Erbrechtspraxis ZErb 1/2015 Richtet sich die internationale Zuständigkeit zur Erbscheins erteilung künftig ausschließlich nach Artt. 4 ff EU-ErbVO? – Zugleich Anmerkung zum Referentenentwurf des BMJV vom 4.3.2014 – Von Dr. Fabian Wall, Mag. iur., Notarassessor, Edenkoben/Germersheim Die überwiegende Ansicht in der Literatur geht – teilweise ausdrücklich,1 teilweise inzident zwischen den Zeilen2 – davon aus, dass sich die Zuständigkeit für die Erteilung eines deutschen Erbscheins künftig ausschließlich nach Artt. 4 ff EU-ErbVO3 richtet. Dieser Ansicht folgt auch das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) in seinem Referentenentwurf (RefE) eines „Gesetzes zum Internationalen Erbrecht und zur Änderung von Vorschriften zum Erbschein“ vom 4.3.2014.4 Einige Stellung nahmen hierzu5 halten demgegenüber – ebenso wie einzelne Stimmen in der Literatur6 – die Artt. 4 ff EU-ErbVO auf ein Verfahren zur Erlangung eines nationalen Erbrechtszeugnisses, insbesondere auf das Verfahren zur Erteilung eines deutschen Erbscheins nach §§ 2353 ff BGB, für nicht anwendbar. Der vorliegende Beitrag sucht eine Antwort auf diese Streitfrage. A.Beispielsfall Die praktische Bedeutung des Problems veranschaulicht der folgende Beispielsfall: Der verwitwete italienische Erblasser E hatte als sog. „Gastarbeiter“ lange Zeit in Deutschland gearbeitet und gelebt, während dieser Zeit hat er Grundbesitz in Deutschland erworben. Seit Eintritt in den Ruhestand lebt E in Apulien (Italien). E verstirbt am 1.9.2015, ohne eine Verfügung von Todes wegen errichtet zu haben. Er hinterlässt seine beiden ehelichen Kinder A und B, die beide in Deutschland leben. Diese beabsichtigen, ein zum Nachlass gehörendes, in Deutschland belegenes Grundstück zu verkaufen und den Erlös hälftig unter sich zu teilen. Im Hinblick auf das Erfordernis des § 35 Abs. 1 Satz 1 GBO beantragen A und B beim deutschen Amtsgericht am Belegenheitsort des Grundstücks (vgl. § 343 Abs. 3 FamFG) die Erteilung eines Erbscheins. Das Amtsgericht stellt sich die Frage nach seiner internationalen Zuständigkeit. Folgt man der überwiegenden Ansicht im Schrifttum,7 so richtet sich die internationale Zuständigkeit für die Erteilung eines nationalen Erbrechtszeugnisses künftig nach den Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EU-ErbVO, sodass hierfür im Beispielsfall gemäß Art. 4 EU-ErbVO ausschließlich italienische Gerichte zuständig sind. Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte für die Erbscheinserteilung auf §§ 105, 343 FamFG zu stützen, scheitert daran, dass die Artt. 4 ff EU- ErbVO entgegenstehende nationale Zuständigkeitsvorschriften im Wege des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ver drängen.8 1) MüKo-BGB/J.Mayer, 6. Aufl. 2013, § 2353 Rn 55 a–55 c; Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 749 und 768; Müller-Lukoschek, EU-Erbrechtsverordnung, 2013, § 2 Rn 312, § 3 Rn 9, 38, 41, 51; Odersky, notar 2013, 3, 4 und 6; J.Schmidt, ZEV 2014, 389, 390 f; Volmer, ZEV 2014, 129, 130 ff, insbesondere 132; Süß, ZEuP 2013, 725, 746 und 748. 2) BeckOK FamFG/Schlögel, Stand 1.9.2014, § 343 Rn 27; Dutta, FamRZ 2013, 4, 7 und 14; Vollmer, ZErb 2012, 227, 230; Volmer, Rpfleger 2013, 421, 427, 430 f; zum Vorschlag der Kommission v. 14.10.2009 ebenso: Rauscher/Rauscher, EuZPR/EuIPR, 2010, Einf EG-ErbVO-E, Rn 8, 10, 29, 34, 81; Buschbaum/ Kohler, GPR 2010, 106, 111; Remde, RNotZ 2012, 65, 71; Schurig, FS Spellenberg (2010), 343, 352; Seyfarth, Wandel der internationalen Zuständigkeit im Erbrecht (Diss. Univ. Konstanz 2011), Konstanzer Online-PublikationsSystem (KOPS) 2012, S. 232. 3) Verordnung (EU) Nr. 650/2012 v. 4.7.2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen, ABl v. 27.7.2012, L 201/107. 4) RefE des BMJV v. 4.3.2014 (9340/9–7–3 14 66/2014), S. 61 (zu § 344 Abs. 2 FamFG-E i.d.F. des RefE), abrufbar unter http://www.bmjv.de/SharedDocs/ Downloads/DE/pdfs/Gesetze/RefE_ErbVO.pdf?__blob=publicationFile. 5) Stellungnahme Deutscher Notarverein (DNotV) v. 4.6.2014, abrufbar unter http://www.dnotv.de/Dokumente/Stellungnahmen.html, S. 11 f; Stellungnahme Bund Deutscher Rechtspfleger (BDR) v. 24.5.2014, www.bdr-online.de/bdr/images/stories/recht2014/Stellungnahme_EU_ErbRVO_20140524.pdf, S. 1; Stellungnahme Lesben- und Schwulenverband (LSVD) v. 14.4.2014, S. 4; www. lsvd.de/fileadmin/pics/Dokumente/Recht/Stellungnahme-LSVD-140414.pdf. 6) So ausdrücklich Hertel, ZEV 2013, 539, 541; Lechner, ZErb 2014, 188, 191 f; in diesem Sinne wohl auch Buschbaum, Tagung LMU München 14.11.2012, zitiert bei Stretz, MittBayNot 2013, 115, 118. 7) S. o. Fn 1 f. 8) Dutta, FamRZ 2013, 4, 5; Müller-Lukoschek (Fn 1), § 2 Rn 21; Süß, ZEuP 2013, 725, 735. 9 Erbrechtspraxis Folgt man hingegen der Gegenansicht, wonach die Artt. 4 ff EU-ErbVO Verfahren zur Erlangung nationaler Erbrechtszeugnisse nicht erfassen,9 so richtet sich die internationale Zuständigkeit, da die EU-ErbVO für nationale Erbrechtszeugnisse (anders als in Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO für das Europäische Nachlasszeugnis) eine eigene Zuständigkeitsvorschrift nicht enthält, auch nach Inkrafttreten der EU-ErbVO zum 17.8.2015 nach nationalem Verfahrensrecht,10 sodass im Beispielsfall deutsche Gerichte zur Erbscheinserteilung gemäß §§ 105, 343 FamFG international zuständig sind. B. Voraussetzungen des Art. 4 EU-ErbVO Art. 4 EU-ErbVO als die zentrale Zuständigkeitsvorschrift der EU-ErbVO regelt die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen „Gerichte“ für „Entscheidungen“ in „Erbsachen“. Zu untersuchen ist daher, ob diese drei Voraussetzungen in Bezug auf das Verfahren zur Erteilung eines deutschen Erbscheins erfüllt sind: I. Gericht (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 EU-ErbVO) Das gemäß §§ 2353 BGB, 352 Abs. 1 Satz 1 FamFG funktionell zuständige Nachlassgericht lässt sich ohne weiteres als „Gericht“ im Sinne der Legaldefinition des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 EU-ErbVO ansehen.11 Dass es sich beim Erbscheinsverfahren nach deutschem Prozessrecht (§§ 342 Abs. 1 Nr. 6 FamFG, 23a Abs. 2 Nr. 2 GVG) um ein Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit handelt,12 schließt ausweislich Erwägungsgrund 59 eine europarechtliche Qualifikation als Gericht iSv Art. 3 Abs. 2 EU-ErbVO nicht aus. II.Erbsache Die EU-ErbVO verwendet den Begriff „Erbsache“ zwar an vielen Stellen im Text der Verordnung,13 in den Erwägungsgründen14 und sogar in der amtlichen Überschrift, definiert ihn überraschenderweise aber nicht15 – insbesondere nicht in den Begriffsbestimmungen des Art. 3 Abs. 1 EU-ErbVO. Hierbei handelt es sich aber wohl um ein Übersetzungsproblem: Während in der deutschen Sprachfassung der EU-ErbVO in Art. 3 Abs. 1 lit. a EU-ErbVO der Begriff „Rechtsnachfolge von Todes wegen“ und in Art. 4 EU-ErbVO der Begriff „Erb sache“ verwendet wird, besteht in anderen Sprachfassungen der EU-ErbVO, etwa in der englischen und in der französischen Sprachfassung, kein Unterschied; in beiden Vorschriften wird hier einheitlich der Begriff „succession“ verwendet. Vergleicht man die deutsche Sprachfassung des Art. 4 EU-ErbVO mit diesen anderen Sprachfassungen, so ist der Begriff „in Erbsachen“ als Synonym für den Begriff „über die Rechtsnachfolge von Todes wegen“ zu verstehen. Nach der Definition des Art. 3 Abs. 1 lit. a EU-ErbVO umfasst der Begriff der Rechtsnachfolge von Todes wegen jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, insbesondere im Wege der gesetzlichen Erbfolge. Der Rechtsnachfolge von Todes wegen unterliegen dabei gemäß Art. 23 Abs. 2 lit. b EU-ErbVO insbesondere die Berufung der Berechtigten und die Bestimmung ihrer jeweiligen Anteile. Das Erbscheinsverfahren dient der Ermittlung der Erben und ihrer Erbquoten; es stellt somit unproblematisch eine „Erbsache“ iSv Art. 4 EU-ErbVO dar.16 10 ZErb 1/2015 III. Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO) Weniger klar erscheint jedoch, ob sich der Beschluss über die Erteilung eines deutschen Erbscheins nach §§ 2353 ff BGB, 352 Abs. 1 FamFG als „Entscheidung“ iSv Art. 4 EU-ErbVO ansehen lässt. Der Begriff der Entscheidung ist zwar in Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO legaldefiniert. Danach ist eine Entscheidung jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats in einer Erbsache erlassene Entscheidung ungeachtet ihrer Bezeichnung, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Gerichtsbediensteten. Diese Vorschrift erscheint freilich wenig zielführend, da der zu definierende Begriff der „Entscheidung“ bei den Begriffen, mit denen er definiert werden soll, erneut verwendet wird. C. Auslegung des Begriffs „Entscheidung“ Welche Anforderungen an eine „Entscheidung“ iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO zu stellen sind und ob einem nationalen Erbrechtszeugnis – etwa einem deutschen Erbschein nach §§ 2253 ff BGB – danach Entscheidungscharakter zukommt, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln. Der Begriff der Entscheidung ist dabei verordnungsautonom auszulegen. Der deutsche Gesetzgeber hat daher nicht die Kompetenz, die Frage nach dem Entscheidungscharakter eines deutschen Erbscheins und – damit verbunden – nach der Anwendbarkeit der Artt. 4 ff EU-ErbVO auf den Erbschein verbindlich zu entscheiden, insbesondere nicht durch das geplante17 „Gesetz zum Internationalen Erbrecht und zur Änderung von Vorschriften zum Erbschein“. Vielmehr kommt diese Kompetenz allein dem für die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gemäß Artt. 19 Abs. 3 lit. b EUV, 267 Abs. 1 lit. b AEUV zuständigen EuGH zu. I. Systematisches Argument: Parallele zum Europäischen Nachlasszeugnis Im Rahmen einer verordnungsautonomen Auslegung bietet sich ein Vergleich mit dem Europäischen Nachlasszeugnis (= ENZ) an, zu dessen Ausgestaltung und Wirkungsweise die EU-ErbVO – anders als zur Behandlung nationaler Erbrechtszeugnisse – in Kapitel VI (Artt. 62 ff EU-ErbVO) detaillierte Regelungen enthält, aus denen sich mittelbar Rückschlüsse für die Voraussetzungen des Begriffs der „Entscheidung“ ableiten lassen. 1. Fehlender Entscheidungscharakter des ENZ Aus Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO, aus Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO und aus Erwägungsgrund 69 Satz 2 folgt zunächst, dass der Verordnungsgeber das ENZ nicht als „Entscheidung“ im Sinne der Artt. 3 Abs. 1 lit. g, Artt. 4 ff, 39 ff EU-ErbVO angesehen hat: 9) S.o. Fn 5 f. 10) Hertel, ZEV 2013, 539, 541. 11) Lechner, ZErb 2014, 188, 192. 12) Lange, DNotZ 2012, 168, 172; Zimmermann, ZEV 2010, 457, 457. 13) Artt. 2, 3 Abs. 1 lit. g, h, i, 3 Abs. 2, 4, 5 Abs. 1, 6 lit. a, 7, 8, 9 Abs. 2, 10 Abs. 1, 11, 12 Abs. 1, 15, 29, 59 Abs. 4, 64 lit. b, 65 Abs. 3 lit. g, 75 Abs. 3 lit. b, 77 EU-ErbVO. 14) Erwägungsgründe 5, 11, 12, 20, 21, 22, 23, 25, 27, 29, 31, 32, 35, 36, 40, 43, 47, 57, 58, 59, 60, 67, 70. 15) Volmer, Rpfleger 2013, 421, 427. 16) Volmer, Rpfleger 2013, 421, 428; Volmer, ZEV 2014, 129, 132. 17) S.o. Fn 4. Erbrechtspraxis a) Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO als „Türöffner“ zu Kapitel II Nach Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO wird ein ENZ in dem Mitgliedstaat ausgestellt, dessen Gerichte nach Artt. 4, 7, 10 oder 11 EU-ErbVO zuständig sind. Aus der Existenz dieser Norm lässt sich mittelbar auf den fehlenden Entscheidungscharakter des ENZ schließen: Würde man die Ausstellung eines ENZ, die durch ein Gericht im Sinne der Artt. 3 Abs. 2, 64 Satz 2 lit. a EU-ErbVO erfolgt, zugleich als „Entscheidung“ iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO ansehen, so würden hierauf die Vorschriften des Kapitels II (Artt. 4-19 EU-ErbVO) bereits direkte Anwendung finden. Der Verweisungsnorm des Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO, welche die Zuständigkeitsvorschriften des Kapitels II – quasi als „Türöffner“ – erst für anwendbar erklärt, hätte es dann nicht bedurft. b) Wirkungserstreckung nur über Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO Gemäß Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO entfaltet das ENZ seine Wirkungen in allen Mitgliedstaaten, ohne dass es eines besonderen Verfahrens bedarf. Würde man die Ausstellung des ENZ als eine „Entscheidung“ iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO ansehen, so hätte es dieser Sondervorschrift nicht bedurft, da sich dann die Wirkungserstreckung bereits aus der (mit Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO funktional vergleichbaren) Anerkennungsvorschrift des Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO ergeben hätte. c) Erwägungsgrund 69 Satz 2 Die Ausstellung eines ENZ nicht als „Entscheidung“ iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO anzusehen wird gestützt durch Erwägungsgrund 69 Satz 2: Der Verordnungsgeber stellt der Ausstellung eines ENZ hier die „anderen nach dieser Verordnung zur Verfügung stehenden Instrumente (Entscheidung, öffentliche Urkunde und gerichtlicher Vergleich)“ als Alternativen gegenüber – und gibt damit mittelbar zu erkennen, dass es sich beim ENZ nicht um eine Entscheidung handelt,18 sondern um ein erbrechtliches Nachweisdokument sui generis.19 2. Besonderheiten des ENZ im Vergleich zu Gerichtsent scheidungen Sucht man den tieferen Grund dafür, warum die EU-ErbVO das ENZ nicht als „Entscheidung“ iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EUErbVO ansieht, muss man die Besonderheiten in den Blick nehmen, die das ENZ im Vergleich zu herkömmlichen gerichtlichen Entscheidungen aufweist. Hierbei sind die folgenden zwei Aspekte relevant: a) Fehlende materielle Rechtskraftfähigkeit Das ENZ ist – auch wenn es nach Art. 64 Satz 2 lit. a EUErbVO durch ein Gericht ausgestellt wird – nicht der materiellen Rechtskraft fähig:20 Das ENZ kann nach Art. 71 Abs. 2 EU-ErbVO von der Ausstellungsbehörde von Amts wegen geändert oder widerrufen werden, wenn feststeht, dass das Zeugnis oder einzelne Teile des Zeugnisses inhaltlich unrichtig sind. Die Entscheidung über die Ausstellung des ENZ kann nach Art. 72 EU-ErbVO angefochten werden; hierfür sieht die EU-ErbVO keine Frist vor.21 b) Fehlende Anerkennungsfähigkeit materiellrechtlicher Wirkungen Das ENZ entfaltet gemäß Art. 69 Abs. 2 bis Abs. 4 EU-ErbVO lediglich Wirkungen auf materiellrechtlicher Ebene: Art. 69 Abs. 2 EU-ErbVO begründet eine Vermutung für die Rechtsinhaberschaft des im ENZ genannten Erben (Vermutungswir- ZErb 1/2015 kung), Art. 69 Abs. 3 und Abs. 4 EU-ErbVO schützen einen gutgläubigen Vertragspartner (Gutglaubenswirkung). Feststellungs- oder Gestaltungswirkung in Bezug auf die verlautbarte Rechtslage entfaltet das ENZ jedoch nicht. Über die zivilprozessuale Anerkennung können nur die verfahrensrechtlichen Wirkungen einer ausländischen Entscheidung auf das Inland erstreckt werden. Die Vermutungs- und Gutglaubenswirkung des ENZ liegt jedoch als sog. „Tatbestandswirkung“ auf der Ebene des materiellen Rechts und damit außerhalb des Anwendungsbereichs zivilprozessualer Anerkennungsvorschriften.22 Dies ist der dogmatische Grund dafür, dass die Wirkungen des Art. 69 Abs. 2 bis Abs. 4 EU-ErbVO nicht schon über die allgemeine Anerkennungsvorschrift des Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO auf andere Mitgliedstaaten als den Ausstellungsstaat erstreckt werden können. Um diese Wirkungserstreckung zu erzielen, bedurfte es vielmehr der Sondervorschrift des Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO. 3. Gemeinsamkeiten von deutschem Erbschein und ENZ Die beiden vorgenannten Besonderheiten, die das ENZ im Vergleich zu herkömmlichen gerichtlichen Entscheidungen aufweist, bestehen auch beim deutschen Erbschein, sodass nicht nur das ENZ, sondern auch der Beschluss über die Erteilung eines deutschen Erbscheins nach §§ 2353 ff BGB, 352 Abs. 1 FamFG nicht als „Entscheidung“ iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO anzusehen ist:23 a) Fehlende materielle Rechtskraftfähigkeit Ebenso wie beim ENZ erwachsen die Erteilung des Erbscheins und der vorangehende Feststellungsbeschluss des Nachlassgerichts nach § 352 Abs. 1 Satz 1 FamFG nicht in materielle Rechtskraft;24 ein unrichtiger Erbschein ändert die tatsächliche Erbfolge nicht und kann jederzeit und noch Jahre später gemäß § 2361 Abs. 1 BGB eingezogen werden.25 b) Fehlende Anerkennungsfähigkeit materiellrechtlicher Wirkungen In ähnlicher Weise wie das ENZ in Art. 69 Abs. 2 bis Abs. 4 EU-ErbVO entfaltet der deutsche Erbschein in §§ 2365-2367 BGB lediglich materiellrechtliche Vermutungs- und Gutglaubenswirkung, aber keine Feststellungs- und Gestaltungswirkung. Diese „Tatbestandswirkungen“ liegen außerhalb des Anwendungsbereichs zivilprozessualer Anerkennungsvorschriften. Ob ein deutscher Erbschein – gleiches gilt für vergleichbare ausländische nationale Erbrechtszeugnisse – in anderen 18) Buschbaum, GS Hübner (2012), 589, 599. 19) Buschbaum/Simon, ZEV 2012, 525, 529; Buschbaum, GS Hübner (2012), 589, 599; Lange, DNotZ 2012, 168, 170. 20) Lechner, ZErb 2014, 188, 191 f. 21) Buschbaum/Simon, ZEV 2012, 525, 527. 22) Vgl. in diesem Sinne zu nationalen Erbrechtszeugnissen und § 108 Abs. 1 FamFG (bzw. § 16 a FGG aF) Staudinger/Dörner, BGB, Neubearbeitung 2007, Art. 25 EGBGB Rn 914; Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 731. 23) So auch Stellungnahme DNotV v. 4.6.2014 (Fn 5), S. 11 f; Lechner, ZErb 2014, 188, 192. 24) BGH, Urt. v. 14.4.2010 – IV ZR 135/08, ZEV 2010, 468, Rn 12; KG Berlin, Beschl. v. 1.7.1999 – 1 W 6784/97, OLG-NL 1999, 253, 254; BeckOK FamFG/Schlögel (Fn 2), § 352 Rn 19; Staudinger/Herzog, BGB, Neubearbeitung 2010, § 2359 Rn 74; Zimmermann, ZEV 2010, 457, 457. 25) BGH, Beschl. v. 3.2.1967 – III ZB 15/66, NJW 1967, 1126, 1127 f; BayObLG, Beschl. v. 21.3.2003 – 1Z BR 75/02, ZEV 2003, 369, 370; Palandt/Weidlich, BGB, 73. Aufl. 2014, § 2359 Rn 7, Staudinger/Herzog (Fn 24), § 2359 Rn 74. 11 Erbrechtspraxis ZErb 1/2015 Mitgliedstaaten seine Vermutungs- und Gutglaubenswirkung entfaltet, richtet sich somit nicht nach Art. 39 Abs. 1 EUErbVO.26 Abs. 3 Satz 1 EU-ErbVO und Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO,35 die Regelungen zum Verhältnis des ENZ zu nationalen Erbrechtszeugnissen enthalten: 4. Zusammenhang von Wirkungserstreckung und verein heitlichter Zuständigkeit Im Hinblick auf die EU-GVO aF27 hat der EuGH betont, dass deren Vorschriften über die Zuständigkeit (Artt. 2 ff EUGVO) und über die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen (Artt. 33 ff EU-GVO) keine separaten und autonomen Regelungen darstellen, sondern eng miteinander zusammenhängen: Der vereinfachte Mechanismus der Anerkennung nach Art. 33 Abs. 1 EU-GVO, nach dem die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden, ohne dass es dafür eines besonderen Verfahrens bedarf, ist durch das gegenseitige Vertrauen gerechtfertigt, das die Mitgliedstaaten einander – insbesondere das Gericht des ersuchten Staates dem Gericht des Ursprungsstaats – entgegenbringen.28 Dass bei der Anerkennung die internationale Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsstaats grundsätzlich nicht mehr geprüft werden darf (Art. 35 Abs. 3 EU-GVO), lässt sich nur durch vereinheitlichte Zuständigkeitsvorschriften rechtfertigen, die von jedem mitgliedstaatlichen Gericht mit gleicher Sachkenntnis ausgelegt und angewandt werden können.29 Diese Argumentation des EuGH zur EU-GVO lässt sich auf die Parallelvorschriften der Artt. 4 ff, 39 ff EU-ErbVO übertragen.30 Nach Art. 62 Abs. 3 Satz 1 EU-ErbVO soll das ENZ nicht an die Stelle der innerstaatlichen Schriftstücke treten, die in den Mitgliedstaaten zu ähnlichen Zwecken verwendet werden. Aus dieser Vorschrift lässt sich neben einer Institutsgarantie für nationale Erbrechtszeugnisse36 folgern, dass die EU-ErbVO nationale Erbrechtszeugnisse und das ENZ grundsätzlich als gleichwertig ansieht. a) Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO als „Antwort“ auf Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO Indem der Verordnungsgeber der EU-ErbVO in Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO für das ENZ eine spezielle, der Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen funktional vergleichbare Vorschrift zur materiellen Wirkungserstreckung vorsieht,31 musste er im Hinblick auf das hierfür erforderliche gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten auch vereinheitlichte Zuständigkeitsregeln für das ENZ vorsehen;32 hierin liegt die ratio legis des Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO. b) Keine Regelungen in der EU-ErbVO für nationale Erbrechtszeugnisse Für nationale Erbrechtszeugnisse sieht die EU-ErbVO jedoch – anders als für das ENZ – keine Vorschriften zur Anerkennung oder zur materiellen Wirkungserstreckung vor.33 Ob und inwieweit ein Mitgliedstaat nationalen Erbrechtszeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten Wirkungen zuerkennt, richtet sich daher weiterhin nach dem Recht dieses Mitgliedstaats,34 der hierüber souverän entscheiden kann. Die EU-ErbVO zwingt die Mitgliedstaaten also nicht, den nationalen Erbrechtszeugnissen anderer Mitgliedstaaten zu vertrauen. Daher sind vereinheitlichte Zuständigkeitsregeln, die die nationale Kompetenz der Mitgliedstaaten beschneiden würden, für nationale Erbrechtszeugnisse nicht erforderlich. II. Teleologisches Argument: Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO Dass die Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EU-ErbVO für die Erteilung eines nationalen Erbrechtszeugnisses nicht gelten (was sich dogmatisch mit dessen fehlendem Entscheidungscharakter begründen lässt), wird bestätigt durch Art. 62 12 Nach Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO und Erwägungsgrund 69 Satz 1 soll die Verwendung des ENZ nicht verpflichtend sein. Der Verordnungsgeber will dem Erben folglich ein Wahlrecht geben, ob er sein Erbrecht entweder durch ein ENZ oder durch ein – als gleichwertig erachtetes – nationales Erbrechtszeugnis nachweisen will.37 Damit das Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO zu praktischer Wirksamkeit („effet utile“) gelangen kann, müssen die Vorschriften der EU-ErbVO in Bezug auf nationale Erbrechtszeugnisse so ausgelegt werden, dass dem Erben auch ohne ENZ überhaupt eine rechtliche Möglichkeit verbleibt, sein Erbrecht durch ein nationales Erbrechtszeugnis nachzuweisen. 1. Begrenzte Anwendungsfälle des Wahlrechts aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO a) Verwendung im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts Die Frage des Wahlrechts aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO stellt sich von vornherein nicht in Fällen, in denen der Erbe einen Nachweis seines Erbrechts ausschließlich im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers benötigt. Die Ausstellung eines ENZ ist hier nämlich wegen des Fehlens eines grenzüberschreitenden Bezugs ausgeschlossen: Zuständig für die Ausstellung des ENZ wären gemäß Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO in Verb. mit Art. 4 EU-ErbVO die Gerichte bzw. Behörden im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts. Da das ENZ aber ausschließlich zur Verwendung im 26) So auch im Ergebnis Dörner, ZEV 2012, 505, 512; Hertel, DNotZ 2012, 688, 689; Hertel, ZEV 2013, 539, 541; Volmer, Rpfleger 2013, 421, 431, Fn 134; aA Buschbaum, GS Hübner (2012), 589, 604; Dutta, FamRZ 2013, 4, 14; Müller-Lukoschek (Fn 1), § 2 Rn 304 und § 3 Rn 12. 27) Verordnung (EU) Nr. 44/2001 v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl v. 16.1.2001, L 12/1 („Brüssel I“). 28) EuGH, Gutachten 1/03 v. 7.2.2006, Slg. 2006, I-1145, Rn 163; EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – Rs. C-514/10 (Wolf Naturprodukte GmbH), www.curia. europa.eu, Rn 25; EuGH, Urt. v. 15.11.2012 – Rs. C-456/11 (Gothaer Allgemeine Versicherung AG u. a.), IPRax 2014, 163, Rn 28, 35. 29) EuGH, Urt. v. 27.4.2004 – Rs. C-159/02 (Turner), Slg. 2004, I-3565, Rn 25. 30) Wall, ZErb 2014, 272, 277. 31) S.o. C.I.2.b). 32) Lechner, ZErb 2014, 188, 192. 33) S.o. C.I.3.b); speziell zu Art. 59 Abs. 1 EU-ErbVO s.u. C.II.2.a). 34) Hertel, ZEV 2013, 539, 541; Lechner, ZErb 2014, 188, 192; vgl. in diesem Sinne auch die Studie des DNotI, welche die Schaffung eines ENZ gegenüber der gegenseitigen Anerkennung nationaler Erbrechtszeugnisse als vorzugswürdigen Weg ansah, s. Dörner/Hertel/Lagarde/Riering, IPRax 2005, 1, 4 und 7 f. 35) So auch Stellungnahme LSVD v. 14.4.2014 (Fn 5), S. 4; Stellungnahme BDR v. 24.5.2014 (Fn 5), S. 1; Lechner, ZErb 2014, 188, 191 f. 36) Volmer, ZEV 2014, 120, 132. 37) Buschbaum, GS Hübner (2012), 589, 598; Hertel, ZEV 2013, 539, 541; Lechner, ZErb 2014, 188, 192. Erbrechtspraxis Ausstellungsstaat selbst bestimmt ist, hingegen nicht zur Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat, ist die Ausstellung eines ENZ gemäß Artt. 62 Abs. 1, 63 Abs. 3, 65 Abs. 3 lit. f EU-ErbVO unzulässig. In dieser Fallgruppe besteht daher nur die Möglichkeit, das Erbrecht im Ausstellungsstaat durch ein nationales Erbrechtszeugnis eben dieses Ausstellungsstaats nachzuweisen. b) Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat Das Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO kann somit lediglich in Fällen – wie etwa in obigem Beispielsfall38 – relevant werden, in denen der Erbe einen Nachweis seines Erbrechts (zumindest auch, vgl. Art. 62 Abs. 3 Satz 2 EU-ErbVO) in einem anderen Mitgliedstaat (im Beispielsfall: Deutschland) als dem Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers (im Beispielsfall: Italien) benötigt. Die für die Ausstellung eines ENZ erforderliche Voraussetzung der grenzüberschreitenden Verwendungsabsicht (Artt. 62 Abs. 1, 63 Abs. 3, 65 Abs. 3 lit. f EU-ErbVO) ist in dieser Fallgruppe erfüllt. 2. Wirkungserstreckung ausländischer Erbrechtszeugnisse Würde man auf die Erteilung eines nationalen Erbrechtszeugnisses die Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EUErbVO anwenden, so liefe die internationale Zuständigkeit für die Erteilung des nationalen Erbrechtszeugnisses und für die Ausstellung eines ENZ (Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO) parallel;39 für beide Arten von Erbrechtszeugnissen wären grundsätzlich gemäß Art. 4 EU-ErbVO die Nachlassgerichte bzw. Behörden im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers ausschließlich zuständig.40 In der für das Wahlrecht des Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO relevanten Fallgruppe41 geht es allerdings nicht darum, welche Wirkungen ein nationales Erbrechtszeugnis im Ausstellungsstaat (d. h. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts) entfaltet, sondern welche Wirkungen es in einem anderen Mitgliedstaat entfaltet, in dem das Erbrechtszeugnis verwendet werden soll. Hierbei handelt es sich um die Frage, ob eine ggf. bestehende Vermutungs- und Gutglaubenswirkung des nationalen Erbrechtszeugnisses des Mitgliedstaats des letzten gewöhnlichen Aufenthalts (im obigen Beispielsfall: Italien) auf den Verwendungsmitgliedstaat (im Beispielsfall: Deutschland) erstreckt werden kann. a) Keine Wirkungserstreckung nach Artt. 39 Abs. 1, 59 Abs. 1 EU-ErbVO Da die Erstreckung die Vermutungs- und Gutglaubenswirkung – und damit materiellrechtliche Rechtsfragen – betrifft, lässt sich die Frage der Wirkungserstreckung nicht mit den zivilprozessualen Anerkennungsvorschriften der Artt. 39 ff EU-ErbVO beantworten.42 Auch Art. 59 Abs. 1 EU-ErbVO enthält keine Regelung zu der Frage, ob ein nationales Erbrechtszeugnis seine materiellrechtlichen Wirkungen auch in anderen Mitgliedstaaten entfaltet: Zwar lassen sich gerichtlich oder notariell ausgestellte nationale Erbrechtszeugnisse als öffentliche Urkunden iSv Artt. 3 Abs. 1 lit. i, 59 Abs. 1 EU-ErbVO ansehen.43 Art. 59 Abs. 1 EU-ErbVO erstreckt inhaltlich aber lediglich die Wirkungen der formellen Beweiskraft auf andere Mitgliedstaaten, also die Beweiskraft in Bezug auf die Echtheit der Urkunde. Materielle Rechtsfolgen wie eine Vermutungs- oder Gutglaubenswirkung sind davon nicht erfasst.44 ZErb 1/2015 b) Materiellrechtliche Wirkungserstreckung durch Substitution Da die EU-ErbVO die Frage der materiellen Wirkungserstreckung nationaler Erbrechtserzeugnisse nicht regelt, richtet sich die Beantwortung dieser Frage auch weiterhin nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten.45 Soweit es um die Wirkungserstreckung nationaler Erbrechtszeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten in Deutschland geht, ist eine zivilprozessuale Anerkennung nach § 108 Abs. 1 FamFG nicht möglich:46 Bei der Wirkungserstreckung ausländischer Erbrechtszeugnisse handelt es sich nicht um ein verfahrensrechtliches Problem der Anerkennung, sondern um ein materiellrechtliches Problem der Substitution.47 Für eine Wirkungserstreckung bedarf es daher der funktionellen Gleichwertigkeit des ausländischen Erbrechtszeugnisses und des deutschen Erbscheins. Hierzu ist erforderlich, dass das ausländische Erbrechtszeugnis dieselben (weitreichenden) Wirkungen wie ein deutscher Erbschein hat; auch die ausstellende Behörde muss in ihrer Qualifikation und in dem befolgten Verfahren einem deutschen Nachlassgericht entsprechen.48 3. Heterogenität der nationalen Erbrechtszeugnisse Eine solche funktionelle Gleichwertigkeit nationaler Erbrechtszeugnisse ist jedoch innerhalb der EU keinesfalls selbstverständlich; vielmehr weisen die Erbrechtszeugnisse der einzelnen Mitgliedstaaten gravierende Unterschiede in Bezug auf Aussteller und Rechtswirkungen auf: a) Gerichtliche Erbrechtszeugnisse des deutschen Rechtskreises Ein dem deutschen Erbschein vergleichbares nationales Erbrechtszeugnis, das von einem dem Grundsatz der Amtsermittlung verpflichteten (vgl. §§ 2358 BGB, 26 FamFG) Gericht ausgestellt wird und mit einer §§ 2365-2367 BGB vergleichbaren Vermutungs- und Gutglaubenswirkung ausgestattet ist, sehen nur wenige Mitgliedstaaten vor,49 vornehmlich solche des deutschen Rechtskreises, nämlich Österreich,50 Griechen 38) S.o. A. 39) J.Schmidt, ZEV 2014, 389, 391; Volmer, ZEV 2014, 129, 130. 40) Volmer, Rpfleger 2013, 421, 427 und 430. 41) S.o. C.II.1.b). 42) S.o. C.I.2.b) (zum ENZ) und C.I.3.b) (zum deutschen Erbschein). 43) Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 737; J. Schmidt, ZEV 2014, 389, 394 f; zweifelnd Lechner, ZErb 2014, 188, 192. 44) MüKo-BGB/J.Mayer (Fn 1), § 2353 Rn 193; Hertel, DNotZ 2012, 688, 689, Fn 9; Lechner, ZErb 2014, 188, 192. 45) S.o. C.I.4.b) und Fn 34. 46) So im Ergebnis auch (mit im Einzelnen unterschiedlicher Begründung) OLG Bremen, Beschl. v. 19.5.2011 – 3 W 6/11, DNotZ 2012, 687 f; Prütting/ Helms/Hau, FamFG, 2. Aufl. 2011, § 108 Rn 17; Staudinger/Herzog (Fn 24), Einl. §§ 2353–2370, Rn 46; Staudinger/Dörner (Fn 22), Art. 25 EGBGB, Rn 914 [zu § 16 a FGG]; Hertel, DNotZ 2012, 688, 688; Hertel, ZEV 2013, 539, 540; Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 730 f; Schroer, Europäischer Erbschein. Mit rechtsvergleichender Darstellung (Diss. Univ. Frankfurt/M. 2010), Frankfurt/M. 2010, S. 95 ff. 47) BeckOK EGBGB/Lorenz, Stand 1.8.2014, Art. 25 Rn 75; MüKo-BGB/J. Mayer (Fn 1), § 2353 Rn 192; Staudinger/Dörner (Fn 22), Art. 25 EGBGB Rn 914; Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 732. 48) Staudinger/Dörner (Fn 22), Art. 25 EGBGB Rn 915; Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 732. 49) S. hierzu Dörner/Hertel/Lagarde/Riering, IPRax 2005, 1, 7; Remien, in: Grziwotz (Hrsg.), Erbrecht und Vermögenssicherung (2011), 95, 112 und Fn 57; Schroer (Fn 46), S. 45, 55, 82 ff mit Länderübersicht S. 56–81. 50) „Einantwortungsurkunde“, die auf dem Einantwortungsbeschluss des Gerichts nach §§ 177–180 AußStrG beruht, vgl. hierzu Haunschmidt, in: Süß, Erbrecht in Europa, 2. Aufl. 2008, Länderbericht Österreich Rn 171 (S. 1127); Schroer (Fn 46), S. 70 ff, 83 f. 13 Erbrechtspraxis land,51 in Frankreich das bis 1918 deutsche Elsass-Lothringen52 und in Italien die nach dem ersten Weltkrieg erworbenen ehemals österreichischen Provinzen Bolzano, Trento, Triest und Gorica.53 b) Notarielle Erbrechtszeugnisse des romanischen Rechtskreises In Mitgliedstaaten des romanischen Rechtskreises werden Erbrechtszeugnisse hingegen durch Notare ausgestellt, etwa im übrigen Frankreich,54 im übrigen Italien,55 in Belgien56 und in den Niederlanden.57 Die Notare haben dabei weder die Ermittlungspflicht eines Gerichts noch die Möglichkeiten (und ggf. Zwangsmittel) einer förmlichen Beweiserhebung.58 Die Rechtswirkungen des jeweiligen Erbrechtszeugnisses bleiben daher hinter denen eines deutschen Erbscheins zurück. Eine Wirkungserstreckung im Wege der Substitution scheidet aus. In obigem Beispielsfall könnten A und B in Italien einen sog. „atto di notorietà“ erlangen, der von einem italienischen Notar ausgestellt wird. Hierbei handelt es sich aber lediglich um eine eidesstattliche Versicherung über dem Erklärenden bekannte Tatsachen und Umstände.59 Der atto di notorietà beweist als öffentliche Urkunde iSv Art. 2699 Codice Civile daher nur, dass eine Erklärung über die Kenntnis bestimmter Tatsachen abgegeben wurde, nicht hingegen die inhaltliche Richtigkeit dieser Erklärung.60 Der atto di notorietà begründet daher keine Vermutung der Rechtsnachfolge und genießt keine Gutglaubenswirkung;61 letztere ergibt sich im italienischen Recht nur aus allgemeinen Gutglaubenstatbeständen (etwa aus Art. 534 Abs. 2 Codice Civile). Der italienische atto di notorietà kann daher nicht im Wege der Substitution mit einem deutschen Erbschein gleichgestellt werden. Eine Eintragung der Erben (im Beispielsfall A und B) im deutschen Grundbuch gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 GBO ist auf Grundlage eines italienischen atto di notorietà somit nicht möglich.62 c) Keine Erbrechtszeugnisse im nordischen Rechtskreis Im Recht der skandinavischen Länder ist ein nationales Erbrechtszeugnis überhaupt nicht vorgesehen.63 So existiert etwa in Schweden nur ein Nachlassverzeichnis („bouppteckning“), dessen Aufstellung allerdings eine private Angelegenheit der Beteiligten ist; dabei sind zwei Vertrauenspersonen („gode män“) heranzuziehen, die bezeugen sollen, dass alles richtig aufgezeichnet ist.64 4. Auswirkungen des Streits auf das Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO a) Leerlaufen des Wahlrechts bei parallelen Zuständigkeiten Würde man auf die Erteilung eines nationalen Erbrechtszeugnisses die Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EU-ErbVO anwenden, so hätte der Erbe, der sein Erbrecht in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers nachweisen muss, gemäß Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO lediglich die Wahl, ob er den Nachweis durch ein im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts (gemäß Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO iVm Art. 4 EU-ErbVO) ausgestelltes ENZ führen will oder ob er ihn durch ein in demselben Mitgliedstaat (gemäß Art. 4 EU-ErbVO) ausgestelltes nationales Erbrechtszeugnis führen will.65 Bei einer solchen Auslegung der EU-ErbVO läuft das Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO praktisch aber in vielen Fällen 14 ZErb 1/2015 leer: Der alternative Weg über ein nationales Erbrechtszeugnis ist offensichtlich ausgeschlossen, wenn das nationale Recht des Mitgliedstaats des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers ein solches überhaupt nicht vorsieht (z. B. Schweden). Aber auch dann, wenn das nationale Recht des Mitgliedstaats des letzten gewöhnlichen Aufenthalts ein nationales Erbrechtszeugnis kennt, können dessen Wirkungen hinter denjenigen nationaler Erbrechtszeugnisse des Verwendungsstaats zurückbleiben, sodass ein im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts ausgestelltes nationales Erbrechtszeugnis im Verwendungsstaat – wie etwa in obigem Beispielsfall der italienische „atto di notorietà“ in Deutschland66 – praktisch nicht verwendbar ist. In diesen Fällen ist der Erbe – entgegen der Intention des Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO – gezwungen, sein Erbrecht über ein ENZ nachzuweisen, dessen Wirkungen über Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO auch in den Verwendungsstaat erstreckt werden können. b) Wettbewerb der Erbrechtszeugnisse bei verteilter Zuständigkeit Sieht man ein nationales Erbrechtszeugnis hingegen nicht als „Entscheidung“ iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO an und unterwirft es daher nicht den Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EU-ErbVO, so ermöglicht das Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO dem Erben, sein Erbrecht entweder durch ein im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts (im Beispielsfall: Italien) ausgestelltes ENZ oder durch ein im Verwendungsstaat (im Beispielsfall: Deutschland) ausgestelltes nationales Erbrechtszeugnis nachzuweisen. 51) Artt. 1956 ff griechisches ZGB, vgl. hierzu Stamatiadis/Tsantinis, in: Süß (Fn 50), Länderbericht Griechenland, Rn 13 (S. 690) und Rn 70 ff. (S. 704 f ); Schroer (Fn 46), S. 72 ff. 52) „certificat d’héritier“, das durch das tribunal d’instance (Gericht erster Instanz) ausgestellt wird, vgl. hierzu Burandt/Rojahn/Lauck, ErbR, 2. Aufl. 2014, Länderbericht Frankreich, Rn 81; Schroer (Fn 46), S. 61 f, 83. 53) „Certificato di eredità“, vgl. hierzu Cubeddu Wiedemann/Wiedemann, in: Süß (Fn 50), Länderbericht Italien, Rn 192 und Fn 286 (S. 886); Schroer (Fn 46), S. 68 f, 83. 54) Art. 730-1 ff Code Civil („acte de notoriété“); s. hierzu Burandt/Rojahn/Lauck (Fn 52), Länderbericht Frankreich, Rn 79, 82; Döbereiner, in: Süß (Fn 50), Länderbericht Frankreich, Rn 182 (S. 674); Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 727 f; Schroer (Fn 46), S. 56 ff, 61. 55) Es gibt – mit Ausnahme der bei Fn 53 genannten neuen Provinzen – kein gesetzliches Erbscheinsverfahren; die notarielle Praxis hat den „atto di notorietà“ entwickelt, vgl. hierzu Cubeddu Wiedemann/Wiedemann, in: Süß (Fn 50), Länderbericht Italien, Rn 192; Schroer (Fn 46), S. 66 f. 56) Es gibt kein gesetzlich geregeltes Erbscheinsverfahren; die Praxis hat zwei Arten von notariellen Bescheinigungen über die Erbfolge entwickelt, den „acte de notoriété“ und die „attestation d’hérédité“, vgl. Sproten, in: Süß (Fn 50), Länderbericht Belgien, Rn 115, 118 (S. 335 f ); Schroer (Fn 46), S. 62 f. 57) Art. 4:188 Burgerlijk Wetboek (BW) („verklaring van erfrecht“), vgl. hierzu Ferid/Firsching/Dörner/Hausmann/Weber, Internationales Erbrecht, Länderteil Niederlande, 56. Lfg., Stand 1.5.2004, Rn 42-44; Schroer (Fn 46), S. 64. 58) Schroer (Fn 46), S. 61 [zu Frankreich]. 59) Cubeddu Wiedemann/Wiedemann, in: Süß (Fn 50), Länderbericht Italien Rn 192 (S. 886); Schroer (Fn 46), S. 67. 60) Schroer (Fn 46), S. 68. – In der italienischen Rechtspraxis dient diese Erklärung dem Nachweis der Gutgläubigkeit des entgeltlich vom Scheinerben erwerbenden Dritten. Dieser Nachweis der Gutgläubigkeit ist erforderlich, damit der Dritte den erworbenen Gegenstand dem wahren Erben gegenüber nach Art. 534 Abs. 2 Codice Civile behalten darf, s. Cubeddu Wiedemann/Wiedemann, in: Süß (Fn 50), Länderbericht Italien Rn 192 (S. 886). 61) Schroer (Fn 46), S. 68. 62) Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 742. 63) Buschbaum/Kohler, GPR 2010, 162, 166; Buschbaum/Simon, ZEV 2012, 525, 529; Dörner/Hertel/Lagarde/Riering, IPRax 2005, 1, 7; Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 728; Wagner, DNotZ 2010, 506, 518; Süß, ZEuP 2013, 725, 729 und 736. 64) Johansson, in: Süß (Fn 50), Länderbericht Schweden Rn 126–129 (S. 1306 ff); Schroer (Fn 46), S. 78, 84. 65) Volmer, ZEV 2014, 129, 132. 66) S. o. C.II.3.b). Erbrechtspraxis Beide Arten von Nachlasszeugnissen lassen sich effektiv im Verwendungsstaat verwenden, ohne dass sich insoweit das Problem der Substitution stellen kann: Das ENZ entfaltet seine Wirkungen über Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO, das nationale Erbrechtszeugnis des Verwendungsstaats ist in dessen Rechtsordnung integriert und wird daher von den Behörden und Gerichten des Verwendungsstaats ohne Weiteres akzeptiert. Hierdurch wird dem Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO zu praktischer Wirksamkeit verholfen; es kommt zu einem echten „Wettbewerb“ zwischen ENZ und nationalem Erbrechtzeugnis des Verwendungsstaats mit verteilten Vor- und Nachteilen: aa) Vorteile des ENZ Den Weg über das ENZ werden die Erben idR dann gehen, wenn die erbrechtliche Lage kompliziert ist: Wegen des grundsätzlichen „Gleichlaufs“ von internationaler Zuständigkeit (Art. 4 EU-ErbVO) und anwendbarem Recht (Art. 21 Abs. 1 EU-ErbVO) kann die Ausstellungsbehörde des ENZ regelmäßig ihr eigenes Sachrecht anwenden,67 sodass sie mit höherer Richtigkeitsgewähr entscheidet als die für die Ausstellung des nationalen Erbrechtszeugnisses zuständige Stelle des Verwendungsstaats, aus deren Sicht sich die Bestimmung der Erbfolge über Art. 21 Abs. 1 EU-ErbVO als Fremdrechtsanwendung darstellt. Auch die Notwendigkeit, ggf. ein teures Sachverständigengutachten zum fremden Recht einholen zu müssen, entfällt beim Weg über das ENZ, sodass sich dieser als schneller und kostengünstiger als derjenige über das nationale Erbrechtszeugnis erweisen kann.68 bb) Vorteile des Erbrechtszeugnisses des Verwendungsstaats Den Weg über ein nationales Erbrechtszeugnis des Verwendungsstaats werden die Erben idR dann gehen, wenn die erbrechtliche Lage relativ einfach zu beurteilen ist: In diesem Fall wiegen die Nachteile der Fremdrechtsanwendung nicht schwer; dem stehen als Vorteile des nationalen Erbrechtszeugnisses u. U. kurze Wege für die im Verwendungsstaat ansässigen Erben gegenüber, ebenso die Möglichkeit, mit der zuständigen Stelle des Verwendungsstaats in der eigenen Sprache kommunizieren zu können.69 In obigem Beispielsfall erspart das deutsche Erbscheinsverfahren – im Vergleich zu einem gemäß Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO iVm Art. 4 EU-ErbVO in Italien auszustellenden ENZ – Reiseund Dolmetscherkosten, welche zwar nicht für das ENZ selbst, wohl aber für die Durchführung des Verfahrens zur Erteilung des ENZ anfallen würden und von A und B zu tragen wären. Die Nachteile einer Fremdrechtsanwendung durch das deutsche Nachlassgericht halten sich in Grenzen, da sich die (gemäß Art. 21 Abs. 1 EU-ErbVO italienischem Recht unterliegende) Erbfolge – beide Kinder erben zu je 1/2 – unproblematisch aus dem italienischen Gesetz (Art. 566 Codice Civile) ergibt. cc) Spezielle Wettbewerbsvorteile des deutschen Erbscheins Speziell der deutsche Erbschein weist gegenüber dem ENZ zwei weitere Vorteile auf. Erstens reicht er in seiner Gutglaubenswirkung weiter als das ENZ: Der gute Glaube in das ENZ gemäß Art. 69 Abs. 3 und Abs. 4 EU-ErbVO ist bereits bei grob fahrlässiger Unkenntnis der Unrichtigkeit erschüttert, während bei einem deutschen Erbschein gemäß §§ 2366, 2367 BGB nur positive Kenntnis schadet.70 Wegen dieser geringeren ZErb 1/2015 Gutglaubenswirkung steht zu befürchten, dass Banken – was rechtlich wohl möglich ist71 – ein ENZ zur Legitimation des Erben als nicht ausreichend ansehen und stattdessen auf der Vorlage eines deutschen Erbscheins bestehen.72 Zweitens sind die beglaubigten Abschriften des ENZ gemäß Art. 70 Abs. 3 Satz 1 EU-ErbVO nur für einen begrenzten Zeitraum von sechs Monaten gültig, sodass der Erbe u. U. gezwungen ist, eine weitere beglaubigte Abschrift im EU-Ausland einzuholen. Der hiermit verbundene Aufwand an Zeit und Kosten stellt einen weiteren praktischen Nachteil im Vergleich zum deutschen Erbschein dar, der kein „Verfalls datum“ kennt und gemäß § 2361 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BGB gültig bleibt, bis er eingezogen oder für kraftlos erklärt wird.73 5. Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips Hinter der lediglich fakultativen Einführung des ENZ und dem damit verbundenen Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EUErbVO steht ausweislich des Erwägungsgrunds 67 Satz 3 das Subsidiaritätsprinzip,74 wie es primärrechtlich in Art. 5 Abs. 3 EUV zum Ausdruck gekommen ist. Nach Art. 5 Abs. 3 UAbs. 2 Satz 1 EUV wenden die Organe der Union das Subsidiaritätsprinzip nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit an. Nach Art. 5 Satz 5 dieses Protokolls75 berücksichtigen die Entwürfe von Gesetzgebungsakten dabei u. a., dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der Bürger so gering wie möglich gehalten werden müssen. Würde man Artt. 4 ff EU-ErbVO auf die Erteilung nationaler Erbrechtszeugnisse anwenden und den Erben damit praktisch in vielen Fällen auf die Ausstellung eines ENZ im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers verweisen,76 so würde dies im Vergleich zum jetzigen Rechtszustand für den Erben einen erheblichen Mehraufwand an Zeit sowie Reise- und Dolmetscherkosten bedeuten. Dies widerspräche dem vom Verordnungsgeber in Erwägungsgrund 67 Satz 1 erstrebten Ziel einer „zügige[n], unkomplizierte[n] und effiziente[n] Abwicklung einer Erbsache“. 67) Vgl. Erwägungsgrund 27 Satz 1; Döbereiner, MittBayNot 2013, 358, 361; Kohler/Pintens, FamRZ 2012, 1425, 1427; Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2013, 1, 7; Müller-Lukoschek (Fn 1), § 2 Rn 116, 206. 68) Vgl. allgemein zu diesen Vorteilen des „Gleichlaufs“ Dörner, ZEV 2010, 221, 222; Kindler, IPRax 2010, 44, 47 und 50; Kunz, GPR 2012, 208, 210; Magnus, IPRax 2013, 393, 394; Müller-Lukoschek (Fn 1), § 2 Rn 209; Remde, RNotZ 2012, 65, 71; Wall, ZErb 2014, 272, 272; Wilke, RIW 2012, 601, 604 f. 69) Vgl. Dörner, ZEV 2010, 221, 224; MPI, RabelsZ 74 (2010), 522, 575, Rn 78. 70) Palandt/Weidlich (Fn 25), § 2353 Rn 21; Buschbaum/Simon, ZEV 2012, 525, 528; Buschbaum, GS Hübner (2012), 589, 603 f; Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 779; Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2013, 1, 8, Fn 86; J.Schmidt, ZEV 2014, 389, 393. 71) Müller-Lukoschek (Fn 1), § 2 Rn 308; auch aus Erwägungsgrund 69 Satz 3 lässt sich keine Verpflichtung von Privatpersonen ableiten, das ENZ als ausreichenden Nachweis zu akzeptieren, s. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, 525, 528 und Fn 26. 72) Buschbaum, GS Hübner (2012), 589, 600; Kleinschmidt, RabelsZ 77 (2013), 723, 779. 73) Pawlytta/Pfeiffer, in: Münchener Anwaltshandbuch, 4. Aufl. 2014, § 33 Rn 219, 224. 74) Buschbaum, GS Hübner (2012), 589, 598; ebenso zu Art. 36 Abs. 2 des Kommissionsvorschlags v. 14.10.2009 Lange, DNotZ 2012, 168, 170. 75) ABl v. 17.12.2007, C 306/150, 151. 76) S. o. C.II.4.a). 15 Erbrechtspraxis D. Konsequenzen des Wettbewerbs von ENZ und Erb schein Folgt man der hier vertretenen Ansicht, den Beschluss über die Erteilung eines Erbscheins nach §§ 2353 ff BGB, 352 Abs. 1 FamFG nicht als „Entscheidung“ iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EUErbVO anzusehen und ihn damit aus dem Anwendungsbereich der Artt. 4 ff EU-ErbVO herauszunehmen, so führt dies zu folgenden Konsequenzen: I. Möglichkeit der Erteilung von Fremdrechtserbscheinen Auch wenn das deutsche Nachlassgericht bei der Erteilung eines Erbscheins nicht an die Zuständigkeitsvorschriften des Kapitels II der EU-ErbVO (Artt. 4 ff EU-ErbVO) gebunden ist, hat es das anwendbare Sacherbrecht – vom Sonderfall des Art. 75 Abs. 1 EU-ErbVO abgesehen – kollisionsrechtlich nach dem Kapitel III der EU-ErbVO zu bestimmen. Hieraus folgt, dass die Erteilung eines Fremdrechtserbscheins77 weiterhin möglich ist78 – während sie nach der hier abgelehnten Gegenansicht79 wegen des „Gleichlaufs“ von forum und ius (Artt. 4, 21 Abs. 1 EU-ErbVO) regelmäßig ausgeschlossen wäre.80 II. Inhaltlicher Widerspruch zwischen ENZ und Erbschein Nach der hier vertretenen Ansicht kann es zur Erteilung eines Erbscheins nach §§ 2353 ff BGB, §§ 105, 343, 352 Abs. 1 FamFG in Deutschland kommen, der einem im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers nach Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO iVm Art. 4 EU-ErbVO ausgestellten ENZ inhaltlich widerspricht.81 Ein solcher Widerspruch kann etwa auftreten, wenn einer der beiden Ausstellungsbehörden bei der Rechtsanwendung ein Fehler unterläuft. Auch ohne Rechtsanwendungsfehler erscheint ein Widerspruch denkbar bei selbstständiger Anknüpfung güterrechtlicher Vorfragen und bei vorrangigen Übereinkommen mit Drittstaaten nach Art. 75 Abs. 1 EU-ErbVO.82 1. Wegfall der Vermutungs- und Gutglaubenswirkung Wie der Widerspruch zwischen nationalem Erbrechtszeugnis und ENZ aufzulösen ist, betrifft die Reichweite des Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO und ist daher eine verordnungsautonom zu beantwortende Frage.83 Da das ENZ gemäß Art. 62 Abs. 3 Satz 1 EUErbVO nicht an die Stelle der nationalen Erbrechtszeugnisse tritt, kann dabei den Wirkungen des ENZ nicht automatisch der Vorrang zukommen.84 Vielmehr ist davon auszugehen, dass nationale Erbrechtszeugnisse und ENZ prinzipiell gleichwertig sind. Der Widerspruch zwischen beiden sollte folglich dergestalt aufgelöst werden, dass man – ähnlich wie im Falle eines Widerspruchs zwischen zwei deutschen Erbscheinen85 – beiden Erbrechtszeugnissen die Vermutungs- und Gutglaubenswirkung versagt.86 ZErb 1/2015 2. Entscheidung durch Feststellungsurteil des Prozess gerichts Die Frage nach der Erbfolge muss sodann – wie sich auch aus Erwägungsgrund 66 Satz 2 ergibt – in einem streitigen Verfahren entschieden werden, das auf die Feststellung des Erbrechts gerichtet ist, in einer „Entscheidung“ iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO mündet und für das somit die Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EU-ErbVO gelten.87 Das Urteil des Prozessgerichts bindet dann, soweit es zwischen den Beteiligten des Erbscheinsverfahrens in Rechtskraft erwachsen ist, sowohl die zur Erteilung des ENZ zuständige Stelle als auch – gemäß Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO – das zur Erteilung des Erbscheins nach §§ 105, 343 FamFG zuständige deutsche Nachlass gericht.88 Sofern dem deutschen Nachlassgericht bereits vor Erteilung des Erbscheins bekannt wird, dass vor dem gemäß Art. 4 EUErbVO zuständigen ausländischen Prozessgericht ein streitiges Verfahren anhängig ist, hat es das Erbscheinsverfahren – ebenso wie im Falle einer Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO vor einem deutschen Prozessgericht89 – gemäß § 21 Abs. 1 FamFG auszusetzen.90 77)Zum Begriff s. MüKo-BGB/J.Mayer (Fn 1), § 2369 Rn 5, 25; Palandt/Weidlich (Fn 25), § 2353 Rn 20, § 2369 Rn 4; Staudinger/Herzog (Fn 24), § 2369 Rn 5. 78) Dass unter Geltung der EU-ErbVO die Erteilung eines Fremdrechtserbscheins möglich ist, nehmen auch an Buschbaum/Simon, ZEV 2012, 525, 528; Dörner, ZEV 2012, 505, 512. 79) S.o. Fn 1 f. 80) Odersky, notar 2013, 3, 4; Volmer, ZEV 2014, 129, 132. 81) Dörner, in: Dutta/Herrler, Europäische Erbrechtsverordnung, 2014, S. 82, Rn 25; Lange, DNotZ 2012, 168, 174 f; Lange, in: Dutta/Herrler, aaO, S. 176 f, Rn 51. 82) Beispiele bei Volmer, ZEV 2014, 129, 129; zur Vermeidung dieses Widerspruchs in erstgenannter Fallgruppe durch unselbstständige Anknüpfung der güterrechtlichen Vorfrage s. Dörner, ZEV 2010, 221, 224; Dörner, ZEV 2012, 505, 513; Dutta, FamRZ 2013, 4, 15. 83) A.A. Lange, in: Dutta/Herrler (Fn 81), S. 178, Rn 55. 84) Lange, in: Dutta/Herrler (Fn 81), S. 177, Rn 52. 85) BGH, Urt. v. 23.11.1960 – V ZR 142/59, NJW 1961, 605, 606; BGH, Beschl. v. 28.1.1972 – V ZB 29/71, NJW 1972, 582, 582; BGH, Urt. v. 13.6.1990 – IV ZR 241/89, DNotZ 1991, 545, 545; MüKo-BGB/J.Mayer (Fn 1), § 2365 Rn 4, § 2366 Rn 6; Palandt/Weidlich (Fn 25), § 2366 Rn 3; Staudinger/Herzog (Fn 24), § 2365 Rn 23 § 2366 Rn 35. 86) Palandt/Weidlich (Fn 25), § 2353 Rn 21; Buschbaum/Simon, ZEV 2012, 525, 528; Buschbaum, GS Hübner (2012), 589, 598 f; aA Omlor, GPR 2014, 216, 220, Fn 45. 87) Dörner, in: Dutta/Herrler (Fn 81), S. 83, Rn 26. 88) Vgl. zur Reichweite der Bindung des Nachlassgerichts an das Prozessurteil, das auf Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO ergangen ist, im nationalen deutschen Verfahrensrecht BayObLG, Beschl. v. 30.4.1998 – 1Z BR 187/97, FamRZ 1999, 334, 335; OLG Brandenburg, Urt. v. 18.2.2009 – 13 U 98/08, ZEV 2010, 143, 144; BeckOK BGB/Siegmann/Höger, Stand 1.11.2013, § 2359 Rn 2; MüKo-BGB/J.Mayer (Fn 1), § 2359 Rn 35–39; Palandt/Weidlich (Fn 25), § 2353 Rn 23; Zimmermann, ZEV 2010, 457, 461. 89) Zimmermann, ZEV 2010, 457, 459. 90) Vgl. zur nach bisherigem Recht bestehenden Möglichkeit der Aussetzung bei anhängigem Rechtsstreit im Ausland KG Berlin, Beschl. v. 21.8.1967 – 1 W 959/67, FamRZ 1968, 219, 220; MüKo-BGB/J.Mayer (Fn 1), § 2359 Rn 31. Auf einen Blick Für die Erteilung eines nationalen Erbrechtszeugnisses, insbesondere für die Erteilung eines deutschen Erbscheins nach §§ 2353 ff BGB, 352 Abs. 1 FamFG, finden die Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EU-ErbVO keine Anwendung, da es hierbei an einer „Entscheidung“ iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO fehlt. Dem deutschen Gesetzgeber steht es daher frei, die internationale Zuständigkeit zur Erteilung eines Erbscheins (weiterhin) in eigener Verantwortung zu regeln. Da 16 die EU-ErbVO insoweit keine Änderung gebietet, sollte es der Gesetzgeber bei den in der Praxis bewährten bisherigen Regelungen zur internationalen Zuständigkeit (§§ 105, 343 FamFG) belassen.91 91) So auch Stellungnahme BDR v. 24.5.2014 (Fn 5), S. 1.
© Copyright 2024 ExpyDoc