten Kräften zusammenzuarbeiten, das tun sie ja teilweise schon heute. Wenn wir passiv bleiben und einfach abwarten, was kommt, werden sie leichtes Spiel haben. Aber wenn eine kritische Menge von Menschen beginnt, sich einzumischen und sich für eine gerechtere, menschenwürdigere Welt zu organisieren, dann haben wir eine Chance. Das Problem ist, dass wir die Selbstorganisation großenteils verlernt haben. Wir erwarten, dass der Strom aus der Steckdose kommt, dass uns irgendjemand einen Job gibt, dass Politiker unsere Interessen vertreten, wenn wir alle vier Jahre ein Kreuzchen machen - eigentlich eine sehr merkwürdige Vorstellung. Aber damit werden wir auf Dauer nicht weiter kommen. Wir müssen unser Leben wieder selbst in die Hand nehmen, und das kann eben auch anstrengend sein. Fabian Scheidler, geboren 1968, studierte Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin und Theaterregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/M. Seit 2001 arbeitet er als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen, Theater und Oper. 2009 gründete er mit David Goeßmann das unabhängige Fernsehmagazin Kontext TV, das regelmäßig Sendungen zu Fragen globaler Gerechtigkeit produziert. 2009 Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus. Programmkoordinator für das Attac-Bankentribunal in der Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz (2010). 2015 erschien sein Buch »Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation«, das die Wurzeln der Zerstörungskräfte freilegen will, die heute die menschliche Zukunft bedrohen. zuerst erschienen: Telepolis 18.8.2015, dann auf streifzuege.org H RASSISMUS Stirb leise! Die Architekten der Festung Europa heucheln Engagement gegen »Flüchtlingshass«. Dabei wollen sie nur eines: Die Wiederherstellung des Ansehens Deutschlands. Peter Schaber, | Am Ende muss die Bild ran. Das Boulevard-Blatt, zu dessen Markenkern seit vielen Jahren Rassismus, die lustvolle Zurschaustellung von »Ausländerkriminalität« und die Hetze gegen »Wirtschaftsflüchtlinge« gehören, Rassismus, Antifa Some rights reserved. hat einhundert »Stimmen gegen Flüchtlingshass« gesammelt. Es sind Gestalten wie Sigmar »SPD-Siggi« Gabriel, CSUChef Horst Seehofer (der sogar bei dieser Gelegenheit noch gegen »Asylmissbrauch« wettern darf), Bundesinnenminister Thomas de Maizère und sogar Kriegermutti Ursula von der Leyen. Seit Beginn der neuesten Welle des rassistisch motivierten Rechtsterrorismus ist ein Narrativ allgegenwärtig, befeuert von konservativen bis »linksliberalen« Schreiberlingen und Politdarstellern: Es ist allein der »dumme«, »stumphttps://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 fe«, »armselige« Mob in Heidenau, Freital und all den anderen Elendsgegenden, der Flüchtlingen das Leben schwer macht. »Es schadet Deutschland in der Welt« Exakt zur der Zeit, als die fleißigen Bild-RedakteurInnen an ihrer ImageKampagne für Deutschland bastelten, ging eine andere Meldung online: Beamte der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX haben auf einem Flüchtlingsboot, das von der Türkei nach Griechenland übersetzen wollte, einen 17-jährigen Refugee erschossen. Zwei Tage bevor die fleißigen BildRedakteurInnen die hübschen Profilbilder der versammelten FlüchtlingsfreundInnen ins Netz wuchteten, war es eine andere Meldung: 71 Flüchtlinge sind in einem LKW beim Überqueren der Grenze von Ungarn nach Österreich erstickt. Einen Tag nach dieser eine andere Nachricht: Vor der libyschen Küste ertrinken 200 Menschen, als ein Flüchtlingsboot sinkt. Man mag seinen Hass auf die Schlepper richten. Aber die einfache Gleichung ist: Seit vielen, vielen Jahren arbeiten exakt die Menschen, deren Gesichter nun in der Bild gegen den »Flüchtlingshass« einstehen, samt ihren ParteifreundInnen aus CDU, CSU und SPD an der möglichst dichten Abschottung Europas gegen diejenigen, die aus ihren - nicht selten vom »Westen« und seiner geopolitischen und ökonomischen Agenda verheerten - Heimatländern gen Europa fliehen. Die Fluchtrouten werden dadurch immer gefährlicher, die Menschen müssen aber fliehen, denn zuhause warten Elend und Tod. Das Resultat ist unschwer vorherzusehen: Menschen sterben beim Versuch, die »Festung Europa« zu betreten. Ohne den Lynchmob zu verharmlosen: Es sind nicht die StammtischrassistInnen aus Heidenau und Freital, die Milliarden in die militärische Abriegelung Europas investieren. Es sind auch nicht die StammtischrassistInnen, die vor zwei Monaten eine erneute Verschärfung des Bleiberechts beschlossen haben, die KritikerInnen als »Inhaftierungsprogramm« beschreiben. Und es sind nicht die StammtischrassistInnen, die Refugees vor der Erstaufnahmesstelle in Berlin unter inhumanen Bedingungen wochenlang Rassismus ohne jede Betreuung auf Papiere warten lassen, sie in räudige Massenunterkünfte pferchen und diejenigen, die nicht erwünscht sind, in die Notlage ihrer Heimat rückführen. Wer sich jetzt lautstark und PRwirksam über die marodierenden Faschos aufregt, aber zu all dem nichts zu sagen hat, der wird sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass es gar nicht um Flüchtlinge geht, sondern um etwas ganz anderes. Ehrlich spricht Allianz-Chef Oliver Bäte in der Bild aus, worum es in der PR-Kampagne geht: Die Flüchtlingshatz »schadet Deutschland in der Welt«. Fluchtgrund SPD-Siggi Darüber, wie sehr Deutschland und seine BündnispartnerInnen der Welt schadet, will er lieber nicht reden. Dabei könnte er es unschwer herausfinden, würde er aus seinem Luxustower in Frankfurt herabsteigen, um mit denen zu reden, die hier nach langer, beschwerlicher Reise ankommen. Die Flüchtlingsorganisationen Karawane und The Voice haben die einfache Wahrheit einmal zu einem Slogan einer Kampagne gemacht: »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.« Wenn sich jetzt DGB-Chef Reiner Hoffmann, dessen Organisation nicht nur Flüchtlinge polizeilich aus einem Gewerkschaftshaus in Berlin räumen ließ, sondern auch mit der Bundeswehr kuschelt, hinstellt und Tränen vergießt, ist das nicht mehr und nicht weniger als zum Kotzen. Oder nehmen wir den grauenhaftesten SPD-Politiker seit dem ArbeiterInnenmörder Noske: Sigmar Gabriel. Er ist zuständig für die Genehmigung deutscher Waffenexporte. Versprochen hatte der würdelose Knilch deren Reduktion. Durchgesetzt hat er, dass sie sich auf Rekordniveau befinden. Und wohin? Ja, genau, nach Nordafrika und in arabische Staaten. Auch in den Terrorstaat SaudiArabien, der nicht nur mit Vorliebe »Hexer« und Oppositionelle köpft und den Krieg in Syrien befeuert, sondern derzeit auch einen Angriffskrieg gegen den Jemen führt, durch den bereits hunderttausende Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Jetzt schwafelt der »SPDSonderbeauftragte für Schwachsinn und Gelaber« (Volker Pispers) in der Bild: »Hunderttausende Menschen riskieren ihr Leben, um vor Terror und Krieg verrönscht und zugenetzt! #06 24 / 28 zu uns zu fliehen. Sie haben ein Recht darauf, ohne Angst ein menschenwurdiges Leben bei uns zu fuhren.« Es sind die Waffen, die SPD-Siggi ausführen lässt, die den »Terror und Krieg« erst ermöglichen, vor denen »Hunderttausende Menschen« dann fliehen müssen, um der Sozialdemokröte eine Unterlage für seinen PR-Scheiss abzugeben. Gegen den »Aufstand der Anständigen« Der »Aufstand der Anständigen« will nur eines: Ruhe. Nicht die Möglichkeit einer Lösung des Problems, die aus der Überwindung der Logik von Kapital und bürgerlichem Staat entstehen würde, sondern die Ruhe eines Friedhofs, der möglichst weit weg ist. Es war immer eine der Strategien der Sicherung der Metropolen des Kapitalismus gegen die Habenichtse der Peripherie diversen Regimen in Nordafrika und im Nahen Osten Geld anzubieten, damit diese dafür sorgen, dass niemand bis an die eigenen Grenzen kommt. Wenige Stunden vor der BildKampagne kam auch diese Meldung: »EU will für Rücknahme von Flüchtlingen aus Afrika zahlen.« Man will korrupten Regimes Kohle geben, damit diese Leute »aufnehmen«, die gar nicht dort sein wollen, wo man sie »aufzunehmen« gedenkt. Und eine andere Meldung: »Bis zu einer Million Flüchtlinge warten in Libyen auf ein Boot über das Mittelmeer. Die Europäische Union sucht deshalb neue Verbündete für ihre Grenzsicherung. Das Vorbild heißt Muammar alGaddafi.« Dem wurde nämlich, ebenfalls im Austausch gegen »Hilfsgelder«, auch abverlangt, die Flüchtenden daran zu hindern, dahin zu kommen, wo man sie sehen und hören kann. Das Sterben im Mittelmeer, die Ausschreitungen des Lynchmobs, die brennenden Asylbewerberunterkünfte: Sie verursachen Aufmerksamkeit und »schaden dem Ansehen Deutschlands« (Frank-Walter »sedierter Uhu« Steinmeier, SPD). Die medienwirksame Inszenierung der Regierungsparteien ist - wie immer das subjektive Selbstverständnis der nun ihre »Stimme« erhebenden Charaktermasken sei - nichts anderes als der Ruf: Flüchtling, stirb leise! Zuerst erschienen in: lowerclassmag.com. H RASSISMUS Ein einziges Mal - Mitarbeiter_innen der Memminger Ausländehörde massiv beleidigt Habt ein einziges Mal den Mut, euch einzugestehen, dass ihr Mitschuld am Tod von tausenden Menschen tragt. Und dann zieht, ein einziges Mal, die Konsequenzen. Ursprünglich Offener Brief an die Bundestagsfraktion von CDU und SPD, auf der Demo »Remembering means fighting!« in Memmingen als Redebeitrag auch gegen die dortige Ausländerbehörde am Marktplatz gewendet. Anlass war der unsägliche Umgang der Ausländerbehörde mit einem Geflüchteten und seiner Mutter. Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Sebastian Lipp, Demo, Antifa, Aktion | Über tausend Men- schen sind alleine während der vergangenen zehn Tage im Mittelmeer ertrunken. Mindestens 23 000 sind es, die in den vergangenen 15 Jahren bei dem Versuch, die EU-Außengrenzen zu überqueren, gestorben sind. Diese Todesfälle sind kein unausweichliches Geschick, keine Naturkatastrophe. Sie sind das Ergebnis sich abschottender Metropolen des relativen Wohlstands, das Ergebnis einer Politik, die die Habenichtse, die Vergessenen und Unsichtbaren, an jenen Plätzen festhalten wollen, an denen sie still und ohne viel Aufsehen sterben, in Libyen, in Somalia, in Syrien, Nigeria oder sonstwo. Diese Politik, die den kalten Mord durch Militarisierung der EUAußengrenzen als selbstverständlichen Bestandteil einschließt, diese Politik des Sterbenlassens aus Bequemlichkeit, ist eure Politik. Es ist euer Handeln. Ihr, die ihr da sitzt, fett und saturiert, und davon redet, dass »wir nicht noch mehr tun können, als wir schon tun«, ihr tragt Mitschuld. Ihr schüttelt den Kopf? Wir doch nicht, sagt ihr euch. Dann erklärt es uns doch. Waren es denn nicht eure Parteien, die schon in den 1990er-Jahren die Forderungen des brandschatzenden rechten Mobs auf der Straße in Gesetzesform gossen und das Asylrecht aushöhlten? Sind es nicht eure Parteien, die Waffenexporte Rassismus genehmigen und Kriegseinsätze beschließen? Seid es nicht ihr, die an der Militarisierung der »Festung Europa« mitarbeiten? Frontex, die berüchtigte »Grenzschutzagentur« - ist sie nicht eure Einrichtung, die ihr mit Abermillionen an finanziellen Mitteln versorgt? Seid nicht ihr diejenigen, die die Dublin-Regelungen miterfunden haben? Seid nicht ihr diejenigen, die nun erneut an einem »Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung« arbeiten, der als Inhaftierungsprogramm von Flüchtlingen gelten kann? Ihr seid es, die die Auswahl treffen. Wer ist eine »Fachkraft«, die man in den Verwertungsprozess des Kapitalismus eingliedern kann, um die Volkswirtschaft voranzubringen? Und wer ist ein »Wirtschaftsflüchtling«, manche von euch sagen auch: Schmarotzer, der im Mittelmeer ersaufen muss? Macht es euch nicht zu einfach. Schaut in den Spiegel und fragt euch: Kann ich wirklich guten Gewissens sagen, ich hätte keine Mitschuld am Tod von tausenden Menschen, die an unseren Außengrenzen abprallen und zerschellen? Diejenigen von euch, die immer noch sagen: Nein, ich nicht, ich mache alles richtig - an diejenigen wenden wir uns nicht. Wir wenden uns an Andere. Dazu zählt ausdrücklich die Memminger Ausländerbehörde. Die findet nämlich ihr geschildertes Handeln der letzten Wochen verrönscht und zugenetzt! #06 25 / 28 immernoch richtig und würde »jederzeit wieder so handeln.» Ihr, ihr Grausamen und Kaputten, ihr Niederträchtigen, euch kann man nicht mehr helfen. Ihr habt euren letzten Rest an Menschlichkeit seit langem verloren. Eigentlich sollten wir mit euch Mitleid haben, deren Leben nichts als das von Charaktermasken ist. Doch ihr seid gefährlich, denn Euer Handeln bedeutet Tod. Nicht Mitleid, sondern Hass ist was wir für euch übrig haben. Arschlöcher. Den anderen, die doch der eine oder andere Zweifel plagt, haben wir etwas zu sagen. Wir werden keine Freunde, soviel steht fest. Aber ihr könntet euch selbst ein Mal, ein einziges Mal den Gefallen tun, keine Heuchler, keine Feiglinge und Konformisten zu sein. Redet nicht viel über eure Trauer, die nichts als Hohn ist. Lasst Taten sprechen und verweigert die Zustimmung zur Fortschreibung jener Politik, die nach Verwesung stinkt. Fangt mit einem kleinen, ersten Schritt an: Verhindert den »Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung«! Tut es für Euch selbst. Damit ihr einmal, ein einziges Mal, in den Spiegel sehen könnt und sagen könnt: An diesem Tag war ich kein Arschloch. Und vielleicht findet ihr Freude an dem Gefühl. Im Original vom lower class magazine25 . H RASSISMUS »Fuck Frontex«: Veranstaltung gesprengt Etwa hundert Aktivisten erzwangen am 31. Juli den Abbruch einer Diskussionsveranstaltung mit FrontexChef Klaus Rösler in Augsburg. Zunächst versperrte eine 60-köpfige Aktionsgruppe den Zugang zur Brechtbühne, indem sie sich wie Tote in das Foyer und auf die Zugangstreppe des Veranstaltungsortes legten und erschwerte damit den Zugang. Gerade als Rösler zu sprechen beginnen wollte, besetzten weitere unabhängige Demonstrierende das Podium. Durch laute Parolen übertönten sie die eingesetzte Technik, während ein Transparent ihr anliegen verdeutlichte: »Refugees Welcome. Fuck Frontex«. Die Veranstaltung »Frieden und Frontex?« musste daher nach etwa 20 Minuten bereits beendet werden. Sebastian Lipp, Aktion, Frontex | Im Rahmen des Augs- burger Hohen Friedensfestes, das sich in diesem Jahr unter dem Motto »Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten« 25 Jahre nach dem Mauerfall mit dem Thema Grenzen auseinandersetzt sollte am 31. Juli ein Podiumsgespräch mit dem Direktor der Abteilung Einsatz bei der europäischen Grenzschutzagentur Frontex stattfinden. Geplant war ein Vortrag des Frontex-Vertreters über seine Organisation, ein Interview durch den SZRedakteur Dr. Tanjev Schultz sowie ein von ihm moderiertes Publikumsgespräch. Die Veranstaltung wird zusammen mit dem Dokumentar-Theaterstück »Frontex Security« als einer der zentralen Programmpunkte des Friedensfestes gehandelt. Gegen 14:30, rund eine halbe Stunde vor Veranstaltungbeginn, waren Foyer und Treppe der Augsburger Brecht- bühne, die als Veranstaltungsort genutzt werden sollte, mit Protestierenden aus dem Umfeld des Grandhotel Cosmopolis gefüllt. Ein Schrei koordinierte die Aktion: Gleichzeitig fielen die Demonstrierenden um und verharrten so die Toten an den europäischen Ausengrenzen symbolisierend bis kurz vor Ende der Veranstaltung. Wer hinein wollte, musste darüber steigen. Nachdem bereits spekuliert wurde, ob die Diskussion ob des stillen Protestes bereits abgebrochen werden würde eröffnete eine Mitarbeiterin des Augsburger Friedensbüro die Veranstaltung mit etwas Verspätung. Dr. Tanjev Schultz konnte noch von einigen Zwischenrufen begleitet den geplanten Verlauf des Nachmittagfs skizzieren, Rösler und seine Agentur vorstellen. Als er jedoch das Wort an diesen übergab, übertönten ihn zahlreiche Aktivisten mit Sprechchören wie »Say it loud, say it clear - Refugees are welcome here«, sodass der FrontexVertreter nicht zu Wort kommen konnte. Vor dessen Augen wurde zudem das Podium besetzt und ein Transparent entrollt: »Refugees Welcome. Fuck Frontex«. Nachdem alle Versuche seitens der Veranstalter scheiterten das Wort wieder zu ergreifen und die Demonstrierenden zu beruhigen wurde dem Vernehmen nach sogar ein Ei aus dem Publikumsbereich auf Rösler geworfen, woraufhin dieser den Saal verließ und das Event für beendet erklärt wurde. Bereits im April diesen Jahres wurde Klaus Rösler auf dem Weg zu einer Podiumsdiskussion in Berlin mit Marmeladenbeuteln beworfen. Damals forderten etwa 50 Protestierende »Fähren statt Frontex«. Die CSU indes lud Rösler erneut ein, der aber möchte wohl nicht mehr nach Augsburg kommen. H 25 http://lowerclassmag.com Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Rassismus verrönscht und zugenetzt! #06 26 / 28 AKTUELLES Kaufbeuren: Flüchtlings-Resolution der CSU Am 21.7. stellte die CSU im Stadtrat den Antrag, eine »Resolution zur Asylpolitik« zu beschließen. Sebastian Lipp, Rassismus, Asyl | Schon damals seien die steigenden Asylbewerberzahlen »nicht mehr zu lösende Herausforderungen« gewesen. Man nehme »mit Sorge wahr, dass beträchtliche Ressourcen auch für jene aufgewendet werden müssen, deren Schutzersuchen vorhersehbar abgelehnt werden und die nach den geltenden Gesetzen kein Bleiberecht in unserem Land haben.« Deren Einreise sei »nachhaltig zu unterbinden«. Sonst sinke die Bereitschaft der Bevölkerung zur Aufnahme. Gefordert werden unter anderem Beschleunigung der Asylverfahren und »Konsequente und zügige Rückführung abgelehnter Antragsteller«. Das aber sei nur ein erster Schritt. Weiter gehen solle es mit Wiedereinführung der Visapflicht und die Errichtung von europäischen Asylzentren in Nordafrika. »Schlepper und Menschenhändler« sollten weiter in die Illegalität geführt und damit die Kosten und Risiken für Flüchtende maximiert werden. Ebenso sollen Leistungskürzungen eingeführt und weitere Staaten als »sichere Herkunftsstaaten« deklariert werden. Grenzkontrollen sollten wieder an den deutschen Außengrenzen eingeführt werden. Der Stadtrat hat die Resolution mit 19 zu 16 Stimmen angenommen, die SPD-Fraktion lehnt sie indessen ab. Günter Kamleiter vom Arbeitskreis Asyl kritisiert das Pamphlet im Kreisbote-Interview. Er stellt klar, »dass Flüchtlinge sich durch nichts aufhalten lassen. Wer so massive Angst hat und sich bedroht fühlt, den halten keine Zäune und keine Visumszwänge auf. Der setzt sich sogar noch in ein Boot auf dem Mittelmeer, dessen Wahrscheinlichkeit, unterzugehen nicht gerade gering ist.« »Solche Vorstöße reden den Wirtshausparolen und den Extremisten das Wort. Endlich finden sich die wieder, die sich bisher ihre Parolen nur anonym in Facebook posten trauten. Wir laufen Gefahr, dass die Stimmung kippt, die in Kaufbeuren und auch in allen Umlandgemeinden gerade so offen und positiv gegenüber Flüchtlingen ist. Solche Vorstöße sind gefährlich in einer Zeit, in der in Deutschland wieder fast täglich Flüchtlingsheime brennen.« H RASSISMUS Usman frei! Erfolgreiche Aktionen in Memmingen Usman G. geriet am 21.01.2015 in eine rassistische Polizeikontrolle am Münchner Hauptbahnhof und wurde wegen Verstößen gegen die Residenzpflicht festgenommen. Der Asylsuchende, der sich aktiv für seine Rechte einsetzt, wartete in Untersuchungshaft 7 Wochen auf seinen Prozess am 10. März vor dem Amtsgericht Memmingerberg. Etwa 30 Personen zeigten sich vor und teils im Gericht solidarisch. Nach der Einstellung des Verfahrens entschlossen sich einige der Unterstützenden zu einer spontanen Demonstration durch die Memminger Innenstadt. Sebastian Lipp, Repression, Aktion, Rassismus | Kurz nachdem am 21.01.2015 ein Protestzelt der Gruppe »Refugee Struggle for Freedom« am Münchner Stachus aufgeschlagen wurde, geriet der Aktivist und Asylsuchende Usman G. am Münchener Hauptbahnhof in eine rassistische Polizeikontrolle. Wegen wiederholten Verstößen gegen die Residenzpflicht wurde er sofort in Untersuchungshaft genommen. fach nahm. Er überquerte etwa Kreis, Landes-, und Staatsgrenzen als er als Teilnehmer des transnationalen Protestmarsches von Strasbourg nach Brüssel lief und nahm an einem Hungerstreik am Sendlinger Tor in München teil, um auf seine Situation aufmerksam zu machen und die Beendigung rassistischer Sonderbehandlung einzufordern. Beim »March for Freedom« gab er folgendes Statement ab: Die Residenzpflicht basiert auf einem Sondergesetz, das ausschließlich Geflüchtete trifft und ihre Bewegungsfreiheit massiv einschränkt. Für viele Betroffene war es unter Strafandrohung verboten, den Landkreis zu verlassen. Trotzdem das Gesetz so nicht mehr gilt, sollte Usman dafür bestraft werden, dass er sich das Recht auf Bewegungsfreiheit ein- Wir haben zu viele Probleme in unseren Ländern. Ich verbringe mein Leben in Problemen. Ich komme nach Deutschland, sie erzeugen zu viele Schwierigkeiten für uns. Wir beantragen hier Asyl und ich bin zudem krank, ich habe eine schwere Krankheit. Ich habe Hepatitis C und es gibt keine Behandlung. Ich vergeudete ein Jahr in Deutschland und alle Ärzte sagen mir, dass sie mir nicht helfen wollen. Und danach verschafften sie mir große Probleme. Sie wollen mich nach Ungarn abschieben, dort haben sie meine Fingerabdrücke. Ich will sie fragen, warum sie Some rights reserved. das mit mir tun? Sie haben mein Jahr vergeudet. Ich denke mein älteres Leben verläuft mit Problemen. Ihr denkt über uns. Wir sind auch Menschen wie ihr, aber ihr wollt uns nicht sehen. Deswegen gehen wir den langen Marsch für die Freiheit. Etwa 30 Personen wollten genau wie Usman die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit nicht hinnehmen. So erklärten sie sich bei einer von Aktivist_innen des Antirassistischen Jugendaktionsbüro angemeldeten Kundgebung am 10. März vor und während seines Prozesses am Amtsgericht Memmingerberg solidarisch. Sie forderten die sofortige Freilassung Usmans, eine angemessene Entschädigung für die siebenwöchige Haft sowie die »sofortige Abschaffung von rassistischen Gesetzen und Kontrollen«. Nachdem der Prozess ohne Auflagen - aber auch ohne Entschädigung - eingestellt und Usman freigelassen wurde, versammelte sich ein Teil der Menge spontan erneut und zog unangemeldet durch die Memminger Innenstadt, wo eine Kundgebung am Marktplatz und eine am Theaterplatz abgehalten wurde. Am Bahnhof konnte die Aktion als großer Erfolg selbstbestimmt beendet werden. H https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 Rezensionen verrönscht und zugenetzt! #06 27 / 28 RASSISMUS Aktionswoche »Kein Mensch ist illegal« rund um den Fischertag in Memmingen Im Zuge der aufkommenden rassistischen Grundstimmung gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden in Memmingen und dem gesamten Allgäu, setzten wir am Fischertagswochenende ein eindeutiges Zeichen der Solidarität gegenüber allen Geflüchteten weltweit. Der Fischertag ist das größte Volksfest in Memmingen, welches jährlich von tausenden Menschen besucht wird. Dies nahmen wir uns zum Anlass um verschiedene Aktionen durchzuführen. Autonome Bande, Rassimus, Aktion | Im Vorfeld dieses Spektakels wurde das gesamte Stadtgebiet mit ca. 1000 Aufklebern mit der Aufschrift »Kein Mensch ist illegal« und »Refugees welcome« verschönert. Zudem wurden am Fischertagsvorabend, der legendären Kneipennacht in der Memminger Innenstadt, zahlreiche Transparente an öffentlichkeitswirksamen Stellen angebracht. Die Hauptaktion fand am Morgen des Fischertags selbst statt. Jedes Jahr versammeln sich hier tausende Schaulustige rund um den Stadtbach und warten darauf, dass die 1200 Stadtfischer (aus- schließlich Männer!!!!!) in den Bach »nei jucken«, um diesen leer zu fischen. Kurz vor dem Startschuss kippten wir ca. 100 bemalte Holztafeln mit der Aufschrift »Kein Mensch ist illegal« und »Refugees welcome« in den Stadtbach. Die Aktion wurde vom Großteil der Beteiligten rund um den Fischertag wahrgenommen und sorgte somit für einigen Gesprächsstoff. Unserer Ansicht nach war diese Aktion ein voller Erfolg, da den MemmingerInnen gezeigt wurde, dass es auch hier im konservativen Allgäu aktive und solidarische UnterstützerInnen aller Flüchtlinge weltweit gibt. Im Anschluss des Fischer- tages führten wir zudem noch einen Infostand zur gleichen Thematik auf dem »umsonst und draussen« Festival im 50 Kilometer entfernten Lindau durch. Gerade jetzt ist es wichtig überall und entschlossen für die Rechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden einzustehen und jedem aufkommenden Rassismus konsequent entgegenzutreten. Jeder Mensch hat das Recht dort zu leben wo er Bock hat! Rassisten aufs Maul! Kein Mensch ist illegal! Hoch die internationale Solidarität! Autonome Bande für den revolutionären Umbruch Memmingen H REZENSION Identität auf Vorrat Zur Kritik der DNA-Sammelwut Sebastian Lipp, Überwachung, Repression, DNA | Genethisches Netzwerk (Hg.): Identität auf Vorrat. Zur Kritik der DNASammelwut, Assoziation A, ISBN: 978-3-86241-439-0, 134 S., 14,00 Euro Das Buch zeigt die Entwicklung und den aktuellen Stand der »DNA-Sammelwut« in Deutschland und global. Was zur Einführung mit der Bekämpfung von schwerster Kriminalität begründet wurde wird demnach mittlerweile auf Bagatelldelikte angewendet. So werden nicht nur biologische Spurenprofile etwa bei Diebstahl bereits teilweise routinemäßig genommen. Das Buch erwähnt sogar Fälle von Sachbeschädigung durch Plakatieren. Auch - immerhin formal »freiwillige« - Reihenuntersuchungen (»Massengentests«) werden auf ähnliche Kleinigkeiten gestützt und deren Ergebnisse teils vorrätig gehalten. Desto wichtiger ist der Teil des Buches, der als notwendige Grundlage für Schutzmaßnahmen in die technische Funktionsweise der DNA-Analyse einführt. Hier wird deutlich, dass das Gerede vom »genetischen Fingerabdruck« falsch und gefährlich ist. Der Begriff verharmlost, was über die Analyse des menschlichen Erbgutes möglich ist. Das nämlich ist weit mehr als die bloße Feststellung, ob eine Spur mit einer potentiellen Spurenleger_in identisch ist oder nicht: »Schließlich kann die Sequenzierung der DNA auch genutzt werden, um Eigenschaften der ›SpurenlegerIn‹ zu bestimmen. Seit 2004 ist die Analyse des chromosomalen Geschlechts erlaubt (also XX, XY ...). Besondere chromosomale Eigenschaften (z.B. Trisomien) werden damit automatisch mit erhoben. Zur Analyse weiterer Eigenschaften (Krankheitsanfälligkeit, Augenfarbe, Hautfarbe) fehlt in Deutschland (noch) die Rechtsgrundlage. Ein Zwischenbereich ist die Analyse von Verwandschaftsbeziehungen: Noch ist dies nicht im Rahmen von Massengentests und für die DNA-Datenbank des BKA erlaubt, wohl aber im Rahmen von Ermittlungen im Strafverfahren.« Beispiele für Kampagnen gegen die Sammelei gibt der Band ebenfalls, um anschließend in einem Beratungsteil26 »Strategien der Gegenwehr« zu zeigen. Eine so sichere »Wahrheitsmaschine« wie oft geglaubt und suggeriert ist die DNA-Analyse nämlich nicht. Wer vermeintlich überführt ist, hat oft noch eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten. H ma »Recherchieren« erschienen. Volker Lilienthal gibt hier eine Einführung in die Basis journalistischen Arbeitens. Es geht dabei nicht nur darum, wie Dokumente gefunden, Informant_innen behandelt und Auskunftsrechte wahrgenommen werden. Auch die planvol- le Rechercheanlage, die Filterung der Informationsunmenge im Internet und ethische Fragen werden beleuchtet. Zum Schluss beschreibt der Autor, wie die Ergebnisse effektiv überprüft und anschließend publiziert werden können. H REZENSION Recherchieren Sebastian Lipp, Journalismus, Recherche | Volker Lilienthal: Recherchieren. , UVK, ISBN: 978-3-86764-217-0, 142 S., 14,99 Euro In der Reihe »Wegweiser Journalismus« ist beim UVK-Verlag ein Band zum The26 http://datenschmutz.de/dna.pdf Some rights reserved. https://vruzt.resyst-a.net vruzt, 11. Oktober 2015 langweilig verrönscht und zugenetzt! #06 28 / 28 REZENSION Interventionen gegen die deutsche »Beschneidungsdebatte« Sebastian Lipp, Rassismus, Sexismus, Religion | Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß, Salih Alexander Wolter: Interventionen gegen die deutsche »Beschneidungsdebatte«. , edition assemblage, ISBN: 978-3-942885-42-3, 90 S., 9,80 Euro Das - schnell gelesene - Heft »will dazu anregen, hegemoniale Elemente in den eigenen Positionen festzustellen und sich selbst zu fragen: Wer kann an welcher Stelle und mit welchem Gewicht spre- chen, wer nicht - und warum?« Wichtig ist diese Frage, um zu einer differenzierten Position in der »Beschneidungsdebatte« zu gelangen. Oft genug wird das Problem nämlich auch in sich als emanzipatorisch verstehenden Kreisen auf ein Problem der »körperlichen Selbstbestimmung« gegen »Religion« verkürzt. Der Beitrag von Zülfukar Çetin und Salih Alexander Wolter entwickelt unter anderem über Horkheimer/Adorno und Foucault eine Position für das Recht auf Beschneidung, die von dieser Einfachheit weit entfernt ist. Anschließend untersucht HeinzJürgen Voß die medizinische Seite der Debatte und stellt auf Studien gestützt fest, welche der medizinischen Argumente haltbar sind und welche keine empirische Basis besitzen. Zum Abschluss ist die Petition »Wir gegen Rechtsbeschneidung« dreier berliner Jugendlicher jüdischen und muslimischen Glaubens dokumentiert. H TERMIN Vivir la utopía - Die Utopie leben Sonntag, 8.11.2015, 17:00 Uhr Film und Küfa im react!OR Sebastian Lipp, Termin, Film | Die Utopie leben! Der An- archismus in Spanien (im Original Vivir la utopía El anarquismo en Espana), ist eine im Jahr 1997 unter der Regie von Juan Gamero für den Sender TVE produzierte Dokumentation. Das Werk beschäftigt sich mit den anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Bewegungen ab 1840 und während des Spanischen Bürgerkrieges 1936–1939. Dabei geht sie insbesondere auf den Bereich des Alltagslebens und die Kollektive Selbstverwaltung ein und versucht die radikalen Ver- änderungen aufzuzeigen, die sich in diesen Jahren ergaben. (Wikipedia) Wir zeigen den Film am Sonntag, den 8.11.2015 um 17 Uhr im react!OR in der Frühling Str. 17 in Kempten. Dazu gibt es leckeres Chili sin carne gegen Spende. H Formalia langweiliges Impressum verrönscht und zugenetzt Offene Jugendzeitung https://vruzt.resyst-a.net Redaktion: verrönscht und zugenetzt c/o react!OR Fürhling Str. 17 87439 Kempten E-Mail: [email protected] Spendenkonto: JuBiKu e.V. - Förderverein Jugend * Bildung * Kultur, IBAN: DE31 4306 0967 8208 4235 01, BIC: GENODEM1GLS, GLS Bank Autor_innen der Ausgabe: Anette Schlemm, Autonome Bande für den revolutionären Umbruch Memmingen, Eske Bockelmann, Jörg Bergstedt, k.o.b.r.a., Kurt Wirth, Nico Werner, Peter Schaber, Petra Ziegler, Franz Schandl, Sebastian Lipp, Stefan Meretz, Tomasz Konicz Satz und Layout, ViSdP, Hrsg: Sebastian Lipp (Anschrift: Redaktion) Some rights reserved. Bildnachweis: Titel (oben): Robert Andreasch; Rest: Screenshots Auflage: 500 Hefte Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nicht mit der Meinung der Redaktion oder des Herausgebers übereinstimmen, schon allein weil es »die« Kollektivmeinung nicht gibt. Eigentumsvorbehalt Diese Zeitung bleibt solange im Besitz der Redaktion, bis sie der_dem Gefangenen ausgehändigt wurde. »Zur Habe Nahme« ist keine persönliche Aushändigung im Sinne dieses Eigentumsvorbehalts. Wird ein Teil der Ausgabe nicht ausgehändigt, dann ist der beanstandete Teil, und nur dieser, unter Angebe der Gründe an die Redaktion zurück zu senden, der Rest ist auszuhändigen. Gleiches gilt, wenn ein bestimmtes Heft beanstandet wird. Sprache Hier sollen nicht durchgehend »männliche« Formulierungen benutzt und behauptet werden, damit sei keine Diskriminierung verbunden, da alle Geschlech- ter gemeint seinen. Sprache ist auch Ausdruck gesellschaftlicher Realitäten. Auch wenn »Emanzipation« und »Gleichberechtigung« obligatorische Schlagwörter geworden sind, ist diese Gesellschaft noch weit entfernt von ihrer tatsächlichen Umsetzung. Schon vor Jahrzehnten entstanden in der Gender-Debatte Ansätze für eine Sprachregelung, die das ernsthafte Streben nach der Aufhebung der Stigmatisierung auch sozial konstruierter und konditionierten Geschlechtern signalisiert. Hier werden autorInnenabhängig für manche Menschen ungewöhnlich erscheinende Sprachkonventionen verwendet. Beispiel: der Großbuchstabe (z.B. »I«) wird von einigen AutorInnen benutzt, um anzudeuten, dass sowohl »männliche« als auch »weibliche« Form gemeint sind. Verbreitet sind auch Endungen wie »-i«/»-is« etc. Manchmal wird auch die Endung »_in«/»_innen« verwendet. Statt dieser »Gender-Gap« wird oft auch ein Stern verwendet. Das bedeutet soviel wie: »männliche, weiblich und die ganze Bandbreite an möglichen Geschlechtern dazwischen«. https://vruzt.resyst-a.net
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