Nazi-Immobilie mit Terror- Verbindungen im Allgäu

verrönscht und zugenetzt! #06
11. Oktober 2015 k 21:54h
Nazi-Immobilie mit TerrorVerbindungen im Allgäu
Antifa, Recherche | Das Beispiel eines von Neonazis genutzten ehemaligen
Rieggis: Nazis räumen »Alte Sennküche«
Landgasthofs zeigt deutlich, wie in Bayern mit rechten Immobilien umgegangen wird: Verschweigen und Wegschauen, oft über Jahre und Jahrzehnte. Eine Recherche über ein Haus bei Immenstadt und sein extrem rechtes
Umfeld: Artgemeinschaft, NPD, Wehrsportgruppe Hoffmann. (Seite 7)
Weitere Recherchen: Gefährliche Netzwerke: »Legion Werwolf Schwaben«
und »Bloodline Streetwear« (Seite 11), »Möglicher Amokläufer« verurteilt
(Seite 9), Angriff auf Nazis mit Polizeibeteiligung? (Seite 10)
KAPITALISMUSKRITIK
Inhalt
»Die Große Transformation hat gerade
erst angefangen«
Über die Schranken des kapitalistischen Weltsystems und den Niedergang des mächtigsten und auch gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat
| Der Kern dieses Systems,
sein übergeordnetes Gesetz, ist die endlose Akkumulation von Kapital. Das ist
sein Hauptzweck, dem alles andere untergeordnet wird. Mensch und Natur werden dafür benutzt, aus Geld mehr Geld
zu machen, und deswegen werden wir
tendenziell zu Maschinenrädchen in dieInterview
sem Getriebe degradiert. Der Druck, die
Kommerzialisierung, die Ausbeutung, all
das nimmt tatsächlich zu. Aber das bleibt
auf Dauer nicht ohne Reaktion. Die Geschichte verläuft nicht linear. Wo das hingeht, ist vollkommen ungewiss, aber die
Risse im System werden immer deutlicher. (Seite 20)
Immenstadt Nazis zerstören
Zeichen der Solidarität Seite 9
Gender Mainstreaming und
die Kaufbeurer CSU Seite 14
Rechtsextremismus
der
Mitte
und
sekundärer
Autoritarismus
Seite 14
ANTIFA
Freispruch für Frei.Wild
Der Jugendforscher Klaus Farin hat über die Band Frei.Wild geschrieben. Herausgekommen ist ein anbiederndes und unkritisches Fan-Buch
inklusive Generalabsolution: Kritik an der Band sei substanzlos
| Die Südtiroler Chart-Stürmer Frei.Wild
haben kommerziellen Erfolg. Seit Jahren klettert die
»Deutschrock-Band« aus Norditalien mit jedem ihrer
Alben an die Spitze der deutschen Albumcharts und
füllt die ganz großen Konzerthallen. Gleichzeitig polarisiert die Gruppe: der Bandleader war mal »rechts«
und Liedtexte werden als nationalistisch kritisiert. Andererseits sagt die Band von sich, dass sie »gegen Extremismus und Rassismus« eintrete. Wie ist die Band
wirklich drauf, wer sind die Fans, was ist dran an den
»Vorwürfen«? Jugendforscher Klaus Farin hat sich solche Fragen gestellt, traf sich mit der Band und verwertete tausende von Fans
ausgefüllte Fragebögen. (Seite 12)
Eine Aktion in Kempten hielt dagegen. (Seite 2)
Themen dieser Ausgabe
Aktion
Aktion, Anschlag, Antiatom, Antifa, Antisemitismus, Asyl, Autoritarismus, Demo, Demonstration, DNA, Film, Frontex, Geld, Gender, Geschichte, Grauzone,
Interview, Journalismus, Kapitalismus, Kapitalismuskritik, Knast, Kritik, Mitte,
Musik, Nazis, Neonazis, Neonazismus, NSU, Ökologie, Prozess, Rassimus, Rassismus, Recherche, Rechte, Rechtsextremismus, Rechtsterror, Religion, Repression,
Sexismus, Sozialkritik, Studie, Termin, Terror, Überwachung, Veranstaltung, Verfassungsschutz, Verkehr, Wehrsportgruppe Hoffmann, Zukunft
»129 das kennen wir schon
- Feuer und Flamme der
Repression!«
Seite 16
Sozialkritik vs Sozialpolitik
Seite 18
Erfolgreiche Aktionen gegen Rassismus
Seite 27
verrönscht und zugenetzt!
Offene Jugendzeitung
[email protected]
https://vruzt.resyst-a.net
ISSN: 2195-7495
vruzt, 11. Oktober 2015
Aktuelles
verrönscht und zugenetzt! #06 2 / 28
Editorial
Editorial | Die vorliegende Ausgabe muss sich auch diesmal wie-
der viel mit Antifaschismus beschäftigen. Die Behörden wollen
wie so oft von den Aktivitäten der Rechten nichts wissen (Seite
5), wir schauen dafür umso genauer hin.
Nichts wissen will die örtliche Polizei von einer Immobilie bei Immenstadt, die von Neonazis mit vielschichtigen Verbindungen in die unterschiedlichen Bereiche der bundesweiten auch militanten bis terroristischen Szene genutzt wird. (7)
In Immenstadt selbst wurde ein Zeichen der Solidarität mit
Flüchtlingen mutmaßlich von Angehörigen des neonazistischen
»Bündnis freies Allgäu« zerstört. (9) Andernorts werden gefährliche Faschisten verurteilt (11, 9), während Frei.Wild Generalabsolution erteilt wird: »Kritik an dieser nationalistischen
Band, die Rechtsterrorismus verherrleicht, sei ohne jede Substanz«, fasst Nico Werner den Tenor eines neu erschienenen
Buches auf Seite 12 zusammen. Immerhin wurde dagegen während eines Auftrittes der Band in Kempten interveniert (2).
Eine Veranstaltung (4) und zwei Buchbesprechungen (15) widmen sich dem Komplex um das NSU-Netzwerk und den Verfassungsschutz. Gleichzeitig zum Prozess gegen einen Teil des
rechten Terrornetzwerkes deckelt das Münchner Landgericht
die Aufklärung über einen möglicherweise von der Polizei zum
Vorgehen gegen Antifas angezettelten Angriff auf einen NaziInfostand.
Gute Nachrichten haben wir trotzdem. Nicht nur die Antifas, denen eine Tatbeteiligung vorgeworfen wurde, wurden frei
gesprochen. Weil sich ein Umweltaktivist gegen den Vorwurf
der Beleidigung eines Polizisten offensiv verteidigte, wurde er
nicht verurteilt - weil der Aufwand nicht lohnt! (17) »Feuer
und Flamme der Repression« wurde sogar jüngst auf einer Solikundgebung vor der Kemptener JVA skandiert. (16)
Neben der Auseinandersetzung mit den derzeit
unerträglich-rassistischen Zuständen (23, 26) gibt es Berichte
zu erfolgreichen Aktionen. In Memmingen wurde der Fischer-
tag antirassistisch begleitet (27), gegen die lokalen Nazistrukturen demonstriert (24), in Augsburg wurde ein Vertreter von
Frontex vom Podium gejagt (25) und der aus rassistischen
Gründen in Haft geratene Usman ist wieder frei - womöglich
auch durch die unterstützenden Aktionen in Memmingen. (26)
Natürlich kommen die bestehenden Verhältnisse auch wieder insgesamt nicht gut weg. In »Sozialkritik versus Sozialpolitik« plädieren Petra Ziegler und Franz Schandl dafür, alle sozialen Schranken als nichtig zu erkennen und einzureißen statt
ein Mehr vom immer gleichen alten und abgestandenen Kuchen
zu fordern. (18) Eske Bockelmann fragt, welcher Weg vom Geld
weg führt (19), während Anette Schlemm einen Blick in die Zukunft wagt, um »die letzten Zuckungen einer stolzen Zivilisation zu beobachten«. (18) Optimisischer ist Fabian Scheidler im
Interview über sein neues Buch »Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation«: »Die Risse im
System werden immer deutlicher.« Die Risse verbreitern wollte eine Zugfahrt durch halb Deutschland - ohne Ticket - und
lieferte Direct-Action nach Bilderbuch für ganz andere Verhältnisse. (5)
Denn dass es so nicht weitergehen kann, weiß sogar Gablers
Wirtschaftslexikon zum Stichwort Wirtschaft:
Ziel der Wirtschaft ist die Sicherstellung des Lebensunterhalts und, in ihrer kapitalistischen Form,
die Maximierung von Gewinn und Lust mithilfe unternehmerischer Freiheit, zugleich die Erzeugung von Abhängigkeit, ob von Anbietern oder
Produkten, und Wachstum, bis zum (nicht unbedingt gewünschten, aber erwartbaren) Kollaps des
Systems.
Sage niemand, er/sie habe es nicht gewusst.
AKTUELLES
kurz notiert
Eine unvollständige Chronik bedenkenswerter Vorfälle und einiger Aktivitäten dagegen
Sebastian Lipp,
Rassismus, Antifa, Neonazismus, Aktion |
NU: »Sicherheitsgespräch« zu
Asylunterkünften
In einer gemeinsamen Pressemitteilung erklären das Polizeipräsidium
Schwaben Süd/West und das LRA NeuUlm sich am 15.1 zu einem »Sicherheitsgespräch« getroffen zu haben. Zwar
fänden diese Gespräche regelmäßig statt
und es gäbe »durch die Flüchtlinge keine
erhöhte Kriminalität«. Trotzdem trafen
sich die Behörden nach einem sexuellen
Übergriff in einer Illertissener »Gemeinschaftsunterkunft« umgehend am nächsten Tag, um »die Sicherheitslage in Unterkünften für Asylbewerber« zu besprechen und festzustellen, dass die Polizei
weiterhin regelmäßig Präsenz im Umfeld der Unterkünfte zeigen soll. So wird
die Unterbringung von Flüchtlingen zur
Sicherheitsfrage gemacht, die Untergebrachten entgegen jeder Empirie verdächtigt und deren Umfeld besonders beSome rights reserved.
wacht. Aus Perspektive der Betroffenen
wurde die Unterbringung offenbar nicht
hinterfragt.
Bad Saulgau: Busfahrer richtet
Nazi-Grüße an Schüler
In Bad Saulgau soll ein Busfahrer
Schüler wiederholt mit Nazisprüchen verabschiedet haben. Er selbst bestreitet das
nicht prinzipiell - er habe den Originalgruß abgewandelt. Ein Fahrgast ist aber
wie schwaebische.de am 8.1. berichtet
überzeugt, wörtlich »Sieg Heil« gehört zu
haben. Die Staatsanwaltschaft sah jedenfalls keinen genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage und stellte
ein. Der Fahrer ist weiterhin beim Betreiber der Stadtbuslinie angestellt.
Immenstadt: Auf Brust geritztes
Hakenkreuz
Am 2.3. berichtete die Allgäuer Zeitung von einer »Rangelei« am vorhergehenden Samstag in Immenstadt-Akams.
Beteiligt waren ein 26-jähriger und ein
22-jähriger, der dem anderen ein auf seine Brust geritztes Hakenkreuz zeigte. Die
Polizei hat »keine Hinweise, wonach ein
Bezug dieses Mannes zur rechten Szene herstellbar wäre.« Ein Strafbefehl wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen wurde erlassen, der Täter aber nur unter Strafvorbehalt verwarnt. Der Staatsanwaltschaft
nach gäbe es »keine Anhaltspunkte« einer Zugehörigkeit zur rechten, wohl aber
»Indizien für eine Angehörigkeit zur linken Szene«.
Bad Saulgau: Hakenkreuze in
Umkleide
Wie schwäbische.de am 22.1. meldet,
»haben Unbekannte in der SonnenhofTherme in Bad Saulgau mehrere Hakenkreuze in die Wände von Umkleidekabinen geritzt.« Das selbe passierte am 12.3
und 21.3., sowie am 24.3. Täter_innen
konnten bis dahin nicht ermittelt werden.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
KF: NPD will »Asylanten von der
Straße jagen«
»Unter der Überschrift Äsylanten
von der Straße jagen« berichtet die NPD
von ihrem großen Erfolg am [21.3.] in
Kaufbeuren: »Als zählbare Früchte unserer Arbeit war ein Interessent zu verzeichnen, der Einladungen zu unseren
Veranstaltung wünscht, sowie ein Neumitglied, das künftig den Kreisverband
im Ostallgäu unterstützen will.« »Dagegen«, so heißt es in einem Bericht über
den Infostand um den Kreisvorsitzenden der NPD Neu-Ulm/Günzburg Stefan
Winkler, »trommelte eine Gruppe junger
Asylsuchender, während andere Nazigegner und -gegnerinnen menschenfreundliche Flugblätter verteilten.«
KF: Reifen an Asyl-UK zerstochen
Wie die Allgäuer Zeitung vom 27.4
berichtete, wurden bei zehn der an der
Asylunterkunft in Kaufbeuren abgestellten Fahrräder Reifen zerstochen. Tatverdächtige konnten laut Polizeisprecher
Eckel nicht ermittelt werden.
KE: »FCK FR.WLD«
Zu Beginn des Frei.Wild Konzerts am
2.5. in der bigBOX Allgäu in Kempten wurde ein Banner mit der Aufschrift
»FCK FR.WLD« vom Dach des Forums
entrollt. Die Aktion wurde mit einer
deutlichen Änderung der Tonlage und
Lautstärke hunderter versammelter Fans
der Rechtsrocker quittiert.
Aktuelles
des G7-Gipfels bei einer »heimattreuen« Familie im Unterallgäu. Der »Mann
des Hauses« sei engagiert in der »jungen nationalrevolutionären Partei ›Der
III. Weg‹«. Die Beamten wurden abgewiesen. Der polizeiliche Pressestab G7Gipfel verweigert genaue Auskünfte, der
angesprochene Personenkreis gilt dort
aber als »weitgehend unstrukturiert«.
MM: NPD Infostand unbehelligt
Am 6.6. führten Mitglieder der NPD
Unterallgäu und Neu-Ulm von 9 bis 13
Uhr nach eigenen Angaben einen Infostand in der Memminger Innenstadt
»völlig störungsfrei« durch und verteilten
darüber hinaus angeblich 600 Flugblätter in Briefkästen. Erst durch eine Nachfrage bei Corinna Steiger - Mitglied im
Stadtrat und dem Memminger Bündnis
gegen Rechts - wurde diese auf den Vorgang aufmerksam. Sie hätte schon früher
den Bürgermeister verärgert, als sie eine
entsprechende Information an die Öffentlichkeit trug. Daher hätte sie kein Interesse mehr, an einer Aufdeckung solcher
Aktivitäten im Vorfeld mitzuwirken.
Pfaffenhausen: Hakenkreuze,
SS-Runen und »88«
Die Polizei meldet, dass Hakenkreuze, SS-Runen und der Zahlencode »88«
auf die Fahrbahn und verschiedene Objekte in der Blumen- und Industriestraße in Pfaffenhausen aufgesprüht wurden
- vermutlich in der Nacht vom 12. auf den
13.6.
»Lunikoff« in Murnau
festgenommen
Konstanz: III. Weg verteilt
rassistische Flyer
Wie die Nazis von »Der III. Weg«
angeben, haben sie am 9.5. ihre rassistischen Anti-Asyl Pamphlete auch um dortige Gemeinschaftsunterkünfte verteilt.
Immenstadt: »Sieg Heil« im
Festzelt
Zwei Sonthofener, 28 und 34 Jahre
alt, bedienten sich im Festzelt der Allgäu Schau in Immenstadt laut Polizeimeldung vom 18.5. mehrmals lautstark
der Worte »Sieg Heil« und »Heil Hitler«.
Gegen beide wurden rechtskräftige Haftbefehle wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen
erlassen.
UA: Staatsschutz beim III. Weg
Wie die Nazis selbst berichten, versuchte der Memminger Staatsschutz am
2.6. eine Gefährderansprache aus Anlass
Some rights reserved.
Am 6.7. wurde der ehemalige Sänger der als kriminelle Vereinigung verbotenen Naziband »Landser« in Murnau festgenommen, weil er einen als
Taschenlampe getarnten Elektroschocker
mit sich führte. »Lunikoff«, mit bürgerlichem Namen Michael Regener, war auf
dem Weg zu einem »Liederabend« im
Neonaziladen »Hobbyland/Versand der
Bewegung« des NPD-Kaders Matthias
Polt. Als »Lunikoff Verschwörung« sollte
Regener hier Auftreten. Die etwa 40 Gäste der Veranstaltung sollten wohl auch
helfen, die immer wieder von Unbekannten verursachten Schäden am Sortiment
und Gebäude des Naziladens finanziell
aufzufangen.
KF: Volksverhetzende Annonce
Laut einer Polizeimeldung wurde am
18.7. im (wie der Marktleiter bestätigt) Kaufland in der Mauerstettener
Straße eine Anzeige mit »fremdenfeindlichen Äußerungen« aufgehängt. Ermittelt werde wegen Volksverhetzung und
verrönscht und zugenetzt! #06 3 / 28
übler Nachrede. Letzteres weil die Annonce fälschlicherweise im Namen einer
Firma aufgegeben worden sein soll. Zum
Inhalt will sich die Polizei nicht äußern.
Outing: Stefan Sch. aus Krumbach
Laut einem Artikel auf linksunten.indymedia.org wurde der Neonazi
Stefan Sch. am 20.7. von Antifaschist_innen in seiner Nachbarschaft in Krumbach geoutet. Sch. sei Mitglied bei Voice of Anger und sei 2014 in Nienhagen
auf »einem großen faschistischen Konzert« gewesen. Seine Emailadresse enthielte einen Szenecode für Heil Hitler und
er betätige sich »neben seinem Hauptjob« als Vertriebspartner eines Internetund Telefonanbieters.
KE: Hitlergruß auf Festwoche
Ein 23-jähriger Kemptener zeigte
während des ersten Wochenendes auf der
Festwoche einen Hitlergruß, legte mit
Zeige- und Mittelfinger einen passenden
Bart an und rief »Sieg Heil«.
Bad Wörishofen: Flüchtlinge
»gefährden Existenzen«
Wie Augsburger Allgemeine am
28.8. berichtet, lehnt Paul Gruschka
(FW), Bürgermeister Bad Wörishofens,
ein Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in
seiner Stadt ab. Begründung: Das könne
»den Kur- und Tourismusbetrieb weiter
gefährden«. Es könne nicht sein, dass
durch die Geflüchteten Existenzgrundlagen gefährdet würden.
Wertingen: Angriff auf
Asyl-Unterkunft
Unbekannte haben in Wertingen
am 29.8. gegen 2:45 Uhr eine AsylUnterkunft attackiert. Einer der beiden
warf eine Fensterscheibe mittels eines
Steins ein. Die beiden brüllten »die sehr
oft verwendeten Parolen wie ›Deutschland den Deutschen oder Sch... Asylanten‹«, wie die Polizei mitteilt.
MM: NPD-Propaganda
Ende August/Anfang September
wurde in Amendingen/Memmingen
ihr rassistisches Pamphlet »Iller Günz
Blättle« verteilt. Die Herausgeber bezeichnen es als »das eigene Mitteilungsblatt des NPD-Kreisverbands NeuUlm/Günzburg«.
Bregenz: Attacke auf Asyl-UK und
Schussabgabe
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Ein 27-Jähriger ist am 1.9. in eine
Bregenzer Asylunterkunft eingedrungen
und hat den Inhalt eines Feuerlöscher
versprüht. Am Folgetag soll er aus einem Fenster auf Fußgänger geschossen
haben, woraufhin er festgenommen wurde. Die Polizei findet trotz behördlichem
Waffenverbot einen selbstgebauten Lauf
und verschiedene Kaliber Munition.
Als Motiv für die Randale in
der Asylunterkunft benennt die Vorarlberger Landespolizeidirektion Fremdenfeindlichkeit. Seine Einstellung trage der
Bregenzer »offen zur Schau«, sonst gebe
er sich zu den Tatvorwürfen verschlossen.
Auf Nachfrage hat die Polizei keine Erkenntnisse über eine Zugehörigkeit zu einer rechten Gruppierung des Festgenommenen, der sich nun wegen eines Vergehens nach dem Waffengesetz, Sachbescädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und schwerer Körperverletzung verantworten muss.
MM: Hakenkreuz und SS-Runen
Am Wochenende 4.-6.9. wurde ein
Straßenschild In der Neuen Welt (MMAmendingen) mit einen Hakenkreuz und
zwei SS-Runen beschmiert.
Bad Wörishofen: Nazis greifen
Bürgermeister-Argumentation auf
Die als Ersatzstruktur für das verbotene neonazistische FNS genutzte Partei
Aktuelles
»Der III. Weg« berichtet auf ihrer Homepage von ihrer Anwesenheit am 16.9.
auf einer »Asyl-Propaganda-Show in Bad
Wörishofen«, bei der sie ihre rassistischen Flugblätter verteilt haben wollen.
Die Neonazi-Partei greift die Aussagen
des Bürgermeisters (siehe oben) auf: »Es
könne nicht sein, dass durch diese überproportional hohe Anzahl an Flüchtlingen und Asylbewerbern Existenzgrundlagen, die auf Kur und Tourismus ausgerichtet sind, gefährdet werden.« Der Bericht beschwert sich über die »deutschfeindlichen Ausführungen von Thomas
Maier, dem Dienststellenleiter der PI in
Bad Wörishofen.« Demnach meine dieser, mensch solle vor Fremdenfeindlichkeit und den »betrunkenen Deutschen
in den Bierzelten Angst haben«. In Bad
Wörishofen wohnt der Partei-Aktivist
Stefan Friedmann.
Riedlingen: Brand und
Hakenkreuze an Asyl-UK
Die Pforzheimer Zeitung berichtet
davon, dass am 19.9. früh morgens an einer Flychtlings-Unterkunft in Riedlingen
(Lkr Biberach) zwei Mülltonnen in Flammen aufgingen und Hakenkreuze und
rechte Parolen geschmiert wurden. Bei
den Parolen handelt es sich laut der Ulmer Polizei um »Sieg Heil« und »Refugees go home«, letztere allerdings in unkorrekter Rechtschreibung. Auch die acht
Hakenkreuze an drei Seiten des Gebäudes
verrönscht und zugenetzt! #06 4 / 28
seien sämtlich falsch herum angebracht
worden.
MM: Hakenkreuz
Laut Polizei wurde in der Nacht vom
19. auf den 20.9. »zwischen 22 Uhr und
04.10 Uhr ein Hakenkreuz auf die Kreisstraße MN 19« bei Woringen (Bad Grönenbach Richtung Memmingen) »quer
über einen Fahrstreifen« aufgebracht.
Benutzt worden sei ein Farbmarkierungsspray.
Burgberg: Hakenkreuze
In Burgberg bei Sonthofen wurden
am 26.9. hinter der Sporthalle zwei Hakenkreuze entdeckt, die dort ins Gras gebrannt wurden. Laut Polizei waren die
von Unbekannten angebrachten Zeichen
circa 40 mal 40 und 100 mal 100 cm groß.
Oberteuringen: Brandstiftung an
Asyl-UK
Am frühen Morgen des 29.9. wurde gegen 4:50 Uhr ein Brand an der
Außenfassade einer noch unbewohnten
Geflüchtetenunterkunft in Oberteuringen (Bodenseekreis) gelegt. Wie Polizei
und Staatsanwaltschaft mitteilen wurden
Spuren eines Brandbeschleunigers gefunden und eine zwölfköpfige Ermittlungsgruppe eigens gegründet. H
TERMIN
Der NSU-VS-Komplex: Panne oder Vorsatz?
Vortrag am Freitag, 23. Oktober 2015, 19 Uhr mit Wolf Wetzel im react!OR, Frühling Str. 17, Kempten
Sebastian Lipp,
Antifa, Termin, NSU, Verfassungsschutz,
Prozess | Der Prozess zur Aufklärung der
Terror- und Mordserie des NSU läuft nun
seit über zwei Jahren. Ein Ende ist nicht
absehbar.
Die Anklageschrift geht bis heute
von der ›Erkenntnis‹ aus, dass der NSU
Some rights reserved.
aus drei Mitgliedern bestanden habe, die
letzte Überlebende säße auf der Anklagebank: Beate Zschäpe.
Die zweite Gewissheit der Anklagevertretung besteht darin, dass der NSU
eine hoch konspirative Zelle gewesen
sei und keine strukturellen Verknüpfungen zu anderen neonazistischen Gruppierungen (Blood & Honour, Combat 18
usw.) unterhalten hätte. Verbindungen
und Übereinkünfte, die auch im Kontext
der Terror- und Mordserie genutzt und
wirksam wurden.
Die dritte Gewissheit besteht darin,
dass staatliche Stellen in keiner strafrechtlichen Weise darin verwickelt sind,
weder am Aufbau dieser terroristischen
Struktur (durch V-Leute z.B.), noch an
der Nicht-Aufklärung der Terror- und
Mordserie (z.B. durch falsche und unterschlagene Spuren, die zu den Tätern geführt hätten).
Bekanntlich gibt es zahlreiche Bedenken zu diesen Ermittlungserkenntnissen.
In dieser Veranstaltung geht es nicht dar-
um, dass man auch eine andere Meinung
haben darf. Es geht vielmehr darum, dass
diese ›Ermittlungserkenntnisse‹ vorsätzlich falsch sind.
Dazu braucht man weder obskure
noch waghalsige Annahmen. Zu diesem
Schluss kommt man, wenn man exakt
jene polizeilichen Ermittlungsstandards
anwendet, die an fast jedem Tatort außer Kraft gesetzt wurden.
Der Autor und Journalist Wolf Wetzel wird dies anhand zentraler Punkte im
NSU-Komplex belegen.
Eine Veranstaltung des Kurt-EisnerVereins in Kooperation mit dem Antirassistischen Jugendaktionsbüro.
Die Ergebnisse der dreijährigen Recherche des Referenten finden sich auch
in seinem Buch: »Der NSU-VS-Komplex.
Wo beginnt der Nationalsozialistische
Untergrund - wo hört der Staat auf?«
Der Band wurde in vruzt #04 besprochen und ist nun in der dritten aktualisierten und erweiterten Auflage beim Unrast Verlag erschienen. H
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Aktuelles
verrönscht und zugenetzt! #06 5 / 28
ANTIFA
»völliger Unsinn«
Außer dem Vorfall in Immenstadt, bei dem Neonazis ein Zeichen der Solidarität mit Flüchtlingen zerstörten
und faschistische Aufkleber verlebten gäbe es »keinerlei fremdenfeindliche Aktivitäten«, sagen die Polizeichefs
von Kempten und Immenstadt, wie die AZ am 26.8. berichtet. Diese Aussage ist völliger Unsinn.
Sebastian Lipp,
Antifa
| Leser_innenbrief zu: Keine
Sicherheitsprobleme, in: AZ 26.8.2015
Es wäre eine (peinliche) Sache, wenn
das zuständige Präsidium Schwaben Süd
West von entsprechenden Aktivitäten
nichts wüsste. So musste deren Pressesprecher kürzlich einräumen, dass die
Kripo vor Veröffentlichung einer unabhänigen Recherche über die Aktivitäten der neonazistischen und rassistischen
völkischen »Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung« in einer Immobilie im Allgäu keine Ahnung hatte. Das Haus ist im Besitz von Anton
Pfahler, einst »Offizier« der paramilitärischen »Wehrsportgruppe Hoffmann« und
früherer Aktivist der neonazistischen in-
zwischen verbotenen »Wiking-Jugend«.
Über weitere Kontakte der »Artgemeinschaft« in militante rechte Kreise bis hin
zum NSU wird berichtet.
Etwas völlig anderes allerdings ist es,
wenn solche Behauptungen wider besseren Wissens kolportiert werden. Erst am
16. April diesen Jahres durchsuchte die
Polizei bundesweit 16 Objekte wegen eines Tonträgers: »Ein Haus, halb explodiert, eine Frau war’s, eine Neonazifrau.
Und weil die Frau für uns alle Vorbild ist,
wallfähren wir die nächsten Jahre zu dem
Haus, dass sie mir nichts dir nichts kaputt gemacht hat und wir, wir huldigten
ihr, der hübschen Nazimaus.« Der Bezug
auf Beate Zschäpe und den NSU ist unverkennbar. Betroffen von der Durchsuchung ist das Label »Oldschool Records«
in Bad Grönenbach, das die CD produziert und vertreibt. Mit weiteren Verfahren wegen Volksverhetzung und dem
Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen beschäftigt sich
die Allgäuer Polizei aktuell, die NPD berichtet von einem Infostand in Kaufbeuren (»Asylanten von der Straße jagen«)
und einem in Memmingen.
Und dieser Auszug kann längst nicht
alles sein: Laut bayerischem LKA meldete das Präsidium 213 extrem rechte Straftaten für das Jahr 2014 im Bereich Schwaben Süd West, Nachmeldungen nicht eingeschlossen. Diese Zahl wird
wenigstens seit 2010 jedes Jahr größer.
Von »keinerlei fremdenfeindliche Aktivitäten« kann also nicht die Rede sein. H
AKTION
Erfolgreiche Aktionsfahrt: »Freie Fahrt für alle:
Nulltarif im öffentlichen Personenverkehr!«
Direct-Action nach Bilderbuch: Mit einer 30-stündigen Aktionsserie haben einige Aktivist_innen eine Debatte angezettelt um den Unsinn des Bestrafens von Schwarzfahrer_innen, von Fahrkarten überhaupt und
gleich noch für eine andere Verkehrspolitik geworben. Start war in Kempten, es folgte eine erste AktionsZugfahrt nach München, dort Aktionen, Demos und ein Strafprozess. Die nachfolgende Aktions-Zugfahrt
nach Frankfurt war am aufreibendsten, aber nötig. Denn am 3.3. ging es - wieder per Aktionszugfahrt - nach
Gießen und dem Prozess dort Richtig toll: Unabhängig organisierten Aktivist_innen abends eine weitere
Aktionszugfahrt ab Göttingen. Nach einem Tag Pause folgte am 5.3.2015 in Gießen dann noch ein weiterer
Strafprozess.
k.o.b.r.a.,
Repression, Aktion, Verkehr | Dieser Arti-
kel erchien auch auf Indymedia1 . Dort ist
eine Vielzahl weiterer Berichte und Pressereaktionen neben weiterführenden Infos verlinkt.
Der Hintergrund: Mobilität für
alle & Nulltarif in Bussen und Bahnen - weg mit dem Autowahn!
Es ging von Anfang an um mehr als
»nur« die Kritik an der Kriminalisierung
des Fahrens ohne Ticket. So wurde auf
dem dann während der Aktion genutzten Flugblatt. Dort wurde das gesamte Fahrkartensystem und überhaupt die
Unterwerfung der Mobilität unter Kapitalzwänge kritisiert. Auszug:
• Wer sich kein Ticket leisten kann
oder will, tut das oft aus Mangel
an Geld. So sind die arm gehaltenen Menschen weniger unterwegs,
leben sozial isolierter und sind in
ihren Möglichkeiten erheblich eingeschränkt. Für Menschen mit sehr
wenig Geld bleibt nur die Qual der
Wahl zwischen Schwarzfahren oder
dem Verzicht auf Fortbewegung.
• Wenn etwas richtig viel Geld verschwendet, dann das Fahrkartenwesen selbst. Ungefähr ein Fünftel
der Einnahmen werden von Buchhaltung, Automaten, Preisberatung, Kontrollen und der Werbung
für Fahrkarten aufgefressen. Dabei
sind die Kosten für Gerichtsverfahren und Gefängnisse noch gar
nicht mitgerechnet.
Fazit: Wenn Sie mit Ticket in einer
Bahn sitzen, neben Ihnen jemensch
schwarz fährt oder sein_ihr Ticket
teilt, dann ist Ihr Fahrpreis dadurch nicht höher geworden. Stattdessen müssen Sie aber nicht die
Kontrolleur _innen mitbezahlen,
sondern den_die Kontrolleur_in.
• Es geht auch anders! Wir fordern eine Abkehr vom Fahrkartenwesen. Mobilität ist
Menschenrecht. Daher: Nulltarif für alle!
Fahrpreise halten Menschen davon
ab, den öffentlichen Verkehr zu
nutzen. Würden jedoch mehr Menschen Busse und Bahnen nutzen,
müssten mehr Linien in dichterem
Takt fahren - auch in abgelegene
Bezirke und Regionen. Das wäre
doch gut, oder? Das verbessert die
Mobilität für alle. Und hat noch
weitere Vorteile:
• Freiflächen und sichere Aufenthaltsräume in Dörfern und Städten
verschwinden durch den massiven
Autoverkehr. Wenn mehr Menschen mit Bussen und Bahnen unterwegs sind, könnten Tiere, Kinder oder Erwachsene viele der bisher für den Autoverkehr genutzten Parkplätze und Straßen zurückerobern als ruhige und kreative Spiel-, Flanier-, Erholungsoder Gestaltungsräume direkt am
Wohnort.
1 https://linksunten.indymedia.org/de/node/136745
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
• Ob Millionär_in oder HartzIV das Ticket von A nach B kostet für
beide gleich viel. Ist das nicht völlig ungerecht? Mit einem Nulltarif
können alle Menschen in gleicher
Weise mobil sein.
Der Anlass: Prozessserie gegen Schwarzfahrer (trotz Hinweisschild)
Geboren wurde die Idee der Aktionstage aber durch den Versuch des Staates, ein Schlupfloch zu schließen, mit dem
Schwarzfahren straffrei war - jedenfalls
nach Gesetzestext, einschlägigen Kommentaren und höchstrichterlichen Urteilen. So fuhren etliche Menschen schon
länger mit offener Kennzeichnung ohne
Ticket - und nutzten das noch zu Werbung für ein Nulltarifsystem im öffentlichen Personenverkehr. Entsprechende
Erklärungen standen immer wieder auf
den Schildern, die die Freifahrer_innen
an Jacke, Hut oder an anderen Stellen
befestigten und die oft hohe Aufmerksamkeit erregten. Doch Verkehrsunternehmen, viele Kontrolleur_innen (aber
längst nicht alle ...), Staatsanwaltschaften und Gerichte rückten mit vereintem
Potential gegen die kreativen Schwarzfahrer_innen an. Es kam zu Prozessen
und extrem unterschiedlichen Urteilen,
bei denen allerdings alle anerkannten: Im
Prinzip ist gekennzeichnetes Schwarzfahren tatsächlich straffrei, nur in diesem
Ausnahmefall und blablabla ... (jede_r Richter_in dachte sich irgendwas Besonderes und Unvorhersehbares aus) irgendwie doch nicht. Allein das Amtsgericht Eschwege stellte das Naheliegende
und einfach Erkennbare fest: Freispruch
- wegen Schild.
Der Angeklagte hat zwar
eingeräumt, jeweils den Zug
der Cantus Verkehrsgesellschaft benutzt zu haben, ohne im Besitz des erforderlichen Fahrscheins gewesen zu
sein. Seine Einlassung, dass
er jedoch in allen 3 Fällen vor Fahrtantritt deutlich
sichtbar einen Zettel an seine Kleidung geheftet hatte
mit der Aufschrift »Ich fahre umsonst« war nicht zu widerlegen. Damit hat er allerdings gerade offenbart, kein
zahlungswilliger Fahrgast zu
sein, weshalb bereits der objektive Tatbestand des § 265
a Abs. 1 StGB nicht erfüllt
ist. (Aus dem Freispruch des
Amtsgerichts Eschwege vom
12.11.2013)
Überall anders führten die Verfahren
mit abstrusen Begründungen zu Verurteilungen und wanderten durch Instanzen. Noch hat kein höheres Gericht darüber entschieden, dort aber würde es
Aktuelles
wohl spannend werden. In München wurde im Laufe der Aktionstage das Verfahren am Landgericht zwar eingestellt,
aber selbst der Staatsanwalt bedauerte
dort, dass es doch eigentlich mal interessant gewesen wäre, die Rechtsfrage des
Schwarzfahrens mit Kennzeichnung genauer juristisch zu prüfen (keine Angst:
das wird kommen!).
So versuchten die Schwarzfahris mit
Hinweisschild, alles mehr in die Öffentlichkeit zu bringen. Das Fahren selbst
war schon auffällig, nun sollten die Prozesse genutzt werden. Erstmals gelang
das mit dem Prozess beim Amtsgericht
Starnberg. Der Prozess wurde intensiv in
den Medien dargestellt. Danach überlegten einige Betroffene und Interessierte,
mit den Mittel einer Mischung verschiedener Aktionsformen das Thema stärker
nach außen zu tragen. Was dabei herauskam, war eine Aktionsserie mit drei Strafprozessen, inhaltlicher Vermittlung und
mehr ...
Der Ablauf im Kurzprotokoll
Teil 1: Start war am Montag, 2.3. um
10.32 Uhr in Kempten/Allgäu mit der
Aktionszugfahrt nach München, Flyern,
Auseinandersetzungen mit Schaffner_innen, aber dennoch Aktion in allen Teilen des Zuges. Kurz vor Pasing erklärte
die inzwischen im Zug aufgelaufene Polizei die Festnahme. Eine geplante Räumung in Pasing wurde aber abgesagt,
stattdessen folgten 40min Polizeikessel
im Hauptbahnhof. Die Aktivistis machten weiter: Demo durch den Hauptbahnhof, dann in der U-Bahn-Unterwelt. Der
nächste Kessel entstand, diesmal durch
MVG-Leute, am Ausgang der U-BahnStation Stiglmaierplatz. Später erreichten alle das Landgericht. Dort stand der
Prozess gegen Dirk Jessen an - zweite Instanz (Berufung) wegen Schwarzfahrens
mit Schild. Das Flyerverteilen auf den
Gerichtsfluren wurde nach einiger Zeit
untersagt: »Sie dürfen hier keine Flyer
verteilen ... jedenfalls keine in die Richtung«, sprach ein Justizwachtmeister - eine der vielen Stilblüten des Tages. Dann
der Prozess. Jörg B. wurde als Verteidiger zugelassen, zu zweit kämpfte es sich
mit offensiver Prozessführung schon ganz
gut gegen die Justizmacht. Das Ergebnis:
Eine Einstellung, also Abgang ohne Verurteilung.
Teil 2, der anstrengendste: Aktionsschwarzfahrt Richtung Gießen, wo am
Folgemorgen der nächste Schwarzfahrprozess anstand. Die Tour gestaltete sich
stressig. Einige Kontrolleure versuchten
sogar mit körperlicher Gewalt, die Aktionsgruppe im Zug zu behindern. Wortgefechte bis und großes Polizeiaufgebot in
Nürnberg. Zwangsweiser Ausstieg, aber
gute Stimmung auf beiden Seiten. Mehrere Polizeibeamt_innen wollten Fotos
machen von der Gruppe, die Info von
Aktion und Nicht-Verurteilung war inzwischen rum. Die Gruppe war prominent in Radio, Pressemitteilungen und
verrönscht und zugenetzt! #06 6 / 28
internen Polizeikanälen vertreten. Höhepunkt: Die Bundespolizei gab eine Warnmeldung2 (natürlich mit ziemlich willkürlicher Rechtsauslegung) heraus - das
hat sicherlich selten so schnell eine MiniAktionsgruppe geschafft. Direct Action
zeigte hier, warum sie den Latschdemos und langweiligen Durchschnittsaktionsformen deutscher Protestbewegungen überlegen ist. Im nächsten ICE nach
Würzburg folgte das gleiche Spiel, wenn
auch nicht ganz so aggressiv. Einen Zug
später traf die Aktionsgruppen dann auf
einen richtig netten Kontrolleur, der die
Kritik an der Firmenpolitik der Bahn
teilte - kein Wunder, er ist ja schließlich auch eher ein Opfer. Bahnchef Grube hatte vier Tage vorher als Hauptziel
der Bahn rausgegeben, ein berechenbarer Partner am Kapitalmarkt zu sein.
Personenbeförderung wird zur Nebensache im Kapitalismus, Profitinteresse dominieren. Weiter als bis Frankfurt klappte das Zugfahren dann nicht mehr. Es
folgten wenige Stunden Schlaf bei Unterstützer_innen in der Mainmetropole.
Teil 3: Früh morgens ging’s dann mit
Flyern, Diskutieren und Schwarzfahrkennzeichnung nach Gießen. Keine Probleme unterwegs. Demo im Bahnhof Gießen und durch die Stadt. 9.30 Uhr startete der Prozess gegen Jörg B. Nach knapp
30min brauchte er das Verfahren mit Anträgen zum Abbruch. Außer dem Aufruf
der Sache war genau nichts passiert. Vom
Gericht zum Bahnhof ging’s nochmal als
Demo zurück und dann auf die letzte Aktions-Schwarzfahrt nach Saasen mit dem gewalttätigsten Schaffner (HLBBediensteter), dessen Freiheitsberaubung
nur per Notbremse zu stoppen war. Ein
Tag und zwei Nächte Pause für die Aktionsgruppe, die nun in der Projektwerkstatt den 5.3. vorbereitete.
Teil 4: Dafür wurden andere aktiv.
Von Göttingen aus fuhr eine kleine Gruppe offensiv schwarz und verteilte einen eigenen Flyer.
Teil 5: Am 5.3. fand der zweite Prozess in Gießen statt. Er war sehr kurz.
Der Angeklagte Jörg B. stellte sofort
einen Befangenheitsantrag gegen Richter
Nink. Der hatte ihn 2009 für eine Feldbefreiung sechs Monate hinter Gitter geschickt und die hohe Strafe unter anderem mit der staatskritischen Einstellung
des Aktivisten begründet. Diese offensichtlich politische Justiz war zentraler
Punkt der Richterablehnung. Nink brach
den Prozess ab, ließ sich aber noch auf eine halb juristische, halb politische Debatte mit dem Angeklagten ein. Das könnte
noch spannend werden...
Reaktionen
Das Presseecho war gewaltig. Hier
waren nur sehr wenige Aktivistis unterwegs - aber eben in einer gut vorbereiteten, gleichzeitig spektakulären als
auch inhaltsreichen Aktion. Es war endlich mal wieder eine richtig gute DirectAction: Erregung schaffen, Inhalte ver-
2 http://www.presseportal.de/polizeipresse/pm/64017/2962446/bundespolizeidirektion-muenchen-bundespolizei-warnt-schwarzfahren-mit
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
mitteln, widerspenstig sein, Menschen direkt ansprechen, Konkretes und Utopisches fordern. An verschiedenen Ecken
brandeten juristische Debatten auf, z.B.
in der taz und auf einem Jurablog (wo leider Beiträge der Aktivistis zensiert werden - offenbar möchten sich selbsternannte Rechtsexperten mit solchen Leuten
nicht abgeben).
Ganz schlecht, fast peinlich, aber andererseits leider auch trostlos üblich war
das Verhalten der etabliert-verkrusteten
Teile politischer Bewegung mit ihren
starren Apparaten. Rechtshilfeorganisationen und Umweltverbände wurden vorher angesprochen. Reaktion: Null. Das
ist typisch. Die Apparate und schwerfälligen Hierarchien haben gar kein Interesse, dass die Menschen selbst Aktionen machen. Die sollen spenden, Mitglied
werden, Anwält_innen finanzieren und
sonst die Klappe halten. Solche Strukturen braucht politischer Widerstand nicht.
Sondern mehr Menschen, die ihre Ideen
entwickeln, sich Knowhow aneignen und
agieren.
Richtig grausam ist inzwischen der
Widerstand aus Rechtshilfegruppen gegen die offensive Prozessführung. Denn
diese stellt sich immer deutlicher als die
politisch interessantere und juristisch er-
Antifa
folgreichere Strategie heraus. Wenn Rote
Hilfe & Co. (zum Glück dort nicht alle!)
davon nicht nur abraten, sondern richtig Druck ausüben, das nicht zu tun, so
helfen sie der herrschenden Politik, den
Repressionsapparaten und schaden den
politischen Akteur_innen. Offensive Prozessführung hat im Laufe der vier Tage
Aktionen einen Prozess zur Einstellung
gebracht und zwei zum Absturz. Gute
Quote - lohnt sich! Mehr davon, egal
was die verkrusteten Bewegungsführungen sagen!
Wie weiter?
Viele weitere Aktionen sind möglich,
unter anderem die Idee kleinerer Aktionsschwarzfahrten an verschiedenen Orten
(z.B. bei einer Station einsteigen, flyern
und informieren, wieder raus). Wie wäre
es, wenn Leute, die sowieso schwarzfahren, das künftig mit Kennzeichnung, offensiv und mit Flyern machen? Und die,
die vor Gericht stehen, daraus Aktionen
machen? Wer beteiligt sich an einer Massenzeitung, die als bunter, inhaltsreicher
Flyer überall eingesetzt werden kann?
Wo laufen noch Prozesse? Wer macht
darauf Aktion? In Gießen gehen die beiden Prozesse ohnehin weiter. Wichtiger
als Mitlatschen oder Zugucken ist Selbermachen! Sicher ist wohl auch: Es wer-
verrönscht und zugenetzt! #06 7 / 28
den nicht die einzigen Prozesse bleiben und am Ende dürften ohnehin Revisionsoder sogar Verfassungsgericht darüber
entscheiden, ob provinzielle Richter_innen so einfach mit ihren Urteilen unter
Strafe stellen können,
wofür es keine gesetzliche Grundlage
gibt.
Unabhängig davon wäre es schön, die
Kampagnen für Fahrkarten-Teilen, pinke Punkte, Nulltarife in Kommunen usw.
wieder in Gang zu bringen. Die sind vielfach eingeschlafen. Kreative Aktionsformen können helfen, das Thema nochmals
auf die politische Agenda zu bringen - als
Ende des Nazi-§265a und als Beginn des
Freifahrens in Bussen und Bahnen. H
RECHERCHE
Allgäu: Nazi-Immobilie mit Terror-Verbindungen
Das Beispiel eines von Neonazis genutzten ehemaligen Landgasthofs im schwäbischen Rieggis zeigt deutlich,
wie in Bayern mit rechten Immobilien umgegangen wird: Verschweigen und Wegschauen, oft über Jahre und
Jahrzehnte. Eine Recherche von Robert Andreasch und Sebastian Lipp; zuerst erschienen bei a.i.d.a.
Sebastian Lipp,
Antifa, Recherche, Terror, NSU, Wehrsportgruppe |
Verschweigen und Wegschauen
München, 30 Juli 2015: Die Landtagsabgeordnete Katharina Schulze hat
Anfang Juli eine schriftliche Anfrage
über »von Rechtsextremisten genutzte
Immobilien in Bayern« eingereicht. Jetzt
ist die Bayerische Staatsregierung am
Zuge, Zahlen und Details zu nennen.
Zum Vergleich: Im Mai 2013 schrieb die
Bundesregierung auf eine SPD-Anfrage
zu »Rechtsextremismus im ländlichen
Raum« hin von 260 Immobilien, die
im Bundesgebiet »zu Veranstaltungszwecken der Rechtsextremen- und Neonaziszene genutzt werden«. 26 dieser Häuser
lägen in Bayern.
Das ist jetzt gewissermaßen die
Messlatte für das bayerische Innenministerium. Die Landtagsanfrage der
Grünen-Politikerin Schulze beantwortet
der Staatssekretär Gerhard Eck: Er
nennt erstens das Ladengeschäft des
»Versands der Bewegung« in Murnau
und zweitens den zeitweise an die neonazistische Partei »Die Rechte« überlasSome rights reserved.
senen ehemaligen Gasthof in der Winzerstraße von Kolitzheim-Stammheim. Mehr
nicht. Zwei statt 26. »Mit Ausnahme der
zuvor genannten Objekte in Kolitzheim
und Murnau«, so schreibt der Staatssekretär, »gibt es in Bayern keine Immobilie, die von Rechtsextremisten über bloße Wohnzwecke hinaus wiederholt und in
größerem Ausmaß für politische Zwecke
genutzt wird.« Und lobt sein Ministerium gleich mit: »Dies ist auch auf die
konzertierten Aktionen der bayerischen
Sicherheitsbehörden im präventiven und
repressiven Bereich zurückzuführen«.
An der Wirklichkeit geht das meilenweit vorbei. Was ist beispielsweise
mit dem Gebäude in der Münchner Paosostraße, in dem seit Jahrzehnten die
»Nationalzeitung« produziert wird? Was
mit der völkischen Siedlung »Dorflinde«
in Pöttmes? Warum wird die Villa in
Tutzing nicht erwähnt, in der »Bund für
Gotterkenntnis - Ludendorff« sich seit 70
Jahren versammelt? Was ist mit Neonazizusammenkünften im alten Schulhaus
von
Feilitzsch-Unterhartmannsreuth?
Warum sind die Immobilie des neonazistischen »Wikinger-Versands« in Geiselhöring oder die Verlagsräume rechter
Publizistik in Bayern, z. B. des “Druffel
und Vowinckel”-Verlags in Gilching, nicht
aufgeführt? Warum fehlen Burschenschaftshäuser, in denen extrem Rechte
und Neonazis Veranstaltungen besuchen,
wie in der Erlanger Loewenichstraße oder
der Münchner Möhlstraße?
Die »Artgemeinschaft« in der
»Alten Sennküche«
Eine von Neonazis genutzte Immobilie in Bayern, die das Innenministerium
auch nicht nennt, befindet sich im Allgäu: Im schwäbischen Rieggis, abgelegen
in den Hügeln zwischen Kempten und
Immenstadt, besitzt Anton Pfahler (Sinning) den ehemaligen Landgasthof »Alte
Sennküche« in der Ortsmitte. Das Haus
ist gut in Schuss, das Grundstück über
1400 Quadratmeter groß, zeitweise betrug der Versicherungswert des Ensembles fast eine Million Euro.
Das Anwesen in Rieggis ist nicht
die einzige Immobilie im Besitz von
Pfahler, einst »Offizier« der paramilitärischen »Wehrsportgruppe Hoffmann«
und früherer Aktivist der neonazistischen
»Wiking-Jugend«. Pfahler ist auch am
völkischen Siedlungsprojekt in EchsheimPöttmes beteiligt. Und sein Gelände im
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
oberbayerischen Oberhausen-Sinning bei
Neuburg an der Donau vermietete er
in den Jahren 1998 bis 2000 an den
»Deutsche Stimme«-Verlag der NPD sowie an zahlreiche bekannte Neonazis aus
dem In- und Ausland. Bei einer Razzia
im Juni 1998 fanden Polizeibeamt_innen
dort Maschinenpistolen, Sturmgewehre,
Handgranaten, Munition und Tretminen.
Im Oktober 1999 wurde Anton Pfahler
wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffengesetzes zu drei Jahren und acht Monaten Haft veruteilt. Gegen die braunen
Umtriebe von Pfahler und Co. entstand
damals vor Ort die vielbeachtete »Sinninger Initiative gegen rechts« und ein breites antifaschistisches Bündnis.
In
der
Allgäuer
Gemeinde
Niedersonthofen-Waltenhofen, zu dem
das Pfahlersche Anwesen in Rieggis gehört, regte sich bisher kein Protest. Pfahler hat den Gasthof an Bernd Burger und
dessen Ehefrau verpachtet und liess in
den Jahren 2011 bis 2014 für die Familie
der Pächter_innen (Teil-) Wohnrechte
und Nutzungsrechte ins Grundbuch eintragen. Bernd Burger ist der »erster stellvertretender Leiter« der »Artgemeinschaft«. Im nahegelegenen Kempten wird
das Postfach des »Asatru-Buchdienstes«
der »Artgemeinschaft« eingerichtet. Der
Versand bietet NS-Autoren wie Hans F.
K. Günther, völkische Literatur (»Von
der christlichen Moral zu einer biologisch
begründeten Ethik«) und Neonazibücher wie »Jürgen Rieger - Anwalt für
Deutschland« zum Verkauf an.
Der völkische Sippenverband
Abseits einer fehlenden öffentlichen
Aufmerksamkeit ist die seit 1951 bestehende »Artgemeinschaft« in der radikalen Rechten von hoher Bedeutung. Vor
allem unter dem Vorsitz des Hamburger
Neonazis Jürgen Rieger (1989-2009) fand
die »Artgemeinschaft« engen Anschluss
an den militanten Neonazismus. Norddeutsche Wehrsport-Aktivisten, Funktionär_innen der »Heimattreuen Deutschen Jugend« (HDJ) sowie Anführer
von »Blood&Honour« aus Norddeutschland tummelten sich dort in den vergangenen Jahren. Andrea Röpke veröffentlichte vor zwei Jahren im OnlineInformationsdienst »blick nach rechts«
ihre Recherchen über enge Verbindungen
der »Artgemeinschaft« zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU):
»Sogar einer der Angeklagten im
Münchener Verfahren gegen die braune
Terror-Zelle ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ (NSU), André E. aus Zwickau,
beteiligte sich vor Jahren mindestens
zwei Mal mit seiner Ehefrau sowie
dem Zwillingsbruder mit Gemahlin an
Treffen in Ilfeld. Susann E., die Frau
des mutmaßlichen NSU-TerrornetzwerkUnterstützers bestellte beim Versand der
Some rights reserved.
Antifa
›Artgemeinschaft‹ Kleidung oder Utensilien. Als die ›Artgemeinschaft‹ sich
noch in der Lüneburger Heide zu germanischem Sechskampf, Feuer und Schulungen traf, nahm auch die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe 1997
an einer so genannten ›Hetendorfer Tagungswoche‹ von Jürgen Rieger teil.«
Nach dem Tod Riegers übernahm
Axel Schunk aus dem bayerischen Stockstadt die Führung. Schatzmeisterin war
(Stand: aktuelle Vereinsunterlagen, zuletzt eingereicht für 2012) Ute R. aus dem
bayerischen Schillingsfürst. In der Zeitschrift der »Artgemeinschaft«, der »Nordischen Zeitung«, erscheinen viele Artikel von NS-Wissenschaftlern und Artikel über nationalistische Dichter und Politiker. In den »Sippennachrichten« finden sich mit Runensymbolik versehene
Todes-, Geburts- und Hochzeitsanzeigen
aus den Reihen der mehreren hundert
Mitglieder.
Bei der »germanischen Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung« verschmelzen die Verherrlichung
des Nationalsozialismus mit einem religiösen Überbau. Als Äquivalent zu
einem christlichen Glaubensbekenntnis
und den »Zehn Geboten« gilt in der
»Artgemeinschaft« ein »Artbekenntnis«
und »Sittengesetz«. Die antifaschistische
Zeitschrift »Lotta« hat die Grundsätze
der »Artgemeinschaft« in ihrer aktuellen
Ausgabe (Juli 2015) analysiert:
»Im Zentrum steht ein Ahnen und
Rassenkult (...) die Formulierung ›die
Menschenarten sind verschieden in Gestalt und Wesen‹ ist kaum verklausulierter Rassismus und ›ohne den Tod
des Einzelwesenes sind die Arten nicht
lebens- und entwicklungsfähig‹ faktisch
eine Aufforderung zum ›race war‹«.
Ahnungslose Behörden
Wir fragen bei der lokalen Kriminalpolizei nach der »Artgemeinschaft«, doch
die will von nichts wissen: »Im Zuständigkeitsbereich des Präsidiums Schwaben Süd/West sind keine Aktivitäten
der ›Vereinigung Artgemeinschaft‹ bekannt«, schreibt der Polizeipressesprecher Christian Eckel zurück. Während
unserer Recherche hat sich die Situation
um die Immobilie da schon längst zugespitzt. Anton Pfahler machte zuletzt im
Jahr 2011 Schlagzeilen, als er sich vor Polizeibeamten mit einer Ceska-Pistole in
den Bauch schoss. Aktuell soll der 69Jährige schwerer erkrankt sein. Jedenfalls
scheinen ihm seine Vermögenverhältnisse
zu entgleiten, die »Alte Sennküche«, auf
der seit 2011 eine sechsstellige Hypothek
liegt, wird, das ist spätestens im Februar
2015 klar, zwangsversteigert werden.
Die Ende Juli 2015 drohende Auktion
erstreckt sich nach Gerichtsangaben - unabhängig von eventuellen, späteren Her-
verrönscht und zugenetzt! #06 8 / 28
ausgabeforderungen - zunächst auch auf
Zubehör, Bestandteile und Gegenstände im Gebäude. Ob man deswegen bei
der »Artgemeinschaft« in Panik gerät?
Fürchtet man den Verlust von Büchern
und Schriften? Am 11. Juli 2015 kommt
es jedenfalls zu einem Treffen in Rieggis:
Aktivist_innen und Familien der Artgemeinschaft reisen aus dem ganzen Bundesgebiet (u. a. Berlin, Burgenlandkreis,
Rosenheim) sowie aus dem österreichischen Salzburg an. Im Ort versuchen die
Beteiligten erst gar nicht, sich zu verbergen. Offen prangen auf den Fahrzeugen die Aufkleber mit dem Symbol der
»Artgemeinschaft«, auf denen der (germanische) Adler den (christlichen) Fisch
fängt. Der »Buchdienst der Artgemeinschaft - GGG e. V.« hat sie für 2,50 Euro
im Angebot.
Die Männer in den bündischen
Kniebundhosen müssen schwer schuften.
Stundenlang schleppen sie schwere Pappkisten und Umzugskartons aus dem Haus
und wuchten sie in die Fahrzeuge. Sie
beladen einen kompletten 7,5 TonnerLkw, Kleinbusse und große Autoanhänger. Dass es sich bei dem schweren Kartons um Bücherkisten handelt, ist durchaus naheliegend. Dafür spricht auch eine
Änderung auf der »Asatru«-Website wenige Tage später: die Kontaktadresse für
den Buchdienst der »Artgemeinschaft«
wechselt Ende Juli 2015 von Kempten
nach Zeitz.
Schluss jetzt?!
Am 24. Juli 2015 findet am Amtsgericht Kempten vormittags der erste Zwangsversteigerungsversuch für die
»Alte Sennküche« statt. Der Verkehrswert für das Gebäude mit Hauptwohnung, sechs Appartements und ehemaliger Gaststätte, für das Grundstück und
eine Doppelgarage beträgt einem Gutachten zufolge 291 600 Euro. 114 836,85
Euro müssten mindestens als Gebot genannt werden. Auch einer der Männer,
die vor zwei Wochen beim Rausschleppen der Kartons geholfen haben, setzt
sich nun zu den Interessent_innen und
Nachbar_innen im Publikum. Neonazis,
Strohmänner oder -Frauen bieten zunächst nicht mit. Schließlich kommt kein
Gebot zustande, das die Gläubigerbank
akzeptiert, ein neuer Versteigerungstermin muss angesetzt werden.
Sollten Neonazis oder für sie auftretende Personen auch beim zweiten Termin nicht zum Zuge kommen, könnte die
von der »Artgemeinschaft« genutzte Immobilie von Rieggis vielleicht bald Geschichte sein. Am bayerischen Innenministerium oder an irgendwelchen »konzertierten Aktionen der bayerischen Sicherheitsbehörden im präventiven und
repressiven Bereich« hat das dann aber
nicht gelegen. H
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Antifa
verrönscht und zugenetzt! #06 9 / 28
ANTIFA
»Möglicher Amokläufer« verurteilt
Ein 24-jähriger Weilheimer wurde zu einer Haftstrafe wegen Verstößen gegen das Waffengesetz und dem
Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verurteilt. Der Verteidiger des Ex-NPDMitglieds hält ihn für einen »möglichen Amokläufer«. Seine Ärztin meint, »es ist der Wille, den Heldentod
zu sterben.«
Sebastian Lipp,
Antifa, Prozess | »Notfalls hole ich mir
meine Sachen mit Waffengewalt zurück.«
Mehr hatte der 24-jährige während des
ersten Verhandlungstages vor dem Weilheimer Amtsgericht nicht gesagt (bnr.de
berichtete3 ). Was ihm genommen wurde, sind verschiedene NS-Devotionalien
und Waffen. Unter Anderem einen SSTotenkopfring photographierte der Weilheimer und veröffentlichte ihn auf Facebook, weshalb er sich wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Verstößen gegen
das Waffengesetz verantworten muss. Bei
seiner Festnahme trug er laut Merkur.de4
eine durchgeladene Pistole am Gürtel, die
er sich gekauft habe, »weil mir die an-
deren Waffen weggenommen worden waren«. Damals, vor rund einem Jahr, besaß der Angeklagte als Sportschütze noch
einen Waffenschein, der ihm ebenfalls genommen wurde.
Der Prozess musste zur Einholung
eines psychiatrischen Gutachtens unterbrochen werden. Das Ergebnis: »Der Angeklagte befinde sich zwar im Grenzbereich zu einer Persönlichkeitsstörung
und an der Grenze zu einer schizophrenen Psychose, er halte ihn aber dennoch
für schuldfähig, weil er in seiner Steuerungsfähigkeit nicht beeinträchtigt sei, so
der Gutachter am zweiten Verhandlungstag.5 «
Der Verteidiger versuchte dagegen
über die Vernehmung der Ärztin des An-
geklagten eine Schuldunfähigkeit zu belegen. Die Psychiaterin, die ihn in der Tagespsychiatrie in Peißenberg behandelt
hatte, erklärte, ihr Patient sei besessen
davon, die Hausdurchsuchung zu rächen,
er wolle eine Bombe bauen und auf das
Gebäude der örtlichen Polizei werfen und
»den Heldentod sterben.«
Trotzdem wurde er am 23.9., dem
dritten Verhandlungstag, ohne Bewährung zu einer Freiheitsstrafe von einem
Jahr und drei Monaten verurteilt. Die
Richterin sah in ihm eine »erhebliche Gefahr«. Weil er seine Flucht angekündigt
hatte, wurde der »Waffennarr« direkt abgeführt. Rechtsmittel wurden eingelegt.
H
ANTIFA
Neonazis zerstören Zeichen der Solidarität
In der Nacht vom 21. auf den 22. Juli wurden in Immenstadt im Allgäu eine Reihe rassistisch motivierter
Sachbeschädigungen begangen. Es wurden unter anderem an einer vor wenigen Tagen eröffneten Flüchtlingsunterkunft über 100 neonazistische Aufkleber verklebt, eine flüchtlingssolidarische Installation an einer
evengelischen Kirche und ein Fahnenmast der örtlichen muslimischen Gemeinde zerstört. Die betroffene Gemeinde gewährte kürzlich zwei Kirchenaslyplätze. 1991 wurde in der Stadt ein Pfarrhof, in dem Flüchtlinge
ungergebracht waren, angezündet.
Sebastian Lipp,
Antifa, Neonazis, Rassismus | Unbekann-
te zerstörten den vor der Immenstädter Erlöserkirche aufgestellten Schriftzug »Menschlichkeit« und einen Fahnenmast der nahe gelgenen Moschee. An
den beiden Tatorten und zusätzlich an
der Flüchtlingsunterkunft und der Berufsschule verklebten die Täter wie sich
aus einer Polizeimeldung ergibt insgesamt etwa 150 neonazistische Aufkleber:
»Multikulti Nein Danke!«, »Todesstrafe für Kinderschänder!« oder »Nationaler Sozialismus ist wahre Demokratie!«
etwa. Die Motive der »Heimattreuen Bewegung« machen die Motivation für die
Taten klar.
Diese Aktion sollte nicht unwidersprochen bleiben, weshalb die betroffene Kirchengemeinde noch am folgenden
Abend eine Solidaritätskundgebung gegen Fremdenfeindlichkeit und in »Solidarität mit allen Asylsuchenden und
Flüchtlingen« organisierte. Es fanden
sich bis zu 150 Personen zu einer Kundgebung und Gebet. Ein Vertreter der
Kirchengemeinde und der Bürgermeister ergriffen das Wort. Es gäbe »keinen
Platz für Menschenfeindlichkeit, Hass
und Rechtsradikalismus« in BayerischSchwaben.
Aus dem Umstand, dass viele der
Aufkleber von der lokalen Neonazitruppe
»Bündnis Freies Allgäu« stammen lässt
sich der Verdacht ableiten, dass diese für
den rassistischen Ausbruch verantwortlich sind. Bereits 2012 fiel die Gruppe mit
einer ähnlich ausgerichteten Aktion auf:
In Immenstadt hängten sie in der Nacht
vom 14. auf den 15. März ein Banner »Je
mehr desto schlechter - Asylheim Immenstadt. BfA«, nachdem Bürger_innen gegen die Unterbringung protestierten und
Unterschriften sammelten. Drei damals
19, 22 und 25 jährige werden in der Nähe
mit einem weiteren BfA-Transparent aufgegriffen. Einen der drei ordnet die Polizei der »Skinhead-Szene« zu. Am Volkstrauertag 2013 gedachte die Gruppe ihren »Helden« aus dem zweiten Weltkrieg:
»Opa war in Ordnung. Heldengedenken«
Die angegriffene Kirchengemeinde
will sich nicht nur mittels des zerstörten
Schriftzuges aus hüfthohen Betonbuchstaben solidarisch mit Asylsuchenden zeigen. Im Mai gewährte sie zwei Frauen
und einem Kind Kirchenasyl, um sie vor
einer drohenden Abschiebung nach Italien zu bewahren.
Es gibt aber auch andere Stimmen.
Sowohl vor Ort auf der Kundgebung als
auch prominent patziert auf dem Titel des Lokalteils der Allgäuer Zeitung.
Hier formulierte der Mitarbeiter der Zeitung Peter Januschke seinen Standpunkt:
»Tag für Tag das gleiche. Man könnte meinen, das öffentliche Leben dreht
sich fast nur noch ums Thema Asyl.
[. . . ] Und jetzt um Hetze und Rassimus.« Das sei neu in der Gegend. Er
fragt, ob die Gesellschaft das durchstehe, »wenn immer noch mehr Flüchtlinge kommen?« Darüber wegzuschauen sei
gefährlich. Januschke fragt weiter, was
man einem Hartz-IV-Empfänger, der sich
nur noch Leitungswasser leisten könne
während »Asylbewerber übers Essen klagen« entgegenen könne. Solche Sichtweisen dürfe man - da ist dem Kommentar sicher recht zu geben - nicht ignorieren. Ohne eine qualifizierte Antwort
und vor dem formulierten Hintergrund
der Angst um den eigenen Wohlstand
droht der Standpunkt Januschkes aber
3 http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/recht-gegen-recht
4 http://www.merkur.de/lokales/weilheim/weilheim/waffennarr-24-weilheim-gericht-5542441.html
5 http://www.merkur.de/lokales/weilheim/weilheim/waffennarr-weilheim-muss-gefaengnis-5569847.html
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
eher zur Stärkung der Täter als der Solidarität mit Geflüchteten beizutragen.
1991 waren Flüchtlinge in einem alten Pfarrhof in Immenstadt untergebracht. Dieser wurde bei einem Brand-
Antifa
anschlag am 13.10. völlig zerstört. Daran
fühlten sich laut Pfarrer Ulrich Gampert,
der zur Kundgebung einlud, viele Gemeindemitglieder erinnert. Zwei Kurden
überlebten schwer verletzt, nachdem sie
verrönscht und zugenetzt! #06 10 / 28
sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten konnten. Drei rechte Skinheads
waren die Brandstifter. H
AKTUELLES
SS-Mörder Sören Kam tot
Am 23.3.2015 verstarb in Kempten mit über 93 Jahren Sören Kam. Der Däne trat freiwillig der SS bei und
erschoß mit zwei weiteren SS-Leuten 1943 einen den dänischen Journalisten J. H. Clemmensen im Rahmen
einer »Säuberungsaktion«, bei der mindestens 125 Menschen ermodert wurden.
Kurt Wirth,
Antifa | Er war auch maßgeblich an der
Vorbereitung der Deportation der dänischen Juden beteiligt (die sich allerdings
nur als geringer Erfolg erwies, weil den
meisten Juden die Flucht nach Schweden gelang). In Dänemark wurde er nach
1945 in Abwesenheit wegen Mordes verurteilt. Er hatte sich nach Deutschland
abgesetzt, wo er zunächst unter falschem
Namen lebte und ihn später der sog.
»Führererlaß«, der auch in der BRD
weiterhin Gültigkeit hatte, lange Jahre
vor Auslieferung schützte: Ausländer, die
freiwillig der SS beitraten, wurden au-
tomatisch deutsche Staatsbürger. Deutsche Gerichte - zuletzt das OLG München
im Jahre 2006 - bewerteten die Tat als
Totschlag und der sei verjährt (nicht so
in Dänemark). Dänische Auslieferungsanträge wurden so regelmäßig abgelehnt.
Schon ab einer ersten Vernehmung
1968 behauptete er auch stets, er habe
»nur« auf den bereits tot am Boden liegenden Clemmensen geschossen. Damit
stellten deutsche Gerichte auch »mangelnden Beweis« fest. Im Jahre 1997
tauchte jedoch der Obduktionsbericht
auf. Dieser stellte fest, dass Clemmensen stehend von allen acht abgegebenen
Schüssen getroffen wurde.
Sören Kam wurde 1995 in einem
Filmbericht der ARD von dänischen Zuschauern erkannt, als er beim Ulrichsbergtreffen, ein SS-Veteranentreffen in
Kärnten, im Beisein von Jörg Haider und
einer Himmler-Tochter mit dem Hitlergruß in Erscheinung trat.
Er arbeitete jahrelang in Kempten
(Allgäu) als Vertriebsleiter einer größeren Brauerei. Im vorigen Jahr weilte ein
Team des französischen Fernsehens in
Kempten, um die Frage, ob auch alte SSMörder noch vor Gericht gestellt werden
sollten, zu thematisieren. H
ANTIFA
Angriff auf Nazis: Freispruch für Antifas,
Polizeibeteiligung ungeklärt
Am 10.03.2012 veranstalte die rechte »Bürgerinitiative Ausländerstopp« (BIA) mehrere von antifaschistischen Aktivitäten begleitete Infostände in München. Am Rande eines der Stände kam es zur Rangelei
zwischen Rassist_innen und ihren Gegner_innen. Dabei sollen sich Zivilpolizisten beteiligt haben. Kollegen bestätigen, dass sie vor Ort waren, Namen will aber keiner kennen. Aufklären könnte der ermittelnde
Staatsschützer, an der entscheidenden Stelle verließ ihn allerdings vor Gericht seine Aussagegenehmigung.
Dafür sorgte er für Auffälligkeiten in den Vernehmungen, bei denen die Zivilpolizisten erwähnt worden seien
aber nicht ins Protokoll aufgenommen wurden. Wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung
wurde Anklage gegen fünf (damalige) Antifaschist_innen erhoben. Sie wurden zunächst mangels Tatnachweis freigesprochen, woraufhin die Staatsanwaltschaft Berufung einlegte aber in der Hauptverhandlung am
26.3.2015 einsah, dass sich hieran nichts ändern würde und zurück zog. Damit wurden die Freisprüche rechtskräftig. Zuvor noch konnte Rechtsterrorist Karl-Heinz Statzberger und einer seiner Kameraden spontan aus
dem Publikum in den Zeugenstand bestellt und von Antifaschist_innen und ihrer Verteidigung vernommen
werden.
Sebastian Lipp,
Repression, Aktion, Antifa, Prozess
| Die
»Bürgerinitiative Ausländerstopp« führte am 10.03.2012 eine Infostandserie im
Münchner Stadtgebiet durch. Begleitet
wurde diese von antifaschistischen Protesten. Am ersten Stand an der Ecke
Ganhoferstraße/Heimeranstraße kam es
zu einem Gerangel zwischen den Neonazis der BIA und Antifaschist_innen, als
letztere auf die Rassist_innen zu- und
nach wenigen Sekunden wieder auseinanderstürmten. Einer der Rechten wurde
dabei leicht verletzt. So weit hat sich der
Vorgang schon während der Erstinstanz
unstrittig gezeigt.
Ein Antifaschist wurde noch vor Ort
von der Polizei festgenommen, alle anderen Beschuldigten wollen die Neonazis
Friedmann, Bissinger, Meierhofer, MeiSome rights reserved.
er und Meier später in Versammlungsgeschehen und auf Photos wieder erkannt
haben, obwohl die nach Aussagen der
Zeugen vermummt gewesen seien. Flaschen und Steine wollen sie teils auch fliegen gesehen haben, während Polizeizeugen vom Gegenteil überzeugt sind - entsprechende Spuren »hätten wir ja gleich
gesichert.«
Ebenso widersprüchlich sind die Auffassungen zum Hergang der Vernehmungen einiger der genannten Zeugen. Die
sind nämlich zum Teil überzeugt, dass
im Pulk der Angreifer zwei Personen aktiv beteiligt waren, die später als Zivilbeamte Festnahmen durchführten. In den
Vernehmungen taucht dieser Sachverhalt
nicht auf, weshalb einer der Neonazis die
Unterschrift verweigerte, wie er sagt. Ungewöhnlich ist auch die Dauer der fragli-
chen Vernehmungen. Einmal soll es laut
Protokoll über 5, ein anderes Mal sogar
über 20 Stunden gedauert haben. Beide
Zeugen sind von einer Dauer unter einer Stunde überzeugt, der Vernehmende
Staatsschützer kann sich die Dauer ebenfalls nicht erklären.
Im Laufe der Berufungsverhandlung
versuchten die Neonazis ihre Auffassung
der Beteiligung von Zivilbeamten zu bekräftigen, indem sie versuchten unerkannt über die Anwältin der ehemalig antifaschistischen Angeklagten K. ein Photo der Polizisten in den Prozess einzubringen. Bei der Übergabe stellten sie
sich so ungeschickt an, dass die Kameraden Statzberger und Hering spontan aus
dem Publikum in den Zeugenstand berufen und zur Herkunft des Bildes befragt
wurden. Statzberger meinte, er sei spähttps://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
ter ein weiteres mal von einigen »Linken«
angegriffen worden. Als er sich in Abwehrhaltung begab, hätten sich die Abgebildeten - die auch hier an der Provokation beteiligt gewesen seien - als Polizeibeamte ausgewiesen. Ab diesem Zeitpunkt wird jedem Zeugen die Aufnahme
vorgelegt. Die meisten Polizeizeugen bestätigen, dass es sich um Kollegen handelt, keiner will aber deren Namen oder
Dienststelle kennen.
Antifa
Zur Aufklärung könnte der damals
ermittelnde Staatsschützer beitragen - er
darf es nur nicht. Es gibt zwar eine
»Gesa-Liste« auf der vermerkt ist, wer
an diesem Tag welche Festnahmen durchführte. Stimmte die Aussage der Rechten, gingen hieraus die Namen der Beamten hervor und sie könnten befragt werden. Interessant ist allerdings, dass dem
Gericht nur die erste Seite dieser Liste
zur Verfügung gestellt wurde, über deren
verrönscht und zugenetzt! #06 11 / 28
weiteren Inhalt hat der Staatsschutzbeamte keine Aussagegenehmigung.
So bleibt der Vorwurf gegenüber der
Polizei ebenso unbestimmt wie der Tatnachweis gegen die Angeklagten. Darin
waren sich das Gericht und die Staatsanwaltschaft gegen Ende des zweiten Prozesstages einig, sodass die Anklagebehörde ihre Berufung6 zurückzog und den
erstinstanzlichen Freispruch7 rechtskräftig werden ließ. H
RECHERCHE
Gefährliche Netzwerke: »Legion Werwolf
Schwaben« und »Bloodline Streetwear«
»Adolf Hitler Europa Tour 1939 bis 1945« - weil er solche und ähnliche Sprüche auf T-Shirts druckte wurde
der Neonazi Harald Frank zu einer Haftstrafe verurteilt. Der Gründer der »Legion Werwolf Schwaben«, einer
Neonazigruppe mit Rocker-Habitus hatte dem Urteil nach volksverhetzende Motive und Propagandamittel
verbotener Organisationen auf Textilien gedruckt und gemeinsam mit Rechtsterrorist Martin Wiese vertrieben. Er legte Berufung ein, die nun am Landgericht Augsburg verhandelt wurde. Der Schweizer Ableger
der »Legion Werwolf« unterhält Verbindungen zu einem länderübergreifenden Netzwerk gegen das wegen
Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt wurde.
Sebastian Lipp,
Antifa, Prozess, Recherche, Rechtsterror
|
Unter seinem Modelabel »Bloodline
Streetwear« produzierte und vertrieb der
(ehemals) Mertinger Beschuldigte Motive wie »Nichtjude/Nichtjüdin«, »Bündnis 33 - Die braunen«, »Wir sind wieder da!!! 5:45«, »Drei gute Gründe gegen
Kinderschänder« mit einem Strang, einer
Guillotine und einer Pistole, »88 mm«
mit dem entsprechenden Flakgeschütz,
»Nazisupermenschen sind unbesiegbar«
so gesetzt, dass sich vertikal »NSU« lesen ließ oder »Adolf Hitler Europatour
1939 bis 1945« mit den Deutschen Invasionsdaten und einem Portrait Hitlers im
Stile von bei Rockbands üblichen Tourshirts. Für die Volksverhetzung und die
Verbreitung verbotener Propagandamittel, die das Gericht als gegeben ansah,
urteilte es auf zwei Jahre und neun Monate Haft. Ein bei der Hausdurchsuchung
und Festnahme am 13.11.2013 gefundener Schlagring, Erpressung, Betrug und
falsche Versicherung an Eides Statt waren außerdem Gegenstand des Urteils.
Terroristische Kontakte
Harald Frank behauptet, er und seine »Bruderschaft« seien nicht rechts und
nicht rassistisch, er ausgestiegen. Mit
Martin Wiese8 wählte er sich allerdings
einen Geschäftspartner, der anderes vermuten lässt. Laut Staatsschutz hat der
verurteilte Rechtsterrorist die »Arbeitsteilung vorgegeben« und beteiligte sich
an Vertrieb und Motivwahl.
Immer wieder zog es Frank in die
Schweiz. Vielleicht auch, weil es in der
Schweiz ebenfalls9 ein Chapter der Legion Werwolf gibt. So posiert Frank auf einem Photo zusammen mit dem Schweizer
Jonas Schneeberger und Anderen - allesamt in Klamotten der Legion. Schneeberger musste 2011 als Kandidat der
Schweizer Demokraten zurücktreten. Der
Grund: Eine Ablichtung10 zeigt, wie er
in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald vor
einem Bild ermordeter Juden den Arm
zum Hitlergruß erhebt. 2012 berichtet11
das Antifaschistische Infoblatt von einer Verbindung zwischen ihm und dem
Waffenschmuggler12 Sebastien Nussbaumer, welcher im gleichen Jahr nach einem
misslungenen Mordversuch an einem anderen Neonazi in Zürich bewaffnet nach
Hamburg flüchtete und dort festgenommen wurde. SPIEGEL.TV schreibt ihm
eine Führungsrolle13 im länderübergreifenden Netzwerk Kommando Werwolf zu.
Es wird vermutet, dass sich Nussbaumer
nach der Schießerei zu seinen norddeutschen militanten Kameraden der Weisse
Wölfe Terrorcrew14 absetzen wollte.
Strafbarkeit des Szenecodes »88«
bleibt ungeklärt
Auch Harald Frank wollte sich, wie
die Telefonüberwachung ergab, bei erneuter Repression absetzen - in die Schweiz
oder nach Norwegen. Das brachte ihn in
U-Haft.
Zwischen dem ersten und zweiten
Prozesstag am 20. Februar ist dem Gericht aufgefallen, dass schon das Amtsgericht in der ersten Instanz gar nicht
zuständig war. Vor die Wahl gestellt,
das erstinstanzliche Urteil zu akzeptieren oder das Risiko einzugehen, seine
letztendliche Haftdauer durch bis zum
nächstens Prozess fortdauernde Untersuchungshaft zu verlängern, gibt der Beschuldigte sich trotzig: »Akzeptieren werde ich das Urteil garantiert nicht.« Also wurde das Verfahren an die Staatsschutzkammer am Landgericht in München verwiesen, wo es von neuem beginnen wird. Die Entscheidung beruht sicher auch auf einer Überlegung des Verteidigers Frank Miksch. Wie Endstation Rechts Bayern berichtet15 sah das
Amtsgericht bei dem Motiv »88 mm« in
Verbindung mit dem abgebildeten Geschütz erstmals strafbegründend »eine
Gewaltverherrlichung und einen Aufruf
zur gewaltsamen Durchsetzung der Politik Adolf Hitlers« verwirklicht. Der Szeneanwalt16 möchte einer Rechtskraft dieser neuen Rechtsauffassung entgegenwir-
6 https://linksunten.indymedia.org/node/80764
7 https://linksunten.indymedia.org/de/node/78169
8 http://www.aida-archiv.de/index.php?option=com_content&view=article&id=2002:martin-wiese-aus-der-haft-entlassen&
catid=40:kameradschaften&Itemid=151
9 http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Schweizer-Neonazis-gruenden--Legion-Werwolf--31592204
10 http://www.20min.ch/myvote/news/story/Jungpolitiker-bei-Hitlergruss-erwischt-19528616
11 https://www.antifainfoblatt.de/artikel/schweizer-neonazi-nach-mordversuch-deutschland-festgenommen
12 https://www.antifainfoblatt.de/artikel/schweizer-neonazi-nach-mordversuch-deutschland-festgenommen
13 http://www.spiegel.tv/filme/terrornetzwerk-werwolf
14 https://linksunten.indymedia.org/de/node/90947
15 http://www.endstation-rechts-bayern.de/2014/06/amtsgericht-augsburg-sperrt-nazisupermensch-fuer-fast-drei-jahre-weg/
16 http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2012/07/03/further-neonazikader-wegen-ubergriff-auf-antifaschist-verurteilt_8990
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
ken.
Vor der Staatsschutzkammer am
Landgericht München I wurde Frank
dann zu lediglich 10 Monaten Freiheitsstrafe wegen Verwendens von Kennzeichen
verfassungswidriger Organisationen, Besitzes eines Schlagrings als verbotener
Waffe, Nötigung und falscher Versicherung an Eides statt verurteilt. Vom Betrug wurde er freigesprochen. Die Kammer sah das Propagandadelikt dadurch
Antifa
verwirklicht, dass der Verurteilte das TShirt »Europa Tour« in dem Wissen,
dass dieser es an Dritte weiter geben würde an Martin Wiese lieferte. Die Strafbarkeit des Szenecodes »88« bleibt demnach weiter ungeklärt. Im Verfahren gegen Wiese wurde von der Verfolgung abgesehen, weil ein mögliches Urteil hier
gegenüber einem Urteil vom Landgericht
Würzburg nicht beträchtlich ins Gewicht
fiele. Hier wurde er wegen Volksverhet-
verrönscht und zugenetzt! #06 12 / 28
zung, Bedrohung und dem Verwenden
von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu einer Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt17 .
Nach Verbüßung von 2/3 der Strafe wurde er auf Bewährung entlassen. Unter
Anderem hatte er Pressevertretern gedroht, sie würden eines Nacht abgeholt
und nach Verurteilung vor dem Volksgerichtshof standesrechtlich erschossen werden. H
ANTIFA
Freispruch für Frei.Wild
Der Jugendforscher Klaus Farin hat über die Band Frei.Wild geschrieben. Herausgekommen ist ein anbiederndes und unkritisches Fan-Buch: es gibt schöne Fotos, nette Worte und eine Generalabsolution: Kritik an
dieser nationalistischen Band, die Rechtsterrorismus verherrlicht, sei ohne jede Substanz.
c
Nico Werner, Grauzone, Rechte, Antifa, Musik | Die Süd-
tiroler Chart-Stürmer Frei.Wild haben
kommerziellen Erfolg. Seit Jahren klettert die »Deutschrock-Band« aus Norditalien mit jedem ihrer Alben an die Spitze der deutschen Albumcharts und füllt
die ganz großen Konzerthallen. Gleichzeitig polarisiert die Gruppe: der Bandleader war mal »rechts« und Liedtexte werden als nationalistisch kritisiert.
Andererseits sagt die Band von sich,
dass sie »gegen Extremismus und Rassismus« eintrete. Wie ist die Band wirklich drauf, wer sind die Fans, was ist
dran an den »Vorwürfen«? Jugendforscher Klaus Farin hat sich solche Fragen gestellt, traf sich mit der Band und
verwertete tausende von Fans ausgefüllte
Fragebögen. Das von Farin mitgegründete »Archiv der Jugendkulturen«, beziehungsweise die Partnerinstitution »Archiv der Jugendkulturen Verlag« scheinen prädestiniert für solch ein Vorhaben
zu sein. Seit Jahren wird dort an einer
Schnittstelle zwischen eigener Szenenähe
und Wissenschaft zu allem geforscht, gesammelt, veröffentlicht, was die Jugendkulturen in Deutschland zu bieten haben. Gegen allen Kulturpessimismus werden Jugendkulturen als positive Sozialisierungsinstanzen verteidigt, ohne dabei problematische Entwicklungen zu beschönigen.
Das neue Buch von Farin ist geeignet,
den guten Ruf des »Archivs der Jugendkulturen« zu schädigen. Grundregeln seriöser journalistischer oder wissenschaftlicher Arbeit hat Farin über Bord geworfen. Das Buch ist PR, es geht keineswegs nur darum, Bands und Fans
»selbst zu Wort kommen« zu lassen, damit sich ein jeder »ein eigenes Urteil«
bilden kann. Sondern es beschönigt und
verfolgt damit einen Zweck: die Band gegen Kritik zu immunisieren. Dass auch
ein paar Frei.Wild-Kritiker zu Wort kommen, ändert nichts an dieser Grundkonstellation. Farin wählte als Titel »Südti-
rols konservative Antifaschisten« und das
ist programmatisch gemeint. Das Buch
mag keine Auftragsarbeit sein, wie Farin nahe legt, es ist jedoch in jedem Fall
ein win-win-Projekt für Band und Autor. Frei.Wild haben eine Verteidigungsschrift auf dem Markt. Und Farin selbst
hat mit dem Buch einen Kassenschlager.
Frei.Wild bewerben das Buch großzügig,
die Verkäufe laufen gut. Es gab sogar eine
gemeinsame Buchpräsentation mit Autogrammstunde.
»Wenn es gegen ›rechts‹ geht, sind
viele schnell dabei«, kritisiert Farin gleich
zu Beginn. Zwei Sorten Menschen seien
beim Kampf gegen Rechts laut Farin besonders engagiert: »moralisch-emotional
motivierte« Gutmenschen, die immer
alarmiert sind, vom Thema aber leider
keine Ahnung haben. Und dann gibt es
die »Profiteure«, »Geschäftsleute«, für
die ihre Kampagnen eine »Gelddruckmaschine« seien, denen es um Macht
und die »Selbsterhaltung ihrer aufgeblähten Strukturen« gehe. Dass Farin
und das »Archiv der Jugendkulturen«
selbst schon so manchen Förder-Euro aus
den Programmen gegen Rechts eingeworben haben, bleibt unerwähnt. 2010 kassierte das Archiv der Jugendkulturen für
die Erforschung der »Autonomen« hingegen mehr als 20.000 Euro aus Fördertöpfen zur Bekämpfung des »Linksextremismus«. 2015 brachte Klaus Farin zum
gleichen Thema ein Buch heraus.
Die in düsteren Farben gemalte AntiRechts-Industrie mit ihren naiven Fußtruppen ist schuld, so legt es Farin
nahe, dass eine durch und durch anständige und obendrein »antifaschistische« Musikgruppe Verfolgungen ausgesetzt ist. Farin geriert sich als Meinungsrebell und biedert sich mit solchen Passagen dem Anti-Gutmenschen-Lamento
und »Lügenpresse«-Gerufe der entsprechenden Milieus an.
Das Ergebnis seiner Frei.WildForschung präsentiert Farin am Ende des
Buches: »Frei.Wild distanzieren sich ein-
deutig und glaubwürdig von Faschismus
jeglicher Art und sind auch als Personen
nicht Teil der rechten Szene.« Ihr »Patriotismus« sei »konservativ, aber nicht
ausgrenzend und nicht nationalistisch«.
Der schale »Kern« der Frei.Wild-Kritik
sei, »dass sie keine ›linke‹ Band sind«.
Sänger »Philipp Burger geht mit seiner
Vergangenheit als rechter Skin (. . . ) vor
rund 15 Jahren offensiv und geradezu
vorbildhaft um und verschweigt nichts.«
Tatsächlich war Philipp Burger bis
2001 Sänger der Neonazi-Band »Kaiserjäger«. Es gibt Fotos von ihm (die auch
im Buch abgedruckt sind), auf denen er
den Hitlergruß zeigt. Burger räumt ein,
dass er mal Skinhead war, sich »rechts«
fühlte, mit der Südtirol-Liebe etwas übertrieb und dass dies ein Fehler gewesen sei.
Genauso bestreitet Burger in Interviews
allerdings immer wieder, dass er damals
überhaupt ein Neonazi war. Hitlergrüße
im Booklet der Demo-CD? Haben nichts
zu bedeuten! Kaiserjäger »war keine Naziband, sondern eine Band von drei Jugendlichen«, sagte Burger beispielsweise 2012 den »Ruhr Nachrichten«. Auch
gegenüber Farin gab er die gleiche Auskunft: »Philipp sieht seine Zugehörigkeit
zur rechte Skinhead-Szene heute noch
als ›unpolitische‹ Phase.« Burger selbst:
»Man hat sich die Hörner abgestoßen,
nicht mehr und nicht weniger.« Kann
man solche Äußerungen wirklich als »offensive und geradezu vorbildhafte« Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit adeln?
Frei.Wild hat den Song »Wir reiten in den Untergang« im Programm, in
dem sie sich als Opfer ihrer Kritiker hinstellt. Die Band würde verfolgt werden so
wie damals die Nazis die Juden verfolgt
hätten. Einziger Unterschied zu damals:
»Heut gibt es den Stempel, keinen Stern
mehr«. Gitarrist Jonas Notdurfter entschuldigt im Buch diese Entgleisung als
ein Versehen, die Provokation sei nicht
beabsichtigt gewesen: »Wenn wir das im
vornherein geahnt hätten, hätten wir es
17 http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/straftaten/artikel/nach-drohung-mit-volksgerichtshof-neonazi-wiese-muss-wiederhtml
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
anders formuliert.« Philipp Burger wird
die gleiche Frage gestellt. Seine Antwort:
»Ich habe mir natürlich schon gedacht,
dass es ein paar Leute stören könnte, aber
damit kann ich leben.« Überhaupt ärgern
ihn die ständigen Sprechverbote: »Selbst
das Wort Jude darfst du in Deutschland nirgendwo mehr nennen, dabei ist es
doch eine der Weltreligionen überhaupt
und ein ganz normales Wort.« Himmelschreiend, aber wieder von Farin nicht
kommentiert: Plattenmillionäre tun in einem Lied so, als stünden sie kurz vor der
Deportation ins Konzentrationslager und
der Sänger sieht in der Kritik an einer solchen Geschmacklosigkeit ein angebliches
Verbot, das Wort »Jude« zu benutzen.
Und: War der Song nicht als Provokation gedacht, wie Jonas Notdurfter sagt,
oder eben doch, wie es Philipp Burger beschreibt? Warum fragt Farin nicht nach?
Um Frei.Wild von allen »Verdächtigungen« freizusprechen, arbeitet Farin
zudem mit Suggestivfragen. Burger wird
gefragt: »Gibt es für dich einen Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus - abgesehen davon, dass ihr als
Südtiroler eigentlich gar keine Nationalisten sein könnt - ihr seid ja nicht mal
eine. . . «. Der Sänger greift diese Vorlage dankbar auf: »Nein, Südtirol ist kein
Staat, uns wegen unseren Texten über
dieses Land Nationalismus vorzuwerfen,
grenzt schon an politisch-geschichtliche
Missbildung.« Seit wann braucht es einen
eigenen Staat, um Nationalist zu sein?
Noch suggestiver ist eine spätere Frage an Burger. Der ehemalige Neonazi, Rechtsrockbandleader, regionale NaziSkin-Anführer wird von Farin allen Ernstes gefragt: »Warum bist du kein Neonazi geworden?« Burger antwortet: »Allein
schon von meinem Herzen aus könnte ich
das nicht vereinbaren.«
Das professionelle und bewusst gewählte Image von Frei.Wild fußt auf
einem starken Bezug auf der »Liebe«
zur Heimat Südtirol, auf der eigenen
»Bodenständigkeit« und auf den »patriotischen« Texten. Die entsprechenden Lieder gehören bei Frei.Wild-Fans
zu den populärsten. Genauso gehört zu
Frei.Wild ein Bekenntnis, irgendwie »unpolitisch« zu sein sowie eine aggressive Abwehr jeder Kritik. Die Leute, die
Frei.Wild kritisieren sind »die größten
Kokser, die zu Kinderstrichern gehen«,
geifert es im Lied »Gutmenschen und
Moralapostel«. Der Frei.Wild-Erfolg in
Deutschland beruht auch darauf, dass
sich die Fans mit ihrer Band endlich einmal als eine »Minderheit« fühlen dürfen.
»Heimatliebe« ist in Deutschland angeblich verpönt und da nimmt man den unverdächtigen »Patriotismus« der Südtiroler gern für sich selbst in Anspruch. Im
bei Fans beliebten Frei.Wild-Lied »Südtirol« heißt es: »Ich dulde keine Kritik
an diesem heiligen Land, das unsere Heimat ist«. Ein Land »heilig« zu erklären
und keine Kritik daran zu dulden, das ist
radikaler Nationalismus. Farin hingegen
umschreibt das Lied mit der Nullvokabel
Some rights reserved.
Antifa
»umstritten« und findet im Text lediglich
einen »religiös-patriotischen Pathos«.
Im »Frei.Wild«-Video zum Lied
»Wahre Werte« werden wiederum die
politischen Aufmärsche der Südtiroler
Schützen gezeigt und gefeiert. Ein Gedenkstein für den »Befreiungsausschuss
Südtirol« (BAS) wird eingeblendet. Das
Video entstand, so ist bei Farin zu lesen, in enger Zusammenarbeit mit dem
»Schützenbund«, der die »patriotischen
Texte« von Frei.Wild mag und die BAS»Freiheitskämpfer« für »Vorbilder für die
Jugend« hält. Der BAS war eine militante Nationalistengruppe in den 1950er
und 1960er Jahren in Südtirol, eine Terrororganisation, durch deren Aktionen
21 Menschen zu Tode kamen. Warum
verherrlichen Frei.Wild den BAS in ihrem Video? Ist das positive Gedenken
an Rechtsterrorismus wirklich »unpolitisch«? Was genau soll der »Extremismus« sein, von dem Frei.Wild sich distanzieren, wenn nationalistischer Terrorismus offenkundig damit nicht gemeint
ist? Farin stellt solche Fragen nicht.
Ein Argument von Frei.WildVerteidigern ist die Erklärung, dass Südtirol eine andere Geschichte als Deutschland habe. Die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols habe unter dem Faschismus gelitten und sei darum mehr
oder minder immun gegen jede Sorte
von Totalitarismus. Eines der besseren Kapitel im Buch ist der Geschichte Südtirols gewidmet. Die Mehrheit
der deutschsprachigen Bevölkerung in
Südtirol hoffte in den 1930er Jahren,
dass die von vielen verehrte Lichtgestalt Adolf Hitler Südtirol »heim ins
Reich« holen würde, ist dort zu erfahren. Am Mussolini-Faschismus störte
weniger dessen faschistischer Charakter,
sondern der Fakt, dass er italienisch war
und die deutsche Minderheit mit Repressionen belegte. Als die Wehrmacht
1943 Südtirol besetzte, wurde sie als
Befreier begrüßt. Kurzum: Der Antifaschismus in Südtirol ist ein Mythos. Farin schreibt: »Südtirols antifaschistische
Haltung ist zu erheblichen Teilen zugleich eine pro-nationalsozialistische. So
werden bezeichnenderweise zum Zeichen
des Widerstandes gegen die Faschisten
Hauswände mit Hakenkreuzen verziert.«
Diese historischen Einordnungen sind
hilfreich und verdeutlichen den Kontext der leeren Frei.Wild-Abgrenzungen
gegen »Faschismus«. Warum nur trägt
das Buch trotzdem den Titel »Südtirols
konservative Antifaschisten«?
Eine mögliche Erklärung für diesen
Wirrwarr wäre übrigens, dass Farin gar
nicht der alleinige Autor des Buches ist.
Selbst der Sprachstil weicht in den unterschiedlichen Kapiteln des Buches auffallend stark voneinander ab. Dementsprechend zieht sich das begriffliche Chaos durch das ganze Buch. So lässt Farin
kaum eine Gelegenheit aus, den Begriff
der »Grauzone« als Bezeichnung für das
Lavieren von Bands wie Frei.Wild als ungeeignet zu denunzieren. Das Wort die-
verrönscht und zugenetzt! #06 13 / 28
ne Linken nur dazu, alle Nicht-Linken
als »irgendwie doch rechts« abzuqualifizieren. Andererseits wird der der Begriff im Farinbuch selbst genutzt: Der
SPD-Sachbuchmillionär Thilo Sarrazin,
der Migranten für weniger intelligent als
Deutsche hält, wird als ein »GrauzoneAutor« kritisiert.
Farin beschreibt in seinem Buch alles Mögliche. Umso spannender ist darum, dass er die zentralen Begriffe Rassismus und Nationalismus nicht diskutiert. Das hat System, denn wenn er
definieren würde, würde er Gefahr laufen, einer Frei.Wild-Kritik zuzuarbeiten.
Frei.Wild-Musiker Jochen »Zegga« Gargitter wird gefragt, wo für ihn »rechts«
anfange. Der fabuliert daraufhin in ehrlicher Empörung darüber, wie arme Südtiroler Familien am »Lebensminimum leben« würden, während »eine Familie aus
Gott weiß woher zugewandert hier ankommt und sofort eine Wohnung sowie
Sozialleistungen für drei Jahre gestellt
bekommt, auch in den Krankenhäusern
eine kostenlose Behandlung erhält und
sich gleichzeitig eine einheimische Familie trotz Arbeit (. . . ) dasselbe vielleicht
nicht oder nur schwer leisten kann.« So
würde man das sehen in Südtirol und
diese Ansicht sei natürlich keine »rechte Haltung«. Gleich schiebt der Bassist
nach, dass er selbstverständlich »überhaupt nichts gegen Migranten« habe.
Den schnellen Reflex, bei einer solchen
Frage einen Kontrast von kinderreichen
Migrantenfamilien in der sozialen Hängematte und dazu hungernden Einheimischen aufzumachen - den muss man sehr
wohl rassistisch nennen.
Farin unterlässt systematisch jede
Einordnung von solchen Zitaten, im
Zweifel segelt alles unter Labeln wie
»Patriotismus« und »Konservatismus«.
Fängt Rassismus denn erst beim KuKlux-Klan an und Nationalismus erst bei
Hakenkreuzen? Natürlich sind Frei.Wild
keine Neonazi-Band. Und, nein, die allermeisten Frei.Wild-Fans sind keine Neonazis (wenngleich es sehr wohl habituelle Überschneidungen gibt). Und, ja,
die Band sagt von sich, dass sie »gegen
Faschismus«, »gegen Extremismus und
Rassismus« ist. Aber was hilft es? All diese Punkte treffen beispielsweise auch auf
Pegida zu. Und dennoch darf man Pegida
zurecht als ein Sammelbecken für rassistische Deutsche bezeichnen, in dem regelmäßig die Grenze zum Rechtsextremismus überschritten wird. Frei.Wild sind
politischer Kommerzrock und keine politische Bewegung, doch beide Phänomene
sind Ausdruck der gleichen gesellschaftlichen Entwicklung. Der derzeit wirkmächtigste Rassismus fängt seine Sätze an mit
»Ich habe nichts gegen Migranten, aber«.
Und genau hierfür bieten Frei.Wild einen
kulturellen Ausdruck und manchmal sogar Vorlagen. Auf der 2013er Frei.WildDVD skandierten die Fans »Lügenpresse
auf die Fresse«. Ein Jahr später wurde
der Spruch zum Schlachtruf der Pegidahttps://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Märsche.
Farin wirft mit seinem unkritischen
Buch die Auseinandersetzung mit Jugendkulturen, der extremen Rechten und
mit Rassismus zurück. Es ist zweifelhaft
und fahrlässig, dass eine verdienstvolle
Organisation wie »Schule ohne Rassismus« den Band bewirbt und ihn zum
Vorzugspreis Schulen und Jugendeinrichtungen anbietet. Zur Selbstbestätigung
der Frei.Wild-Fans mag es taugen, als
Antifa
Bildungsmaterial ist es völlig ungeeignet.
Klaus Farin: Frei.Wild. Südtirols
konservative Antifaschisten. 400 Seiten,
36 Euro. Archiv der Jugendkulturen Verlag, Berlin 2015. Bald auch als E-Book
mit zusätzlichem Material.
HINWEIS: In der ursprünglichen
Version des Textes hatte der Autor geschrieben, dass Klaus Farin 20.000 Euro aus dem Linksextremismus-Programm
des Familienministeriums für ein Buch
verrönscht und zugenetzt! #06 14 / 28
über »Die Autonomen« bekommen hätte. Korrekt ist, dass nicht Farin, sondern
das Archiv der Jugendkulturen das Geld
2010 zur Forschung über »Die Autonomen« bekommen hat. Farin hat lediglich
später ein Buch zum selben Thema veröffentlicht.
Zuerst
erscheinen
beim
Störungsmelder18 . H
ANTIFA
Was ist Gender Mainstreaming? Birgit Kelle
antwortet für die Kaufbeurer CSU
Die Stadtratsfraktion der CSU lud wohl zu einer »Talk-Veranstaltung« am 21.5.2015 gegen Gender Mainstreaming mit Birgit Kelle ins Kolpinghaus Kaufbeuren. Gefolgt seien über 100 Personen.
Sebastian Lipp,
Antifa, Veranstaltung, Gender | Das jeden-
falls berichtet »conservo«, ein der Selbstbezeichnung nach »konservativer u. liberaler Blog«. Der Autor stehe »für
ein Europa der Vaterländer« und hätte
die »Deutsche Konservative Partei« mitbegründet. Diese ist eine Ausgründung
der rechtskonservativen, reachtspopulistischen »Partei Rechtsstaatlicher Offensive« oder »Schill-Partei«.
Der CSU-Fraktionsvorsitzende Thomas Jahn leistete demnach die Einführung. Für ihn sei die »Gender-Ideologie«
menschenverachtend. weil ihr wenigstens
ein Mensch zum Opfer gefallen sein
soll. Er bezieht sich dabei auf den Fall
»John/Joan« um John Money.
Kelle, die unter Anderem für eigentümlch frei, das Online-Magazin des
Kopp-Verlags und die Junge Freiheit
schreibt, sähe im Gender Mainstreaming zudem einen »immer rigoroseren Kampf gegen die deutsche Sprache«, weil gegendert (gendergerecht formuliert) werde. Die »moderne Feministin« organisiert zusammen mit der
Zivilen Koalition der AfDlerin Beatrix
von Storch Demonstrationen gegen den
Baden-Württembergischen Bildungsplan
2015 in Stuttgart - das Motto »Demo für
alle« ist Frankreichs homophoben Auf-
märschen aus dem letzten Jahr entlehnt.
Der Soziologe Andreas Kemper bescheinigt19 ihrem Antifeminismus, so »alt und
erstickend wie der missionarische Eifer
der Legionäre Christi«, einer von ihr unterstützen erzkonservativen Organisation, zu sein.
Dagegen kann es mit Petra Ziegler
und Franz Schandl (siehe den Beitrag Sozialkritik versus Sozialpolitik in diesem
Heft) nur heißen:
Fixe Zuordnungen sozialer
Rollen hat es nicht zu geben.
Eine Schublade ist kein menschenwürdiges Habitat.
H
REZENSION
Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer
Autoritarismus
Sebastian Lipp,
Rechtsextremismus, Mitte, Rassismus, Antisemitismus, Neonazismus, Autoritarismus,
Studie | Oliver Decker, Johannes Kiess,
Elmar Brähler (Hg.): Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus. , Psychosozial-Verlag, ISBN:
978-3.8379-2490-9, 200 S., 19,90 Euro
In Kapitel 1 stellen die Autoren nochmals
ausführlich ihre Studie »Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in
Deutschland 2014«20 vor wie sie bereits
in vruzt #5 zusammen mit ihrer bielefelder Kollegin »Fragile Mitte - Feindselige Zustände« besprochen wurde. Beide
Studien erkennen einen Rückgang in
dem was als Bestandteil rechtsextremer
Einstellungen gefasst wird und einen
eklatanten Anstieg bestimmter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeiten. Wo
die Bielefelder eine bloße Diskursverschiebung annehmen geht der vorliegende Band tiefer: »Mit dem Befund allein
ist der empirische Zusammenhang von
ökonomischer Krise und autoritärer Dynamik weder erklärt noch verstanden.«
(24) Hier gehen die Autoren deutlich
weiter.
Das bundesdeutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre legitimierte die
junge Demokratie durch eine
starke Ökonomie und schuf
gleichzeitig - als narzisstische Plombe - Ersatz für
verlorene Größe. Nun wird
sichtbar, dass die Ökonomie
mehr als eine Plombenfunktion hat. Die Identifikation
mit dieser Autorität gestattet dem Einzelnen die Teilhabe an ihrer Größe und
Stärke. Die Abnahme der
recht[s]extremen Einstellung
bei gleichzeitiger Zunahme
der Abwertung bestimmter
Gruppen ist nicht nur eine
Verschiebung auf ein anderes Objekt. Im Ressentiment
gegen bestimmte Gruppen
selbst unter besten Bedingungen zeigt sich eine autoritäre Dynamik, wird ein
19 http://www.taz.de/!5033760/
20 http://www.uni-leipzig.de/~kredo/Mitte_Leipzig_Internet.pdf
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
sekundärer Autoritarismus
erkennbar. Was landläufig
als ›Ökonomisierung‹ kritisiert wird, ist faktisch die
Durchsetzung des Primats
einer sekundären Autorität.
(66)
Repression
verrönscht und zugenetzt! #06 15 / 28
Als neu schließt sich dem in Kapitel
2 eine Untersuchung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Wähler_innen
von NPD und AfD, eine Analyse der Parteigründungsrede Bernd Luckes und eine
Behandlung der Zusammenhänge politischer Einstellungen und Europa-Skepsis
an. Abgeschlossen wird der Sammelband
mit drei Aufsätzen »zum Stand der Zivilgesellschaft mit Vorschlägen und Darstellungen zum Umgang mit extrem rechten und menschenfeindlichen Einstellungen. H
ausführlich in Teil III des Buches, nachdem er zunächst die drei »Kernrätsel«
des Komplexes - Heilbronn, die Nagelbombe und den Mord an Halit Yozgat
- (Teil I) und die Genese der rechten
Terrornetzwerke aus denen der NSU hervorging (Teil II) nachzeichnet. Beleuchtet wird dabei die Rolle der Behörden
als »Brandbeschleuniger« der Szene. Zur
Interpretation der Vorgänge um den
NSU-Komplex findet der Autor klare
Worte. Er verwirft 1. die These der Bundesanwaltschaft, beim NSU handelte es
sich um ein isoliertes Trio als »Verschwörungsideologie«. Er warnt 2. davor, in die
»Rationalitätsfalle« zu tappen und die
Vorgänge als Versagen der Sicherheitsbehörden durch »Pannen, Schlamperei
und ›maximales Bescheuert-sein‹« zu
verklären. Stattdessen orientiert sich seine Position an der Linie des Erfurter
Untersuchungsauschusses zum Komplex.
Demnach ist klar, dass der NSU ohne die
spezifische Rolle der Behörden (so) nicht
möglich gewesen wäre und heute Aufklärung von eben jenen Stellen sabotiert
und unterbunden wird. Der Rechtsextremismusexperte setzt Hoffnung in eine Reform des Verfassungsschutzwesens
(Teil IV). Leider wurde auf ein Sach- und
Personenregister verzichtet. H
REZENSION
Staatsaffäre NSU
Eine offene Untersuchung
Sebastian Lipp,
Antifa, NSU
| Hajo Funke: Staats-
affäre NSU. Eine offene Untersuchung, Kontur-Verlag, ISBN: 9783-944998-06-0, 408 S., 20,00 Euro
Seinen Band zur »Staatsaffäre NSU«
bezeichnet der Autor Hajo Funke als
»offene Untersuchung«. Gemeint ist damit wohl der notwendigerweise unvollständige Charakter der Arbeit - Funke
spricht von »Notizen«. Geschuldet ist
dies nicht zuletzt dem immensen Aufwand, den staatliche Behörden in die
Vermeidung von Aufklärung investieren.
Diesem Sachverhalt widmet sich Funke
REZENSION
Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen
Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet
Sebastian Lipp,
NSU, Nazis, Terror
| Barbara John
(Hrsg.): Unsere Wunden kann die
Zeit nicht heilen. Was der NSUTerror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, Herder, ISBN: 9783-451-6727-3, 176 S., 12,99 Euro
Es mangelt nicht an Veröffentlichen zum
NSU-Komplex. Viel wurde und wird ge-
schrieben über die Täter, ihr Umfeld
und die Rolle der Behörden. Seltener
schon wird über die Opfer geschrieben
und kaum kommen diese selbst zu Wort.
Anders in »Unsere Wunden kann die
Zeit nicht heilen«. Mit der Herausgabe
dieses Buches gibt Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die
Opfer und Hinterbliebenenfamilien den
vom NSU-Terror betroffenen ein Gesicht
und eine Stimme. So sehr die Tötung
Michèle Kiesewetters aus der Mordserie
des NSU-Netzwerks hervorsticht, fällt
allerdings auch im vorliegenden Band
eine Besonderheit auf. Wo zu allen Taten
ausschließlich direkt Betroffene oder deren engste Verwandte zu Wort kommen,
wird von mehreren von Kiesewetters
Freund_innen ein Beitrag abgedruckt.
H
REZENSION
Die willigen Vollstrecker in Robe: Justiz im 3. Reich
Die Behauptung, fast alle Deutschen seien nach 1933 Nazis gewesen, ist falsch. Ebenso falsch ist, dass die
Nazis irgendwie von außerhalb gekommen wären und das eigentlich gute Deutschland missbraucht hätten.
Vielmehr zeigte sich im Nationalsozialismus und seinen Verbrechen in einer beeindruckenden Art, dass williges Vollstreckertum beliebige, auch brutalste Handlungsweisen ermöglicht. Die NSDAP musste nicht viele
Menschen austauschen oder umerziehen. Sie trafen auf eine Mehrheit, die jeden Befehl ausführen würde, wenn
das nur ausreichend propagandistisch unterfüttert oder als Dienstanweisung im Job oder anderen Hierarchien
geschah.
Jörg Bergstedt,
| Schonungslos zeigt das Buch »NS-Justiz
und Nachkriegsjustiz« von Albrecht
Pohle und Mitautorinnen (2014, Wochenschau in Schwalbach, 222 S.) das Wirken der Richter im Nationalsozialismus
- im Gericht und im politischen Raum.
Repression, Geschichte, Antifa
Some rights reserved.
Und schlimmer: Nach 1945 setzten viele ihre Karrieren in Robe. Nur wenige
Verbrechen »im Namen des deutschen
Volkes« wurden zwar überhaupt geahndet, aber selbst dann kamen die Richter
nach kurzer Zeit wieder frei und konnten neue Karrieren beginnen. Das Buch
zeigt das an konkreten Personen und an
den Orten des Grauens, unter anderem
den Lagern Esterwegen und Hinzert. Im
Mittelpunkt stehen dabei die Nacht-undNebel-Deportierten, also denen, bei denen die NS-Führung politische Unruhen
befürchtete und die deshalb »verschwinden« statt öffentlich abgeurteilt werden
sollten.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
In ebenso beeindruckenden Büchern
haben Autor_innen im Suhrkamp-Verlag
das für die Justiz und das Rechtsdenken insgesamt untersucht. Dabei stehen
weniger die konkreten Taten als Motive
und Denkkulturen im Mittelpunkt - so
in »Recht und Justiz im ›Dritten
Reich‹«, herausgegeben von Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (1989, 373 S.,
15 Euro). Hier werden in verschriftlichten Fachbeiträgen zu einer gleichnamigen
Ringvorlesung an der Universität Göttingen die Beeinflussungsgrößen untersucht,
Repression
die aus der Justiz eine Stütze der Tötungsmaschinerie machte - vom Jurastudium über die Gesetze bis zur Personalpolitik. Wer die unfassbaren Denklogiken in Originaltexten nachvollziehen will,
kann zum Buch »Rechtfertigung des
Unrechts« von Herlinde Pauer-Studer
und Julian Fink (2014, 563 S., 22 Euro)
greifen. Hier sind die maßgeblichen Gesetze, Anweisungen und Leitlinien - meist
auszugsweise - zitiert. Damit das mörderische Treiben der Täter in Robe, die ja
vom Schreibtisch aus agierten, auch zur
verrönscht und zugenetzt! #06 16 / 28
Praxis wurde, brauchte es willige Vollstrecker_innen, die zu umfangreichen
Gewaltorgien ohne Tötungshemmung bereit waren. Wie solche Organisationen
und in ihnen die brutalisierten Rädchen
im System geschaffen wurden, beschreibt
Stefan Kühn in »Ganz normale Organisation« (2014, 411 S., 16 Euro). Die
»Soziologie des Holocaust«, wie der Untertitel heißt, vermittelt einen intensiven
Einblick in Gehorsams- und Anpassungsstrategien mit einer Mischung aus Manipulation und Drohung. H
REPRESSION
»129 das kennen wir schon - Feuer und Flamme der
Repression!«
Knastkundgebung vor der Kemptener JVA in Solidarität mit den inhaftierten Mitgliedern der ATIK
Sebastian Lipp,
Repression, Aktion, Demonstration, Knast |
Am 15. und 18. April wurden in Deutschland, Frankreich, Griechenland und der
Schweiz insgesamt 11 Mitglieder der linken MigrantInnenorganisation ATIK von
Sondereinheiten der Polizei festgenommen. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer türkischen kommunistischen Partei.
Da eine der inhaftierten, Müslüm Elma, in der JVA Kempten festgehalten
wird wurde dort am 23.05.2015 eine Solidaritätskundgebung für die Freiheit aller politischen Gefangenen und die Abschaffung der Paragraphen 129a/b abgehalten. Dem Aufruf der ATIK folgten
deutlich über 50 Personen, die Parolen
wie »129 das kennen wir schon - Feuer und Flamme der Repression« auf türkisch und deutsch skandierten und einige
Redebeiträge abhielten.
Zum Hintergrund ein Artikel von
buvo-heinz aus der Zeitung der Roten
Hilfe:
Erneute Razzien gegen
linke AktivistInnen
ATIK im Fokus der europäischen
Ermittlungsbehörden
Am 15. und 18. April wurden in
Deutschland, Frankreich, Griechenland
und der Schweiz insgesamt 11 Mitglieder der linken MigrantInnenorganisation
ATIK (Konföderation der Arbeiter aus
der Türkei in Europa) von Sondereinheiten der Polizei festgenommen.
Ihnen wird vorgeworfen, der TKP/ML
(Türkische
Kommunistische
ParteiMarxistisch-Leninistisch) anzugehören.
Allen Inhaftierten droht eine Anklage
nach dem Gesinnungsparagraphen 129b
(Mitgliedschaft in einer ausländischen
Some rights reserved.
terroristischen Vereinigung), die im Ausland Festgenommenen sollen nach Information des ATIK Vorstandes nach
Deutschland ausgeliefert werden.
Hierzulande finden derzeit bereits seit
Jahren Prozesse und Ermittlungsverfahren gegen vermeintliche Mitglieder linker
Exilorganisationen PKK (Kurdische Arbeiterpartei) und DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) statt.
Etliche Verurteilungen zu mehrjährigen
Haftstrafen hat es schon gegeben.
In einer Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft begründet diese die Festnahmen unter anderem damit, dass es
eine enge Kooperation zwischen der
TKP/ML und der PKK gegeben habe. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt,
indem Friedensverhandlungen zwischen
der türkischen Regierung und der kurdischen Befreiungsbewegung stattfinden.
Des weiteren waren die Medienberichterstattungen in Deutschland in den vergangenen Monaten im Gegensatz zu den
vergangenen Jahren zum Teil positiv,
ist es doch unbestritten dass vor allem
die PKK die Bevölkerung des selbstverwalteten Kantons Kobane auf syrischem
Territorium gegen die Milizen des sog.
Islamischen Staates (IS) verteidigt hatte.
Weitere linke Organisationen wie eben
auch die TKP/ML beteiligten sich an
den YPG/YPJ (Volks- und Frauenverteidigungseinheiten) und verhinderten
Massaker an verschiedenen Volks- und
Religionsgruppen, die andernorts stattfanden, da es keinen effektiven Schutz
gegeben hatte. Dieser Versuch der Legitimierung des Repressionsschlages, während die Bundesregierung Waffen an die
nordirakischen Peschmerga liefert, ist
höchst widersprüchlich, es sei denn, er
reiht sich in die allgemeine Unterstützung des autoritären AKP Regimes in
Ankara durch die Bundesregierung in
ihrem Kampf gegen sämtliche oppositionelle Kräfte ein.
Eine neue Qualität der Repression
sind die in Aussicht gestellten Anklagen nach dem §129b vor allem aus dem
Grund, dass die TKP/ML in Deutschland bisher keinem Verbot unterliegt.
Auch eine Listung auf den »Terrorlisten«
der USA und EU ist bisher nicht erfolgt.
Bundesweite Durchsuchungen gegen Vereinsräume von ATIK in Deutschland im
Jahre 2007 hatten nicht zu Festnahmen,
sondern lediglich zur Beschlagnahmung
zahlreicher Datenträger geführt.
Über den Zeitpunkt der Festnahmewelle in Europa kann viel spekuliert werden. Wenig jedoch darüber, dass offenkundig eine Exilorganisation der migrantischen Linken zerschlagen werden soll.
ATIK ist bereits seit Ende der 80er Jahre
in zahlreichen europäischen Ländern aktiv. Neben den Protesten gegen das Regime in Ankara und deren militaristische
Politik, ist ATIK seit seinem Bestehen
für die Rechte migrantischer ArbeiterInnen und gegen Rassismus in den jeweiligen Ländern aktiv und engagiert sich in
zahlreichen linken Bündnissen.
Es ist ein positives Zeichen, dass es
zeitnah kleinere Demonstrationen im Inund Ausland gegen die Inhaftierungen
gegeben hat. Der Protest an der Repression gegen ATIK wie auch andere betroffene linke MigrantInnenorganisation sollte allerdings unabhängig von der jeweiligen Ausrichtung oder politischen Übereinstimmung eine Aufgabe der gesamten
Linken sein.
Denn hier geht es einmal mehr um
nicht weniger als die Verteidigung der
Organisationsfreiheit und die Legitimität
des Kampfes gegen reaktionäre, militaristische Regime.
Den Gesinnungsparagraphen 129ff.
sollte deswegen geschlossen entgegengetreten werden, wenn der politische
Kampf gegen den Abbau demokratischer Grundrechte perspektivisch erfolgreich sein soll.
Informationen zur Solidaritätskampagne unter: www.atik-online.net H
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Repression
verrönscht und zugenetzt! #06 17 / 28
AKTION
Bombenanschlag an der syrisch/türkischen Grenze:
Solidarität in Memmingen
Am Tag nach dem Bombenanschlag an der syrisch/türkischen Grenze gegen eine 300-köpfige Jugenddelegation, die Aufbauhilfe in Kobanê leisten wollte, gab es am Dienstag, den 21. Juli eine spontane Solidaritätsaktion
in Memmingen.
Sebastian Lipp,
Terror, Anschlag, Demonstration, Aktion |
Aufgerufen hatte der YXK, der Verband
der Studierenden aus Kurdistan, zu bundesweiten Demos unter dem Motto »Stehe zu Pirsus - Stehe zu Kobanê - Stehe zu Rojava«. Dem waren in Memmingen laut Berichten etwa 80 bis 90 Personen gefolgt. Eine Gruppe junger Aktivist_innen stieß als spontaner Demonstrationszug vom Weinmarkt zur Kundgebung am Marktplatz. Hier wurde ein
Redebeitrag des alevitischen Kulturvereins auf deutsch und türkisch verlesen.
Außerdem wurde sich kritisch zum Verbot er PKK geäußert. Eine Schweigeminute und die Niederlegung von Blumen
für die Opfer des Anschlages beendeten
die Aktion.
Wie es im Aufruf zu den Aktionen
heißt, reiste die Jugenddelegation auf
Grund eines Appells der Föderation Sozialistischer Jugendvereine SGDF nach
Pirsus/Suruc auf der türkischen Seite der
Greneze, um sich am Wiederaufbau der
Stadt Kobanê in Rojava zu beteiligen.
Bei dem Anschlag, für den die YXK »sowohl die AKP des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, als auch
ihre Handlanger und de facto Verbündete, der IS (Islamischer Staat)« in der Verantwortung sieht, starben mindestens 30
Menschen, mehr als 100 wurden verletzt.
H
REPRESSION
Polizisten beleidigt: Verurteilung lohnt nicht, weil
Betroffener sich verteidigt
Während einer Blockade des AKW Neckarwestheim Ende April 2013 raste ein PKW durch mehrere Absperrungen bis in die Demonstration hinein. Der Fahrer, der ohne das Eingreifen der Protestierenden bei dieser
massiven Gefährdung nicht nur einen von ihnen verletzt hätte, wird von Polizei und Justiz geschützt. Diese
geht gegen die eigentlich Betroffenen: Mit Polizeigewalt vor Ort und lächerlichen Ermittlungen und Anklagen im Nachgang. So fand sich ein Aktivist am Freitag, den 10. Juli bereits in der zweiten Instanz vor dem
Landgericht Heilbronn dem Vorwurf einer »Beleidiung« ausgesetzt: »Laber doch ned so ne Scheiße, Mann«,
soll er zu einem Polizisten gesagt haben. Nach mehreren Stunden wurde der Prozess schließlich eingestellt.
Der Aufwand lohne dem Gericht nicht die geringe zu erwartende Strafe.
Sebastian Lipp,
Repression, Aktion, Ökologie, Antiatom
|
Im Laufe der etwa 10-stündigen Blockadeaktion für einen sofortigen Atomausstieg21 durchbrach plötzlich ein PKW die
Absperrungen und Transparente an der
Zufahrt zum Gelände, die ihm die Sicht
auf möglicherweise dahinter befindliche
Personen versperrt haben müssen und
fuhr in die Demonstartion hinein auf weitere hölzerne Blockadekonstruktionen auf denen sich in fünf Metern Höhe Menschen befanden - zu. Herbeieilende Aktivist_innen zwangen den Fahrer vorerst
anzuhalten. Der blieb aber nicht dabei.
Trotz der Aufforderung, den Wagen zu
stoppen, gab er erneut Gas und setzte
mehrmals vor und zurück. Hierbei zogen
sich mehrere Personen Prellungen zu, einem Demonstranten fuhr er trotz Warnrufen über den Fuß und blieb mehrere Sekunden darauf stehen. Erst nachdem der
Fahrer überzeugt war, vom Fuß herunter zu fahren und weitere Fahrversuche
zu unterlassen kam die Polizei herbei, die
sich bis dahin nicht in ihrer passiven Beobachtung der Versammlung stören ließ.
Als sie sich einmischte, beschwerte
sich der Amokfahrer darüber, dass sein
Auto beschädigt worden sei - was augenscheinlich nichteinmal der Fall war
- so dass die Polizist_innen gegen die
Demonstrant_innen vorgingen und diese mit Gewalt (schlagen und würgen) abzudrängen und Personalien aufzunehmen
versuchten. Dabei wurde einer Aktivistin ein Finger gebrochen und möglicherweise die Bänder gerissen. Derjenige dessen Fuß unter den Reifen geriet, klagt bis
heute über Schmerzen.
Statt Spurensicherung zu betreiben
verharmloste die Polizei den Vorgang
als »Verkehrsunfall« und »fahrlässig«
und weigerte sich Anzeigen der Betroffenen aufzunehmen. Nun, nachdem die
trotzdem erwirkten Verfahren gegen den
Mann, der seiner Aussage zufolge wegen des »Packs« Umweltaktivist_innen
»schon viel Geld verloren« habe, eingestellt wurden, sollten sich die Aktivist_innen wegen Lächerlichkeiten und Kleinigkeiten verantworten.
So wurden einige der rund 40 Aktivist_innen vorgeladen, um wegen angeblicher Sachbeschädigung, Bedrohung
und Beleidigung vernommen zu werden.
Einem sollte am Freitag, den 10. Juli
2015 vor dem Landgericht Heilbronn er-
neut der Prozess gemacht werden, nachdem er gegen seine Verurteilung vor dem
Amtsgericht Besigheim Berufung eingelegt hatte. Er hätte einen Polizisten geduzt und aufgefordert: »Laber doch ned
so ne Scheiße, Mann!«, weshalb er sich
beleidigt fühle. Diesmal schien dem Richter allerdings der Aufwand, eine Verurteilung zu erreichen zu hoch und er stellte das Verfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein, bevor der Prozesstag
zu Ende war und durch den sich offensiv selbst verteidigenden22 Angeklagten und seine Verteidigung23 neue Sachverhalte vorgebracht werden sollten, die
einen Freispruch hätten nahelegen müssen. Die Identität des Täters nämlich war
keineswegs sicher geklärt. »Es hätte uns
zwar sehr gejuckt, aber die zu erwartende Strafe steht einfach in keinem Verhältnis zum Aufwand«, begründete der
Richter seine Entscheidung. Es sei außerdem eine Frechheit, dass der Angeklagte sich nicht vorbehaltlos über die Einstellung freue sondern auch noch fordere,
dass die Staatskasse seine Auslagen übernähme. H
21 http://blog.eichhoernchen.fr/post/Atomausstieg-selber-machen-AkW-Neckarwestheim-blockiert
22 http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/tipps_prozess_verteidigung.html
23 http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/kobra/laien.html
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Kapitalismuskritik
verrönscht und zugenetzt! #06 18 / 28
ASTRONAUTIK
Notiz vom Ende einer Lebensform j.w.d.
Nein, diese hier waren noch nicht unsere Brüder und Schwestern. Um zu erfahren, was auf diesem Planeten
hier passiert, reicht es aus, nach ungefähr 5000 Umkreisungen des Planeten um die Sonne wieder vorbeizukommen. Für Trauerspiele ist uns unsere Zeit zu schade. . .
Anette Schlemm,
Zukunft, Ökologie |
Sie schreiben das Jahr 2050. Das
Jahr, in dem sie die Welt gerettet haben
wollten. Wir, die Beobachter, verschwenden hier nur unsere Zeit. Es war schon
spannend, die letzten Zuckungen einer
stolzen Zivilisation zu beobachten und
zu protokollieren, aber jetzt gibt’s nichts
mehr zu berichten. Auch in diesem Sonnensystem, am Rande unserer Galaxie,
bestätigt sich die tausendfache Erfahrung: Alle Zivilisationen verbrauchen am
Anfang in ihrem ungestümen Wachstum
die Ressourcen ihres Planeten, erzeugen
eine ihnen gemäße Natur und müssen
dann mit den Folgen ihres Tuns zurecht
kommen. Fast überall brechen die Populationen ein, weil die neue Biosphäre
ihre Ernährung nicht mehr sichern kann
Das wird von unschönen Kämpfen begleitet, die sich nur dadurch unterscheiden,
welchen Entwicklungsstand die Waffentechnik bis dahin erreicht hat. Die Logik,
nach welcher sich die Menschen in diesem Entwicklungsstadium verhalten, ist
immer dieselbe. Unvernünftige Rauferei
um die verbliebenden Reste - Verlust der
bereits erreichten Reife. Das müssen wir
uns nicht wieder und wieder anschauen.
Aber wir hatten wieder einmal gehofft,
dass eine, dass diese eine Zivilisation un-
sere Erfahrung widerlegen würde und im
ersten Anlauf den Sprung zu einer vernünftigen Produktions- und Lebensweise schaffen könnte. Es ist wohl doch eine Gesetzmäßigkeit, dass alle Zivilisationen ihren zuerst paradiesischen Planeten
zerstören, um dann ohne die vorige Menge an Erzen und Bodenmineralien, ohne
ein relativ stabiles Klima von vorn anfangen zu müssen. Erst wenn die Zivilisation gar keine Möglichkeiten mehr hat zur
Verschwendung, kommt sie zur Vernunft.
Wenn sie diese Möglichkeit überhaupt
bekommt und nicht ganz verschwindet.
Nein, diese hier waren noch nicht unsere Brüder und Schwestern. Um zu erfahren, was auf diesem Planeten hier passiert, reicht es aus, nach ungefähr 5000
Umkreisungen des Planeten um die Sonne wieder vorbeizukommen. Für Trauerspiele ist uns unsere Zeit zu schade. . . H
KAPITALISMUSKRITIK
Sozialkritik versus Sozialpolitik
Sozialpolitik hat wie Politik überhaupt ihre besten Zeiten hinter sich. Die Spielräume werden enger und ihre
Parolen fahler. Sozialpolitik fällt zur Gänze in den Rayon der Immanenz. Permanent soll repariert werden,
was das System an Mensch und Stoff bedroht und schädigt. Sozialkämpfe verkommen in aussichtslosen
Abwehrgefechten, die mürbe machen und sich kaum noch gegen die immer neuen Zumutungen »der Märkte«
behaupten können. Natürlich, solange bürgerliche Verhältnisse herrschen, kann man auf Sozialpolitik wie
Politik nicht einfach verzichten. Es ist aber doch etwas anderes, ob man sich negativ oder positiv darauf
bezieht.
Petra Ziegler und Franz Schandl,
Sozialkritik | Sozialpolitik denkt das So-
ziale in der Form von Geld und Recht,
ihre Ziele sind Umverteilung und Sicherheit, kurzum die Etablierung eines Sozialstaats. Materielles Zukommen transportiert sich als Geldleistung oder Verbot respektive Gebot. Sozialpolitik meint
das unermüdliche Ausbessern und Mildern der Folgen bei völliger Akzeptanz
der bürgerlichen Formprinzipien. Sozialkritik hingegen macht diese Form selbst
zum zentralen Gegenstand ihrer Analyse und Forderungen. Sie will nicht Feuerwehr sein, sondern Treibsatz. Ihr Trieb
ist die Transformation.
Sozialpolitik will Sicherheiten innerhalb der Unsicherheiten bauen, Sozialkritik die soziale Unsicherheit überhaupt
abschaffen. Um uns nicht misszuverstehen: Ein angstfreies Leben kann es nie
geben. Die Furcht vor Krankheit und
Schmerz, vor Unfällen und Unglücken,
oder gar vor dem Sterben, kann nicht
überwunden werden. Die Angst jedoch
zu verhungern oder zu verelenden, die ist
sehr wohl zu beseitigen, weil sozial gemacht. Sozialkritik dient dieser IntervenSome rights reserved.
tion. Angestrebt wird ein kollektiver sozialer Halt, eine gemeinschaftliche Fürsorge, die außer Frage steht. Diese Fürsorge ist allerdings nicht an ein Äquivalent einer Vorsorge gekoppelt, sie ist
frei von Paternalismus und jedweder Bevormundung. Zuwendung und Mitgefühl,
Pflege und Stütze stehen uns zu. Als
Menschen. Bedingungslos.
zialkritik erkennt die eigene Not und die
des Gegenübers. Mit Blick auf das scheinbar Utopische setzt sie auf die Möglichkeiten und den Einfallsreichtum unserer
Spezies, deren Experimentierlust und Improvisationsgeschick und vor allem ihr
immenses kreatives Potential. Hier gilt es
zu schöpfen. Und zwar alle für alle. Es ist
genug da und es ist noch mehr möglich.
Sozialkritik fragt nicht nach Finanzierbarkeit. Wenn menschliches Wohlergehen, selbst bloßes Überleben und der
Schutz unserer Umwelt als Kostenfaktoren firmieren, wenn der Ausbau oder
auch nur Erhalt erreichter Standards sich
erst rechnen müssen, führt sich deren Abhängigkeit von gelingender Wertverwertung ad absurdum, nicht der Wunsch
nach einem besseren Leben. Nicht das
unsoziale, aber oft durchaus marktadäquate Verhalten einzelner, die Verhältnisse selbst sind zu skandalisieren - der
Wahnsinn unserer »Normalität«. Im Fokus steht der Realismus einer Gesellschaft, nach deren Rationalität wir noch
am Nötigsten sparen sollen und ansonsten die Augen verschließen vor den
großen Miseren bürgerlichen Daseins. So-
Sozialkritik will die Akzeptanz des
Gegebenen zerstören, sie kennt keine Selbstverständlichkeiten, geschweige
denn, dass sie sie anerkennt. Nichts hat
zu bleiben, allein weil es so ist. Die
Zwänge marktwirtschaftlicher Konkurrenz sind ihr kollektive Zumutung, nicht
individuelle Herausforderung. Als Selbstkritik fordert sie zur Distanzierung von
der eigenen Charaktermaske auf und zur
Beseitigung geschlechtlicher wie sonstiger
Etikettierungen. Ein Sensorium für Privilegien, die unsereins genießt, gehört dazu ebenso wie das Aufzeigen von Diskriminierung, gerade auch vonseiten nicht
direkt Betroffener. Strukturelle und persönliche Gewaltverhältnisse müssen aufgedeckt und eliminiert werden. Fixe Zuordnungen sozialer Rollen hat es nicht zu
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
geben. Eine Schublade ist kein menschenwürdiges Habitat.
Sozialkritik führt weg von den einschlägigen, aber defensiven Forderungen
wie »Verteidigt die. . . !«, »Hände weg
von. . . !«, »Nein zu. . . !«, aber ebenso weg
von den ewigen Komparativen des Mehr
vom Gleichen: »Mehr Lohn!«, »Mehr
Gerechtigkeit!«, »Mehr Urlaub«, »Mehr
Konsum« und erst recht vom gänzlich
ideen- wie trostlosen Gerede von Wachstum und Beschäftigung. Es geht ihr nicht
vorrangig um Mitbestimmung und Demokratisierung der Arbeitswelt. Es geht
um die Überwindung des Systems der Arbeit. Sozialkritik ist daher ein Versuch,
den Klassenstandpunkt zu überwinden.
Nicht die Rekonstitution des Klassenbewusstseins ist gefordert, sondern ein Fühlen, ein Denken, ein Tun wider die normierten und absehbaren Schicksale. Alle
Kapitalismuskritik
sozialen Schranken sind als nichtig zu erkennen und einzureißen. Jetzt!
Sozialkritik dechiffriert die bürgerlichen Verhältnisse als Konsequenz einer blinden Dynamik. Ware und Geld
verlangen Ergebenheit unter ihre eigenen Gesetze. Diesem Frondienst wollen
wir uns entziehen, nicht nur klammheimlich, hin und wieder, sondern kategorisch.
Mit dem guten Leben verträgt sich kein
strukturelles Diktat, mit freier Assoziation, mithin der bewussten Absprache und
Auseinandersetzung über die gemeinsamen Belange, ist es gänzlich unvereinbar.
Freiheit kann nur jenseits fetischistischer
Zwänge liegen. Nicht unterworfen zu sein,
nichts und niemandem, darum geht es.
Das gute Leben ist machbar.
Alles, was darunter zu machen ist, begeistert uns kaum. Der Sozialstaat war
stets eine fragile Notlösung, nicht mehr.
verrönscht und zugenetzt! #06 19 / 28
Die Zeit der Notoperationen geht jedoch
zu Ende, sie sind, wie das Wort nahelegt, nur Operationen (in) der Not. Sie lösen nichts und perpetuieren alles. Sie beschränken unser Denken auf das, was im
kapitalistischen Selbstzweckgetriebe gerade noch für uns abfällt. Sporadische Sozialkämpfe erscheinen fast schon als das
»Rette-sich-wer-kann« der noch verbliebenen Stärkeren. Anstatt über die reichhaltigen materiellen und ideellen Portionierungen zu reden, streiten wir noch
immer über die adäquaten Proportionierungen entlang der Verwertungsschiene.
Perspektive geht im abstiegsängstlichen
Kleinklein verloren. Wir sollen das nicht
wollen.
(zuerst erschienen in: Streifzüge
64/2015) H
KAPITALISMUSKRITIK
Welcher Weg führt weg vom Geld?
Ein aktueller Witz über Griechenland - ein Kabarettist gibt ihn im Ersten Deutschen Fernsehen zum besten
- geht so: Hans hat vier Äpfel. Er isst neun. . . Und das war er schon, der Witz.
Eske Bockelmann,
Kapitalismus, Geld, Kritik | Wir verstehen:
»Die Griechen« haben über ihre Verhältnisse gelebt, haben mehr verbraucht, als
sie erwirtschaftet haben, und nun sind
es die Steuerzahler erfolgreicherer Nationen, die die vorwitzig gefressenen fünf
Äpfel von ihrem Sparguthaben rütteln
und schütteln sollen. Griechenland leidet
derzeit zwar nicht unter einer Krise seiner Apfelbäume, sondern unter einer, in
der es um Geld und Finanzen geht. Aber
da weiß der hochintelligente Kabarettist:
Geld ist Apfel und Apfel ist Geld, denn
mit Geld kauft man Äpfel, und wer sie
verkauft, für den sind Äpfel Geld. Nur,
bitte, es gibt da einen kleinen Unterschied: Äpfel kann man essen, ja, aber
ganz sicher nur diejenigen, die wirklich
da sind, und keinen einzigen mehr. Geld
dagegen kann man - nun gut, nicht einmal essen - aber weitergeben, selbst wenn
man es schuldet.
Und jetzt kommt’s: Weiß der Witzbold, dass heute alle Geldmengen der
Welt grundsätzlich und ausnahmslos als
Schulden unterwegs sind? Schwer vorzustellen, ist aber so. Wir alle leben, da wir
von Geld leben, insofern auf Pump und
verbrauchen Geld, das wir genausowenig
»haben«, wie jener Hans die fünf verbotenen Äpfel, die er trotzdem gegessen
haben soll. Geld ist kursierender Kredit,
und Kredit, das sind nun einmal Schulden. Mit denen kann man zahlen, aber
kein Grieche kann sich den Magen mit
Äpfeln vollgeschlagen oder überhaupt etwas verbraucht haben, was nicht auch
wirklich da war. Aha, aber hätte er auch
die Äpfel, die wirklich da waren, nicht
essen dürfen? Weil seine Wirtschaft im
Umgang mit diesen Kreditgeldern nicht
Some rights reserved.
genug an Gewinnen abgeworfen hat, mit
denen er irgendwelche anderen in der
Welt ausreichend hätte bezahlen können?
Und das, weil es um dieses Geld, das man
da zu zahlen hat, eine weltweite und knochenharte Konkurrenz gibt. Und weil diese Konkurrenz - big surprise - doch allen Ernstes die Wirkung hat, dass sie ihre Wirkung hat: dass sich da nämlich einige durchsetzen gegen andere und dass
die also, tja, in dieser Konkurrenz unterliegen. Selber Schuld: Warum sind sie
nicht wettbewerbsfähiger und haben, anstatt zu unterliegen, andere zum Unterliegen gebracht? So machen es »wir« - also, Beweis: Es geht doch! Wir haben zum
Beispiel, unter anderem mit siemensen
Schmiergeld-Summen, Griechenland niederkonkurriert. Hm, ach so. Aber - musste doch sein, oder nicht?
Für mich wäre schon dieser dumme
Witz Grund genug, das Geld abzuschaffen. Aber natürlich gibt es dringlichere,
weiter reichende und vor allem blutigere Gründe. Warum jedoch dringen die so
wenig durch? Weshalb wird all die Jahre ohne jede Ermüdung und mit allem
Ernst noch das kleinste Problem einer
Finanzwelt bedacht, abgeklopft und prognostiziert, die ganze Länder zu Boden
schlägt, statt dass man sich minutenweise
einmal der Möglichkeit widmet: die Versorgung mit Äpfeln nicht vom Gelingen
all der tausendfach einander widerstreitenden Geld-Notwendigkeiten abhängen
zu lassen, sondern einfach und allein von
einer guten Pflege der Apfelbäume! Der
dumme Kabarettisten-Witz: Er ist Beleg
für einen der hartleibigsten Gründe, weshalb diese Möglichkeit gar nicht erst in
den Blick kommt: Geld und Äpfel, oder
Geld und alles, wovon wir Menschen nun
einmal wirklich leben, es gilt uns für ein
und dasselbe. Weil Äpfel und alles für
Geld zu bekommen ist und weil wir tatsächlich - verrückterweise - von Geld leben, scheint in unseren Augen alles, wovon wir wirklich leben, Geld zu sein: dasselbe wie Geld. Geld abzuschaffen, das
hieße für uns: das abschaffen, wovon wir
leben. Wer kann so verrückt sein? Wer
kann überhaupt auf die Idee kommen?
Ich sage: Jeder, der die Folgen und
Bedingungen dessen erlebt, dass unser
Wirtschaften nicht einfach und direkt nur
dem gilt, uns möglichst gut zu versorgen,
sondern zuerst und zuletzt und vor allem
dem Erwirtschaften von Geld - und davon und von dessen unguten Gesetzen ist
unsere Versorgung dann abhängig.
Jedes Wirtschaften insgesamt vom
Erwirtschaften von Geld abhängen zu
lassen, so zwingend uns beides heute
als dasselbe erscheint, das hat sich kein
Mensch ausgedacht. Es hat sich auch
nicht aus dem Geld »als solchem« ergeben, in einer naturgesetzlichen Entwicklung von den Kauris bis zum Girokonto. Es war vielmehr eine - bedauerliche
- europäische Sonderentwicklung. Geld
hatte jahrtausendelang sehr stabil immer
nur den geringeren Teil der Güter an
den Mann gebracht, von denen eine Gemeinschaft lebte, während die Hauptsache an Gütern den Menschen auf andere
Weise zukam, zuletzt meist feudalistisch.
In den westeuropäischen Ländern aber
und aufgrund ganz eigener Bedingungen
schlug dieses Verhältnis gegen Ende des
16. Jahrhunderts zum ersten Mal um,
und nun wurde es das Geld, über das
der Hauptteil der Güter an die Menschen
vermittelt wurde: Sie mussten sie kaufen, brauchten dafür ständig Geld und so
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
auch ständig etwas zum Verkaufen. Damit wird Geld zum Geldsystem.
Und das ist leider unumkehrbar. Wie
das? Von diesem Anfang an gilt: Jeder, der gegen Geld etwas verkauft hat,
hat nur dann weiterhin Geld in Händen,
wenn er später wieder etwas dafür kaufen
kann. Jeder Kauf und Verkauf ist damit
eine Anweisung auf die Zukunft, in der es
notwendig weiterhin Käufe und Verkäufe geben muss, damit das Geld, für das
ich etwas weggegeben habe, auch Geld
bleibt, für das ich etwas bekomme. Nein,
bis dahin war das nicht so: Da wurde
aus dem Gold, mit dem vielleicht eben
noch getauscht und gehandelt wurde, ohne weiteres ein kunstreicher Kerzenständer gefertigt und der bleibt der Kerzenständer, der er ist, egal ob nun weiter in
der Welt gehandelt und getauscht wird
oder nicht. Und falls, dann lässt er sich
notfalls wieder einschmelzen. Unsere auf
Konten notierten Guthaben dagegen lassen sich nicht verarbeiten und nicht einschmelzen, sie bestehen aus nichts: Sie
müssen als Geld fungieren können, um
weiter Geld zu sein. Und diese Funktion
des Geldes, die jede Gegenwart an alle
Zukunft bindet, die lässt sich nicht teilen, die kann nicht allmählich zerfallen.
Sie kann ganze Länder zerfallen lassen,
das wohl, und das tut sie reichlich, aber
davon löst sich der Zwang nicht auf, in
dem sie als ganze besteht.
Das bringt manche auf die Idee, der
Weg weg von einem Geld, das uns per
Finanzwirtschaft in Krisen stürzt, wäre eben der, Geld zurückzuführen in die
Form einer kerzenständermäßig wirklichen Substanz - so wirklich wie ein Apfel,
den man essen kann. Aber auch das geht
nicht, oder genauer: Dann könnte man
das Geld gleich ganz abschaffen. Denn eine insgesamt über Geld vermittelte Wirtschaft unterliegt einer stählernen Notwendigkeit: dass Geld mehr Geld wird.
Und dazu muss es immer mehr werden
können - was keine wirkliche Substanz
vermag. Es ist ein bedauerlich harmloses
Missverständnis des Wachstumszwangs,
ihn durch menschliche Gier bedingt zu
sehen. Dabei weiß jeder: Ein Geschäft ist
Kapitalismuskritik
nur eines, wenn es mehr Geld abwirft,
als es an Aufwendungen verschlingt. Und
auf Geschäften basiert eine geldvermittelte Wirtschaft. Die müssen nicht alle
gelingen, aber, wie alles in der Geldwelt,
in der Hauptsache.
Und wenn - es gibt Krisen - zu wenige Geschäfte gelingen und Geld nicht
oder zu wenig mehr wird? Keine Hoffnung, dann stürzt nicht das Geld, dann
stürzt es nur die Menschen, die ja von
ihm leben müssen, in die Krise. In Krisen stirbt das Geld nicht ab, es verpufft
womöglich in großen Mengen, aber nur,
um dann auf niedrigerer Stufenleiter dasselbe Spiel weiter und weiter zu betreiben und zu erfordern. Geld, wie es damals wurde und wie es heute ist, wurde
zum System. Und das kann nur als ganzes
fallen. Und es hält leider vieles aus, was
ihm nicht gehorcht. Wenn es nach dem
Geldsystem geht, können Menschen, die
es zu keiner ordentlichen Teilnahme an
der kapitalistischen Konkurrenz bringen,
glatt verrecken. Und jeder Versuch im
Kleinen, das Zusammenleben, die Produktion von Gütern und ihre Verteilung
nicht über Geld und nicht nach seiner
Logik laufen zu lassen, ist wertvoll und
kostbar - gerade da er kostenlos daherkommt. Doch selbst wenn es noch viel
mehr von solchen Ansätzen gäbe, als es
tatsächlich gibt, und wenn sie alle schön
zusammenwirken würden, um etwas ganz
Anderes zu verwirklichen, am Geldsystem würden sie nicht kratzen: Sie könnten es nicht. Keiner von den sympathischen Leuten, die sich solchen Ansätzen
widmen, der nicht letztlich auch auf Geld
angewiesen ist - und wäre es das Geld
derjenigen, die ihm ein Leben ohne Geld
ermöglichen. Und so bleibt es einfach bei
der Crux: Wir bleiben angewiesen auf
Geld und damit darauf, dass es als dieses System funktioniert. Folglich bleibt
es auch dabei, dass Geld - in seiner so
wenig menschen- und weltverträglichen
Weise - erwirtschaftet werden muss: bedient, wie man es von Krediten so schön
deutlich sagt. Aus Kredit besteht unser
Geld, seit es zum Hauptvermittler wurde,
und kann nicht anders: Da bereits hat-
verrönscht und zugenetzt! #06 20 / 28
ten die Goldreserven, wie lange sie auch
noch für Onkel-Dagobert-Phantasien zur
Verfügung standen, grundsätzlich ausgedient.
Und wenn das Wunder doch einträte und die allmähliche Vermehrung
der sympathischen Ansätze erreichte ein
Maß, dass sie in der Lage wären, Geld
zu ersetzen und die Versorgung an seiner statt zu übernehmen? Dann wäre das
Geld abgeschafft, ja - vorher aber gibt
es Mächte und eine Supermacht, denen
es Jahrzehnte eines Kalten Kriegs wert
war, jede Einschränkung eines heute »alternativlos« gewordenen Geldgebrauchs
zu verhindern. Und nicht bloß einen Kalten Krieg: Auch die Zahl der heißen, die
sie betreiben, ist nicht von Pappe. Wer
glaubt, dass sie dieses Mal zögern würden?
Geld, wie es heute ist, hat sich allmählich ergeben, aber es kann nicht
ebenso allmählich wieder vergehen. Es
kann nicht allmählich zerfallen oder übergehen in eine Form der Gesellschaft und
ihrer Wirtschaft, die nicht mehr über
Geld vermittelt wäre. Vergehen wird es,
da bin ich sicher, nur steht sehr zu fürchten: mit einem großen Knall. Vielleicht
kann man es sich so vorstellen wie bei der
Löschung eines Großbrands: Wasser ist
da nutzlos, es muss eine ganze Sprengladung her, deren Explosion für einen kurzen Moment das Flammenmeer auspustet;
und dann kann man mit den Schläuchen
kommen, die erledigen den Rest. Also:
Geld wäre der Großbrand; eine Mordskrise, die gleich in mehreren Staaten das
Finanzsystem zum Einsturz bringt, wäre
die Explosion; und dann müssten viele,
viele von denen bereit stehen, die endgültig nicht mehr Geld bedienen, sondern
- für die Äpfel sorgen wollen. Gemütlich
wird es sicher nicht.
Eske Bockelmann hat viel Kritik am Geld. Wer mehr davon lesen
möchte, findet seinen Artikel Abschaffung des Geldes24 in der Streifzüge 36/2006 oder unsere Besprechung seines Buches »Im Takt des
Geldes. Zur Genese modernen Denkens« in vruzt #03. H
KAPITALISMUSKRITIK
»Die Große Transformation hat gerade erst
angefangen«
Über die Schranken des kapitalistischen Weltsystems und den Niedergang des mächtigsten und auch gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat. Tomasz Konicz interviewt Fabian Scheidler
Tomasz Konicz,
Kapitalismuskritik, Interview | Sie verwenden in ihrem Buch für das gegenwärtige kapitalistische Weltsystem das Bild einer riesigen, weltumspannenden Maschine, der titelgebenden Megamaschine. Können
Sie diesen Begriff etwas erläutern?
Zielt er auf technische Aspekte ab,
oder ist es ein Herrschaftsbegriff ?
Fabian Scheidler: Megamaschine
ist eine Metapher für ein ökonomisches,
politisches, militärisches und ideologisches System, das vor etwa 500 Jahren
in Europa entstanden ist und sich seither um den ganzen Globus verbreitet
hat. Wir wachsen mit dem Mythos auf,
dass Europa der Ausgangspunkt von allem Fortschritt ist, dass wir der Welt
die Wissenschaft, die Freiheit, die Demokratie, den Wohlstand, die Zivilisation
24 http://www.streifzuege.org/2006/abschaffung-des-geldes
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
und so weiter gebracht hätten. In meinem Buch geht es ein Stück weit darum,
diesen Mythos zu demontieren und zu
zeigen, dass die Expansion der Megamaschine von Anfang an mit extremer Gewalt, Ungleichheit und Naturzerstörung
verbunden war, und dass viele unserer
heutigen globalen Krisen genau aus dieser Dynamik entspringen.
Dieses System ist unter verschiedenen
Namen bekannt - kapitalistische Weltwirtschaft, modernes Weltsystem, die
»Moderne« usw. Ich benutze die Metapher einer Maschine, weil dieses System
teilweise wie eine Maschine zu funktionieren scheint, wenn man sich etwa die internationale Arbeitsteilung anschaut, das
Finanzsystem, die globale Energieversorgung, Medien- oder Militärapparate, die
ja alle eng miteinander verflochten sind.
Der Kern dieses Systems, sein übergeordnetes Gesetz, ist die endlose Akkumulation von Kapital. Das ist sein
Hauptzweck, dem alles andere untergeordnet wird. Mensch und Natur werden
dafür benutzt, aus Geld mehr Geld zu
machen, und deswegen werden wir tendenziell zu Maschinenrädchen in diesem
Getriebe degradiert.
Natürlich darf man die Metapher
nicht zu wörtlich nehmen, denn letztlich besteht das System aus Menschen,
die sich zwar teilweise wie Maschinenteile
verhalten, aber trotzdem nicht aufhören,
menschliche Wesen zu sein. Die meisten
Lebensbereiche sind zwar von der Macht
der Maschine infiziert, aber wir haben
auch Freiheiten, ein Leben jenseits der
Maschine, und das gilt es zu verteidigen
und zu erweitern.
Sind Sie da nicht etwas zu optimistisch? Mir scheint es eher, dass
die letzten nichtkapitalistischen Nischen, die letzten Freiräume gerade in der Krise verschwinden. Alles
scheint der Verwertungslogik unterworfen zu werden, selbst die Subkultur. Wo sehen sie noch ein »Leben jenseits der Maschine«?
Fabian Scheidler: Der Druck, die
Kommerzialisierung, die Ausbeutung, all
das nimmt tatsächlich zu. Aber das bleibt
auf Dauer nicht ohne Reaktion. Die Geschichte verläuft nicht linear. Schauen
Sie nach Südeuropa, da gibt es enormen
Aufruhr, neue Subkulturen. Auch in den
USA übrigens.
Der Widerstand, der Wille zur Freiheit beginnt ja im Kopf. Und wir können beobachten, wie der Glaube an das
System langsam bröckelt, ja teilweise in
sich zusammenbricht. Der Lack ist ab,
die Leute sehen zunehmend die Gewalt
und auch die Sinnlosigkeit dahinter. Damit schwindet ein Stück weit die ideologische Macht, die ja ein wichtiger Teil der
Herrschaft ist. Wo das hingeht, ist vollkommen ungewiss, aber die Risse im System werden immer deutlicher.
Verzahnung von Militärstaat und
Geldverwertungslogik
Some rights reserved.
Kapitalismuskritik
Ich fand den langfristigen Ansatz ihres Buches interessant. Sie
versuchen, die Genese des gegenwärtigen Systems über einen langen historischen Zeitraum zurückzuverfolgen. Wie weit reichen Ihrer
Ansicht nach die »Ursprünge« der
»Megamaschine«?
Fabian Scheidler: Die Ursprünge
der kapitalistischen Weltwirtschaft reichen bis ins Spätmittelalter zurück. Eine der Keimzellen waren die hoch militarisierten Stadtstaaten Genua und Venedig, die sich damals zu Handelsimperien entwickelten, die von Spanien bis
zur Krim reichten. Einen erheblichen Teil
ihres Reichtums ging auf Raubzüge zurück. Genua und Venedig etwa finanzierten viele der Kreuzzüge, einschließlich
ihrer Massaker, und bekamen dafür als
Rendite einen Teil der Beute, Monopole und Militärstützpunkte. Die Handelshäuser gründeten dann Banken, die etwas
von diesem erbeuteten Reichtum verliehen, nicht nur an andere Händler sondern
auch an Staaten.
Es gibt ja den hartnäckigen Mythos,
dass Staat und Markt Gegenspieler seien,
dass sich der Kapitalismus aus dem Pioniergeist freier und friedlicher Händler
entwickelt hätte, jenseits staatlicher Despotie. Aber Kapital und moderner Staat
waren von Anfang an eng verflochten,
sie haben sich gemeinsam, ko-evolutionär
entwickelt und konnten niemals ohne einander auskommen. Die Kapitalbesitzer
brauchten die physische Macht des Staates für ihre gewaltsame Expansion und
auch für das Niederschlagen von Widerstand in der Bevölkerung gegen die zunehmende Ausbeutung, der von Anfang
an massiv war. Und die Staaten brauchten das Handels- und Finanzkapital, um
ihre Söldnerarmeen zu finanzieren.
Der moderne Staat war ja vor allem ein Militär- und Repressionsapparat, und es brauchte enorm viel Geld,
um die neuen Armeen mit Hunderttausenden von Soldaten und großen Kanonen aufzubauen, mit denen man die
Welt erobern konnte. Diese Verzahnung
von Militärstaat und Geldverwertungslogik hat dann die ungeheure Aggressivität des Systems hervorgebracht, die sich
durch die gesamte Geschichte der letzten
500 Jahre zieht.
Die Conquista, die gewaltsame Eroberung Mittel- und Südamerikas, etwa
wurde von den Banken in Genua, Augsburg und Antwerpen finanziert. Ihr »return on investment« waren die ungeheuren Gold- und Silbermengen, die dort erbeutet wurden und wiederum die europäische Geldökonomie antrieben. Für die
Indigenen Amerikas war das Ergebnis der
größte Völkermord, den die menschliche
Geschichte bis dahin erlebt hatte. Oft waren staatliche und ökonomische Gewalt in
denselben Händen konzentriert, zum Beispiel in den frühen Aktiengesellschaften,
die über eigene Armeen, ja eine Art eigenen Staatsapparat verfügten und auf den
Trümmern der von ihnen eroberten Re-
verrönscht und zugenetzt! #06 21 / 28
gionen die modernen Kolonialreiche aufbauten.
Sie gehen ja mitunter noch weiter zurück, bis in das frühe Altertum, um die Entstehung von
Macht und Herrschaft darzustellen.
Worin besteht den Ihrer Ansicht
nach der fundamentale, qualitative
Bruch zwischen dem Kapitalismus
und den vorherigen Gesellschaftsformationen, dem Altertum oder
dem Mittelalter?
Fabian Scheidler: Es gab in der Antike auch schon Marktsysteme, die eng
mit dem militarisierten Staat zusammenhingen. Eine wichtige Rolle hat dabei die
Erfindung des Münzgeldes gespielt, das
erstmals dauerhafte, große Söldnerheere
ermöglichte und zu einer enormen Kommerzialisierung des Mittelmeerraums geführt hat. Ohne diese Erfindung wäre
zum Beispiel das Römische Reich mit seinen riesigen Armeen nicht denkbar gewesen.
Trotzdem unterscheidet sich das moderne Weltsystem in einigen wesentlichen Punkten davon. In der Megamaschine hat sich die Kapitalakkumulation verselbständigt, automatisiert, sie ist
zur Institution mit einer Eigenlogik geworden. In Rom gab es zwar auch eine enorme Anhäufung von Reichtum in
den Händen Weniger, aber es gab so etwas wie einen stabilen Endpunkt, eine
maximale Ausdehnung sowohl des Reichs
als auch des Reichtums. Die Stabilität
dieses Zustands war oberste politische
Priorität. Die Megamaschine aber verlangt nach endloser Expansion, endlosem
Wachstum.
Einer der Gründe dafür ist, dass das
Verhältnis von Staat und privatem Kapital anders ist. Vereinfacht ausgedrückt
konnte der Staat in Rom die Ökonomie
autoritär kontrollieren, während in der
Moderne die international organisierten
Kapitalbesitzer von Anfang an die einzelnen Nationalstaaten vor sich her getrieben haben, in eine irrsinnige Standortkonkurrenz und auch militärische Konkurrenz, was wiederum die Akkumulation enorm angeheizt hat.
Eine Besonderheit der Megamaschine ist auch, dass sie irgendwann begonnen hat, ganz neue Energiequellen zu erschließen, nämlich Kohle und später Öl.
Das hat ihr überhaupt die technischen
Mittel gegeben, den ganzen Planeten zu
beherrschen - und uns das Klimadesaster
zu bescheren.
Warum aber ausgerechnet in England
ab dem 18. Jahrhundert plötzlich Steinkohle verbrannt wurde, die ja seit der Antike bekannt war, kann man nur aus der
Eigendynamik des Systems verstehen.
Die Produktion, insbesondere die Metallund Rüstungsproduktion, stieß damals
an energetische Grenzen, die Holzkohle wurde knapp und teuer, und deshalb
wurde fieberhaft nach neuen Energiequellen gesucht, um weiter akkumulieren
und neue Kanonen bauen zu können. Die
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Kohle war dafür die Lösung.
Die Eigenlogik der Institutionen
ist mächtiger als ihre
vermeintlichen Steuermänner
Wer »steuert« diese monströse Maschinerie? Ist es einfach die
herrschende Klasse, oder sehen sie
hier eine systemische Eigendynamik walten?
Fabian Scheidler: Die Megamaschine ist aus Kräften entstanden, die nach
neuen Methoden gesucht haben, um ihren Reichtum und ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Das ist ihnen auf
spektakuläre Weise gelungen, auf Kosten
der Mehrheit der Weltbevölkerung. Dafür gab es aber keinen Masterplan.
Das moderne Weltsystem ist nicht
aus einer Verschwörung hervorgegangen,
sondern aus einem jahrhundertelangen
Ringen verschiedener Kräfte miteinander
und teilweise gegeneinander: Kaufleute, Bankiers, Landesherren, Fabrikanten,
Grundbesitzer, Kirchen, Warlords. Es
hat von Anfang an auch massiven Widerstand gegen die kapitalistische Produktionsweise gegeben, gegen Vertreibungen,
Einhegungen, Lohnsklaverei, und dieser
Kampf hat das System geprägt und immer wieder tiefgreifend verändert, von
den Bauernkriegen über die Französische
Revolution, die Arbeiter- und Frauenbewegungen, die antikolonialen Befreiungsbewegungen bis 1968. Was dabei herauskam, ist so komplex und auch in sich widersprüchlich, dass es sich einer planbaren, vorhersagbaren Steuerung entzieht,
auch wenn natürlich Eliten ständig versuchen, es zu steuern.
Herrschaft in diesem System bedeutet daher nicht, dass man seine Dynamik wirklich kontrollieren kann, sondern
dass man - zumindest vorübergehend eine gewisse Hegemonie hat, und zwar
in drei zentralen Bereichen: der physischen Macht des Staates, der strukturellen Gewalt der Ökonomie - also Eigentum, Geld, Schulden - und der ideologischen Macht, wie sie etwa durch das Bildungssystem, die Medien, politische Parteien und so weiter ausgeübt wird.
Aber auch Leute, die all diese Machtfaktoren hinter sich haben, sind oft selbst
Getriebene des Systems und beherrschen
es nicht. Der CEO einer großen Aktiengesellschaft zum Beispiel ist Teil eines großen Räderwerks, und wenn er die
Renditeziele verfehlt, spuckt die Company ihn einfach aus. Er ist letztlich auch
nur ein austauschbares Zahnrad, wenn
auch ein gut bezahltes. Die Eigenlogik
der Institutionen ist mächtiger als ihre
vermeintlichen Steuermänner. Deswegen
hilft es auch nicht weiter, über die Gier
einzelner Banker zu klagen. Wir müssen
die institutionellen Logiken ändern, den
genetischen Code des Systems.
Die kapitalistische Verwertungsmaschine, diese Megamaschine,
Some rights reserved.
Kapitalismuskritik
stößt immer stärker an ihre Entwicklungsgrenzen. Sie sprechen von
ökologischen und sozialen, inneren
Schranken. Können Sie das erläutern?
Fabian Scheidler: Die systemimmanenten Schranken sind ökonomischer,
sozialer und politischer Art. Nach dem
Nachkriegsboom ist die Weltwirtschaft
Mitte der 70er Jahre in eine tiefe Krise gerutscht, die Akkumulationsmaschine
stotterte, die Renditen brachen ein. Die
Antwort darauf war das, was wir heute als »Neoliberalismus« kennen: Löhne
drücken, Gewerkschaften kaputt machen,
Privatisierungen, Flucht in Billiglohnländer und Steueroasen, Finanzspekulationen usw.
Das hat die Profite der großen Unternehmen und die Klassenmacht des oberen ein Prozent wiederhergestellt; aber
es hat dazu geführt, dass die Leute tendenziell nicht mehr das Geld haben, die
ganzen Waren und Dienstleistungen zu
kaufen, zumindest nicht zu profitablen
Preisen. Um das System in Gang zu
halten, mussten daher überall Schulden
angehäuft werden: Konsumenten mussten sich verschulden, um trotz geringerer Löhne weiter zu konsumieren; Staaten
mussten sich verschulden, um fehlende
Steuereinnahmen auszugleichen; Banken
haben riesige Schulden-Dominosysteme
kreiert. Solche Schuldenblasen platzen
natürlich irgendwann, etwa in der Finanzkrise 2007-2009, und es sind dann in
der Regel die Staaten, die diese Schulden
übernehmen und auf die Bevölkerung abwälzen.
Die Finanzkrisen werden zu Staatskrisen und zu politischen Krisen, etwa
in der Eurokrise. Der Clou dabei ist: Je
mehr die Kapitalbesitzer ihre kurzfristigen Interessen durchsetzen können, desto
mehr destabilisieren sie das System, von
dem sie sich langfristig ernähren. Hinzu kommt ein anderer Prozess: Menschliche Arbeit wird zunehmend durch Technik ersetzt, und durch die Computerisierung betrifft das nicht nur die Landwirtschaft und Industrie, sondern auch die
Dienstleistungsberufe der Mittelschicht.
Die Folge von beiden Prozessen ist eine strukturelle globale Massenarbeitslosigkeit, die sich immer weiter ausbreitet.
In Südeuropa etwa liegt die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen bei über 50 Prozent. Das System ist nicht mehr in der
Lage, den Menschen eine Perspektive zu
geben, und sei es nur die, sich ausbeuten
zu lassen. Das führt natürlich zu sozialem
Aufruhr, politischen Krisen, Umstürzen,
Chaos.
Die äußere Schranke des Systems
ist ökologischer Art. Die kapitalistische
Weltwirtschaft ist, wie jedes andere soziale System, ein Subsystem der Biosphäre. Alles, was wir tun, hängt in jedem
Moment davon ab, dass die lebenserhaltenden Systeme der Erde funktionieren:
Wasser, Atemluft, ein erträgliches Klima,
Nahrungsmittelzufuhr, Energie etc.
Nun zwingt die Logik der endlosen
verrönscht und zugenetzt! #06 22 / 28
Akkumulation zu einer ständigen Wirtschaftsexpansion, und diese Expansion
zerstört die lebenserhaltenden Systeme
inzwischen global in atemberaubendem
Tempo. Das betrifft nicht nur das Klima,
sondern auch die Süßwasserversorgung,
die Böden, Wälder, Ozeane und die Artenvielfalt. Neuste Studien zeigen, dass
wir bereits das schnellste Artensterben in
der Geschichte des Lebens auf der Erde
in Gang gesetzt haben. Wir verlieren jedes Jahr ein Prozent unserer fruchtbaren
Böden durch die industrielle Landwirtschaft. Der Westen der USA und Nordchina bewegen sich in eine gigantische
Süßwasserkrise hinein - und das sind nur
einige wenige Beispiele. Der Klimawandel
macht all das noch viel schlimmer.
Diese ökologischen Krisen wiederum treten mit den ökonomischen, politischen, sozialen Krisen in Wechselwirkung. Der Bürgerkrieg in Syrien zum Beispiel wurde nicht zuletzt durch eine klimabedingte Dürre entfacht, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Das Ergebnis ist noch mehr Chaos,
und dieses Chaos untergräbt das weltumspannende, extrem komplexe, verwundbare System, das von einer ununterbrochenen Versorgung mit Energie, Material
und Geld abhängig ist und auch ein Minimum an politischer Stabilität braucht.
Wenn diese Zuflüsse unterbrochen werden, etwa durch Finanzkrisen, Energiekrisen, Revolten, entstehen Systemausfälle, die wiederum unbeherrschbare Kettenreaktionen auslösen können - und davon werden wir zweifellos immer mehr erleben in den kommenden Jahrzehnten.
Das Verrückte ist, dass man diese
Maschinerie nicht stoppen oder
drosseln kann
Sehen Sie auch eine Wechselwirkung zwischen diesen inneren
und äußeren Schranken des Kapitals? Verhält es sich nicht gerade
so, dass die steigende Produktivität
der »Megamaschine« die Ressourcenverschwendung befeuert, da ja
die Verwertung des Werts den irrationalen Selbstzweck dieser amoklaufenden Monstermaschine bildet?
Fabian Scheidler: Ja, die endlose Produktivitätssteigerung als Selbstzweck, um aus Geld mehr Geld zu machen, treibt uns an die ökologischen und
stofflichen Grenzen und untergräbt zugleich die ökonomische Basis, weil sie
Menschen überflüssig macht. Das Verrückte ist ja, dass man diese Maschinerie nicht stoppen oder drosseln kann. Wer
die Produktivität drosselt, der wird von
den Märkten bestraft und fällt zurück.
In diesem Hamsterrad sind alle gefangen,
und deswegen treiben alle das Rad weiter
an, obwohl es uns gegen die Wand fährt.
Sie haben den Ausstieg aus der
Megamaschine ein ganzes Kapitel
ihres Buches gewidmet. Wie könnte
so ein transformatorischer Prozess
sich abspielen?
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Fabian Scheidler: Die Transformation wird auf jeden Fall geschehen, ob wir
wollen oder nicht. Die Frage ist nur, wie
sie aussieht und wohin sie führt. Es ist
durchaus möglich, dass das, was kommt,
noch schlimmer ist, als das, was wir jetzt
haben.
In der EU zeichnet sich etwa eine neue Form von autoritärem Regime
ab, eine Diktatur der Gläubiger in Verbindung mit einer Plünderungsökonomie.
Zugleich sehen wir von Zentralafrika bis
zum Mittleren Osten einen Korridor von
gescheiterten Staaten: vom Kongo über
Somalia, Libyen, Syrien und den Irak
bis nach Afghanistan. Dort regieren die
Warlords und Mafias. Das gilt auch für
die Ukraine. Oder für Mexiko, das nach
den neoliberalen Rosskuren längst Beute
rivalisierender Gangsterbanden ist.
Wohin die Reise geht, hängt ganz wesentlich von uns allen ab, davon, ob wir
in der Lage sind, neue Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens aufzubauen und zugleich erfolgreich Widerstand gegen Repression, Enteignung und
Ausbeutung zu leisten. In meinem Buch
zeige ich eine Reihe von vielversprechende Ansätzen, kleinen wie großen, zum
Beispiel den Aufbau von großen Netzwerken solidarischer Ökonomie, wie man
sie etwa in Brasilien sehen kann; oder
die bemerkenswerte Welle von Genossenschaftsgründungen im Energiesektor.
Entscheidend ist es dabei, die Versorgung
mit den lebensnotwendigen Gütern wie
Wohnen, Essen, Gesundheit, Wasser, Bildung, Energie, Kommunikation, Kultur
langfristig aus der Profitlogik und dem
Markt herauszulösen und neu zu organisieren.
Damit solche Formen der Selbstorganisation tatsächlich in der Breite Fuß
fassen können und nicht vom Strudel
der Krisenereignisse weggespült werden,
braucht es auch neue Formen der politischen Organisation, um dort, wo Risse im
System auftauchen, politische Räume besetzen zu können und Rahmenbedingungen für eine andere Wirtschaft zu schaffen. Davon sind wir aber noch ziemlich
weit entfernt. Das Weltsozialforum etwa
ist so ein Versuch, aber es hat in den letzten Jahren etwas an Dynamik verloren.
Ich denke aber, dass es neue Versuche
Rassismus
geben wird, die verschiedenen Bewegungen für einen Ausstieg aus der Megamaschine enger miteinander zu verknüpfen.
Die große Transformation hat ja gerade
erst angefangen, und zu ihren Eigenheiten gehört es, dass man nichts vorhersagen kann.
Der Niedergang des mächtigsten
und auch gefährlichsten Systems,
das die Weltgeschichte je erlebt
hat
Dieser »Transformationskampf«
hat ja offensichtlich in der kollabierenden Peripherie des kapitalistischen Weltsystems schon mit
unglaublicher Brutalität eingesetzt.
Glauben Sie, dass man in den
Zentren und in der Peripherie
diesen Absturz in Barbarei wird
verhindern können? Können wir
einen demokratischen und zivilisierten Transformationsprozess organisieren? Oder, anders gefragt:
Der real existierende Sozialismus
ist ja relativ friedlich implodiert,
ohne die Welt in ein Flammenmeer
zu tauchen - kann dies der real
existierende Kapitalismus ebenfalls
leisten?
Fabian Scheidler: Man kann den
Untergang des Realsozialismus nicht
mit dem Niedergang des kapitalistischen
Weltsystems vergleichen. Denn der Ostblock war ja - zumindest in den letzten
Jahrzehnten seiner Existenz - in mancher
Hinsicht Teil dieses Systems, auch wenn
viele das bis heute nicht wahrhaben wollen. Und er ist einigermaßen kontrolliert
abgewickelt worden, mithilfe der Leute
auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, die auf diese Gelegenheit nur gewartet haben. Es gab ja ein funktionierendes größeres System, das den Osten
einfach schlucken konnte.
Was wir jetzt vor uns haben, ist von
ganz anderen Dimensionen, es ist der
Niedergang des mächtigsten und auch
gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat. Es ist weltumspannend. Und es gibt kein Ersatzsystem. Ich
glaube nicht, dass ein gelenkter, geplanter, kontrollierter Übergang zu etwas an-
verrönscht und zugenetzt! #06 23 / 28
derem möglich ist. Wer sollte das steuern? Und wohin? Ohne größere Brüche
und ohne chaotische Phasen wird es nicht
gehen.
Die Frage ist, wer in diesem Chaos
die Oberhand gewinnt. Die jetzigen Eliten werden mit allen Mitteln dafür kämpfen, ihre Privilegien und ihre Macht zu erhalten. Sie werden langfristig auch nicht
davor zurückschrecken, mit ultrarechten
Kräften zusammenzuarbeiten, das tun
sie ja teilweise schon heute. Wenn wir
passiv bleiben und einfach abwarten, was
kommt, werden sie leichtes Spiel haben. Aber wenn eine kritische Menge
von Menschen beginnt, sich einzumischen
und sich für eine gerechtere, menschenwürdigere Welt zu organisieren, dann haben wir eine Chance.
Das Problem ist, dass wir die Selbstorganisation großenteils verlernt haben.
Wir erwarten, dass der Strom aus der
Steckdose kommt, dass uns irgendjemand
einen Job gibt, dass Politiker unsere Interessen vertreten, wenn wir alle vier Jahre ein Kreuzchen machen - eigentlich eine
sehr merkwürdige Vorstellung. Aber damit werden wir auf Dauer nicht weiter
kommen. Wir müssen unser Leben wieder selbst in die Hand nehmen, und das
kann eben auch anstrengend sein.
Fabian Scheidler, geboren 1968, studierte Geschichte und Philosophie an der
Freien Universität Berlin und Theaterregie an der Hochschule für Musik und
Darstellende Kunst in Frankfurt/M. Seit
2001 arbeitet er als freischaffender Autor
für Printmedien, Fernsehen, Theater und
Oper. 2009 gründete er mit David Goeßmann das unabhängige Fernsehmagazin
Kontext TV, das regelmäßig Sendungen
zu Fragen globaler Gerechtigkeit produziert. 2009 Otto-Brenner-Medienpreis für
kritischen Journalismus. Programmkoordinator für das Attac-Bankentribunal in
der Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz (2010). 2015 erschien sein Buch
»Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation«, das
die Wurzeln der Zerstörungskräfte freilegen will, die heute die menschliche Zukunft bedrohen.
zuerst
erschienen:
Telepolis
18.8.2015, dann auf streifzuege.org H
RASSISMUS
Stirb leise!
Die Architekten der Festung Europa heucheln Engagement gegen »Flüchtlingshass«. Dabei wollen sie nur
eines: Die Wiederherstellung des Ansehens Deutschlands.
Peter Schaber,
| Am Ende muss die
Bild ran. Das Boulevard-Blatt, zu dessen Markenkern seit vielen Jahren Rassismus, die lustvolle Zurschaustellung von
»Ausländerkriminalität« und die Hetze
gegen »Wirtschaftsflüchtlinge« gehören,
Rassismus, Antifa
Some rights reserved.
hat einhundert »Stimmen gegen Flüchtlingshass« gesammelt. Es sind Gestalten
wie Sigmar »SPD-Siggi« Gabriel, CSUChef Horst Seehofer (der sogar bei dieser Gelegenheit noch gegen »Asylmissbrauch« wettern darf), Bundesinnenminister Thomas de Maizère und sogar
Kriegermutti Ursula von der Leyen.
Seit Beginn der neuesten Welle des
rassistisch motivierten Rechtsterrorismus
ist ein Narrativ allgegenwärtig, befeuert von konservativen bis »linksliberalen« Schreiberlingen und Politdarstellern: Es ist allein der »dumme«, »stumphttps://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
fe«, »armselige« Mob in Heidenau, Freital und all den anderen Elendsgegenden, der Flüchtlingen das Leben schwer
macht.
»Es schadet Deutschland in der
Welt«
Exakt zur der Zeit, als die fleißigen Bild-RedakteurInnen an ihrer ImageKampagne für Deutschland bastelten,
ging eine andere Meldung online: Beamte der europäischen Grenzschutzagentur
FRONTEX haben auf einem Flüchtlingsboot, das von der Türkei nach Griechenland übersetzen wollte, einen 17-jährigen
Refugee erschossen.
Zwei Tage bevor die fleißigen BildRedakteurInnen die hübschen Profilbilder der versammelten FlüchtlingsfreundInnen ins Netz wuchteten, war es eine
andere Meldung: 71 Flüchtlinge sind in
einem LKW beim Überqueren der Grenze von Ungarn nach Österreich erstickt.
Einen Tag nach dieser eine andere Nachricht: Vor der libyschen Küste ertrinken
200 Menschen, als ein Flüchtlingsboot
sinkt.
Man mag seinen Hass auf die Schlepper richten. Aber die einfache Gleichung
ist: Seit vielen, vielen Jahren arbeiten exakt die Menschen, deren Gesichter nun
in der Bild gegen den »Flüchtlingshass«
einstehen, samt ihren ParteifreundInnen
aus CDU, CSU und SPD an der möglichst dichten Abschottung Europas gegen diejenigen, die aus ihren - nicht selten vom »Westen« und seiner geopolitischen und ökonomischen Agenda verheerten - Heimatländern gen Europa fliehen. Die Fluchtrouten werden dadurch
immer gefährlicher, die Menschen müssen
aber fliehen, denn zuhause warten Elend
und Tod. Das Resultat ist unschwer vorherzusehen: Menschen sterben beim Versuch, die »Festung Europa« zu betreten.
Ohne den Lynchmob zu verharmlosen: Es sind nicht die StammtischrassistInnen aus Heidenau und Freital, die
Milliarden in die militärische Abriegelung Europas investieren. Es sind auch
nicht die StammtischrassistInnen, die vor
zwei Monaten eine erneute Verschärfung des Bleiberechts beschlossen haben,
die KritikerInnen als »Inhaftierungsprogramm« beschreiben. Und es sind nicht
die StammtischrassistInnen, die Refugees
vor der Erstaufnahmesstelle in Berlin unter inhumanen Bedingungen wochenlang
Rassismus
ohne jede Betreuung auf Papiere warten
lassen, sie in räudige Massenunterkünfte pferchen und diejenigen, die nicht erwünscht sind, in die Notlage ihrer Heimat
rückführen.
Wer sich jetzt lautstark und PRwirksam über die marodierenden Faschos
aufregt, aber zu all dem nichts zu sagen hat, der wird sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass es gar nicht um
Flüchtlinge geht, sondern um etwas ganz
anderes. Ehrlich spricht Allianz-Chef Oliver Bäte in der Bild aus, worum es in der
PR-Kampagne geht: Die Flüchtlingshatz
»schadet Deutschland in der Welt«.
Fluchtgrund SPD-Siggi
Darüber, wie sehr Deutschland und
seine BündnispartnerInnen der Welt
schadet, will er lieber nicht reden. Dabei
könnte er es unschwer herausfinden, würde er aus seinem Luxustower in Frankfurt
herabsteigen, um mit denen zu reden, die
hier nach langer, beschwerlicher Reise ankommen. Die Flüchtlingsorganisationen
Karawane und The Voice haben die einfache Wahrheit einmal zu einem Slogan einer Kampagne gemacht: »Wir sind hier,
weil ihr unsere Länder zerstört.« Wenn
sich jetzt DGB-Chef Reiner Hoffmann,
dessen Organisation nicht nur Flüchtlinge polizeilich aus einem Gewerkschaftshaus in Berlin räumen ließ, sondern auch
mit der Bundeswehr kuschelt, hinstellt
und Tränen vergießt, ist das nicht mehr
und nicht weniger als zum Kotzen.
Oder nehmen wir den grauenhaftesten SPD-Politiker seit dem ArbeiterInnenmörder Noske: Sigmar Gabriel. Er
ist zuständig für die Genehmigung deutscher Waffenexporte. Versprochen hatte
der würdelose Knilch deren Reduktion.
Durchgesetzt hat er, dass sie sich auf Rekordniveau befinden. Und wohin? Ja, genau, nach Nordafrika und in arabische
Staaten. Auch in den Terrorstaat SaudiArabien, der nicht nur mit Vorliebe »Hexer« und Oppositionelle köpft und den
Krieg in Syrien befeuert, sondern derzeit
auch einen Angriffskrieg gegen den Jemen führt, durch den bereits hunderttausende Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Jetzt
schwafelt
der
»SPDSonderbeauftragte für Schwachsinn und
Gelaber« (Volker Pispers) in der Bild:
»Hunderttausende Menschen riskieren
ihr Leben, um vor Terror und Krieg
verrönscht und zugenetzt! #06 24 / 28
zu uns zu fliehen. Sie haben ein Recht
darauf, ohne Angst ein menschenwurdiges Leben bei uns zu fuhren.« Es sind
die Waffen, die SPD-Siggi ausführen
lässt, die den »Terror und Krieg« erst
ermöglichen, vor denen »Hunderttausende Menschen« dann fliehen müssen, um
der Sozialdemokröte eine Unterlage für
seinen PR-Scheiss abzugeben.
Gegen den »Aufstand der
Anständigen«
Der »Aufstand der Anständigen« will
nur eines: Ruhe. Nicht die Möglichkeit einer Lösung des Problems, die aus
der Überwindung der Logik von Kapital
und bürgerlichem Staat entstehen würde, sondern die Ruhe eines Friedhofs, der
möglichst weit weg ist. Es war immer eine der Strategien der Sicherung der Metropolen des Kapitalismus gegen die Habenichtse der Peripherie diversen Regimen in Nordafrika und im Nahen Osten Geld anzubieten, damit diese dafür
sorgen, dass niemand bis an die eigenen
Grenzen kommt.
Wenige Stunden vor der BildKampagne kam auch diese Meldung:
»EU will für Rücknahme von Flüchtlingen aus Afrika zahlen.« Man will korrupten Regimes Kohle geben, damit diese
Leute »aufnehmen«, die gar nicht dort
sein wollen, wo man sie »aufzunehmen«
gedenkt. Und eine andere Meldung: »Bis
zu einer Million Flüchtlinge warten in Libyen auf ein Boot über das Mittelmeer.
Die Europäische Union sucht deshalb
neue Verbündete für ihre Grenzsicherung. Das Vorbild heißt Muammar alGaddafi.« Dem wurde nämlich, ebenfalls
im Austausch gegen »Hilfsgelder«, auch
abverlangt, die Flüchtenden daran zu
hindern, dahin zu kommen, wo man sie
sehen und hören kann.
Das Sterben im Mittelmeer, die
Ausschreitungen des Lynchmobs, die
brennenden Asylbewerberunterkünfte:
Sie verursachen Aufmerksamkeit und
»schaden dem Ansehen Deutschlands«
(Frank-Walter »sedierter Uhu« Steinmeier, SPD). Die medienwirksame Inszenierung der Regierungsparteien ist - wie
immer das subjektive Selbstverständnis
der nun ihre »Stimme« erhebenden Charaktermasken sei - nichts anderes als der
Ruf: Flüchtling, stirb leise!
Zuerst erschienen in: lowerclassmag.com. H
RASSISMUS
Ein einziges Mal - Mitarbeiter_innen der
Memminger Ausländehörde massiv beleidigt
Habt ein einziges Mal den Mut, euch einzugestehen, dass ihr Mitschuld am Tod von tausenden Menschen
tragt. Und dann zieht, ein einziges Mal, die Konsequenzen. Ursprünglich Offener Brief an die Bundestagsfraktion von CDU und SPD, auf der Demo »Remembering means fighting!« in Memmingen als Redebeitrag
auch gegen die dortige Ausländerbehörde am Marktplatz gewendet. Anlass war der unsägliche Umgang der
Ausländerbehörde mit einem Geflüchteten und seiner Mutter.
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Sebastian Lipp,
Demo, Antifa, Aktion | Über tausend Men-
schen sind alleine während der vergangenen zehn Tage im Mittelmeer ertrunken. Mindestens 23 000 sind es, die in den
vergangenen 15 Jahren bei dem Versuch,
die EU-Außengrenzen zu überqueren, gestorben sind. Diese Todesfälle sind kein
unausweichliches Geschick, keine Naturkatastrophe. Sie sind das Ergebnis sich
abschottender Metropolen des relativen
Wohlstands, das Ergebnis einer Politik,
die die Habenichtse, die Vergessenen und
Unsichtbaren, an jenen Plätzen festhalten wollen, an denen sie still und ohne
viel Aufsehen sterben, in Libyen, in Somalia, in Syrien, Nigeria oder sonstwo.
Diese Politik, die den kalten
Mord durch Militarisierung der EUAußengrenzen als selbstverständlichen
Bestandteil einschließt, diese Politik des
Sterbenlassens aus Bequemlichkeit, ist
eure Politik. Es ist euer Handeln. Ihr,
die ihr da sitzt, fett und saturiert, und
davon redet, dass »wir nicht noch mehr
tun können, als wir schon tun«, ihr tragt
Mitschuld.
Ihr schüttelt den Kopf? Wir doch
nicht, sagt ihr euch. Dann erklärt es uns
doch. Waren es denn nicht eure Parteien,
die schon in den 1990er-Jahren die Forderungen des brandschatzenden rechten
Mobs auf der Straße in Gesetzesform gossen und das Asylrecht aushöhlten? Sind
es nicht eure Parteien, die Waffenexporte
Rassismus
genehmigen und Kriegseinsätze beschließen? Seid es nicht ihr, die an der Militarisierung der »Festung Europa« mitarbeiten? Frontex, die berüchtigte »Grenzschutzagentur« - ist sie nicht eure Einrichtung, die ihr mit Abermillionen an
finanziellen Mitteln versorgt? Seid nicht
ihr diejenigen, die die Dublin-Regelungen
miterfunden haben? Seid nicht ihr diejenigen, die nun erneut an einem »Gesetzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung«
arbeiten, der als Inhaftierungsprogramm
von Flüchtlingen gelten kann? Ihr seid
es, die die Auswahl treffen. Wer ist eine »Fachkraft«, die man in den Verwertungsprozess des Kapitalismus eingliedern kann, um die Volkswirtschaft voranzubringen? Und wer ist ein »Wirtschaftsflüchtling«, manche von euch sagen auch:
Schmarotzer, der im Mittelmeer ersaufen
muss?
Macht es euch nicht zu einfach.
Schaut in den Spiegel und fragt euch:
Kann ich wirklich guten Gewissens sagen, ich hätte keine Mitschuld am Tod
von tausenden Menschen, die an unseren
Außengrenzen abprallen und zerschellen?
Diejenigen von euch, die immer noch
sagen: Nein, ich nicht, ich mache alles
richtig - an diejenigen wenden wir uns
nicht. Wir wenden uns an Andere. Dazu
zählt ausdrücklich die Memminger Ausländerbehörde. Die findet nämlich ihr geschildertes Handeln der letzten Wochen
verrönscht und zugenetzt! #06 25 / 28
immernoch richtig und würde »jederzeit
wieder so handeln.» Ihr, ihr Grausamen
und Kaputten, ihr Niederträchtigen, euch
kann man nicht mehr helfen. Ihr habt euren letzten Rest an Menschlichkeit seit
langem verloren. Eigentlich sollten wir
mit euch Mitleid haben, deren Leben
nichts als das von Charaktermasken ist.
Doch ihr seid gefährlich, denn Euer Handeln bedeutet Tod. Nicht Mitleid, sondern Hass ist was wir für euch übrig haben. Arschlöcher.
Den anderen, die doch der eine oder
andere Zweifel plagt, haben wir etwas zu
sagen. Wir werden keine Freunde, soviel
steht fest. Aber ihr könntet euch selbst
ein Mal, ein einziges Mal den Gefallen
tun, keine Heuchler, keine Feiglinge und
Konformisten zu sein. Redet nicht viel
über eure Trauer, die nichts als Hohn
ist. Lasst Taten sprechen und verweigert
die Zustimmung zur Fortschreibung jener Politik, die nach Verwesung stinkt.
Fangt mit einem kleinen, ersten Schritt
an: Verhindert den »Gesetzentwurf zur
Neubestimmung des Bleiberechts und der
Aufenthaltsbeendigung«! Tut es für Euch
selbst. Damit ihr einmal, ein einziges
Mal, in den Spiegel sehen könnt und sagen könnt: An diesem Tag war ich kein
Arschloch. Und vielleicht findet ihr Freude an dem Gefühl.
Im Original vom lower class magazine25 . H
RASSISMUS
»Fuck Frontex«: Veranstaltung gesprengt
Etwa hundert Aktivisten erzwangen am 31. Juli den Abbruch einer Diskussionsveranstaltung mit FrontexChef Klaus Rösler in Augsburg. Zunächst versperrte eine 60-köpfige Aktionsgruppe den Zugang zur Brechtbühne, indem sie sich wie Tote in das Foyer und auf die Zugangstreppe des Veranstaltungsortes legten und
erschwerte damit den Zugang. Gerade als Rösler zu sprechen beginnen wollte, besetzten weitere unabhängige Demonstrierende das Podium. Durch laute Parolen übertönten sie die eingesetzte Technik, während ein
Transparent ihr anliegen verdeutlichte: »Refugees Welcome. Fuck Frontex«. Die Veranstaltung »Frieden und
Frontex?« musste daher nach etwa 20 Minuten bereits beendet werden.
Sebastian Lipp,
Aktion, Frontex | Im Rahmen des Augs-
burger Hohen Friedensfestes, das sich in
diesem Jahr unter dem Motto »Niemand
hat die Absicht eine Mauer zu errichten«
25 Jahre nach dem Mauerfall mit dem
Thema Grenzen auseinandersetzt sollte
am 31. Juli ein Podiumsgespräch mit dem
Direktor der Abteilung Einsatz bei der
europäischen Grenzschutzagentur Frontex stattfinden. Geplant war ein Vortrag
des Frontex-Vertreters über seine Organisation, ein Interview durch den SZRedakteur Dr. Tanjev Schultz sowie ein
von ihm moderiertes Publikumsgespräch.
Die Veranstaltung wird zusammen mit
dem Dokumentar-Theaterstück »Frontex
Security« als einer der zentralen Programmpunkte des Friedensfestes gehandelt.
Gegen 14:30, rund eine halbe Stunde vor Veranstaltungbeginn, waren Foyer und Treppe der Augsburger Brecht-
bühne, die als Veranstaltungsort genutzt
werden sollte, mit Protestierenden aus
dem Umfeld des Grandhotel Cosmopolis
gefüllt. Ein Schrei koordinierte die Aktion: Gleichzeitig fielen die Demonstrierenden um und verharrten so die Toten an
den europäischen Ausengrenzen symbolisierend bis kurz vor Ende der Veranstaltung. Wer hinein wollte, musste darüber
steigen.
Nachdem bereits spekuliert wurde,
ob die Diskussion ob des stillen Protestes bereits abgebrochen werden würde eröffnete eine Mitarbeiterin des Augsburger Friedensbüro die Veranstaltung mit
etwas Verspätung. Dr. Tanjev Schultz
konnte noch von einigen Zwischenrufen begleitet den geplanten Verlauf des
Nachmittagfs skizzieren, Rösler und seine Agentur vorstellen. Als er jedoch das
Wort an diesen übergab, übertönten ihn
zahlreiche Aktivisten mit Sprechchören
wie »Say it loud, say it clear - Refugees
are welcome here«, sodass der FrontexVertreter nicht zu Wort kommen konnte.
Vor dessen Augen wurde zudem das Podium besetzt und ein Transparent entrollt: »Refugees Welcome. Fuck Frontex«.
Nachdem alle Versuche seitens der
Veranstalter scheiterten das Wort wieder zu ergreifen und die Demonstrierenden zu beruhigen wurde dem Vernehmen
nach sogar ein Ei aus dem Publikumsbereich auf Rösler geworfen, woraufhin dieser den Saal verließ und das Event für
beendet erklärt wurde.
Bereits im April diesen Jahres wurde Klaus Rösler auf dem Weg zu einer
Podiumsdiskussion in Berlin mit Marmeladenbeuteln beworfen. Damals forderten etwa 50 Protestierende »Fähren statt
Frontex«.
Die CSU indes lud Rösler erneut ein,
der aber möchte wohl nicht mehr nach
Augsburg kommen. H
25 http://lowerclassmag.com
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Rassismus
verrönscht und zugenetzt! #06 26 / 28
AKTUELLES
Kaufbeuren: Flüchtlings-Resolution der CSU
Am 21.7. stellte die CSU im Stadtrat den Antrag, eine »Resolution zur Asylpolitik« zu beschließen.
Sebastian Lipp,
Rassismus, Asyl
| Schon damals seien die steigenden Asylbewerberzahlen
»nicht mehr zu lösende Herausforderungen« gewesen. Man nehme »mit Sorge wahr, dass beträchtliche Ressourcen
auch für jene aufgewendet werden müssen, deren Schutzersuchen vorhersehbar
abgelehnt werden und die nach den geltenden Gesetzen kein Bleiberecht in unserem Land haben.« Deren Einreise sei
»nachhaltig zu unterbinden«. Sonst sinke die Bereitschaft der Bevölkerung zur
Aufnahme. Gefordert werden unter anderem Beschleunigung der Asylverfahren und »Konsequente und zügige Rückführung abgelehnter Antragsteller«. Das
aber sei nur ein erster Schritt. Weiter gehen solle es mit Wiedereinführung
der Visapflicht und die Errichtung von
europäischen Asylzentren in Nordafrika.
»Schlepper und Menschenhändler« sollten weiter in die Illegalität geführt und
damit die Kosten und Risiken für Flüchtende maximiert werden. Ebenso sollen
Leistungskürzungen eingeführt und weitere Staaten als »sichere Herkunftsstaaten« deklariert werden. Grenzkontrollen
sollten wieder an den deutschen Außengrenzen eingeführt werden.
Der Stadtrat hat die Resolution mit
19 zu 16 Stimmen angenommen, die
SPD-Fraktion lehnt sie indessen ab.
Günter Kamleiter vom Arbeitskreis Asyl kritisiert das Pamphlet im
Kreisbote-Interview. Er stellt klar, »dass
Flüchtlinge sich durch nichts aufhalten
lassen. Wer so massive Angst hat und
sich bedroht fühlt, den halten keine Zäune und keine Visumszwänge auf. Der
setzt sich sogar noch in ein Boot auf
dem Mittelmeer, dessen Wahrscheinlichkeit, unterzugehen nicht gerade gering
ist.« »Solche Vorstöße reden den Wirtshausparolen und den Extremisten das
Wort. Endlich finden sich die wieder,
die sich bisher ihre Parolen nur anonym
in Facebook posten trauten. Wir laufen
Gefahr, dass die Stimmung kippt, die in
Kaufbeuren und auch in allen Umlandgemeinden gerade so offen und positiv
gegenüber Flüchtlingen ist. Solche Vorstöße sind gefährlich in einer Zeit, in
der in Deutschland wieder fast täglich
Flüchtlingsheime brennen.« H
RASSISMUS
Usman frei! Erfolgreiche Aktionen in Memmingen
Usman G. geriet am 21.01.2015 in eine rassistische Polizeikontrolle am Münchner Hauptbahnhof und wurde
wegen Verstößen gegen die Residenzpflicht festgenommen. Der Asylsuchende, der sich aktiv für seine Rechte
einsetzt, wartete in Untersuchungshaft 7 Wochen auf seinen Prozess am 10. März vor dem Amtsgericht
Memmingerberg. Etwa 30 Personen zeigten sich vor und teils im Gericht solidarisch. Nach der Einstellung
des Verfahrens entschlossen sich einige der Unterstützenden zu einer spontanen Demonstration durch die
Memminger Innenstadt.
Sebastian Lipp,
Repression, Aktion, Rassismus
| Kurz
nachdem am 21.01.2015 ein Protestzelt der Gruppe »Refugee Struggle for
Freedom« am Münchner Stachus aufgeschlagen wurde, geriet der Aktivist und
Asylsuchende Usman G. am Münchener
Hauptbahnhof in eine rassistische Polizeikontrolle. Wegen wiederholten Verstößen gegen die Residenzpflicht wurde er
sofort in Untersuchungshaft genommen.
fach nahm. Er überquerte etwa Kreis, Landes-, und Staatsgrenzen als er als
Teilnehmer des transnationalen Protestmarsches von Strasbourg nach Brüssel
lief und nahm an einem Hungerstreik am
Sendlinger Tor in München teil, um auf
seine Situation aufmerksam zu machen
und die Beendigung rassistischer Sonderbehandlung einzufordern. Beim »March
for Freedom« gab er folgendes Statement
ab:
Die Residenzpflicht basiert auf einem Sondergesetz, das ausschließlich Geflüchtete trifft und ihre Bewegungsfreiheit massiv einschränkt. Für viele Betroffene war es unter Strafandrohung verboten, den Landkreis zu verlassen. Trotzdem das Gesetz so nicht mehr gilt, sollte Usman dafür bestraft werden, dass er
sich das Recht auf Bewegungsfreiheit ein-
Wir haben zu viele Probleme in unseren Ländern.
Ich verbringe mein Leben
in Problemen. Ich komme
nach Deutschland, sie erzeugen zu viele Schwierigkeiten für uns. Wir beantragen
hier Asyl und ich bin zudem
krank, ich habe eine schwere Krankheit. Ich habe Hepatitis C und es gibt keine Behandlung. Ich vergeudete ein Jahr in Deutschland
und alle Ärzte sagen mir,
dass sie mir nicht helfen wollen. Und danach verschafften sie mir große Probleme.
Sie wollen mich nach Ungarn
abschieben, dort haben sie
meine Fingerabdrücke. Ich
will sie fragen, warum sie
Some rights reserved.
das mit mir tun? Sie haben mein Jahr vergeudet.
Ich denke mein älteres Leben verläuft mit Problemen.
Ihr denkt über uns. Wir sind
auch Menschen wie ihr, aber
ihr wollt uns nicht sehen.
Deswegen gehen wir den langen Marsch für die Freiheit.
Etwa 30 Personen wollten genau wie
Usman die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit nicht hinnehmen. So erklärten sie sich bei einer von Aktivist_innen des Antirassistischen Jugendaktionsbüro angemeldeten Kundgebung am 10.
März vor und während seines Prozesses
am Amtsgericht Memmingerberg solidarisch. Sie forderten die sofortige Freilassung Usmans, eine angemessene Entschädigung für die siebenwöchige Haft sowie
die »sofortige Abschaffung von rassistischen Gesetzen und Kontrollen«.
Nachdem der Prozess ohne Auflagen
- aber auch ohne Entschädigung - eingestellt und Usman freigelassen wurde, versammelte sich ein Teil der Menge spontan
erneut und zog unangemeldet durch die
Memminger Innenstadt, wo eine Kundgebung am Marktplatz und eine am Theaterplatz abgehalten wurde. Am Bahnhof konnte die Aktion als großer Erfolg
selbstbestimmt beendet werden. H
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
Rezensionen
verrönscht und zugenetzt! #06 27 / 28
RASSISMUS
Aktionswoche »Kein Mensch ist illegal« rund um
den Fischertag in Memmingen
Im Zuge der aufkommenden rassistischen Grundstimmung gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden in
Memmingen und dem gesamten Allgäu, setzten wir am Fischertagswochenende ein eindeutiges Zeichen der
Solidarität gegenüber allen Geflüchteten weltweit. Der Fischertag ist das größte Volksfest in Memmingen,
welches jährlich von tausenden Menschen besucht wird. Dies nahmen wir uns zum Anlass um verschiedene
Aktionen durchzuführen.
Autonome Bande,
Rassimus, Aktion
| Im Vorfeld dieses
Spektakels wurde das gesamte Stadtgebiet mit ca. 1000 Aufklebern mit der
Aufschrift »Kein Mensch ist illegal« und
»Refugees welcome« verschönert. Zudem
wurden am Fischertagsvorabend, der legendären Kneipennacht in der Memminger Innenstadt, zahlreiche Transparente
an öffentlichkeitswirksamen Stellen angebracht. Die Hauptaktion fand am Morgen
des Fischertags selbst statt. Jedes Jahr
versammeln sich hier tausende Schaulustige rund um den Stadtbach und warten
darauf, dass die 1200 Stadtfischer (aus-
schließlich Männer!!!!!) in den Bach »nei
jucken«, um diesen leer zu fischen. Kurz
vor dem Startschuss kippten wir ca. 100
bemalte Holztafeln mit der Aufschrift
»Kein Mensch ist illegal« und »Refugees
welcome« in den Stadtbach. Die Aktion
wurde vom Großteil der Beteiligten rund
um den Fischertag wahrgenommen und
sorgte somit für einigen Gesprächsstoff.
Unserer Ansicht nach war diese Aktion
ein voller Erfolg, da den MemmingerInnen gezeigt wurde, dass es auch hier im
konservativen Allgäu aktive und solidarische UnterstützerInnen aller Flüchtlinge
weltweit gibt. Im Anschluss des Fischer-
tages führten wir zudem noch einen Infostand zur gleichen Thematik auf dem
»umsonst und draussen« Festival im 50
Kilometer entfernten Lindau durch.
Gerade jetzt ist es wichtig überall und entschlossen für die Rechte von
Flüchtlingen und Asylsuchenden einzustehen und jedem aufkommenden Rassismus konsequent entgegenzutreten. Jeder
Mensch hat das Recht dort zu leben wo
er Bock hat! Rassisten aufs Maul! Kein
Mensch ist illegal! Hoch die internationale Solidarität!
Autonome Bande für den revolutionären Umbruch Memmingen H
REZENSION
Identität auf Vorrat
Zur Kritik der DNA-Sammelwut
Sebastian Lipp,
Überwachung, Repression, DNA
| Genethisches Netzwerk (Hg.): Identität
auf Vorrat. Zur Kritik der DNASammelwut, Assoziation A, ISBN:
978-3-86241-439-0, 134 S., 14,00 Euro
Das Buch zeigt die Entwicklung und den
aktuellen Stand der »DNA-Sammelwut«
in Deutschland und global. Was zur
Einführung mit der Bekämpfung von
schwerster Kriminalität begründet wurde wird demnach mittlerweile auf Bagatelldelikte angewendet. So werden nicht
nur biologische Spurenprofile etwa bei
Diebstahl bereits teilweise routinemäßig genommen. Das Buch erwähnt sogar Fälle von Sachbeschädigung durch
Plakatieren. Auch - immerhin formal
»freiwillige« - Reihenuntersuchungen
(»Massengentests«) werden auf ähnliche
Kleinigkeiten gestützt und deren Ergebnisse teils vorrätig gehalten. Desto
wichtiger ist der Teil des Buches, der als
notwendige Grundlage für Schutzmaßnahmen in die technische Funktionsweise
der DNA-Analyse einführt. Hier wird
deutlich, dass das Gerede vom »genetischen Fingerabdruck« falsch und gefährlich ist. Der Begriff verharmlost, was
über die Analyse des menschlichen Erbgutes möglich ist. Das nämlich ist weit
mehr als die bloße Feststellung, ob eine
Spur mit einer potentiellen Spurenleger_in identisch ist oder nicht: »Schließlich kann die Sequenzierung der DNA
auch genutzt werden, um Eigenschaften der ›SpurenlegerIn‹ zu bestimmen.
Seit 2004 ist die Analyse des chromosomalen Geschlechts erlaubt (also XX,
XY ...). Besondere chromosomale Eigenschaften (z.B. Trisomien) werden damit
automatisch mit erhoben. Zur Analyse
weiterer Eigenschaften (Krankheitsanfälligkeit, Augenfarbe, Hautfarbe) fehlt in
Deutschland (noch) die Rechtsgrundlage. Ein Zwischenbereich ist die Analyse
von Verwandschaftsbeziehungen: Noch
ist dies nicht im Rahmen von Massengentests und für die DNA-Datenbank
des BKA erlaubt, wohl aber im Rahmen von Ermittlungen im Strafverfahren.« Beispiele für Kampagnen gegen die
Sammelei gibt der Band ebenfalls, um
anschließend in einem Beratungsteil26
»Strategien der Gegenwehr« zu zeigen.
Eine so sichere »Wahrheitsmaschine«
wie oft geglaubt und suggeriert ist die
DNA-Analyse nämlich nicht. Wer vermeintlich überführt ist, hat oft noch eine
Reihe von Handlungsmöglichkeiten. H
ma »Recherchieren« erschienen. Volker
Lilienthal gibt hier eine Einführung in
die Basis journalistischen Arbeitens. Es
geht dabei nicht nur darum, wie Dokumente gefunden, Informant_innen
behandelt und Auskunftsrechte wahrgenommen werden. Auch die planvol-
le Rechercheanlage, die Filterung der
Informationsunmenge im Internet und
ethische Fragen werden beleuchtet. Zum
Schluss beschreibt der Autor, wie die
Ergebnisse effektiv überprüft und anschließend publiziert werden können. H
REZENSION
Recherchieren
Sebastian Lipp,
Journalismus, Recherche
| Volker Lilienthal: Recherchieren. , UVK, ISBN:
978-3-86764-217-0, 142 S., 14,99 Euro
In der Reihe »Wegweiser Journalismus«
ist beim UVK-Verlag ein Band zum The26 http://datenschmutz.de/dna.pdf
Some rights reserved.
https://vruzt.resyst-a.net
vruzt, 11. Oktober 2015
langweilig
verrönscht und zugenetzt! #06 28 / 28
REZENSION
Interventionen gegen die deutsche
»Beschneidungsdebatte«
Sebastian Lipp,
Rassismus, Sexismus, Religion
| Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß, Salih
Alexander Wolter: Interventionen gegen die deutsche »Beschneidungsdebatte«. , edition assemblage, ISBN:
978-3-942885-42-3, 90 S., 9,80 Euro
Das - schnell gelesene - Heft »will dazu
anregen, hegemoniale Elemente in den
eigenen Positionen festzustellen und sich
selbst zu fragen: Wer kann an welcher
Stelle und mit welchem Gewicht spre-
chen, wer nicht - und warum?« Wichtig
ist diese Frage, um zu einer differenzierten Position in der »Beschneidungsdebatte« zu gelangen. Oft genug wird das
Problem nämlich auch in sich als emanzipatorisch verstehenden Kreisen auf ein
Problem der »körperlichen Selbstbestimmung« gegen »Religion« verkürzt. Der
Beitrag von Zülfukar Çetin und Salih
Alexander Wolter entwickelt unter anderem über Horkheimer/Adorno und
Foucault eine Position für das Recht auf
Beschneidung, die von dieser Einfachheit
weit entfernt ist.
Anschließend
untersucht
HeinzJürgen Voß die medizinische Seite der
Debatte und stellt auf Studien gestützt
fest, welche der medizinischen Argumente haltbar sind und welche keine
empirische Basis besitzen.
Zum Abschluss ist die Petition »Wir
gegen Rechtsbeschneidung« dreier berliner Jugendlicher jüdischen und muslimischen Glaubens dokumentiert. H
TERMIN
Vivir la utopía - Die Utopie leben
Sonntag, 8.11.2015, 17:00 Uhr Film und Küfa im react!OR
Sebastian Lipp,
Termin, Film | Die Utopie leben! Der An-
archismus in Spanien (im Original Vivir la utopía El anarquismo en Espana),
ist eine im Jahr 1997 unter der Regie
von Juan Gamero für den Sender TVE
produzierte Dokumentation. Das Werk
beschäftigt sich mit den anarchistischen
und anarcho-syndikalistischen Bewegungen ab 1840 und während des Spanischen
Bürgerkrieges 1936–1939. Dabei geht sie
insbesondere auf den Bereich des Alltagslebens und die Kollektive Selbstverwaltung ein und versucht die radikalen Ver-
änderungen aufzuzeigen, die sich in diesen Jahren ergaben. (Wikipedia)
Wir zeigen den Film am Sonntag, den
8.11.2015 um 17 Uhr im react!OR in der
Frühling Str. 17 in Kempten. Dazu gibt
es leckeres Chili sin carne gegen Spende.
H
Formalia
langweiliges
Impressum
verrönscht und zugenetzt
Offene Jugendzeitung
https://vruzt.resyst-a.net
Redaktion:
verrönscht und zugenetzt
c/o react!OR
Fürhling Str. 17
87439 Kempten
E-Mail: [email protected]
Spendenkonto: JuBiKu e.V. - Förderverein Jugend * Bildung * Kultur,
IBAN: DE31 4306 0967 8208 4235 01,
BIC: GENODEM1GLS, GLS Bank
Autor_innen der Ausgabe: Anette Schlemm, Autonome Bande für
den revolutionären Umbruch Memmingen, Eske Bockelmann, Jörg Bergstedt, k.o.b.r.a., Kurt Wirth, Nico Werner, Peter Schaber, Petra Ziegler, Franz
Schandl, Sebastian Lipp, Stefan Meretz,
Tomasz Konicz
Satz und Layout, ViSdP, Hrsg:
Sebastian Lipp (Anschrift: Redaktion)
Some rights reserved.
Bildnachweis: Titel (oben): Robert
Andreasch; Rest: Screenshots
Auflage: 500 Hefte
Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nicht mit der Meinung der
Redaktion oder des Herausgebers übereinstimmen, schon allein weil es »die«
Kollektivmeinung nicht gibt.
Eigentumsvorbehalt
Diese Zeitung bleibt solange im Besitz
der Redaktion, bis sie der_dem Gefangenen ausgehändigt wurde. »Zur Habe
Nahme« ist keine persönliche Aushändigung im Sinne dieses Eigentumsvorbehalts. Wird ein Teil der Ausgabe nicht
ausgehändigt, dann ist der beanstandete Teil, und nur dieser, unter Angebe
der Gründe an die Redaktion zurück
zu senden, der Rest ist auszuhändigen.
Gleiches gilt, wenn ein bestimmtes Heft
beanstandet wird.
Sprache
Hier sollen nicht durchgehend »männliche« Formulierungen benutzt und behauptet werden, damit sei keine Diskriminierung verbunden, da alle Geschlech-
ter gemeint seinen. Sprache ist auch Ausdruck gesellschaftlicher Realitäten. Auch
wenn »Emanzipation« und »Gleichberechtigung« obligatorische Schlagwörter
geworden sind, ist diese Gesellschaft noch
weit entfernt von ihrer tatsächlichen Umsetzung.
Schon vor Jahrzehnten entstanden
in der Gender-Debatte Ansätze für eine
Sprachregelung, die das ernsthafte Streben nach der Aufhebung der Stigmatisierung auch sozial konstruierter und konditionierten Geschlechtern signalisiert.
Hier werden autorInnenabhängig für
manche Menschen ungewöhnlich erscheinende Sprachkonventionen verwendet.
Beispiel: der Großbuchstabe (z.B. »I«)
wird von einigen AutorInnen benutzt,
um anzudeuten, dass sowohl »männliche« als auch »weibliche« Form gemeint
sind. Verbreitet sind auch Endungen wie
»-i«/»-is« etc.
Manchmal wird auch die Endung
»_in«/»_innen« verwendet. Statt dieser »Gender-Gap« wird oft auch ein
Stern verwendet. Das bedeutet soviel
wie: »männliche, weiblich und die ganze
Bandbreite an möglichen Geschlechtern
dazwischen«.
https://vruzt.resyst-a.net