„Ich konnte doch meine Patienten nicht betrügen“, Natalie Grams

„Ich konnte doch meine Patienten nicht betrügen“, Natalie Grams
Stellungname von Curt Kösters, Präsidiumsmitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft für
Homöopathie (WissHom) und ehemaliger Vorsitzender des DZVhÄ
Foto: DZVhÄ
Der öffentliche Auftritt von Natalie Grams ist professionell geplant und durchgestylt,
mein Kompliment. In ihrem Buch „Homöopathie neu gedacht“ zitiert die Autorin
eingangs und neben Samuel Hahnemann (§2 Organon), Georg Christoph
Lichtenberg: „Die gemeinsten Meinungen und was jeder für ausgemacht hält,
verdient oft am meisten untersucht zu werden.“
Dem stimme ich unbedingt zu – und habe da gleich auch noch ein weiteres schönes
Lichtenberg-Zitat: „Um über gewisse Gegenstände mit Dreistigkeit zu schreiben,
ist fast nothwendig, daß man nicht viel davon versteht.“
Das Buch von Natalie Grams enthält neben richtigen Hinweisen (auf die im
Folgenden auch noch eingegangen werden soll) auch einige Fehler; Fehler, die für
eine vergleichsweise wenig erfahrene homöopathische Ärztin überwiegend
verzeihlich sind, für eine Buchautorin allerdings weniger.
Der eigentliche Text des Buches beginnt recht fulminant:
„Ja, ich habe unter homöopathischer Therapie schwere Angstzustände und
Depressionen verschwinden, bösartige Krebsgeschwüre zurückgehen und
akute eitrige Mandelentzündungen heilen sehen.“ (S. 1)
Auf Seite zwei beginnt die Autorin sich zu wiederholen:
„Ausgangslage ist: Täglich kommen Patienten zu mir in die Praxis und
berichten gerührt und erleichtert, dass sich ihre Beschwerden seit Beginn der
Behandlung gebessert haben […] ich behandle Patienten mit schweren
1
Suchtproblemen, Angst- und Depressionszuständen, die teilweise schon seit
Wochen nicht mehr am normalen Leben teilnehmen. Ich behandle Patienten,
die sich seit Jahren in anderer Therapie befinden – sei es psychologischer sei
es klassisch medizinischer Behandlung, Patienten mit Krebs und anderen als
chronisch geltenden Krankheiten wie zum Beispiel Asthma, Neurodermitis,
chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Allergien, Schlafstörungen,
Schmerzen et cetera.“ (S.2)
Wenn diese Behandlungen erfolgreich waren, was Sprachduktus und Kontext
nahelegen, ergibt sich daraus die Frage, ob das mit einem Placebo-Effekt noch zu
erklären ist. Die Autorin stellt sich diese Frage auch, nur umgekehrt. Ebenfalls auf
Seite zwei findet sich dann schon die Quintessenz des ganzen Buches: „Wie kann
es sein, dass ihnen [den Patienten] eine Methode hilft, die nachweislich nichts
verschreibt?“
Der Rest des Buches ist dann im Wesentlichen eine Ausformulierung und
Wiederholung dieser Frage – vielen Wiederholungen allerdings. Die Autorin stellt
fest, dass eine homöopathische Behandlung nicht bei allen ihren Patienten wirkte –
doch aber bei vielen – und fragt sich in immer neuen Formulierungen, wie etwas
wirkt, das ja gar nicht wirken kann. Eine wirkliche Antwort auf diese Frage findet sie
nicht.
Ausführlich und im Wesentlichen richtig schildert sie zunächst die praktische
Herangehensweise der Homöopathie (kleine Fehler sind hier vernachlässigbar und
im Wesentlichen der Tatsache geschuldet, dass die Autorin sich eingehend offenbar
nur mit einer sehr spezifischen Verschreibungstechnik befasst hat).
Wirklich beunruhigend an diesem Buch ist nicht die Kritik der Autorin an der
Homöopathie, sondern die Tatsache, dass die Autorin in ihrer Ausbildung zur
homöopathischen Ärztin offenbar zentrale Aussagen der Homöopathie nicht gelernt
oder nicht verstanden hat.
Auf Seite 60 ihres Buches schreibt sie u.a.: „Es gibt keine ‚Selbstheilungskraft‘
und keine ‚Lebenskraft‘ im naturwissenschaftlichen Sinn. Es gibt kein Prinzip
der Ähnlichkeit in Hahnemanns Sinn. […] Es gibt keine Studien, die eine
Wirkung der Homöopathie tatsächlich und zweifelsfrei belegen; allenfalls ein
unspezifischer Placebo-Effekt kann auftreten.“
Zur Selbstheilungskraft / Lebenskraft
„Es gibt keine ‚Selbstheilungskraft‘‚
naturwissenschaftlichen Sinn.“ (S. 60)
und
keine
‚Lebenskraft‘
im
Auf Anhieb ist man geneigt, diese apodiktische Äußerung der Autorin für einen
Scherz zu halten; immerhin hat sie Medizin studiert. Medicus curat – natura
sanat (Der Arzt behandelt, die Natur heilt) – schon mal gehört?
2
Wenn die Autorin bezweifeln möchte, dass diese recht alte Mediziner-Weisheit
nach wie vor gültig ist, kann sie einen Chirurgen fragen: Der kann Wunden
zunähen; ob die dann aber auch heilen, hängt eben von der
Selbstheilungskraft des Organismus ab. Wenn diese schlecht ist – was
durchaus vorkommen kann – hat er ein Problem.
Und wenn das nicht genügt, ist vielleicht dieser Artikel hilfreich:
http://www.ucl.ac.uk/news/news-articles/news-releases-archive/waterloo.
Mervyn Singer, ein durchaus renommierter Experte für Intensivmedizin, weist
hier darauf hin, dass die Überlebensraten von Kriegsverletzten aus der
Schlacht von Waterloo unter damaligen stationären Bedingungen nicht
schlechter waren als unter heutigen Intensivbedingungen (mit modernen
Operationstechniken, mit Bluttransfusionen und Antibiotika).
Und wenn Grams – wie es gelegentlich den Anschein hat – in Wikipedia die
Quelle ultimativer Wahrheiten sieht (39 von 47 Onlinequellen verweisen auf
Wikipedia), kann ihr auch hier geholfen werden: Der Begriff Lebenskraft bei
Hahnemann beschreibt nichts anderes als die Fähigkeit biologischer
Organismen als komplexes autoregulatives System zu agieren, d.h. aufgrund
eigenständiger Mechanismen auf ihre Umwelt und deren Einflüsse zu
reagieren. https://de.wikipedia.org/wiki/Komplexes_adaptives_System
https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstorganisation
Und wenn sich Professor Singer fragt, was für die heutige konventionelle
Medizin aus den Erfahrungen der Mediziner nach der Schlacht von Waterloo
zu lernen ist, dann stellt er sich eben diese Frage, wie die entsprechenden
Fähigkeiten des Organismus besser genutzt werden können.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ressourcenorientierung
https://de.wikipedia.org/wiki/Resilienz
(in beiden Links ist überhaupt nicht von Medizin die Rede, es geht aber um
das gleiche Problem.)
Aus medizinischer Perspektive wird
https://de.wikipedia.org/wiki/Salutogenese
die
Frage
hier
behandelt:
Und selbstverständlich ist damit noch nicht beantwortet, wie ein
homöopathisches Mittel diese Selbstheilungskräfte / Lebenskraft des
Organismus anregt – und damit kommen wir zum Ähnlichkeitsprinzip.
Ähnlichkeitsprinzip
„Es gibt kein Prinzip der Ähnlichkeit in Hahnemanns Sinn.“ (S.60)
Es ist eine inhärente Eigenschaft komplexer autoregulativer Systeme, dass sie
über die Fähigkeit verfügen, sich selbst konstant zu halten. Komplexe
autoregulative Systeme (durchaus nicht nur biologische Organismen),
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verfügen also über Möglichkeiten, potentiell schädliche Außenreize durch eine
dem Reiz entgegengesetzte Reaktion auszugleichen. Diese Gegenregulation
erfolgt in aller Regel überschießend: Wenn Sie Ihre Hand in kaltes Wasser
halten, wird sie anschließend wärmer als sie zuvor war. Dieses nennt sich
dann auch Kneipp-Therapie und soll bei häufigerer Anwendung auch
dauerhaft die Regulationsfähigkeit des Organismus und seine Resistenz
gegen Kälteeinflüsse verbessern. Beschrieben wird dieses Prinzip bei
Wikipedia auch unter den Stichwörtern:
https://de.wikipedia.org/wiki/Arndt-Schulz-Regel
https://de.wikipedia.org/wiki/Hormesis
Für die konventionelle Arzneitherapie ist diese Fähigkeit des Organismus
häufig eher lästig. Mit konventionellen Pharmaka versucht man in der Regel,
einen bestimmten Zustand des Organismus zu erzwingen. Der Organismus
wehrt sich dagegen.
Beispiele: Mit der Verabreichung von Benzodiazepinen in hinreichender Dosis
kann man Schlaf erzwingen; dem folgt dann aber tendenziell Schlaflosigkeit,
bei längerer Einnahme auch eine anhaltende Beeinträchtigung des Schlafes.
Mit Abführmitteln in hinreichender Dosis erzeugt man auf längere Sicht eine
Verstopfung. Abschwellende Nasentropfen wirken wunderbar, erzeugen
allerdings binnen kurzem eine anhaltende Schwellung. Spätestens die
wiederholte Einnahme euphorisierender Substanzen führt zur Dysphorie.
Derartige Effekte sind für sehr viele Pharmaka gut bekannt, so viele, dass man
das für ein durchgehendes Prinzip halten kann; ein Prinzip, das aber auch aus
systemtheoretischen Überlegungen plausibel ist.
Homöopathie ist also nichts anderes als der Versuch, diese autoregulativen
Eigenschaften komplexer Systeme anzuregen – statt dagegen anzukämpfen.
Man verabreicht ein Arzneimittel, das Symptome auslösen kann, die den
Symptomen des Patienten möglichst weitgehend ähneln – mit dem Ziel eine
Gegenregulation auszulösen, die sich dann aber überwiegend gegen die
bereits vorbestehenden Symptome richtet.
Beobachten lassen sich die zugrundeliegenden Phänomene durchaus nicht
nur in der Arzneitherapie, sondern eben auch im Zusammenhang mit
physikalischen Reizen, seelischen Reizen und auch in sozialen Systemen. In
der Psychotherapie wird die Anwendung des gleichen Prinzips auch als
paradoxe Intervention bezeichnet.
Hahnemann, der dieses Prinzip durchaus nicht als Erster in der Medizin
beschrieben hat, aber doch als Erster systematisch erforscht und erprobt hat,
war bereits bekannt, dass es hier um ein Phänomen geht, das auch außerhalb
arzneilicher Wirkungen anwendbar ist – „So wird auch Trauer und Gram durch
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einen neuen, stärkeren, jemand Anderm begegneten Trauerfall, sei er auch
nur erdichtet, im Gemüthe ausgelöscht.“ schreibt er.
Bei der Untersuchung der arzneilichen Anwendung stieß er dann auch relativ
rasch auf die Tatsache, dass für die Auslösung von Reaktionen des
Organismus zumindest nicht die gleichen Dosis-Wirkungs-Beziehungen
gelten, wie für die eigentliche arzneiliche Wirkung (bei Hahnemann
Erstwirkung). Auch sehr kleine Reize können sehr große Reaktionen
auslösen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtlineares_System
(Oder auch die Literaturempfehlung: „Das Sandkorn, das die Erde zum Beben
bringt“)
Allerdings: Je kleiner der Reiz ist, der noch eine Reaktion auslösen soll, desto
genauer muss er gesetzt werden. Selbstverständlich ist damit noch nicht
belegt, dass dieses Prinzip dann auch in der Praxis funktioniert – und dass es
auch mit Hochpotenzen funktioniert. – Und damit kommen wir dann zur
Forschung.
Forschung zur Homöopathie
„Es gibt keine Studien, die eine Wirkung der Homöopathie tatsächlich und
zweifelsfrei belegen; allenfalls ein unspezifischer Placebo-Effekt kann
auftreten.“ (S.60)
Das ist eine Irreführung des Lesers. – Aber wenigstens eine hinreichend
geschickte Formulierung. Es gibt nämlich in der Medizin überhaupt keine
einzige klinische Studie, die irgend etwas zweifelsfrei belegt; insofern kann
diese Formulierung dann auch gefahrlos auf homöopathische Studien
angewandt werden. Aus eben diesem Grund haben sich die Experten für
Studien darauf geeinigt, den Zweifel (im Umkehrschluss: die
Irrtumswahrscheinlichkeit – P-Wert) mathematisch zu definieren. Als
Mindeststandard für klinische Studien gilt, dass die statistische
Irrtumswahrscheinlichkeit unter 5% liegen muss.
Auf Seite 135 ihres Buches schreibt die Autorin dann allerdings: „Eine
Wirkung über einen Placebo-Effekt hinaus wurde in keiner Studie jemals
festgestellt, […]“ Und das ist schlicht und einfach eine falsche
Tatsachenbehauptung – und sofern bewusst erfolgt: Eine Lüge!
Von einer wissenschaftlich gebildeten Autorin, die von sich behauptet, dass
sie ursprünglich ein „flammendes Plädoyer für die Homöopathie“ (Vorwort –
Seite VI) habe schreiben wollen, kann erwartet werden, dass sie sich mit der
Studienlage mindestens soweit auseinandergesetzt hat, dass sie die
Unwahrheit dieser Behauptung erkennen konnte.
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Zu ihren Gunsten könnte allenfalls angenommen werden, dass sie sich
zweifelhafter Ratgeber in Wissenschaftsfragen bedient hat und von diesen
irregeleitet wurde.
Tatsache ist jedenfalls, dass eine ganze Reihe von Doppelblindstudien gibt –
auch von methodisch guten Studien – die eine Wirkung über den PlaceboEffekt hinaus festgestellt haben.
Tatsache ist weiterhin, dass es auch in der Grundlagenforschung eine Reihe
von Experimenten gibt, die einen Effekt von Hochpotenzen unter
experimentellen Bedingungen zeigen.
Eine Auflistung von 21 qualitativ hochwertigen Doppelblindstudien mit
überwiegend positivem Ergebnis hätte die Autorin bereits in der von ihr
zitierten homöopathiekritischen Metaanalyse von Shang et al. finden können.
Ihre finale und viel zitierte Schlussfolgerung (Placebo-Effekt) konnten Shang
et al. in dieser Studie nur belegen, indem sie die Studiengröße als
zusätzliches Auswahlkriterium einführten. Dass dieses Kriterium für eine
zusammenfassende Darstellung mehrerer Studien kein sinnvolles Kriterium
ist, wurde in der Diskussion um diese Studie bereits angemerkt; ebenfalls,
dass die sehr spezielle Wahl des Selektionskriteriums in diesem Fall noch
zusätzlich auffällt (eine Reanalyse konnte zeigen, dass sowohl eine etwas
niedrigere als auch eine etwas höhere Schwelle jeweils zu einem anderen
Ergebnis geführt hätte). Auf welcher Rationale beruht eine Schwelle von 85,
wenn sowohl eine Schwelle von 75 als auch eine Schwelle von 100 zu einer
positiven Gesamtaussage geführt hätte?
Studien mit niedrigerer Teilnehmerzahl sind anfälliger für zufällige Ergebnisse;
dies wird bei der Berechnung der Signifikanz allerdings bereits berücksichtigt
und führt dazu, dass eine kleinere Studie eine tendenziell höhere Effektstärke
haben muss, um ein signifikantes Ergebnis zu erzielen. Aus methodischer
Sicht ist daher eine Reihe von methodisch guten Studien mit kleiner
Teilnehmerzahl eine mindestens ebenso valide Aussage, wie eine große
Studie mit der gleichen Signifikanz und der Gesamtteilnehmerzahl dieser
kleinen Studien.
Zu Gunsten der Autorin kann angenommen werden, dass sie sich mit
einzelnen Studien und der jeweiligen Diskussion dazu nicht differenziert
auseinandergesetzt hat. Sie zitiert ausschließlich und sehr selektiv
Übersichtsarbeiten. Ihre wichtigste Referenz in Wissenschaftsfragen aber
scheint Norbert Aust zu sein, ein Maschinenbauer aus Schopfheim,
spezialisiert auf Vakuumpumpen und Kompressoren.
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Der wissenschaftliche Diskurs und die Skeptiker
Überraschend an Grams Buch ist, dass in Forschungsfragen ausschließlich
Homöopathie-Skeptiker zitiert werden – insbesondere wenn man die Aussage
der Autorin für bare Münze nimmt, dass sie ursprünglich ein flammendes
Plädoyer für die Homöopathie habe schreiben wollen.
Eine differenzierte Auseinandersetzung sieht anders aus. Denn selbst in
Kreisen der Homöopathie-Skeptiker wurde nämlich inzwischen die Tatsache
zur Kenntnis genommen, dass es eine Reihe von methodisch guten Studien
mit signifikant positivem Ergebnis für die Homöopathie gibt.
Quasi „offiziell“ ist das seit dem homöopathiekrischen Buch von
Weymayr/Heißmann: „Die Homöopathie-Lüge: So gefährlich ist die Lehre von
den weißen Kügelchen“.
Einer skeptischen Öffentlichkeit wurde hier - wenn auch sehr verklausuliert
und erst auf einer der hinteren Seiten - erstmals übermittelt, dass es
methodisch gute Studien zur Homöopathie gibt, die einen signifikanten Effekt
zeigen:
„Dass es tatsächlich auch Studien gibt, die hohen wissenschaftlichen
Ansprüchen genügen, aber trotzdem eine spezifische Wirkung der
Homöopathie nahe legen, erlaubt nur den Schluss, dass die Studien
methodisch nicht perfekt oder die Ergebnisse bloßer Zufall waren.“
(Homöopathie-Lüge S. 317)
Diesen etwas verklausulierten Satz kann man sich auf der Zunge zergehen
lassen. Es gibt also Studien (plural), auch nach Auffassung der Autoren, die
hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, aber trotzdem eine
spezifische Wirkung der Homöopathie nahe legen.
Was heißt nun nahe legen? – Gibt es "nahe legen" in der Wissenschaft? – Es
gibt doch nur Daten oder keine Daten. Den Beleg für methodische Schwächen
bzw. das Wirken des Zufalls bleiben die Autoren ohnehin schuldig.
Aber recht haben sie: DIE methodisch perfekte Studie gibt es nämlich nicht in
der Medizin. – Methodisch perfekt ist allenfalls eine Studie, die noch nicht von
zwei kritischen Biomathematikern gelesen wurde. So eben funktioniert der
wissenschaftliche Diskurs. Daher gibt es Kriterien für die methodische
Akzeptanz einer Studie (z.B. den Jadad-Score – und dazu gibt es auch einen
Eintrag bei Wikipedia). Akzeptiert ist mittlerweile also auch im beleseneren
Teil der Skeptiker-Szene, dass es methodisch gute Studien gibt, die einen
Effekt der Homöopathie zeigen – unterschiedlich sind nur die Reaktionen.
Christian Weymayr war (im Gegensatz zu Natalie Grams) auch klar, dass sich
diese methodisch guten Studien nicht mit dem Zufall der Statistik hinweg
erklären lassen (der kann nur für ca. 5% herhalten - mehr nicht). Weymayr hat
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dann letzten Endes einen wissenschaftstheoretisch eher kühnen aber
immerhin originellen Ausweg gefunden: nämlich die These, dass sich
Homöopathie einfach gar nicht untersuchen ließe mit Doppelblindstudien.
Norbert Aust – die wichtigste Referenz der Autorin in Wissenschaftsfragen
neben Wikipedia – argumentiert differenzierter. Der Maschinenbauer kritisiert
in seinem Blog und in diversen anderen Medien der Skeptiker-Szene
durchaus lesenswert einzelne Homöopathie-Studien. Dass er selbst weder
Mediziner noch Medizinforscher ist, sondern studierter Maschinenbauer,
entkräftet seine Argumente sicherlich auch nicht.
Aber warum beteiligt sich Aust nicht am wissenschaftlichen Diskurs zur
Homöopathie, wenn er doch mit seinem Blog antritt, um die Schwächen
positiver Homöopathie-Studien herauszuarbeiten? Für den wissenschaftlichen
Diskurs gibt es seit einigen Jahrzehnten etablierte Spielregeln:
-
Wissenschaftliche
Ergebnisse
werden
in
wissenschaftlichen
Zeitschriften veröffentlicht – und vor der Veröffentlichung von den
Herausgebern auf ihre Plausibilität geprüft (Peer-Review).
-
Kritik an wissenschaftlichen Ergebnissen wird dann wiederum ebenfalls
von diesen Zeitschriften veröffentlicht, soweit es sich um eine
substantielle Kritik handelt. Dort haben dann die ursprünglichen
Autoren die Möglichkeit zu der Kritik Stellung zu nehmen.
-
Wenn sich eine wissenschaftliche Zeitschrift weigert eine substantielle
Kritik zu veröffentlichen, kann und sollte diese in anderen
wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden.
-
Die populärwissenschaftliche Diskussion über Forschung ist eine
Metaebene. Hier können die Ergebnisse des eigentlichen
wissenschaftlichen Diskurses zitiert und argumentativ verwendet
werden.
-
Kritiken, die nie in die wissenschaftliche Diskussion eingeflossen sind –
und sich ihrerseits dann den entsprechenden Antworten gestellt haben
– zu zitieren, ist möglich aber unfruchtbar.
Fruchtbar ist letzten Endes nur der Diskurs! Mit wissenschaftlich publizierter
Kritik müssen sich die Autoren auseinandersetzen; das führt zu einer
kontinuierlichen Verbesserung der Methodik und letzten Endes zu genaueren
Ergebnissen.
Norbert Aust veröffentlicht seine - möglicherweise ja substantiellen - Kritiken
an einzelnen Studien in Blogs und populärwissenschaftlichen Medien aus dem
Umfeld der Skeptiker-Szene; als wissenschaftliche Quelle ist er nicht zitierbar.
Edzard Ernst als drittwichtigster Referenz der Autorin in Wissenschaftsfragen
kann man wiederum nicht vorwerfen, dass er sich nicht am
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Wissenschaftsdiskurs beteiligt. Ernst ist emeritierter Professor für
Komplementärmedizin und er hat viele Beiträge in wissenschaftlichen
Zeitschriften veröffentlicht. Auch Prof. Edzard Ernst blieb nicht verborgen,
dass es eine Reihe von methodisch guten Studien zur Homöopathie gibt, die
einen
signifikanten
Effekt
zeigen
und
dass
das
mit
reiner
Zufallswahrscheinlichkeit nicht hinreichend erklärbar ist. Er fand seinen
eigenen Ansatz zur Erklärung: Es könne sich dabei nur um Fälschungen
handeln! – Einen Beweis dafür blieb er allerdings schuldig.
Die Namen der hier genannten Homöopathie-Skeptiker stehen aber nur
stellvertretend für jeweils typische Protagonisten. Wissenschaftstheoretisch
ergänzen sich diese unterschiedlichen Argumentationslinien:

Positive Homöopathie-Studien sind irrelevant, weil die Untersuchung der
Homöopathie mit Doppelblindstudien ohnehin irrelevant ist. (Weymayr)

Positive Homöopathie-Studien sind irrelevant, weil alle Studien methodische
Schwächen aufweisen (Aust)

Positive Homöopathie-Studien sind irrelevant, weil es sich dabei erkennbar
um Fälschungen handelt (Ernst)
Zusammen gesehen wirken sie aber doch merkwürdig (und eher als Versuch einer
Neuillustration des Palmström-Verdikts „Nicht sein kann, was nicht sein darf“) – auch
weil jeder dieser drei Protagonisten den jeweils anderen Argumentationslinien
offensichtlich nur begrenzt vertraut. Bedauerlich ist, dass sich die Autorin mit der
Diskussion
rund
um
die
Homöopathie-Forschung
nur
oberflächlich
auseinandergesetzt hat.
Ärgerlich: große und kleine Fehler
Manches in Grams Buch ist allerdings schlicht naiv und ärgerlich.
wissenschaftstheoretischer, gesundheitspolitischer oder medizinischer Hinsicht.
In
Gesundheitskoordinatoren
Homöopathische Ärzte, schlägt Grams vor, seien aufgrund ihrer umfangreichen
zeitlichen Befassung prädestiniert für eine Lotsen-Funktion im Gesundheitswesen
(vgl. S.144). Mit Verlaub: Das geschieht in der Praxis längst. Homöopathische Ärzte,
die in der Regel die Symptome der jeweiligen Patienten genauer erfragt haben,
veranlassen daraufhin die Diagnostik möglicherweise etwas gezielter und
differenzierter; sie überweisen zur Diagnostik und Therapie ggf. an konventionelle
Kollegen, sie setzen ggf. aber auch andere komplementärmedizinische Therapien
gezielt ein und sie verschreiben ggf. selbst konventionelle Arzneimittel (nur eben
deutlich weniger, als ihre konventionellen Kollegen).
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Beschränkung auf die geistige Ebene
Die Homöopathie sei geeignet, eine Störung der geistigen Ebene zu behandeln;
Krankheiten bei denen ganz klar eine materielle Ursache vorliegt (z.B eine bakterielle
Blasenentzündung mit gesichertem mikrobiologischen Befund), seien auch materiell
zu behandeln (z.B. durch Gabe eines Antibiotikums). (S.123)
Wie vereinbart Grams dies mit ihrer eigenen Beobachtung, dass auch eitrige (also
wohl doch bakteriell bedingte) Mandelentzündungen unter einer homöopathischen
Behandlung heilen?
Auch bakterielle Infekte werden häufig – und in aller Regel auch erfolgreich –
homöopathisch behandelt. Wenn das aus irgendeinem Grunde nicht funktioniert,
verschreiben auch homöopathische Ärzte hin und wieder Antibiotika; allerdings
verschreiben sie diese nur in einem winzigen Bruchteil der Fälle, verglichen mit ihren
konventionellen Kollegen.
Homöopathie als Psychotherapie
Die Autorin hält die Homöopathie für eine Sonderform der psychosomatischen
Medizin und will sich persönlich künftig in dieser Richtung weiter fortbilden. Das sei
ihr unbenommen. – Ob sie dann auch unter einer psychosomatischen Behandlung
„bösartige Krebsgeschwüre zurückgehen und akute eitrige Mandelentzündungen
heilen sehen“ wird, muss sich erst noch zeigen. – Gibt es dazu Studien?
Der Versuch einer Trennung zwischen der materiellen, seelischen und geistigen
Ebene ist medizinisch naiv und wird eben auch dem Konzept der psychosomatischen
Medizin nicht gerecht. Wie ist das mit rezidivierenden Blasenentzündungen? Ist
deren Ursache nicht auch aus psychosomatischer Sicht häufig eher auf der
Beziehungsebene zu suchen? (selbst wenn man bei der Untersuchung dann
natürlich doch Bakterien findet).
Grams verheddert sich hier in dem Versuch, verschiedene Ebenen voneinander zu
scheiden, die in einem ganzheitlichen Behandlungskonzept eben nie vollständig
voneinander geschieden werden können. Sie versucht die Sichtweise der
Psychosomatik und die Sichtweise der GWUP in Einklang zu bringen, was ein relativ
heroisches Unterfangen ist.
Wenn die Autorin die von ihr ja offenbar selbst erlebten Erfolge einer
homöopathischen Behandlung ausschließlich dem Zeitaufwand zuschreiben möchte,
fragt man sich, warum nicht jede Psychotherapie – in der Regel wesentlich
zeitaufwändiger (eine Stunde pro Woche verbringe ich mit keinem meiner Patienten)
– bei diesen Krankheitsbildern (Krebs, eitrige Mandelentzündungen, Asthma,
Neurodermitis,
chronisch
entzündlichen
Darmerkrankungen,
Allergien,
Schlafstörungen, Schmerzen und insbesondere et cetera) sensationelle Erfolge
erzielt.
10
Empfindungsmethode
Und wenn sie – was sie zumindest andeutungsweise tut – in der
Empfindungsmethode nach Sankaran eine Art von Super-Psychotherapie sieht (der
Patient wird hier im Kern verstanden), dann stellt sie Hypothesen auf:
-
Die Hypothese, dass sich die Erfolge der Sankaran-Methode auch ganz ohne
Globuli erzielen ließen.
Die Hypothese, dass dies auch für die gesamte Homöopathie gilt
Die Hypothese, dass sich vergleichbare Effekte mit psychotherapeutischen
Methoden erzielen lassen.
Die Hypothese, dass sich diese Effekte erzielen lassen mit homöopathischen
Arzneimitteln, aber unabhängig davon, aus welchem Wirkstoff diese
ursprünglich hergestellt wurden.
All das sind wissenschaftlich interessante und
Arbeitshypothesen – allerdings bisher unbewiesene.
wissenschaftlich
prüfbare
Für die normale klassische Homöopathie und deren Anamnese kann das weitgehend
zurückgewiesen werden. – Kontexteffekte gibt es hier sicher auch, wie bei jeder
Medizin.
Ziel einer normalen homöopathischen Anamnese ist es jedoch nicht, den Patienten
im Kern zu verstehen (obwohl das ein Nebeneffekt sein kann); das Ziel ist,
Symptome zu sammeln, die zu einer Verschreibung führen.
Abgesehen davon enthält die Annahme, einen Menschen im Kern verstanden zu
haben, nachdem man zwei oder drei Stunden mit ihm geredet hat, immer auch eine
ordentliche Portion von Hybris. Biografen unterhalten sich nicht selten mehrere
hundert Stunden mit dem Menschen, den sie darstellen möchten. Und wenn sie dann
ein Buch geschrieben haben, kommt ein anderer Biograf und schreibt ein weiteres
Buch über den gleichen Menschen – ein Buch das völlig neue und andere Facetten
dieses Menschen beleuchtet.
Weitere kleinere medizinhistorische und wissenschaftstheoretische Fehler sind, wie
bereits erwähnt, verzeihlich. Sie sollen hier - ohne Anspruch auf Vollständigkeit –
auch nur als Tipp im Hinblick auf eine mögliche Neuauflage des Buches erwähnt
werden:
S. 15 – Die Zusatzbezeichnung Homöopathie gibt es nicht erst seit 2003, sondern
schon wesentlich länger. Meine eigene Zusatzbezeichnung – ausgestellt von der
Ärztekammer Hamburg – datiert 1993.
S. 21 – Dass Hahnemann den Blutkreislauf nicht kannte, erscheint eher
unwahrscheinlich. (Harvey hat den im 17. Jh entdeckt, wenn ich recht erinnere)
11
S. 22 – Dieses Zitat aus Wikipedia zum Naturalismus (Die Naturwissenschaften sind
für die Beschreibung und Erklärung der Welt „das Maß aller Dinge“) ist etwas zu
platter Scientismus (Feyerabend und Kuhn dazu lesen?)
S. 25 – Belladonna ruft hochfiebrige Zustände hervor(?) - Belladonna kann in
Einzelfällen zu vergleichsweise geringen Temperaturerhöhungen führen; viel
wesentlicher ist aber doch die Röte, das Pulsieren und das Delir – die Symptomatik
(meinetwegen auch das Bild) eines hochfieberhaften Zustandes, aber in der Regel
eben ohne Fieber. Dieser Unterschied ist durchaus wesentlich zum Verständnis des
Ähnlichkeitsprinzips (vgl. die Diskussion um den Chinarinden-Versuch).
S. 27 – Homöopathie wird hier in den Kontext der Signaturenlehre gesetzt „Walnüsse gegen Gehirnerkrankungen“. Ganz so einfach ist das nicht; es gibt
durchaus fundamentale Unterschiede zwischen Signaturenlehre und Homöopathie.
Bereits Hahnemann hat sich zu diesem Thema sehr eindeutig und ausführlich
positioniert – das sollte man dazu gelesen haben als Buchautorin, und diesem Fall
eben nicht nur das Organon.
S. 42 oben – „immer ein Bild“ – unten in der Anmerkung: „immer nur ein Mittel“ – Ich
weiß, dass das von manchen Dozenten so erzählt wird (vgl. Ausbildungsdefizite),
das ist aber trotzdem Unsinn. Die Verschreibung eines Mittels nach dem
Ähnlichkeitsprinzip ist naturgemäß immer eine Näherungslösung. Auch wenn wir
meinen das ähnlichste Mittel verschrieben zu haben, wissen wir nie mit Sicherheit,
ob es nicht ein ähnlicheres gibt – und sei es unter den nicht oder nicht zureichend
geprüften Mitteln.
S. 119 – als Beispiel für „als ob“ – „als ob ich gefangen wäre“ – Das geht so nicht; ein
klassisches „als ob“-Symptom ist eine unmittelbar vom Patienten geäußerte
körperliche Empfindung („als ob sich ein Nagel in meinen Kopf bohren würde“) und
eben nicht die seelische Gesamtinterpretation des eigenen Zustandes.
S. 168 – „Emergenz nach unten“ – Das ist, mit Verlaub, Unsinn. Emergenz ist eine
Eigenschaft komplexer Systeme, die es zumindest in der bisherigen
wissenschaftlichen Terminologie eben nur in eine Richtung geben kann. Das
Verständnis von Emergenz ist durchaus wesentlich zum Verständnis der
Lebenskraft.
S. 181 – Die Beschreibung des Studiendesigns dort ist nichts Neues, sondern die
etwas schlichte Beschreibung des Designs einer so genannten pragmatischen Studie
(pragmatic trial). Der einzige Haken dabei: Norbert Aust, die finale wissenschaftliche
Autorität der Autorin, würde die Ergebnisse dieser Studie ohnehin und per se als
irrelevant erklären.
S. 184 – sensationeller Vorschlag, den SF 36 (einen standardisierten und validierten
Fragebogen zur Lebensqualität) als Verlaufsparameter zu verwenden; aber sehr
viele Studien zur Versorgungsforschung hat die Autorin offenbar noch nicht gelesen,
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sonst wüsste sie, dass dieses (und vergleichbare Instrumente) längst verwendet
werden.
Berechtige Kritik
Richtig ist:
-
-
Es gibt unterschiedliche Verschreibungstechniken innerhalb der Homöopathie
- daher kann nur mit Einschränkungen von DER Homöopathie gesprochen
werden.
Es gibt sicher noch eine Menge offene Fragen zur Theorie und Praxis der
Arzneimittelprüfungen.
Verschreibungstechniken
Es gibt derzeit innerhalb der klassischen Homöopathie eine ganze Anzahl
unterschiedlicher
Verschreibungstechniken,
insbesondere
bei
chronischen
Erkrankungen. Die Wertigkeit und Bedeutung der einzelnen Methoden ist
Gegenstand lebhafter Kontroversen innerhalb der homöopathischen Community.
Einigermaßen gesichert (auf derzeitigem Erkenntnisstand) ist: Die Anwendbarkeit
und Effektivität der verschiedenen Methoden hängt auch vom Einzelfall ab – von der
Krankheit, von der Auskunftsfreudigkeit und Präzision des Patienten bei der Angabe
der Symptome – aber auch von der Anamnesetechnik und den jeweiligen
Fähigkeiten des Therapeuten. Erfahrene homöopathische Ärzte kennen nicht selten
auch mehrere Analyse- und Verschreibungstechniken, die sie dann je nach Situation
einsetzen.
Ganz so dramatisch sind die Differenzen nicht, wie die Autorin sie darstellt. Beispielsweise beschreibt sie dann (S. 31) Symptome einer von ihr (mit Rhustoxicodendron) erfolgreich behandelten Patientin mit Rückenschmerzen und
beschreibt dort typische Modalitäten, die auch einen anderen Homöopathen – völlig
unabhängig von dem Gefühl der Beengung und des Gefangenseins zur
Verschreibung von Rhus-tox. hätten führen können.
All diese Differenzen beziehen sich im Wesentlichen ohnehin nur auf die Behandlung
chronischer Erkrankungen, Erkrankungen also, die mit konventionellen Arzneimitteln
nur gelindert und höchst selten geheilt werden können. – Bei der Behandlung akuter
Krankheiten sind die methodischen Differenzen äußerst gering und die
Übereinstimmung der Verschreibungen ist wesentlich höher.
Befriedigend ist die bestehende Vielfalt von Verschreibungstechniken allerdings auch
aus homöopathischer Sicht nicht, zumal es keine verlässlichen Zahlen gibt zur
Effektivität der einzelnen Methoden.
De facto benötigen alle Verschreibungstechniken in der Regel mehrere Mittel
nacheinander bei der Behandlung einer chronischen Erkrankung. Bei der Beurteilung
der Effektivität der einzelnen Verschreibung sind sich die verschiedenen Methoden
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dann aber weitgehend einig, so dass sich einige der Differenzen zwischen den
Methoden dann - bei der Betrachtung von längeren Verschreibungsreihen wiederum relativieren.
Messinstrumente zur Effektivität einzelner Verschreibungstechniken werden im
Rahmen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Homöopathie (WissHom) derzeit
erarbeitet; es werden aber auch im besten Fall sicherlich noch Jahre vergehen, bis
wirklich valide Aussagen möglich sind, welche Verschreibungstechnik am
effektivsten ist (möglicherweise auch: welche Verschreibungstechniken in welchen
Situationen am sinnvollsten sind).
Eher belustigend vor diesem Hintergrund ist allerdings, dass die Autorin einzig die
von ihr erlernte Verschreibungstechnik für effektiv und exakt hält:
„Andere Schulen in der Homöopathie bieten keine so klare Anamnese- und
Entscheidungsstruktur [wie die Empfindungsmethode nach Sankaran] und lassen
dem Therapeuten dadurch einen zu großen subjektiven Spielraum.“ (S. 46)
Der Verdacht liegt nahe, dass sich die Verfasserin mit anderen Methoden nur wenig
befasst hat. Die Empfindungsmethode nach Sankaran ist alles Mögliche, vielleicht
gar die effektivste aller Verschreibungsstrategien (Zu dieser Annahme gibt es
allerdings noch keine belastbaren Zahlen). Sie ist aber ganz sicher nicht die
exakteste aller Verschreibungsstrategien. Wie auch an akuten Verschreibungen
leicht zu belegen ist: Die einfachste und exakteste Methode – und daher auch die
Referenzmethode für andere Verschreibungstechniken - ist eine strikt
symptomenbezogene Methode, weil eben diese am wenigsten Spielraum für
Interpretationen lässt.
Arzneimittelprüfungen
Auch verschiedene Settings der homöopathischen Arzneimittelprüfungen werden in
der homöopathischen Community kritisch diskutiert; besonders kritisch allerdings
Settings aus dem Umfeld von Rajan Sankaran, eines zeitgenössischen indischen
und von der Autorin besonders geschätzten homöopathischen Arztes.
Praktikable
Richtlinien
für
die
Durchführung
von
homöopathischen
Arzneimittelprüfungen finden sich bereits bei Hahnemann; umfassende Richtlinien
wurden in den letzten Jahren in Kooperation verschiedener internationaler
Dachorganisationen erarbeitet.
http://www.lmhi.org/downloads/articles/homeopathic-proving-guidelines-pdf.pdf.
Zudem gibt es – bereits seit dem 19. Jh. – praktikable und funktionierende
Vorgehensweisen, um die Ergebnisse aus den Arzneimittelprüfungen (und der
Toxikologie) auf ihre Nützlichkeit in Behandlungsfällen zu prüfen und zu bestätigen
(Verifikation von Symptomen).
Bisher wird das allerdings nicht mit hinreichender Systematik durchgeführt; ferner
gibt es auch noch kein praktikables Instrument um unbestätigte Symptome dann
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auch wieder auszusortieren aus der homöopathischen Materia Medica. – Es wird
noch viele Jahre dauern, bis die derzeit in Entwicklung befindlichen Instrumente
soweit greifen, dass sich die Diskriminationsfähigkeit einzelner Symptome bei der
Verschreibung wahrnehmbar erhöht.
Derzeit haben die Erkenntnisinstrumente der Homöopathie Unschärfen, die sich mit
Sicherheit auch auf die Effektivität der einzelnen Verschreibung (insbesondere bei
chronischen Erkrankungen) auswirken; dennoch hat die Homöopathie in der Praxis
und in Bezug auf die hier angewandten Mittel jedenfalls eine weit höhere und weit
besser begründete Diskriminationsfähigkeit bei ihren Verschreibungen als
beispielsweise die Differentialtherapie von Antihypertonika oder Neuroleptika in der
konventionellen Praxis.
Auch bei den Arzneimittelprüfungen lassen sich also die kritischen Anmerkungen der
Autorin nachvollziehen, ohne zwingend ihren Schlussfolgerungen zuzustimmen.
Fazit
Insgesamt neigt die Autorin etwas dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Für Skeptiker ist dieses Buch nicht wirklich interessant – abgesehen von dem Kitzel,
dass hier eine ausgebildete homöopathische Ärztin schreibt. – Im Wesentlichen
werden nur längst bekannte Argumente wiedergegeben.
Interessant wäre das Buch also eher für homöopathische Ärzte, um sich mit der Kritik
auseinanderzusetzen – die häufigen Wiederholungen machen das aber ermüdend. –
Und zu den einzelnen berechtigten kritischen Hinweisen gibt es innerhalb der
homöopathischen Diskussion wesentlich differenziertere und substantiellere kritische
Aussagen.
Ansonsten wäre die eigentliche Neuheit des Buches, dass auch eine kritische
Öffentlichkeit zur Kenntnis nimmt, dass eine homöopathische Behandlung einen
relevanten Einfluss haben kann auf den Verlauf bösartiger Erkrankungen.
Vergleichbar hat ja das homöopathiekritische Buch von Herrn Weymayr (Die
Homöopathie-Lüge) einer skeptischen Öffentlichkeit, wenn auch erst auf einer der
hinteren Seiten und sehr verklausuliert, erstmals übermittelt, dass es methodisch
gute Studien zur Homöopathie gibt, die einen signifikanten Effekt zeigen.
Für hoffnungsvolle Patienten ist zum Thema Krebs an dieser Stelle allerdings der
deutliche Hinweis angebracht (die Autorin des Buches hat den im Eifer leider
vergessen), dass es sich bei den Erfolgen homöopathischer Therapie bei malignen
Erkrankungen zwar im Einzelnen um reale Erfolge handelt, dass es hier aber eben
doch nur um Einzelfälle geht.
In gegenwärtiger Situation kann einem Patienten mit einer malignen Erkrankung, für
den es eine mit hinreichender Wahrscheinlichkeit kurativ wirksame konventionelle
Therapie gibt, nur zu dieser Therapie geraten werden.
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Bei Tumoren mit einer sehr schlechten Prognose und bei metastasierten Tumoren
kann die Abwägung unter Umständen anders ausfallen. Hier erzielen konventionelle
Therapien häufig nur eine geringe Erhöhung der Lebenserwartung – (teilweise
handelt es sich hier nur um Wochen), allerdings um den Preis einer erheblichen
Verschlechterung der Lebensqualität.
Eine alternative und sachgerechte homöopathische Behandlung (je nach den
Umständen im Einzelfall auch eine additive homöopathische Behandlung) kann hier
zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen. - Für die Erhöhung der
Lebenserwartung gibt es mögliche Hinweise, aber keine belastbaren Zahlen.
Was bleibt von diesem Buch, außer einigen noch zu prüfenden Arbeitshypothesen?
Erkennbare Ausbildungsdefizite der Autorin sollten zumindest ein Anlass sein für den
DZVhÄ, das eigene Ausbildungskonzept kritisch zu prüfen.
Publication Bias
Ein letzter interessanter Aspekt des Buches noch – und nur ein Gedankenspiel:
Wenn die Autorin das Buch geschrieben hätte, das sie nach eigener Aussage
ursprünglich hätte schreiben wollen, das „flammende Plädoyer für die Homöopathie“
und wenn sie sich in diesem Kontext als wissenschaftlich ausgebildete Ärztin
inszeniert hätte, die sich der Homöopathie zugewandt hat, wie wäre dann wohl die
mediale Rezeption ihres Buches ausgefallen?
Wäre Ihr Buch dann auch in mehreren hochrangigen Print-Medien und in
Fernsehsendungen gewürdigt worden?
Nun könnte man meinen, die Autorin profitiert hier von der schönen alten
Journalisten-Regel (Hund beißt Mann, keine Nachricht – Mann beißt Hund,
Nachricht). - Wissenschaftlich ausgebildete Ärzte, die sich der Homöopathie
zuwenden, gibt es jedes Jahr viele – und Bücher, die die Erfolge der Homöopathie
anhand von Fällen und von Studien darlegen, auch etliche.
In diesem Fall trifft diese Regel aber nicht den Kern der Angelegenheit: Weymayr,
der sich nun nicht als ausgebildeter homöopathischer Arzt outen konnte, wurde
ähnlich gut medial rezipiert.
In der wissenschaftlichen Community wird die Wahrnehmungsverzerrung der
Wissenschaft aufgrund selektiver Publikation von Ergebnissen als Publikations-Bias
(Bias=Verzerrung) bezeichnet.
In der konventionellen Medizin ist der wichtigste Publikations-Bias derzeit, dass
negative Studien gelegentlich einfach gar nicht veröffentlicht werden. Der bekannte
englische Pharma-Kritiker (und Homöopathie-Kritiker) Goldacre schätzt z.B., dass in
der konventionellen Krebstherapie nur etwa 5% der industriefinanzierten Studien
publiziert werden.
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Ein auch nur annähernd vergleichbarer Publikations-Bias wäre in der HomöopathieForschung schon aus dem schlichten Grund nicht möglich, dass die ganz
überwiegende Zahl der Studien nicht industriefinanziert sind, sondern mit öffentlichen
Mitteln oder mit Mitteln von Stiftungen; in beiden Fällen lassen sich Durchführung
und Ergebnis der Studien nicht verschweigen.
Angewandt auf die Homöopathie besteht der Publikations-Bias
Wahrnehmungsverzerrung in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit –
hauptsächlich darin, dass Studien mit positiven Ergebnissen nur mit
Schwierigkeiten einen Publikationsort finden – und wenn dann eher
erstrangigen.
– die
derzeit
großen
keinen
Der renommierte Lancet hat in den vergangenen Jahren auch schon mindestens
eine Homöopathie-Studie abgelehnt – eben nicht aufgrund von methodischen
Einwänden, sondern mit der Begründung, dass das Thema für die Leser des
Journals nicht interessant sei. Dieses Desinteresse seiner Leser an diesem Thema
hindert den Lancet aber nicht daran, weiterhin negative Arbeiten zur Publikation zu
akzeptieren – im Zweifel auch reine Literaturarbeiten fragwürdiger Relevanz.
Arbeiten mit negativem Ergebnis haben es aber nicht nur leichter mit der Publikation,
sie werden dann auch von Wissenschaftsredaktionen der Publikumspresse breit
zitiert (in deutlichem Gegensatz zu positiven Studien).
Positive Studien werden breit zitiert, wenn sie widerlegt werden konnten.
In einer Veranstaltung (im Rahmen einer Tagung von Netzwerk Recherche, eines
recht renommierten deutschen Journalistenverbandes), an der mehrere bekannte
deutsche Wissenschaftsjournalisten beteiligt waren, fiel dann auch schon mal die
schöne Bemerkung: Man habe hier schließlich auch eine Verantwortung als
Journalist; wenn man einen Beitrag über Homöopathie schreibe, und dabei einen
homöopathischen Arzt oder Forscher zu Wort kommen lasse mit dem Hinweis, dass
es doch eine Reihe positiver Studien gäbe, dann könnten die Leser das falsch
verstehen; die könnten dann vielleicht den Eindruck bekommen, dass doch etwas
dran sei an der Sache. Ähnlich verhalte sich das ja mit der Berichterstattung über die
Klimaforschung.
Verblüfft hat mich nicht so sehr dieses etwas paternalistische Berufsethos – sondern
die Offenheit, mit der das ausgesprochen wurde, und die Tatsache, dass keiner der
anwesenden deutschen Wissenschaftsjournalisten (mindestens 50) sich zum
Widerspruch genötigt fühlte.
Wie war das noch mal?
Die gemeinsten Meinungen und was jeder für ausgemacht hält, verdient oft am
meisten untersucht zu werden.
Was im Moment offenbar jeder Wissenschaftsredakteur in Deutschland für
ausgemacht hält, ist die Unwirksamkeit der Homöopathie. Und nur das unbelehrbare
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Publikum ist da gelegentlich noch anderer Meinung, vor allem wenn es sich seine
Meinung aufgrund eigener Erfahrung gebildet hat.
Belustigend ist in diesem Zusammenhang noch, dass Weymayr, sich in seinem Buch
als einsamer Rufer in der Wüste darstellte, der letzte Standhafte gegen ein Heer von
leider völlig unkritischen Journalisten - ein Thema, dem ein eigenes Kapitel seines
Buches gewidmet ist. Der Moderator der Veranstaltung - in dem Buch ebenfalls
kritisiert von Weymayr und darauf angesprochen in der Veranstaltung, antwortete:
„Das klären wir intern“. Ganz so einsam ist Weymayr offenbar doch nicht – und in
diesem Verein jedenfalls gut vernetzt.
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