Chefsache Komplexitätsmanagement

Chefsache Komplexitätsmanagement
Organisationen ganzheitlich entwickeln
ƒƒ Neue Wege gehen – Wer Komplexität beherrscht, gewinnt:
gestern, heute und morgen
ƒƒ Da machen wir es doch lieber gleich richtig!
Produktvielfalt beherrschen
ƒƒ Auch ein perfekter Schnitt hält nicht ewig –
Dauerhafter Erfolg verlangt nach einer regelmäßigen
Pflege des Produktprogramms
ƒƒ Komplexitätsmanagement in der Automobilindustrie
ƒƒ Variantenmanagement:
Der Complexity Manager schafft Transparenz
Produktion optimal ausrichten
ƒƒ Komplexitätsbeherrschung durch wandlungsfähige
Produktion
ƒƒ Mit dem Produktionsaudit die eigene Position
bestimmen
Prozesse zielsicher gestalten
ƒƒ Leistungsfähiges Prozessmanagement:
Prozesse beschleunigen, Profitabilität erhöhen
und Qualität sichern
ƒƒ Wertstrom im Unternehmen: Prozesse sehen lernen
Innovation vorantreiben
ƒƒ Lean Innovation – Entwicklungsproduktivität
signifikant steigern
ƒƒ Den Wert verstehen, das ist das A und O –
F&E-spezifische Wertstromanalyse
Schuh & Co.
Komplexitätsmanagement
Inhalt
3
Editorial
Chefsache Komplexitätsmanagement
Beiträge
4
Neue Wege gehen –
Wer Komplexität beherrscht, gewinnt:
gestern, heute und morgen
Dr. Stephan Krumm
8
Da machen wir es doch lieber gleich richtig!
Dr. Stephan Krumm (Schuh & Co. GmbH) und
Dr. Peter Fischer (fgi) im Gespräch
12
Auch ein perfekter Schnitt hält nicht ewig –
Dauerhafter Erfolg verlangt nach einer regelmäßigen
Pflege des Produktprogramms
Norbert Große Entrup
17
Komplexitätsmanagement in der Automobilindustrie
Dr. Stephan Krumm / Marcus Rennekamp
26
Variantenmanagement: Der Complexity Manager
schafft Transparenz
Michael Friedrich
30
Komplexitätsbeherrschung durch wandlungsfähige
Produktion
Es gilt den Fit zwischen Komplexität und Wandlungsfähigkeit eines Produktionssystems einzustellen
Dr. Gregor Tücks / Jan Eilers
34
Mit dem Produktionsaudit die eigene Position
bestimmen
Dr. Gregor Tücks
37
Leistungsfähiges Prozessmanagement:
Prozesse beschleunigen, Profitabilität erhöhen
und Qualität sichern
Dr. Stephan Krumm / Jan Eilers
44
Wertstrom im Unternehmen: Prozesse sehen lernen
Norbert Große Entrup
48
Lean Innovation – Entwicklungsproduktivität
signifikant steigern
Dr. Stephan Krumm / Dr. Stephan U. Schittny
Bildnachweise:
Seite 1: ©istockphoto.com/ramihalim; ©istockphoto.com/josh webb;
©istockphoto.com/gerenme; ©istockphoto.com/Carl Swahn;
©istockphoto.com/gilles lougassi; Seiten 4, 5: ©istockphoto.com/ramihalim;
Seiten 8, 11: ©Heiko Schulz; Seite 12: ©istockphoto.com/josh webb;
Seite 18: ©Getty Images; Seite 30: ©istockphoto.com/gerenme;
Seite 33: ©istockphoto.com/gerenme; ©istockphoto.com/Sparky2000;
©istockphoto.com/i.A.a. Gies (2009), Elektromobilität;
Seite 34: ©WZL; Seite 35: ©DMG; Seite 38: ©istockphoto.com/Carl Swahn;
Seite 49: ©istockphoto.com/gilles lougassi;
2
52
Den Wert verstehen, das ist das A und O –
F&E-spezifische Wertstromanalyse
Dr. Stephan U. Schittny
56
Top Executive Seminar mit Prof. Günther Schuh
Lean Innovation
Entwicklungsproduktivität signifikant steigern –
eine Top-Management-Aufgabe!
Editorial
Nicht selten, wenn wir uns im privaten oder im beruflichen Leben mit undurchsichtigen und unerwarteten
Situationen konfrontiert sehen, benutzen wir den
Begriff der „Komplexität“. Das betrifft den Kunden
eines Cafés, der mittlerweile vor einer erschlagenden
Produktpalette verschiedener Kaffee-Variationen steht,
genauso wie den Manager, der unter ständig wechselnden Randbedingungen wegweisende Entscheidungen
treffen muss.
Für uns Grund genug, sich dauerhaft mit den Fragen
zu beschäftigen, was Komplexität eigentlich ist, warum
sie uns so zu schaffen macht und was gutes Komplexitätsmanagement ausmacht. Kommen Sie mit auf eine
Themenreise.
Fragen? Gerne!
Herzlich Ihr
Dr. Stephan Krumm
Geschäftsführender Partner
3
Neue Wege gehen –
Wer Komplexität beherrscht, gewinnt:
gestern, heute und morgen
Dr. Stephan Krumm CEO’s sind sich mittlerweile einig, dass die Komplexität in den kommenden Jahren massiv zunehmen
wird. Das Management dieser Komplexität wird mehr und mehr zum eigentlichen Kern der Führungsaufgabe. Was nun gefragt ist, sind Lösungen. Ein ganzheitliches Fünf-Punkte-Programm an den wichtigsten Brennpunkten Produkt, Prozess, Produktion, Innovation und Personal soll Entscheidern dabei
helfen, Komplexität im eigenen Unternehmen zu identifizieren und zu beherrschen.
Wer Top-Entscheider deutscher Unternehmen nach
den aus ihrer Sicht wesentlichen unternehmerischen
Herausforderungen der nächsten 20 Jahren befragt,
stößt nicht selten im ersten Satz auf den Begriff der
Komplexität. Und das nicht ohne Grund: Unternehmen setzen noch immer auf die Konzentration auf
Kernkompetenzen, die tendenziell zur Reduktion von
Wertschöpfungsstufen und damit zu einer massiven
Veränderung der Zulieferstruktur führt. Wertschöpfung erfolgt nicht mehr lokal an einem Standort
sondern in einem globalen Wertschöpfungsnetz:
Beschaffungs-, Herstellungs- und Distributionsprozesse sowie deren Schnittstellen verändern sich massiv.
Produktlebenszyklen werden kürzer, die Frequenz der
Produktwechsel höher. Der Ruf des Kunden nach
individuellen Lösungen lässt immer neue Nischenmärkte und Produktvarianten wie Pilze aus dem Boden
schießen.
Gemeinsamkeit all dieser Entwicklungen sind drei
Dinge: Vielfalt, Dynamik und Interdependenzen.
Wenn alles zusammenkommt, sprechen wir von
„Komplexität“.
Komplexität stiftet im Unternehmen nicht zwangsläufig Nutzen, beispielsweise in Form von neuen
Marktanteilen, sondern verursacht oft genug auch
4
vermeidbare Aufwände. Unbedachte Komplexität im
Unternehmen hat deshalb enorme Auswirkungen auf
die Produkte, die Mitarbeiter oder gar auf den Profit.
So lässt sich zum Beispiel nachweisen, dass Unternehmen mit einer Reduktion ungewollter Komplexität
EBIT-Steigerungen von drei bis fünf Prozentpunkten
erzielen können.
Die Antwort auf die Frage, welches Ergebnis im Einzelfall erzielt werden kann, hängt davon ab, wie gut ein
Unternehmen in der Lage ist, individuelle Komplexitätstreiber, deren Wechselwirkungen und nicht zuletzt
deren Kostenwirkung ganzheitlich zu erkennen und zu
verstehen. Hierzu bedarf es dem Zusammenspiel von
Methoden des Komplexitätsmanagements; und genau
darin haben wir in über 20 Jahren Erfahrungen gesammelt. Deswegen empfehlen wir Ihnen ein bewährtes
fünf-Punkte Programm, das auch Ihr Unternehmen
die künftige Komplexität beherrschen lässt:
1. Produkt: Aufräumen und Altlasten bereinigen.
Wenn nicht jetzt, wann dann?
2. Prozess: Endlich Verschwendung abstellen und alte
Gewohnheiten kritisch hinterfragen!
3. Produktion: Richtig dimensionieren und flexibilisieren. Konsequent und schnell!
4. Innovation: Den Pfad für die Zukunft legen und
dann durchstarten!
5. Personal: Freunde identifizieren und sich gemeinsam auf die Zukunft vorbereiten!
1. Produkt – Aufräumen und Altlasten bereinigen.
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Sie sollten Ihr Produktportfolio periodisch immer
wieder kritisch hinterfragen. Zu glauben, dass Produkte gut laufen, ist gut, sich wirklich zu vergewissern,
ist besser. Oftmals lassen verdeckte Kosten Produkte
profitabler erscheinen als sie wirklich sind oder etablierte Produkte werden bei Neueinführungen nicht
richtig angepasst.
ƒƒNehmen Sie eine radikale Bestandsreduzierung
vor und verkaufen Sie Ladenhüter. Ein hoher
Bestand ist unnötig festgelegtes Kapital.
ƒƒBleiben Sie souverän bei der Preisgestaltung.
Der Fokus liegt jetzt nicht mehr auf Umsatz,
sondern auf Ertrag. Oftmals ist ein Preisnachlass
schädlicher als ein Rückgang in Verkaufsmengen.
GM hat im Vergleich zu Toyota in den letzten Jahren
enorme Rabatte für den Verkauf ihrer Autos gewährt und konnte sich nie davon erholen. Das Ende
ist bekannt.
ƒƒNehmen Sie eine Sortimentsbereinigung vor.
Welche Produkte lohnen sich denn wirklich? Betrachten Sie beispielsweise Porsche gegen Anfang
der 90er. Porsche erfuhr einen drastischen Einsturz
der Profite, obwohl die Produktpalette damals so
breit wie nie war. Nachdem Porsche einen Radikalschnitt wagte, entstand die Erfolgsgeschichte.
ƒƒIdentifizieren Sie Lücken im Produkt- und
Dienstleistungsportfolio und schließen Sie diese
schnell. Hat etwa der Wettbewerb Leistungen im
Angebot, die den Unterschied in der Käufergunst
ausmachen? Dann sollten Sie schnell reagieren. Das
gesamte Portfolio Ihres Angebotes inkl. bepreister
und verschenkter Dienstleistungen muss auf den
Prüfstand.
ƒƒBündeln Sie Dienstleistungen und Servicepakete. Sie geben dem Kunden das Gefühl, ein gutes
Geschäft zu machen und verkaufen gleichzeitig mehr
Produkte.
ƒƒSehen Sie den Aftermarket als Chance. Wenn
Kunden schon Ihre Produkte besitzen, nutzen Sie
Ihre Chance auf dieses Vertrauen weiter aufzubauen
und auch den notwendigen Service dazu anzubieten.
ƒƒIdentifizieren Sie neue Anwendungen und Märkte der eigenen Produkte und Technologien.
Springen Sie nicht zu kurz, wenn es um die Ausweitung von Geschäftsoptionen geht. „Leveragen“ Sie
Ihre Kompetenzen.
2. Prozess – Endlich Verschwendung abstellen und
alte Gewohnheiten kritisch hinterfragen!
Wie sehen Ihre Prozesse eigentlich wirklich aus?
Wo gibt es Verbesserungspotenziale, wo können Sie
einsparen und was ist nun wirklich nicht nötig? Diese
Betrachtung wird Ihnen helfen, radikal schneller
zu werden. Sie sollten Ausreden verbieten und Ihre
Produktions-, Logistik- und Administrationsprozesse
beschleunigen. Jeder weiß, wo sofort Potenziale erschlossen werden können. Nun muss es getan werden.
ƒƒEntwickeln Sie eine Wertstromorientierung. Hier
lautet die Devise schlicht: Sehen lernen. Und das in
allen Bereichen. Auch die Administration sollte sich
nicht länger verstecken.
ƒƒBeschleunigen Sie die Markteinführung. Je
länger Sie warten, ein Produkt oder eine Serviceleistung einzuführen, desto mehr Zeit geben Sie der
Konkurrenz.
ƒƒHinterfragen Sie Ihre Schnittstellen und Aufbauorganisation. Langsame und inflexible Prozesse
sind nicht selten Resultat veralterter Strukturen.
Stellen Sie Ihre Schnittstellen in Frage, prüfen Sie
die Leistungsspannen, schaffen Sie mehr Transparenz und sorgen Sie für klare Verantwortlichkeiten.
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Ein akzeptiertes und gelebtes Prozessmodell kann
Wunder wirken.
ƒƒAnalysieren Sie Ihre Prozesstreiber. Prozess- und
Komplexitätstreiber bestimmen Ihre Kostenstruktur.
Viele davon sind unnötig. Hier gilt es anzusetzen.
Beispiele: Anzahl der Buchungsvorgänge im Finanzund Rechnungswesen, Anzahl kurzfristig geänderter
Reisebuchungen, Anzahl von Lieferanten in gleichen
Themenfeldern, Anzahl veralteter, nicht genutzter
Artikelnummern, Anzahl überflüssiger und ergebnisleerer Sitzungen, usw. Sie haben bestimmt sofort
eigene Beispiele im Kopf!
ƒƒLegen Sie Ihre Wettbewerbsposition fest. Fokussieren Sie sich auf das Wesentliche, denn nur wer
eine klare Wettbewerbsposition hat, kann sich auch
erfolgreich durchsetzen.
3. Produktion – Richtig dimensionieren und flexibilisieren. Konsequent und schnell!
Mit einem gesunden Maß an Realismus und eben
nicht der „wünsch‘ Dir was“ Haltung sollten Sie Ihre
Produktion durchleuchten. Was ist denn wirklich Ihre
Kernkompetenz und was hält auch noch in Zukunft
den neuen Herausforderungen stand?
ƒƒHalten Sie Kapazitäten in überschaubarem
Rahmen. Typischwerweise geht es auch mit weniger. Schon manches Unternehmen ist ins Stolpern
geraten, weil es die eigenen Kapazitäten nicht im
Griff hatte.
ƒƒÜberprüfen Sie Ihre Wertschöpfungsstruktur
und misten Sie Ihre Supply Chain aus. „Make or
Buy“ stellt sich heute ganz anders dar als vor einigen
Jahren. Nutzen Sie Ihre Kapazitäten besser; auch die
der Zulieferer.
ƒƒStellen Sie Investitionen auf den Prüfstand.
Investieren Sie dort, wo es sinnvoll ist; Zukäufe können ein gesundes Unternehmen enorm stärken.
4. Innovation – Den Pfad für die Zukunft legen
und dann durchstarten!
Komplexe Unternehmen haben sich nicht selten u. a.
verzettelt und Innovationstrends verschlafen. Das darf
nicht passieren. Prüfen Sie Ihre Positionierung und
legen Sie fest, auf was Sie sich konzentrieren wollen.
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ƒƒSchaffen Sie eine fokussierte Innovationsoffensive. Ohne Innovationen werden Sie keine Zukunft
gestalten können. Aber Achtung: Es muss ein
fokussierter Ansatz sein. Niemand kann alles alleine.
Außerdem setzen Sie mit Innovationsmanagement
Zeichen für Ihre Mitarbeiter und schaffen dringend
benötigtes Vertrauen. Binden Sie daher Ihre Mitarbeiter ein und fordern Sie deren Beiträge.
ƒƒFühren Sie strategische Innovationen konsequent fort. Bestenfalls können Sie sich einen zeitlichen Aufschub leisten, aber kein Anhalten.
ƒƒBeschleunigen Sie Innovationsprozesse. Unter
Druck geht vieles schneller. Das ist der beste Beweis,
nun die Potenziale zu heben.
ƒƒMarket Pull und Technology Push ist immer
noch die richtige Grundhaltung. Kundenbefragungen, um die Kundenbedürfnisse und den Markt
zu verstehen, reichen nicht. Märkte wollen auch
geschaffen werden. Innovations- und Technologiemanagement sind die richtigen Mittel. Wer in
der heutigen Zeit überrascht wird, hat tief und fest
geschlafen.
„Probleme von heute lassen sich nicht mit den
Methoden von gestern lösen. Die Welt ist nun mal
komplex und braucht daher Komplexitätsmanagement.“
Dr. Stephan Krumm
5. Personal – Freunde identifizieren und sich
gemeinsam auf die Zukunft vorbereiten!
Erinnern Sie sich? Personal – dies sind die Damen
und Herren, die Ihr Unternehmen repräsentieren, sei
es auf oberster oder unterster Ebene. Geschäftserfolg
fängt hier an. Wenn Sie Loyalität bei Ihren Mitarbeitern schaffen, dann stellen Sie die Weichen für den
Erfolg.
ƒƒBinden Sie engagierte und fähige Mitarbeiter.
Sie sollten in Fortbildung für solche Mitarbeiter
investieren und ihnen neue Chancen ermöglichen.
Sie sollten sich auch darüber im Klaren sein, dass der
Unternehmenserfolg immer mehr vom Wissen Ihrer
Mitarbeiter abhängt. Dieses Wissen ist auch eine
Kompetenz, die nur schwer von Ihren Konkurrenten
imitiert werden kann. Verlässt also ein Know-howTräger das Unternehmen, hinterlässt er eine Lücke,
die nur schwer wieder zu schließen ist und hohe
Kosten verursacht.
ƒƒHalten Sie Ausschau nach neuen Talenten. Sie
sollten immer auf der Suche nach neuen Talenten
sein. Vor allen Dingen im Hinblick auf die kommenden demographischen Veränderung in Deutschland,
besonders der kommenden Pensionierung zahlreicher „Baby Boomer“ wird sich der Wettbewerb
um junge Arbeitnehmer intensivieren.
ƒƒVerabschieden Sie Low Performer. Das hätten Sie
schon lange tun sollen.
ƒƒKommunizieren Sie offen, ehrlich und zeitnah.
Aber lassen Sie Kommunikation von Profis machen.
Ingenieure, Betriebswirte und Juristen machen das
nicht mal so nebenher.
Fazit
Der Mensch ist von Natur aus stets bemüht, Komplexität zu vermeiden oder zu reduzieren. Doch gerade
im Unternehmen ist Komplexität in vielen Fällen nicht
nur hinderlich, sondern auch effektives Instrument
um Wettbewerbsvorteile, beispielsweise durch ein
möglichst kundenindividuelles Produktprogramm,
zu erzielen. Beim „Komplexitätsmanagement“ geht
es also vielmehr darum, den Komplexitätsgrad des
Unternehmens ständig zu hinterfragen und stetig zu
einem Optimum zu führen.
ƒƒin Alternativen zu denken, um in unübersichtlichen
Entscheidungssituationen angemessen reagieren zu
können
Dazu braucht es aus Sicht des Entscheiders ein tiefgehendes Verständnis davon, welches die wesentlichen
Komplexitätstreiber des Unternehmens sind, durch
welche Wechselwirkungen diese zusammenhängen
und welchen Beitrag jeder Einzelne von ihnen zum
Unternehmenserfolg leistet. Nur so ist es möglich,
wertschaffende von wertvernichtender Komplexität zu
unterscheiden. Gelingt es nicht, den optimalen Grad
der Komplexität zu finden, wird Komplexität schnell
zum „stillen Tod von Profit und Wachstum“.
Eine alte Weisheit des Konfuzius sagt:
„Die eigenen Fehler erkennt man am besten mit den
Augen anderer!“.
Wenn Sie also noch Fragen haben zu unseren Lösungsvorschlägen, helfen wir gerne. Systematisch,
menschlich, schnell.
Weiterführende Literatur:
Nedopil C.; Steger U.; Amann W.: Managing Complexity
in Organizations, Text and Cases, Palgrave Macmillan,
Houndmills 2011
Steger U.; Amann W.; Maznevski M.: Managing Complexity
in Global Organizations, John Wiley & Sons Ltd, West Sussex 2007.
Manager, die dieses Handwerk beherrschen, sind in
der Lage,
ƒƒdie Unternehmensressourcen fokussiert einzusetzen
und sich nicht zu verzetteln
ƒƒWesentliches von Unwesentlichem und Wichtiges
von Dringlichem zu trennen
Kontakt
ƒƒEinzelentscheidungen mit Blick auf das gesamte
Unternehmen zu treffen
Dr. Stephan Krumm
Telefon: +49 241 51031 0
[email protected]
7
„Da machen wir es doch
lieber gleich richtig!“
Dr. Stephan Krumm und Dr. Peter Fischer im Gespräch über Wirkungsnetze, Komplexitätsberatung,
gelernten Respekt und das Ringen um die beste Lösung.
aus, dass es einen spezifischen Grund geben
muss, warum er uns braucht. Das gemeinsam mit
Stephan Krumm von Schuh & Co. herauszuarbeiten,
ist hoch spannend. Denn was wir gemeinsam hinkriegen müssen, ist: Unsere Unterschiedlichkeit zu
bewahren, von unserem Fachwissen und von unseren
Kulturen her. fgi hat ja eine sozialwissenschaftliche
Heimat und bei Schuh & Co. gibt es eine klassische
ingenieurs-technische und betriebswirtschaftliche
Heimat, mit entsprechend unterschiedlichen Menschentypen und kulturellen Merkmalen. Das in eine
respektvolle und fruchtbare Zusammenarbeit zu
bringen, ist die Kunst.
Dr. Stephan Krumm, Dr. Peter Fischer
Herr Dr. Fischer, warum arbeiten Sie ausgerechnet
mit Schuh & Co. zusammen?
Fischer: Weil wir eine Menge Übereinstimmungen
haben. Das fängt ganz simpel bei der vergleichbaren
Unternehmensgröße an, die Grundvoraussetzung für
eine gelungene Kooperation ist. Hinzu kommt, dass
wir das gleiche Geschäftsverständnis haben; nämlich
eins, in dessen Mittelpunkt Qualität und ein hoher
methodischer Anspruch stehen. Und: Wir haben
beide einen systemischen, Kompetenz unterstellenden
Zugang zu unseren Kunden. Wir glauben, dass unsere
Kunden sehr viel können und wissen, nur in bestimmten Projekten, Prozessen, Situationen nicht in der Lage
sind, dieses Können und Wissen ideal zusammenzubringen.
Das Gegenteil von einem Besserwisseransatz.
Fischer: Richtig. Ich habe Respekt vor den Fähigkeiten und Leistungen meiner Kunden und gehe davon
8
„Wir arbeiten gemeinsam
an einem Change-Design,
das jeder von uns allein so
umfassend nicht hätte gestalten können.“
Dr. Stephan Krumm
Herr Dr. Krumm, warum arbeiten Sie mit fgi zusammen?
Krumm: Weil ich feststellen musste: Mit unserem
Ansatz allein können wir gerade bei großen Veränderungsprozessen nicht alles abdecken und damit auch
nicht genug bewirken. Um Menschen, Unternehmer
und Führungskräfte von großen Veränderungen zu
überzeugen, brauche ich eine andere Perspektive –
neben der inhaltlich-technischen Lösungssicht eben
auch die Sicht auf kulturelle, verhaltensmäßige Veränderungen und ähnliche Dimensionen. Wir arbeiten
mit fgi also zusammen aus der inneren Offenheit und
Notwendigkeit heraus, eine andere Perspektive zuzulassen; und mittlerweile auch aus gelerntem Respekt
voreinander.
Bei so viel Übereinstimmung: Werden Sie in Zukunft überhaupt noch separat tätig sein?
Krumm: Sicher wird es weiter reinrassige Beratungsthemen und -Projekte für uns geben. Wenn uns
Unternehmen zum Thema Komplexitätskosten und
Variantenmanagement anfragen, da werden wir natürlich entsprechende Studien und dergleichen anbieten.
Da brauchen wir fgi nicht.
Fischer: Und wenn wir nach einem Mentoring-Projekt gefragt werden oder nach einer Einführung von
360° Feedback, da brauchen wir Schuh & Co. nicht.
Aber für alle großen Veränderungsprozesse inhaltlichfachlicher und kultureller Art, da werden in Zukunft
beide Perspektiven gebraucht.
Beschreiben Sie diese beiden Perspektiven etwas
näher, skizzieren Sie kurz Ihren Beratungsansatz.
Krumm: Um es mit Adjektiven und in einer wertfreien Reihenfolge zu sagen, Schuh & Co. ist: inhaltlich. Methodisch. Umsetzungsorientiert. Und noch
ein entscheidendes Adjektiv: ganzheitlich. Strukturen,
Aktivitäten und Verhalten müssen im Einklang stehen
– das ist die St. Gallener BWL-Schule, aus der viele
von uns bei Schuh & Co. kommen. Wir denken grundsätzlich in Wirkzusammenhängen und Werten wie
Kostentreiber, Prozessressourcen usw. Uns interessiert
weniger, ob 5 Führungskräfte als Team wirklich gut
funktionieren. Wir merken es im Wirkungsnetz, aber ...
... das kann Ihnen jetzt egal sein. Das ist die Aufgabe von fgi?
Krumm: Genau. Endlich kann mir das egal sein.
Denn das ist eine andere Disziplin. Und das sollen die
machen, die das am besten können.
Was ist wesentlich für den fgi-Beratungsansatz?
Fischer: Es gibt auch bei uns das Wort und den Wert
der Ganzheitlichkeit. Als ein Unternehmen, das ein
systemisches Beratungsverständnis hat, sind für uns
unterschiedlichste Facetten (strukturelle, strategische,
kontextuelle, verhaltensmäßige und kulturelle) wichtig.
Wir können ein Unternehmen nur „ganz“ sehen. Darüber hinaus arbeiten wir ressourcenorientiert. Und
wir sind weniger expertenhaft. Wir wissen nicht
immer, wie etwas zu lösen ist. Aber wir wissen sehr
genau, wie ein Prozess zu gestalten ist.
Was haben Sie Ihren Kunden gemeinsam zu bieten, was Sie allein nicht bieten können? Was ist
das neue, veränderte Angebot?
Fischer: Die Reflektion aus 2 Perspektiven. Wir, fgi
und Schuh & Co. zusammen, verkörpern, dass harte
Faktoren – sprich Dinge, die man konkret verändern
kann: Strukturen, Prozesse – und weiche Faktoren wie
Kulturmerkmale, Einstellungen, innere Haltungen und
Verhaltensweisen gleichzusetzen und gleichzeitig zu
bearbeiten sind. Die Grundregel also: nicht mehr im
Hintereinander denken, sondern in Gleichzeitigkeit.
Nicht zuerst strukturell beraten und dann irgendwann
ein Führungspersönlichkeits-Coaching hinterherschieben. Nur wenn man beides (Strukturelles und Kulturelles) von Anfang an gleichzeitig macht, macht man
es richtig.
Krumm: Und da machen wir es doch lieber gleich
richtig.
Fischer: Damit stoßen wir natürlich Lernprozesse an,
auch intern. fgi hat zu lernen, dass man auch weiche
Dinge hart, sprich: messbar zu machen hat. Umgekehrt muss Schuh & Co. sich darin entwickeln, dass
Dinge, die scheinbar total hart sind, weich werden,
weil sie von Menschen gemacht werden. Wenn Schuh
& Co. mit einer Zahl arbeitet, dann reden sie allerdings
schon jetzt nicht so, als wäre die hart. Sondern sie
durchleuchten den Prozess, wie diese Zahl zu Stande
kommt. Und da sind wir völlig beieinander, denn das
ist das, was ich gelernt habe und weiß: Die Zahlenschlachten, die viele Unternehmen führen, haben mit
Zahlen nicht so viel zu tun wie mit Macht, Hierarchien, Beziehungen ...
Krumm: Womit wir beim Thema Komplexitätsmanagement wären. Komplexitätsmanagement heißt:
sich mit Wirkungsnetzen und den Wechselwirkungen
zu beschäftigen, und zwar vor dem Hintergrund von
Dynamik. Es kann ja heute keiner voraussagen, wohin
sich Unternehmen, Branchen, Konzerne entwickeln,
wie sich Wettbewerbsparameter verschieben usw.
Deshalb rate ich übrigens auch immer zur Vorsicht im
Umgang mit Benchmarking. Wenn einer nach einer
Kennzahl ruft, bin ich immer sofort im Alarmzustand.
Ein Personalchef will zum Beispiel mit 10 Personalern 1000 Leute managen, weil er gehört hat: 5 sind
zu wenig, 30 sind zuviel. Das ist zwar eine harte Zahl,
sie ist aber nichts wert, wenn der Bezug zur aktuellen
Unternehmenssituation fehlt. Denn ich muss ja vor
allem die Komplexität des Geschäfts verstehen und
auf besondere Notwendigkeiten reagieren.
Also sind Zahlen ohne Zusammenhang und ohne
die Interpretation des Zusammenhangs ...
Krumm: Wertlos. Ja.
9
Was ist das Wichtigste bei Change-Prozessen – so
wie Sie sie jetzt gemeinsam angehen?
Krumm: Nehmen wir ein Beispiel. Da gibt es einen
neuen Vorstand und ein neues Produkt, das gerade
dabei ist, etabliert zu werden. Würde fgi den Change
allein betreuen, würden sie wahrscheinlich zunächst
eine große Veranstaltung realisieren, die Mitarbeiter
zusammenbringen, den Chef möglichst glaubwürdige
Botschaften senden lassen, eine Aufbruchsstimmung
kreieren. fgi würde sich aber nicht darum kümmern, ob dieses Großprojekt rein fachlich vielleicht
7 Teilprojekte braucht oder nur 3; ob es wichtig ist,
Produktions- und Supply-Management zusammenzubringen; oder bereichsübergreifend die Mitarbeiter mit
Innovationsmanagement zu verknüpfen und ähnliches
mehr. Schuh & Co. allein würde sich aber auf genau
das konzentrieren. Wir würden dabei sicher mit Elementen einer Mobilisierung und des Einbindens der
Leute arbeiten, aber niemals eine hochprofessionelle
400-Leute-Motivations-Veranstaltung inszenieren.
„Ich brauche den genauen
Blick: Was laufen da in der
Organisation eigentlich für
Produktionsprozesse?“
Dr. Peter Fischer
Weil Sie es nicht können?
Krumm: Eher weil in meiner Wahrnehmung die Gefahr der Überkomplexität besteht. Wir pflegen dann
die Komplexität zu entzerren, uns auf unverrückbare
Fachthemen zu stürzen, zum Beispiel Entwicklungsmanagement als separates Thema zu gestalten.
Sie gucken also die Produktion fachlich-ganzheitlich an, aber nicht die Kultur.
Krumm: Genau. Und da kommt fgi ins Spiel. Um
Innovation und Entwicklung einerseits sowie Kommunikation und Motivation im Sinne eines wirksamen
Changes zusammenzuführen, sagen Schuh & Co. und
fgi jetzt gemeinsam: Wir brauchen Interventionspunkte. Wir müssen die Mitarbeiter gemeinsam mit
den Botschaften des neuen Chefs vertraut machen
und die geballte Kompetenz aller nutzen, damit sie
sich wechselseitig befruchten. Dafür braucht es eine
Veranstaltung mit speziellem Design, mit spezieller
10
Dramaturgie. Von uns kommen dann Überlegungen
wie: Wir brauchen vier harte Teilprojekte, die wir auf
einem Spannungsbogen miteinander verknüpfen. Von
fgi kommen Überlegungen motivationaler, atmosphärischer, psychologischer Art. Wie Einstellungen, innere
Haltungen und Verhaltensweisen zu ändern sind etc.
Wir arbeiten also gemeinsam an einem Change
Design, das jeder von uns allein so umfassend und
zielgerichtet nicht hätte gestalten können. Weil es nicht
unserer Erfahrung und Ausbildung entspricht. Nun
aber ringen wir teamintern und gleichzeitig interdisziplinär um die beste Lösung. Nicht: erst die Struktur,
dann die Kultur. Das wäre im übrigen auch gar nicht
lean, so wie wir „lean“ verstehen. Ein Grundgedanke
des Lean Management ist für uns nämlich von großer
Bedeutung: keine Zeit verlieren!
Fischer: In der Tat: Ohne die gemeinsame Arbeit mit
Schuh & Co. würden wir auf die Hälfte der Interventionsmöglichkeiten in einer Organisation verzichten.
Und nur auf die unternehmenseigenen Ressourcen
zu vertrauen, reicht heute einfach nicht. Es ist immer
klug, an der richtigen Stelle in einer Organisation auf
die richtige Weise zu intervenieren.
Hätten Schuh & Co. und fgi nicht früher zusammenkommen müssen?
Krumm: Müssen vielleicht schon. Aber ich bin 48.
Für mich hätte es nicht früher passieren können. Vielleicht war auch die Geschäftswelt noch nicht so weit.
Fischer: Ich habe jetzt gar keine Lust mehr, ein
großes Veränderungsprojekt ohne die Brille von Schuh
& Co. anzugehen. Weil ich ungern einäugig durch die
Welt gehe. Ich brauche das zweite Auge, das Realitätsauge. Ich brauche den genauen fachlichen Blick darauf:
Was laufen da in der Organisation eigentlich für
Produktionsprozesse? Passt das überhaupt noch in die
Welt? Ich empfinde die Zusammenarbeit mit Schuh &
Co. deshalb als lustvoll für mich und als hochgradig
effizient, effektiv und zielführend für die Unternehmen.
Ist Nachhaltigkeit bei Changes möglich? Wie
erreicht man sie?
Krumm: Durch Zuverlässigkeit und Ausdauer.
Bestimmt nicht durch Schnellschüsse. Ein Change in
drei Tagen ist eine Unmöglichkeit. Deshalb wollen
wir auch gar keine Kostenkiller sein. Wir möchten
weiterführend gestaltend einwirken. Dafür nutzen wir
unsere Intelligenz. Nicht für Schnellschüsse und Adhoc-Changes.
Fischer: Durch Ganzheitlichkeit. Nur wenn es gelingt,
in Veränderungsprozessen auf allen Ebenen und in
allen Phasen ein gemeinsames Verständnis der angestrebten Veränderungen zu erzielen, gelingt es auch,
die richtigen Schritte zu machen. Ganz entscheidend
dabei ist die Berücksichtigung der vielen psychologischen Variablen wie Ängste, Machtverhältnisse,
Unsicherheiten. Sonst kommt es fast automatisch zu
rückwärtsgerichteten Bewegungen.
Kann man Changes messen? Wie?
Krumm: Changes kann man im Gesamtkontext messen, ja. Voraussetzung: Man kennt das Wirkungsnetz.
Aber ohne Wirkungsnetz: nein, keine Chance.
Fischer: In dem Bereich, um den wir uns traditionell kümmern, also kulturelle Veränderungen oder
Veränderungen von Einstellungen und Verhalten, ist
das schwierig: Ich kann, wenn ich das Thema Führung
angehe, 360° Feedbacks einholen und Indizes berechnen. Aber die Zahlen sind dann ähnlich interpretationsbedürftig wie die „harten“ Zahlen, die Schuh &
Co. erhebt. Wovon ich überzeugt bin, ist, dass wir uns
viel mehr mit Messbarkeit beschäftigen müssen; und
dass man sich zum Beispiel für das Thema „Führung“
oder das Thema „Diversity“ messbare Kriterien einfallen lassen muss, um genügend Dampf in den Veränderungsprozess zu bekommen. Das ist etwas, das man zu
lange vernachlässigt hat in unserem Segment.
Auf den Prozess bezogene Messwerte...
Fischer: ... Ja. Performance Indicators: An welchen
Variablen kann ich quantitativ erfassen, ob eine Entwicklung in die richtige Richtung geht?
Sind Sie ein Veränderer, Herr Dr. Fischer?
Fischer: Sieht so aus. Zumindest behaupten das die
Leute. Ich glaube, mein unternehmerisches Herz lässt
mir gar keine andere Wahl. Es fällt mir einfach schwer
zu akzeptieren, dass etwas nicht gehen soll.
Wen oder was wollen Sie verändern, Herr Dr.
Krumm?
Krumm: Wie wär’s mit der Wettbewerbsfähigkeit und
der Einstellung dazu in der Gesellschaft? Das erstere
entschieden, das zweite zumindest ein bisschen.
Dr. Peter Fischer ist Gründer und Managing Partner
von fgi – Fischer Group International.
fgi ist ein internationales Beratungsunternehmen mit
Hauptsitz in Hamburg und Satelliten oder Partnern
in Boston, Singapur, Tokio und Wien. Es hilft Top
Executives und globalen Konzernen – darunter 20
der 30 DAX-Unternehmen in Deutschland – bei der
Bearbeitung von Managementthemen aller Art: im
Rahmen des Leadership Development, bei Mergers &
Acquisitions oder umfassenden Cultural Changes.
Als „Management Consultants for Individual and
Organizational Development“ fokussiert fgi auf die
Menschen und das Unternehmen. fgi interessiert sich
einerseits für die Möglichkeiten des Einzelnen, sich
im Unternehmen einzubringen - und unterstützt ihn
mit vielfältigen Angeboten bei seiner Entwicklung.
Andererseits beschäftigt fgi sich mit der zentralen
Frage, welche organisatorischen und kulturellen Rahmenbedingungen ein Unternehmen schaffen muss, um
erfolgreich zu sein.
Auf diese immer auch interdisziplinäre Weise verknüpft fgi Mensch und Organisation.
Kontakt
Dr. Stephan Krumm
Telefon: +49 241 51031 0
[email protected]
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Auch ein perfekter
Schnitt hält nicht ewig –
Dauerhafter Erfolg verlangt nach einer regelmäßigen Pflege des Produktprogramms
Norbert Große Entrup
Die Schuh & Co. bietet einen ganzheitlichen Ansatz zur Gestaltung der Produktkomplexität an: von
der Strategischen Zieldefinition bis zur Beherrschung der Life-Cycle-Performance und der Einbeziehung
und intrinsischen Motivation aller relevanten Mitarbeiter. Vielfalt beherrschen ist wie Haare schneiden.
Einmal im Jahr oder zur Balz ist einfach zu wenig. Wenn man sich nicht kümmert, verkümmern die
Chancen.
Kunden werden durch neue Produkte in zum Teil neuen Märkten bedient und so mancher noch so individuelle Kundenwunsch wird auch noch berücksichtigt.
Über die Zeit steigt die Produktkomplexität in den
angestammten Geschäftsfeldern immer mehr und wird
fast unüberschaubar. Verschärft wird dieser Zustand
noch durch die immer häufiger werdenden Zyklen der
Modellwechsel.
Schaut man weit genug in der Historie der Unternehmung zurück, findet sich häufig ein Bild eines
gesunden Unternehmens mit stabilem Wachstum
und ausgeglichenem Produktportfolio. Je näher man
jedoch bei seinen Betrachtungen an die Gegenwart
12
herankommt, desto mehr erkennt man, dass sich das
Wachstum verlangsamte und schließlich auszubleiben
drohte. Man versuchte durch neue Artikel Nischen zu
erschließen und mehr Absatz zu generieren. Zusätzlich
wurde das Angebotsportfolio erweitert (Werbemittel,
Services, etc.). Die Anzahl der Produktionsstätten und
der Vertriebsorganisationen vermehrte sich durch Akquisitionstätigkeit und Umsatzsteigerung. Zusätzlich
verleitete der gestiegene Qualitätsanspruch zu aufwendigen Problemlösungen. Letztendlich: die Komplexität
wuchs, ohne das sich gezielt Gedanken um die sich
hierdurch ergebenden Auswirkungen im gesamten
Unternehmen gemacht wurden.
Immer wieder wird dann versucht, die so gestiegene
Produktkomplexität durch klassische Vorgehensweisen
zu reduzieren: aus dem Kontext losgelöste ABC-Analysen für einzelne Produktgruppen, Standardisierungsund Modularisierungsansätze, Deckungsbeitragsanalysen, die die wahren Kosten der Vielfalt nicht richtig
berücksichtigen, usw.
zum Thema Produktkomplexität haben wir eine
Vorgehensweise entwickelt, die die Erfolge bisheriger
Ansätze übertrifft.
Die Schuh & Co. begleitet seit Jahren Maßnahmen
und Projekte zur Optimierung der Produktkomplexität. Wir stellen immer wieder fest, dass die klassischen
Ansätze nicht ausreichen und auch keine dauerhafte
Wirkung erzeugen. Um bei der Analogie zu bleiben:
nach erfolgter Frisur liegen zwar Haare auf dem Boden, aber die Kontur stimmt immer noch nicht. Der
Kunde, aber auch der Friseur, sind nicht zufrieden.
Die im Kern dieser Vorgehensweise liegenden Gestaltungsebenen sind:
Ganzheitliche Sichtweisen sind gefordert
Alle Anstrengungen sind vergebens, wenn nicht eine
ganzheitliche Sicht und eine ganzheitliche Vorgehensweise angewendet werden. Aus unseren Projekterfahrungen der letzten Jahre und aktuellen Studien
Die Vorgehensweise besteht aus vier Gestaltungsebenen, die aufeinander aufbauen und sich ergänzen
(Abb. 1).
1. Die Produktstrategie: Ziele und Visionen, die sich
aus den strategischen Unternehmenszielen ableiten
und Auswirkungen auf die Produkt- Prozess- und
Organisationsgestaltung haben
2. Die Produktdifferenzierung: diese leitet sich aus
externen und internen Gestaltungsoptionen ab und
bildet die Basis für die Produktarchitekturgestaltung
3. Die Produktarchitektur: ist die Umsetzung der
externen und internen Gestaltungsoptionen in produzierbare wirtschaftlich erfolgreiche Einheiten
Gestaltungsebene
Elemente
Gestaltungsebene
Produktstrategie
Elemente
Ziele
&
Vision
Ziele
&
GeschäftsVision feldstrategie
Produktstrategie
GeschäftsWettbewerbsarena
feldstrategie
Produktdifferenzierung
Produktdifferenzierung
Produktarchitektur
Kultur &
Mitarbeiter
Kultur &
Mitarbeiter
USP
Markt- und
USP
Technologieanalyse
Markt- und
Produktprogramm und
Technologieanalyse
-funktionen
Produktprogramm
Funktions- und
Architektur-funktionen
struktur
szenarien
FunktionsArchitekturstrukturProduktprogrammkommunalität
szenarien
SEP
Produktprogrammkommunalität
Life-Cycle-Performance
Life-Cycle-Performance
Engagement und Change
r
ktu
stru
ons
sati
ani
stem
nssy
Org
uktio
Prod
r
ktu
stru
ons
sati
ani
stem
nssy
Org
uktio
Prod
Produktarchitektur
Wettbewerbsarena
SEP
Engagement
und
Change und Kultur
Führung,
Steuerung
Führung, Steuerung und Kultur
Legende:
SEP: strategische Erfolgsposition
USP: Unique Selling Proposition
Legende:
SEP: strategische Erfolgsposition
USP: Unique Selling Proposition
Abb. 1: Gestaltungsebenen auf dem Weg zur optimalen Produktkomplexität
13
4. Die Kultur und die Mitarbeiter: Veränderungsprojekte müssen durch die Betroffenen getragen
werden. Neue Denkansätze, sich selbst tragende
Entscheidungen und der Wille zur Umsetzung sind
wichtige Erfolgsfaktoren bei der langfristig wirksamen Optimierung der Produktkomplexität.
Der Rahmen wird durch eine angepasste Organisationsstruktur und ein adäquates Produktionssystem
gebildet.
Über eine von der Schuh & Co. und der RWTH Aachen gemeinsam entwickelte und in der Praxis bewährte Workshopreihe, inklusive der hierfür erforderlichen
vorbereitenden Analysen, werden die Voraussetzungen
geschaffen, eine komplexitätsoptimale Produktdifferenzierung herbeizuführen. Hierbei geht es um die
strikte Ausrichtung und Fokussierung auf die innovationsträchtige und vom Markt geforderte Vielfalt.
3. Die Produktarchitektur
1. Die Produktstrategie erkennen und gestalten
Die Produktstrategie ist eine Ableitung aus der
Unternehmensstrategie. Sie legt mittel- bis langfristig fest, wie sich die Produkte erfolgreich am Markt
positionieren sollen. Damit hat sie starken Einfluss auf
die gesamten Produktdifferenzierungsvorhaben, die
Produktionssystemgestaltung und die Organisationsstruktur und muss somit am Anfang jeglicher Überlegungen stehen.
Hierbei bedarf es bei der Ableitung der Produktstrategie aus der Unternehmensstrategie einer besonderen
Sorgfalt. Genügend Unterstützung bringen hier u. a.
wesentliche Bausteine des St. Gallener Managementkonzeptes. Über seine drei Ebenen (das normative, das
strategische und das operative Management) lässt sich
ein zur Unternehmensstrategie konformes Gesamtbild
erzeugen, das gerade im Hinblick auf eine geeignete
Komplexitätsstrategie die Produktstrategie ableiten
lässt.
2. Die Produktdifferenzierung als Voraussetzung
für eine optimal gestaltete Produktkomplexität
Die bedienten Märkte haben unterschiedliche Anforderungen an die Produkte. Daher ist bei der
Festlegung der Produktdifferenzierung eine adäquate
Herangehensweise erforderlich (Abb. 2).
Abgrenzung
der Geschäftsfeldstrategie
Analyse der
Wettbewerbsarenen
Identifikation
der SEPs
Abb. 2: Sechs Schritte zur Produktdifferenzierung
14
Bei der Gestaltung der komplexitätsoptimalen Produktarchitektur kommen weitere vier Schritte zum
Einsatz.
ƒƒBildung der Funktionsstruktur
ƒƒAufbau von Architekturszenarien
ƒƒFestlegung der Produktprogrammkommunalität
ƒƒSicherstellung der Life-Cycle-Performance
Bei der Produktarchitekturgestaltung gilt es, sich auf
das Wesentliche zu beschränken. Es geht hier rein um
die Umsetzung der geforderten Produktprogramme
und Produktfunktionen. Doch häufig findet sich hier
in der Industrie der Hang zum „Happy Engineering“.
Gibt es doch keine Aufgabe an die Umsetzung, die
nicht noch eleganter und ausgefeilter realisiert werden
kann. Ganz vergessen werden hier häufig die Nutzwertanalyse und die Fokussierung auf das wirklich
Geforderte.
Zur Gestaltung der geeigneten Funktionsstruktur und
zur Bildung und Bewertung von Architekturszenarien
hat die Schuh & Co. einzigartige softwareunterstützte
Methodenbausteine entwickelt. Zunächst werden über
ein Matrizengeflecht die geforderten Produktfunktionen in physische Komponenten unter Berücksichtigung von Architekturszenarien umgesetzt (Abb. 3).
Hierbei kommt die Software „Complexity Manager“
zum Einsatz. Die Funktionsstruktur wird zur weiteren
Optimierung aufgenommen und visualisiert. Ist hier
Identifikation
der USPs
Markt- und
Technologieanalyse
Produktprogramm und
-funktionen
Kunden
Märkte
Technologien
Wettbewerber
Gesetze
Anforderungen
Konzepte
Technische
Funktionen
Architekturdefinition
Produktprogramm
Kommunalität
Produkt- Physikalische
spezifikation Komponenten
Schnittstellendefinition
Physikalische
Komponenten
Abb. 3: Die Produktarchitektur ist mit ihrer Regellogik kundengerecht, konfliktfrei und
durchgängig zu gestalten
ein Optimum erreicht, geht es im nächsten Schritt um
die Umsetzung des Geforderten in physische Komponenten. Auch hierbei hilft der Complexity Manager,
der es überhaupt erst ermöglicht, in einer frühen Phase Vielfaltsauswirkungen auch in der Produktion und
der Supply Chain zu visualisieren und zu optimieren.
Auf der Basis der getroffenen Entscheidungen wird
die Produktprogrammkommunalität festgelegt. Diese
regelt die Verwendung und Wiederverwendung von
einzelnen Bauteilen und Modulen im gesamten Produktprogramm. Ebenso werden KPIs festgelegt, die
zur Erreichung einer hohen Life-Cycle-Performance
notwendig werden.
Auch wenn man in einem bestehenden Produktprogramm die Produktkomplexität noch verbessern
möchte, ist das Instrument der Life-Cycle-Performance das Richtige. Abbildung 4 zeigt die Vorgehensweise und die wesentlichen Methodenbausteine hierzu.
4. Die Kultur und die Mitarbeiter
Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass
beim Aufbau einer neuen Produktfamilie oder bei der
Erhöhung der Life-Cycle-Performance einer bestehenden, Barrieren in der Kultur, in der Zusammenarbeit
und in der Führung auftreten. Diese Barrieren verhindern es, dass ein nachhaltig komplexitätsoptimales
Produktportfolio entstehen kann.
Bei solchen Veränderungsprojekten, denn das sind
solche Komplexitätsoptimierungsvorhaben wahrlich,
kommt es in besonderer Weise auf die sensible Einbeziehung der Organisationen und deren Mitarbeiter an.
Ist doch die Vielfalt ehemals bewusst und zum Wohle
der Unternehmung entschieden worden. Warum sollte
eine Optimierung jetzt herbeigeführt werden, wo doch
das Geld für die Entwicklung und Realisierung bereits
ausgegeben wurde und sich immer wieder Kunden
finden lassen, die die karierten Maiglöckchen bevorzugen?
Unter der Einbeziehung von Expertenwissen über
Menschen in Veränderungssituationen wurden Vorgehensweisen entwickelt, die an das jeweilige kulturelle Umfeld eines Unternehmens angepasst werden
können. Nur wenn dies gelingt, kann eine nachhaltige
optimale Produktkomplexität erreicht werden.
15
Life-CyclePerformance
Werthebel
Variantenmanagement
etablieren
Innovationsprozessgestaltung
Rollout
ABC-Analyse
DB-Analyse
Gemba-Walk
Produktdifferenzierung
4-6 Wochen
KPKVP
Nachhaltigkeit der Maßnahmen
Marktkonforme Produktkomplexität
Effiziente Zusammenarbeit
Vertrieb / Entwicklung / Produktion
Bewertungssystematik
Rollout
KPI´s
Bewertungsmethodik
Sortimentsbereinigung
Rollout
Erhöhung des Deckungsbeitrags
Steigerung der Liquidität
Rollout
Quick-Wins
konkrete Handlungsempfehlungen
Analyse der
Produktkomplexität
Instrumente:
(Auszug)
Rollout
Produktfunktionsanalyse
Produktarchitekturanalyse
Wertanalyse
Ressourcenorientierte
Prozesskostenrechnung
BSC
3-6 Monate
Legende:
BSC= Balanced Scorecard
KPKVP= Kontinuierlicher Produktkomplexitäts-Verbesserungs-Prozess
Zeit
Rollout Management
Prozessanalyse
Mental Milestones
6-9 Monate
laufend
4-6 Monate
Pilot
Rollout
Abb. 4: Bausteine zur Erreichung einer hohen Life-Cycle-Performance
Der Rahmen
Produktkomplexität bleibt nicht von alleine optimal,
sie wächst immer wieder nach. Daher ist es erforderlich, entsprechende Voraussetzungen zu schaffen. Es
müssen Verantwortlichkeiten geschaffen werden, um
eine fortwährende Optimierung zu betreiben. Es verhält sich wie bei den Haaren: hört man über ein paar
Wochen, sogar Monate auf, zum Friseur zu gehen, ist
die optimale Kontur nicht mehr zu erkennen. Ein erneuter Radikalschnitt ist erforderlich, der in Summe zu
höherem Aufwand und zu geringeren Chancen führt,
aber letztendlich unabdingbar ist.
Nachhaltig erfolgreich sein –
Vier Handlungsempfehlungen
Damit die Produktkomplexität nachhaltig optimal
gestaltet bleibt, sind vier wesentliche Aspekte zu
berücksichtigen:
1. Die Produktstrategie muss konform zur Unternehmensstrategie sein.
2. Die Produktkomplexität muss klar an Markt und
Kunde ausgerichtet sein.
3. Die Umsetzung der Produktfunktionen in physische
Komponenten muss nach einer nachvollziehbaren
Systematik erfolgen. Ziel ist eine hohe Life-CyclePerformance.
Kontakt
Norbert Große Entrup
Telefon: +49 241 51031 0
[email protected]
16
4. Die Unternehmenskultur und die Mitarbeiter sind
adäquat einzubeziehen.
Komplexitätsmanagement in
der Automobilindustrie
Dr. Stephan Krumm / Marcus Rennekamp
„Es sieht so aus, als ob ein komplexes Zusammenspiel zwischen Produktionskapazitäten, Produktkomplexität, Fehlern, Pech und Arroganz zu den gegenwärtigen Problemen geführt hätte. […] Im weiteren
Sinne sind die Probleme bei Toyota für mich Teil eines größeren „Krieges“, nämlich zwischen Komplexität von Produkten und organisatorischen Fähigkeiten“ (Prof. Fujimoto, Tokyo-University, Produktionsexperte und Toyota-Kenner)
Wer Top-Entscheider in der Automobilindustrie nach
den aus ihrer Sicht wesentlichen unternehmerischen
Herausforderungen der nächsten 20 Jahren befragt,
stößt nicht selten im ersten Satz auf den Begriff der
Komplexität und deren stetiges Anwachsen, dem
gegenüber man sich machtlos fühlt.
Steigende Komplexität als unternehmerische Herausforderung in der Automobilindustrie
Doch woher kommt diese Wahrnehmung? Gern
zitiertes Beispiel für diesen Anstieg ist z. B. die Steigerung der Produktprogrammkomplexität in Form der
Steigerung der Vielfalt von Modellen sowie Aufbauund Ausstattungsvarianten in den letzten 30 Jahren.
Während früher ein übersichtliches Sortiment, beispielsweise aus Mittelklasse- und Oberklasse-Limousine, Coupé, Cabrio und Geländewagen ausreichte,
den Markt für Automobile zu bedienen, ist heute eine
deutliche Fragmentierung der Märkte zu verspüren,
auf die die Automobilhersteller mit einer Vielzahl von
Modellen reagieren. Allein in Deutschland sind zurzeit
über 500 verschiedene Modelle auf dem Markt. Auf
dem hier stark gesättigten Automobilmarkt richten die
Hersteller Modelle und Ausstattungsvarianten immer
spezifischer an den individuellen Bedürfnissen einzelner Nischenmärkte durch individuelle Mobilitäts- und
Lifestyle-Lösungen jenseits des Standards aus. Während früher der Anteil der Nischenfahrzeuge, wie zum
Beispiel SUV, Geländewagen, 4-sitzige Cabriolets und
Modelle an der Schnittstelle von PKW und Nutzfahrzeug, 15 % der Zulassungen ausmachte, sind es heute
schon über 27 %.
So hat beispielsweise Mercedes Benz seine Produktpalette an Personenkraftwagen von ursprünglich 5 Typen
in den 80er Jahren bis heute auf über 20 Modelle
erweitert. Eine weitere Auffächerung steht bevor.
Doch damit nicht genug. Nicht nur die Vielfalt an
Produkten und Produktvarianten hat deutlich zugenommen, sondern auch die Dynamik der ModellLebenszyklen. Während die Lebensdauer des ersten
VW-Golf noch bei 10 Jahren lag, liegt sie heute nur
noch bei ca. 6 Jahren. Diese enorme Steigerung der
Produktkomplexität hat zum Teil gravierende Auswirkungen auf die Wertschöpfungsprozesse der gesamten
Zulieferkette. Eine erschlagende Vielzahl von verschiedenen Bauteilen und Komponenten muss vorgehalten
und bewirtschaftet werden. So ist es nicht selten, dass
selbst innerhalb einer Modellreihe eine unüberschaubare Komponentenvielfalt in der Montage entsteht.
Diese Montagekomplexität verursacht im Unternehmen zum einen enorme Aufwände in Form von
Komplexitätskosten in den indirekten Bereichen, zum
anderen werden mit jeder zusätzlichen Bauteilvariante
wertvolle Potenziale zur Nutzung von Skaleneffekten in der Beschaffung und Produktion verschenkt.
Doch auf der anderen Seite entsteht gerade durch
Wettbewerber in asiatischen Ländern wie China ein
enormer Wettbewerbsdruck auf die Herstellkostenstrukturen der europäischen, nord-amerikanischen und
japanischen Hersteller, der gerade ein Nutzen solcher
Skaleneffekte nahezu zwingend erforderlich macht.
Auch die Funktions- und Technologiekomplexität des
Automobils steigt weiter stark an. Ursachen hierfür
sind unter anderem in der stärkeren Vernetzung der
einzelnen Fahrzeugkomponenten, z. B. von aktiven
und passiven Sicherheitssystemen und der Verschmelzungen der Fachdisziplinen „Mechanik“, „Elektronik“
und „Software“ bei der Forschung und Entwicklung
zu finden. Ein weiterer Komplexitätstreiber ist die
zunehmende Bedeutung alternativer elektrischer Antriebskonzepte. Nach einer kürzlich veröffentlichten
Studie wird erwartet, dass der Absatz von Fahrzeugen
mit alternativen Antrieben in Deutschland bis zum
17
Jahr 2020 auf bis zu 375.000 pro Jahr steigen wird.
Die Zunahme der hierfür zu beherrschenden meist
neuartigen Produkt- und Produktionstechnologien
wird ebenfalls einen Komplexitätstreiber der nächsten
Jahre darstellen.
Komplexitätstreiber für die Automobilindustrie sind
nicht zuletzt auch die Effekte der Globalisierung und
die zunehmend stärkere Integration der Zulieferer in
den Wertschöpfungsprozess, die hohe Anforderungen
an die Funktionsweise der Unternehmensprozesse in
Bezug auf die Koordination verteilter Standorte und
die Beherrschung kultureller Probleme stellen. Gegenüber Anfang der 90er Jahre hat sich die Anzahl der
ausländischen Fertigungsbetriebe und Lizenznehmer
deutscher Automobilunternehmen mehr als vervierzehnfacht und ist auf 2.000 Betriebe angestiegen.
Allein deutsche Zulieferer sind an 600 Fertigungsstätten in Westeuropa und jeweils 300 Standorten in Mittel- und Osteuropa und im NAFTA-Raum engagiert.
Dieser Trend ist zweifelsfrei nicht branchenspezifisch:
Allein eine moderne elektrische Zahnbürste hat auf
ihrem Weg zum Kunden, rechnet man die Transportwege jeder einzelnen Komponente zusammen,
einen Weg von mehr als 27.000 km zurückgelegt. Wir
sprechen hier von einer weiteren Dimension unternehmerischer Komplexität, der Netzwerkkomplexität.
All diese Effekte resultieren in einer Gesamtkomplexität, die exponentiell ansteigt und dadurch eine neue
Abb. 1: Dimensionen unternehmerischer Komplexität
18
Herausforderung für die unternehmensinternen
und unternehmensübergreifenden Prozesse darstellt
(Abb. 1).
Besonders in der exportorientierten deutschen
Automobilbranche sind Produktinnovationen und
eine effiziente Produktentwicklung auch in Zukunft
von wettbewerbsentscheidender Bedeutung, um auch
zukünftig internationale Spitzenpositionen sichern und
verteidigen zu können. Die Beherrschung der hieraus
resultierenden Komplexität wird damit zum wesentlichen Faktor für den Markt- und Unternehmenserfolg
im Verbund zwischen OEM’s und Zulieferunternehmen und zur zentralen Aufgabe des Top-Managements dieser Unternehmen.
Zur Beherrschung der unternehmerischen Komplexität unterscheiden wir dabei vier Handlungsfelder des
Komplexitätsmanagements (Abb. 2):
1. „Optimale Vielfalt am Markt“ meint die konsequente Ausrichtung des Produktportfolios auf die
Anforderungen des Marktes durch aktive Gestaltung von Sortimentsbreite und -tiefe.
2. „Optimale Produktstruktur“ meint die Abbildung der vom Markt geforderten Produktvielfalt
mit einer möglichst geringen internen Teilevielfalt
durch intelligente Produktstrukturen in Form von
Integralbauweisen, Plattformen und Baukästen.
3. „Optimaler Wertstrom“ meint die Ausrichtung aller Wertschöpfungsprozesse auf den Wert aus Sicht
des Kunden und die Vermeidung prozessbedingter
Überkomplexität und Verschwendung mit dem Ziel
einer möglichst gleichmäßigen Kapazitätsauslastung
sowohl in direkten als auch in indirekten Unternehmensbereichen.
4. „Optimale Ressourcenstruktur“ meint die Anpassung der globalen Standort- und Organisationsstruktur auf die Anforderungen des Marktes unter
bestmöglicher Nutzung lokaler Know-how- und
Faktorkostenvorteile.
An dieser Stelle wird deutlich, dass Komplexitätsmanagement keinesfalls als isolierte Methode zur
Reduzierung von Produktvarianten und Sachnummern
verstanden werden darf, sondern vielmehr als ein
effektives Instrument zur Ausrichtung der im Unternehmen vorgehaltenen internen Komplexität auf die
durch Markt- und Wettbewerbsbedingungen erforderliche externe Komplexität. Oder anders gesagt: „Es
kommt auf den Fit an!“.
Die Frage, welche spezifischen Problemstellungen in
den jeweiligen Handlungsfeldern für Unternehmen relevant und welche Lösungsmöglichkeiten geeignet und
sinnvoll sind, ist ohne Zweifel nicht für die gesamte
Automobilbranche einheitlich zu beantworten: Aus
Sicht des Komplexitätsmanagements lassen sich drei
Segmente mit jeweils völlig unterschiedlichen Herausforderungen und Problemstellungen in Bezug auf das
Management von Komplexität unterscheiden.
Herausforderungen in den Innovationsmärkten
der Triade: Westeuropa, Japan und Nordamerika
Innovationsmärkte zeichnen sich durch einen hohen
Innovationsdruck aus, der durch einen verschärften
Differenzierungswettbewerb der Anbieter erzeugt
wird. Typisches Beispiel hierfür ist der Premium-Markt
für PKW, den sich zur Zeit vor allem die deutschen
Hersteller teilen.
Der Zeitraum, für den technologische Innovationen
ein Alleinstellungsmerkmal sicherstellen, wird hier
immer kürzer. Bestes Beispiel hierfür ist das ABS. Das
einst revolutionäre und der Oberklasse vorbehaltene
Antiblockiersystem hat nach ca. 20 Jahren eine nahezu
vollständige Marktdurchdringung erreicht. Zum Vergleich: ESP erreichte diese Durchdringungsrate bereits
nach 10 Jahren!
Abb. 2: Gestaltungsbereiche des Komplexitätsmanagements
Der Premium-Anspruch der deutschen Hersteller
bedingt, technologisch einen Schritt vor dem Markt
zu sein. Gleichzeitig müssen einerseits die gegenüber
dem Kunden mit einer stets starken Marke gegebenen
Qualitätsversprechen eingehalten und andererseits
die eigenen Kosten in einem vertretbaren Rahmen
gehalten werden. Aus den bisher genannten Gründen
sind Konzept- und Technologieinnovationen für Anbieter in Innovationsmärkten wesentlich wichtiger als
schlichtweg die Einführung neuer Modelle.
Als wichtigste Komplexitätsmanagement-Fähigkeit,
vor allem in Innovationsmärkten, hat sich die Vielfaltsbeherrschung in Form von Wiederverwendungsstrategien erwiesen, die eine intelligente modulare Produktarchitektur voraussetzt.
Das Komplexitätsmanagement dieser Unternehmen
muss daher ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung derivatfähiger Produktarchitekturen legen,
und zwar in allen Architekturdimensionen: Physisch,
aber gerade auch technologisch und in Bezug auf den
Produktionsprozess.
Die Beständigkeit einer solchen Produktstruktur wird
maßgeblich durch den Lebenszyklus des Produktes
beeinflusst. Aufgrund der immer kürzer werdenden
Entwicklungszyklen und des steigenden Kostendrucks wird jedoch zunehmend versucht, den Produktstrukturlebenszyklus vom Produktlebenszyklus
zu entkoppeln. Dazu wurde in der Vergangenheit auf
Plattformkonzepte zurückgegriffen, die die Nutzung
von Kommunalitäten in Form von Gleichteilen über
mehrere Produktlebenszyklen hinweg ermöglichen.
Plattformkonzepte sind heute bei nahezu allen Automobilherstellern üblich. Berühmtestes Beispiel ist
sicherlich das Plattformkonzept von Volkswagen.
19
In der Vergangenheit wurden Baureihen insbesondere
in der europäischen Automobilindustrie nach unterschiedlichen Vorgaben auf der Basis unterschiedlicher
Architekturen bzw. Strukturen sowie unter Einsatz
unterschiedlicher technischer Lösungen individuell
entwickelt.
Risiken der Plattformstrategie liegen in der Gefahr der
fehlenden Differenzierung durch Entwicklung immer
mehr ähnlicher Varianten auf einer Plattform unter
verschiedenen Marken, wodurch eine Kannibalisierung innerhalb des Produktspektrums auftreten kann.
Zudem hat sich eine Spreizung der Preise und Durchsetzung einer klaren Preishierarchie mit plattformähnlichen Produkten in einem Segment als schwierig
erwiesen. Ohnehin wird der ersten Generation von
Plattform-Ansätzen eine zu starke Orientierung an
Segmenten und Fahrzeugklassen vorgeworfen.
Zukünftig werden Unternehmen stärker dazu übergehen, die unterschiedlichen Baureihen aus einem
gemeinsamen, skalierbaren Modulkasten heraus zu
entwickeln (Abb. 3). Das Baukastenprinzip erweitert
das Kommunalitätsverständnis gegenüber dem Plattformansatz, in dem unter anderem Gemeinsamkeiten
zwischen den verschiedenen Produktfamilien berücksichtigt werden.
Kommunalitäten können sowohl im aktuellen Produktprogramm als auch zwischen Vorgängern und
Nachfolgern realisiert werden. Durch eine Entkopp-
Abb. 3: Prinzip des Modulbaukastens
20
lung der Entwicklungszyklen im Sinne eines „ReleaseEngineering“ ergibt sich eine hohe Aktualität bzw.
Innovativität aller Produkte, die aufwandsoptimal umgesetzt werden kann. Diese Kommunalitäten können
auf verschiedenen Ebenen erzielt werden.
Neben der physischen Kommunalität sind ebenso
Kommunalitäten in Bezug auf Anforderungen, Funktionen oder Produkteigenschaften denkbar. Je heterogener die im Baukasten umgesetzten Anforderungen,
desto eher sind neben der physischen Kommunalität
auch weitere Kommunalitätsebenen zu erschließen.
Die technologische Kommunalität ermöglicht die
Maximierung des Technologie-Benefits, während die
Kommunalität auf der Ebene der Anforderungen,
Funktionen und Produkteigenschaften die schnelle
Realisierung gewährleistet (Abb. 4).
Der wesentliche Vorteil einer Modulstrategie liegt in
der fahrzeugklassen- und typenübergreifenden Nutzung von Modulen. Dadurch ergeben sich erhebliche
Synergien bei der Entwicklung der Module einerseits
und der Einführung neuer Produkte andererseits.
Diese machen sich in einer drastisch reduzierten
Time-to-market und kontinuierlichen Kostensenkung
bemerkbar. Ferner lassen sich durch einen Modulbaukasten wesentlich leichter und vor allem kostengünstiger Nischenmodelle ableiten. Durch die verbesserte
Nutzungsdauer von Technologien lassen sich erforderliche Investitionen besser ausschöpfen.
Abb. 4: Ebenen von Kommunalitäten
Die kommunale Produktarchitektur eines Baukastens
muss mit einer Regellogik kundengerecht, konfliktfrei
und durchgängig aufgebaut werden. In der Praxis
sehen sich Unternehmen hierbei enormen Herausforderungen gegenübergestellt. Zum einen ist die
Entwicklung von Fahrzeugen in der Regel traditionell
in spezifischen, baureihengebundenen Projekten organisiert, was die konsequente Nutzung von Kommunalitäten durch unabgestimmte Prozesse in der Vor- und
Serienentwicklung behindert. Zum anderen erfolgt die
Entwicklung von Baukästen heute methodisch noch
vielfach eher auf rein intuitiver Basis – systematische
Prozesse sind selten etabliert.
Lösungsmöglichkeiten bestehen in der Gestaltung und
organisatorischen Implementierung eines übergreifenden Produktarchitektur-Entwicklungsprozesses
(PAEP), dem zweiten wichtigen Erfolgsfaktor. Kennzeichen dieses „PAEP“ ist, dass dieser neutral von den
eigentlichen Produktentwicklungsprozessen verläuft
und diese vielmehr in Form von Zeit- und Strukturvorgaben dominiert (Abb. 5).
Komplexitätskostenpotenziale in der Produktion können nur durch die Synchronisation der Produktbaukästen mit sogenannten Prozessbaukästen vollständig
erschlossen werden. Hierbei werden die Auswirkungen
der Änderungstreiber in der Produktstruktur auf die
einzelnen Bearbeitungsschritte in der Fertigung und
Montage analysiert und hinsichtlich ihrer Kostenwirkung bewertet. Aufgrund der auf diesem Wege
gewonnen Transparenz lassen sich nicht nur Herstellkosten und Investitionen in Betriebsmittel, ausgehend
von der Produktstruktur, ganzheitlich optimieren,
sondern auch eine messbare Steigerung der Prozessreife und -qualität erzielen (Abb. 6).
Eine weitere wichtige Herausforderung in den
Innovationsmärkten betrifft die Ressourcenstruktur
der Unternehmen. So müssen sich OEM’s in diesem
Segment stark auf ihre Kernkompetenzen fokussieren,
ihre Integrationsfähigkeit von Zulieferern erhöhen
und diese, wo möglich, zu Modullieferanten weiterentwickeln. Ein Fall, bei dem diese Integration besonders
fruchtbar war, ist das Beispiel der Firma BROSE.
Während BROSE in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts namhafte Automobilhersteller mit zunächst
manuellen, später auch mit elektrischen Fensterhebern
belieferte, begann man in den 80er Jahren, den Lieferumfang kontinuierlich in Richtung kompletter Module
zu erweitern: So wurde 1987 erstmals ein integriertes Türmodul bestehend aus Fensterheber, Scheibe,
Scheibenführung und Aufprallschutz, damals in einem
AUDI 80, verbaut. Bis heute hat BROSE durch enge
Kooperation mit seinen OEM’s weitere Funktionen,
wie Lautsprecher, Schließsysteme, Dichtungen und
Steuerungselemente in das Tür-Modul integriert und
sich so zu einem erfolgreichen Systemlieferanten
entwickelt.
Herausforderungen in den Volumenmärkten wie
den BRIC-Staaten
Kennzeichen der Volumenmärkte ist eine hohe Preissensitivität der Kunden, die zu einem starken Kostendruck auf Anbieterseite führt. Beispiel hierfür ist der
recht neue Markt für PKW im Ultra-Niedrigpreis-
21
Abb. 5: Prinzip des Produktarchitektur-Entwicklungsprozess (PAEP)
Segment deutlich unter 10.000 Euro. Auch in Europa,
aber vor allem global in Märkten wie Indien, verzeichnet dieses Segment ein enormes Wachstum. Anbieter,
die sich in diesem Märkten behaupten wollen, stehen
vor ganz anderen Herausforderungen: Billigstfahrzeuge verändern die Entwicklungs-, Fertigungs- und
Einkaufsparadigmen der globalen Fahrzeugindustrie.
Bis vor wenigen Jahren war es ausreichend und sehr
lukrativ, die Chancenmärkte wie Brasilien, China oder
auch Südafrika mit Fahrzeugmodellen zu bearbeiten,
„Dreh- und Angelpunkt
des Komplexitätsmanagements in Innovationsmärkten ist eine flexible
modulare Produktarchitektur, die Kommunalitäten auf allen Ebenen
ermöglicht.“
22
Dr. Stephan Krumm
die in den hart umkämpften Märkten der Triade aus
Gründen des Designs und der technischen Ausstattung nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Beispiel
hierfür ist der VW-Käfer, der nach Auslauf im
Heimatmarkt für den Markt in Brasilien und Mexiko
weiterhin produziert und verkauft wurde, oder analog
der Golf 1 in Südafrika oder VW Santana in China.
Anbieter und auch Zulieferer in diesem Segment
müssen Produkte heute jedoch aus den Heimatmärkten nicht nur technisch „entfeinern“, um die Kosten
den lokalen Kaufbereitschaften anzupassen, sondern
gleichzeitig in Anmutung und in der Ausstattung
dafür Sorge tragen, dass die Kunden dort nicht das
Gefühl haben, in einem Auslaufmodell zu fahren. Die
Zauberformel lautet hier „Punktgenaues Treffen von
technischen Kundenanforderungen und Preisniveau“.
Wichtiger Ansatzpunkt ist auch hier die Produktarchitektur, jedoch unter einer anderen Prämisse: Nämlich
Kostenvorteile aus den Skaleneffekten eines integriertem Produktdesigns sowie Sourcing und Produktion an Low-Cost-Standorten ausreichend nutzen
zu können. Hierzu ist in der Regel eine angepasste
Entwicklungsorganisation jenseits der sonst üblichen
Konzernprozessen und -strukturen erforderlich.
Herausforderung der Investitionsgüter-Märkte
Die Märkte für Investitionsgüter, wie zum Beispiel die
der schweren LKW, folgen wiederum gänzlich anderen
Abb. 6: Prinzip des Prozessbaukastens am Beispiel eines „Weiße-Ware“-Produktes
Wettbewerbsmechanismen, die eher mit denen der
Werkzeugmaschinen-Branche zu vergleichen sind.
Das liegt hauptsächlich daran, dass die dominanten
Kaufargumente hier, stärker als in anderen Automobilmärkten, in wirtschaftliche Überlegungen wie den
Total-Cost-of-Ownership liegen und damit wesentlich
andere Produktanforderungen, wie zum Beispiel die
„Langlebigkeit“, in den Vordergrund treten.
Allein die vielfältigen national und regional festgelegten gesetzlichen Regelungen stellen einen wesentlichen Komplexitätstreiber dieser Unternehmen dar,
da sich hierdurch oft zwangsläufig die Notwendigkeit
zur Einführung neuer Produktvarianten ergibt. Gerade
im Bereich regulatorischer bzw. technischer Anforderungen gibt es teilweise willkürliche Regelungen, die
gegen Fahrzeug-Importe gerichtet sind und die inländische Produzenten vor ausländischer Konkurrenz
schützen. Die Vielzahl von gesetzlichen und regulatorischen Anforderungen machen häufig kostenintensive
Produktanpassungen oder Zulassungsverfahren notwendig. Komplexität entsteht dadurch einerseits durch
die Heterogenität und andererseits durch die häufigen
Änderungen fahrzeugtechnischer Vorschriften.
Herausforderungen im Komplexitätsmanagement
dieser Unternehmen liegen daher in der intelligenten
Nutzung von Kommunalitäten über Länder, Regionen
und Marken hinweg. Die Realisierung von Kommunalitäten im nationalen und internationalen Kontext
weist fundamentale Unterschiede auf. Im internationalen Kontext ist die Zahl der Einflussfaktoren, die
darüber bestimmen, ob die Realisierung einer Kommunalität möglich und sinnvoll ist, um ein Vielfaches
größer. Gleichzeitig ist die Umsetzung von Kommunalitäten schwieriger, da die Landesgesellschaften häufig
eine gewisse Autonomie in Fragen der F&E besitzen.
„In Volumenmärkten
geht es um ein punktgenaues Treffen von
Kundenerwartungen
und Preisniveau durch
eine variantenarme Produktstruktur.“
Marcus Rennekamp
23
Abb. 7: Ein Schalenmodell zur Charakterisierung und Priorisierung von Kommunalitäten
Wesentlicher Erfolgsfaktor hierfür ist die Frage, inwiefern es Unternehmen gelingt, Informationsasymmetrien in der Entwicklungsorganisation zu überwinden.
In der Praxis hat sich für die methodische Unterstützung durch die Visualisierung, Charakterisierung und
Priorisierung von Kommunalitäten ein Schalenmodell
bewährt.
Auf Basis der Unterscheidung verschiedener Kommunalitätsformen und Koordinationsmechanismen kann
eine Charakterisierung einzelner Module bzw. Komponenten im Schalenmodell vorgenommen werden.
Die Charakterisierung dient dazu, den Umgang mit
einzelnen Modulen bzw. Komponenten zu bestimmen und diese global verbindlich zu deklarieren, den
Landesgesellschaften zur Verfügung zu stellen oder
Informationsaustausch vor und während der Entwicklung zu organisieren (Abb. 7).
Fazit
Die dargestellten Beispiele und Methoden zeigen,
dass die Frage, wie Unternehmen der Automobilindustrie den zunehmenden Komplexitätsanstieg in ihren
Produkten, Technologien und ihren Wertschöpfungsnetzwerken beherrschen können, nicht für die gesamte
24
Branche einheitlich beantwortet werden kann, sondern
stark abhängig ist vom Markt und Wettbewerbsumfeld
des Unternehmens (Abb. 8). In Innovations-Märkten
liegt die Herausforderung in der Realisierung von
Kommunalitäten auf verschiedenen Ebenen durch
Produkt- und Prozessbaukästen mit dem Ziel einer
gesteigerten Innovationsfähigkeit. In Volumenmärkten wie den BRIC-Staaten ist hingegen ein präzises
Treffen von Kundenanforderung bei gleichzeitiger
Erschließung von Skaleneffekten durch möglichst
variantenarme Produktstrukturen und die Nutzung
lokaler Kostenvorteile sicherzustellen. Nicht nur, aber
„In InvestitionsgüterMärkten muss Komplexitätsmanagement die
intelligente Nutzung globaler Kommunalitäten
gewährleisten.“
Dr. Stephan Krumm
Abb. 8: CEO-Agenda zur Schwerpunktsetzung des Komplexitätsmanagements
gerade auch in Investitionsgüter-Märkten gilt es, durch
den Aufbau variantenarmer Produktarchitekturen die
intelligente Nutzung von globalen Kommunalitäten zu
ermöglichen.
Doch so unterschiedlich die Anforderungen jedes
Einzelnen sein mögen: Komplexitätsmanagement ist
und wird in den nächsten Jahren ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Automobilindustrie sein. Wer sich
dabei auf eine bloße Reduzierung von Sachnummern
beschränkt, wird langfristig verlieren, denn es kommt,
wie so oft, auch hier auf den „optimalen Fit“ an: Und
zwar von Vielfalt am Markt, Produktstruktur, Wertstrom und Ressourcen.
Weiterführende Literatur:
Schuh, G.; Arnoscht, J.; Lenders, M.; Rudolf, S.: Effizienter
innovieren mit Produktbaukästen: Studienergebnisse und Leitfaden
- ein Beitrag zu Lean Innovation, WZL-RWTH Aachen Eigendruck,
Aachen, 2010
Schuh, G.; Deger, R.; Jung, M.; Meier, J.; Lenders, M.: Managing Complexity in Automotive Engineering: Ergebnisse der Studie,
WZL-RWTH Aachen Eigendruck, Aachen, 2008
Schuh, G.: Produktkomplexität managen: Strategien - Methoden –
Tools, 2. überarb. und erw. Aufl., Hanser Verlag, München, 2005
Gottschalk, B.; Kalmbach, R. (Hrsg.): Mastering the automotive
challanges; sv coporare media, München, 2006
Wimmer, E.; Schneider, M.; Blum, P.: Antrieb für die Zukunft:
Wie VW und Toyota um die Pole Position ringen, Schäffer-Poeschel,
Stuttgart, 2010
Krumm, S.; Rennekamp, M.: Baukasten für Erwachsene - Bei der
Entwicklung innovativer Autos muss die Komplexität beherrscht
werden; in: Innovationsmanager , Heft 15, 09/2011
Kremer, A.; Rennekamp, M.: Komplexitätsbeherrschung erfordert
gezielte Architekturentscheidungen, in: Complexity Management
Journal, Ausgabe 3/2011, Schuh & Co. Komplexitätsmanagement,
Aachen, 2011.
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25
Variantenmanagement:
Der Complexity Manager
schafft Transparenz
Michael Friedrich
Zahlreiche Anwendungsfälle aus der Praxis zeigen immer wieder, wie mühsam der Umgang mit der
Variantenvielfalt nach wie vor ist. Seien es die Prozesse im Unternehmen, die von der Produktvielfalt geprägt sind, seien es die Kosten, die ausufern, oder sei es die ungeheure Datenvielfalt und -komplexität:
Die dringend notwendige Transparenz über die anwachsende Produktvielfalt scheint unerreichbar weit
weg. Wo soll man da beginnen? Wo ist der Anfang des „roten Fadens“, an dem man sich erfolgreich
orientieren kann?
Operative Planung und Beherrschung der
Variantenvielfalt
bung des Problems, sondern auch zu seiner Verschlimmerung. Das Problem weicht nicht, es wächst!
Man steht vor einem riesigen Berg Arbeit und wagt
kaum, den ersten Schritt zu tun. Eine Vorsicht, die
Zweiflern und Bewahrern Tür und Tor öffnet: Soll
man nicht lieber alles beim Alten lassen? Die Geschäfte laufen doch, man hat doch gar keine Zeit, sich
um so heikle Themen wie Variantenbereinigung zu
kümmern. Nachher werden Kunden abgeschreckt,
wenn sie „ihre“ Produkte nicht mehr bekommen. Das
ist doch fatal für den Umsatz!
Den Einstieg zu finden ist bekanntlich am schwierigsten. Gerade hier bildet der Einsatz der geeigneten
Methoden und Werkzeuge genau die Brücke, um die
Untiefen der „Angst“ vor dem Lostreten einer „Variantenlawine“ zu überwinden.
Vorausschauendes Handeln ist gefragt, gerade wenn es
einem Unternehmen (noch) gut geht. Aktion statt Reaktion ist das Leitmotiv. Ertrags- statt Umsatzdenken
steht im Vordergrund. Ein „lieber nicht dran rütteln“
führt dagegen nicht nur zu einer zeitlichen Verschie-
Zwei-Sichten Ansatz im Variantenmanagement
In mehr als 20 Jahren und in über 100 Projekten, die
die Schuh & Co. in verschiedenen Branchen durchgeführt hat, haben sich zwei Betrachtungswinkel der
Produktvielfalt bewährt: Die externe und die interne
Komplexität (Abb. 1).
Abb. 1: Externe und interne Komplexitätssicht auf die Produktvielfalt
26
Die Marktsicht (externe Komplexität):
Die Beschreibung des Produktes durch die kundenrelevanten Merkmale und Ausprägungen liefert zunächst
den Überblick, wie viele Varianten für das Produkt zu
berücksichtigen sind. Die Leitfragen hier sind: Was ist
am Markt hinsichtlich Produktausstattung notwendig,
was wird vom Kunden wirklich gewünscht und was ist
überflüssig? Durch diese Sichtweise wird sichergestellt,
dass eben das Angebotsspektrum für die tatsächlichen
Marktbedürfnisse keineswegs eingeschränkt wird,
es wird lediglich vom Ballast befreit, den ohnehin
niemand wollte und der keinen Beitrag zum Betriebsergebnis geleistet hat. Der Leitsatz hier lautet also: „So
wenig Varianten wie möglich, so viele wie nötig“.
Die Transparenz über die externe Komplexität kann
mit dem Complexity Manager Modul F (dt. Merkmalbaum oder engl. Feature Tree) schnell geschaffen
werden.
Die Definition der variantenrelevanten Merkmale,
ihrer Ausprägungen sowie die Formulierung bestimmter Regeln, die technische oder marktseitige Einschränkungen in der Kombinatorik der Merkmalsausprägungen berücksichtigen, ist zügig eingearbeitet. Im
Falle importierter Daten werden diese Regeln auch auf
Wunsch automatisch generiert.
In Abbildung 2 wird verdeutlicht, welche Merkmalsausprägungen eines Ölfilters für den Kunden wichtig sind, welche der Kunde also aus seiner Sicht am
Produkt wahrnimmt. Ohne Einschränkungen in der
Kombinierbarkeit der einzelnen Merkmalsausprägungen kommt es sehr schnell zu einer hohen Anzahl
möglicher Ölfiltervarianten. Jedoch gibt es in der Regel
technische Einschränkungen oder auch Erkenntnisse,
dass einige Kombinationen am Markt gar nicht angeboten werden müssen. Die Formulierung der Regeln
geschieht mit wenigen Mausklicks einmal durch Kombinationsverbote oder Kombinationszwänge. Je nach
Sachverhalt wählt man die Rubrik, mit der sich die
Regel am leichtesten formulieren lässt. Jede Regel lässt
sich mit logischen UND bzw. ODER Verkettungen
definieren.
Im Beispiel der Abbildung 3 gelangt man durch wenige Regeln daher zu 26 Ölfiltervarianten (anstatt 324
theoretisch möglichen Varianten). Mit der Definition
der Regeln sind die benötigten Daten für die reine
Visualisierung im Merkmalbaum bereits vollständig
erfasst.
Abb. 2: Produktbeispiel Ölfilter
Auf Basis dieser Daten bietet der Complexity Manager nun Möglichkeiten zur Simulation beispielsweise
folgender Punkte:
ƒƒÄnderung der Variantenvielfalt bei teilweisem Ersetzen, Hinzufügen neuer oder Streichen alter Ausprägungen
ƒƒBerechnung der Auftrittswahrscheinlichkeit einzelner Varianten aufgrund von Absatzprognosen (hilft
bei der Früherkennung möglicher Schwach- oder
Nullläufer-Varianten)
ƒƒABC-Analyse aufgrund realisierter Absatzzahlen
(weist die „Spreu vom Weizen“ aus)
ƒƒKosten- und Preisvergleiche
Die Unternehmenssicht (interne Komplexität)
Ist die externe Sicht des Marktes auf das Produkt nun
hinreichend beleuchtet und jede Variante hinterfragt,
gelangt man schließlich zu einem Produktspektrum,
das am Markt aktiv angeboten werden soll. Die interne
Sicht, die mit dem Complexity Manager Modul V (dt.
Variantenbaum oder engl. Variant Tree) unterstützt
wird, geht nun der Frage nach, wie man jetzt diese
geforderte Vielfalt möglichst schlank durch die Fabrik
schleusen soll. Hier lautet der Leitsatz „So wenig Teile
wie möglich, so viele wie nötig“.
Wie in der Abbildung 4 deutlich wird, können im
System schrittweise die Teilevarianten, die benötigt
werden, in der Reihenfolge ihres Verbaus entlang der
Montagelinie entsprechend ihrer Verwendung zugeordnet werden.
27
Abb. 3: (Modul F) Visualisierung der Marktsicht (externe Komplexität) im Merkmalbaum
Selbstverständlich können entsprechende Daten auch
via Schnittstelle in Modul V importiert werden.
Die Übersicht im Variantenbaum gibt z. B. Aufschluss
über besonders variantentreibende Bauteile, sie
verdeutlicht, an welcher Stelle der Montagelinie die
eigentliche Varianz entsteht und welche Baugruppen
und Bauteile sich aus Sicht der Variantenoptimierung
für eine Vormontage eignen oder gar ausgelagert werden sollten. Darüber hinaus lassen sich gerade im Falle
der Planung von Neuprodukten frühzeitig Aussagen
über die „drohende“ Teilevielfalt und -menge treffen,
was die Materialbedarfsermittlung unterstützt.
Kosten, die durch die Variantenvielfalt beeinflusst werden, können mit in die Analyse einfließen. So lassen
sich auch Ergebnisse aus separat durchgeführten
Komplexitätskostenanalysen im Modul V integrieren.
Seltene bzw. exotische Varianten werden dadurch nach
dem Kosten-Verursacher-Prinzip mehr belastet als
Standardvarianten, die „schlank“ und nahezu „unbemerkt“ durch die Wertschöpfungskette laufen.
Auch diese Kostentransparenz unterstützt ganz maßgeblich die Entscheidung über das Für und Wider
einer Variante!
Als Simulationsbeispiele sind folgende Punkte zu
nennen:
ƒƒAuswirkungen einer Vereinheitlichung von Bauteilen (Integralteil) auf die Vielfalt unterschiedlicher
Halberzeugnisse entlang der Montagelinie
28
ƒƒMögliche Umstellungen der Montagereihenfolge zur
optimalen Verschiebung des Variantenentstehungspunktes
ƒƒAuswirkungen durch den Wegfall einzelner Varianten oder Ausprägungen aus dem Merkmalbaum auf
die Teile- und Erzeugnisvielfalt im Variantenbaum.
Zusammenfassung
In den zahlreichen Anwendungsfällen, in denen die
Schuh & Co. den Complexity Manager eingesetzt hat,
wurde deutlich, dass sowohl die Transparenz über die
vorhandene Ist-Varianz einer Produktfamilie als auch
die Vorausschau auf die Varianz eines zu planenden
Produktprogramms mit absolut vertretbarem Aufwand
zu erlangen ist.
Es zeigte sich außerdem, dass der Variantenvermeidung grundsätzlich Priorität vor der Variantenbereinigung eingeräumt werden sollte, da sie größere
Hebelwirkungen hinsichtlich Einsparungspotenzialen
aufweist. Frühzeitig im Planungsstadium integriert,
hilft das Variantenmanagement, unnötige Investitionen
in Infrastruktur, Werkzeug und Maschinen zu vermeiden.
Bei der damit verbundenen rechtzeitigen Entdeckung
potenzieller Nullläufer-Varianten durch Verrechnung
der Absatzprognosen auf die einzelnen Varianten der
zu planenden Produktfamilie werden darüber hinaus
nicht benötigte Entwicklungsaufwände vermieden.
Abb. 4: (Modul V) Variantenbaum-Aufbau durch Zuordnung der Bauteile zu den Produktvarianten
Wird dagegen ein bestehendes Produktprogramm bereinigt, sind die Effekte wesentlich geringer, allerdings
auch nicht unbedeutend. Jedoch ist völlig unstrittig,
dass bereits getätigte Investitionen in oben genannte
Betriebsmittel zu großen Teilen unwiderbringlich „verloren“ sind und durch nachträgliches Streichen von
unnützen Varianten nicht mehr als Potenziale erschlossen werden können (Abb. 5).
nels“ erkennbar wird und dass Variantenmanagement
sogar Spaß machen kann. Das sind jedenfalls unsere
Erfahrungen und die unserer Kunden aus mehr als 20
Jahren Projektdurchführung.
Es bleibt festzuhalten, dass sich die Implementierung
eines durchgängigen Variantenmanagements immer
lohnt. Den ersten Schritt zu tun ist bekanntlich das
Schwierigste. Zu groß scheint der Variantenwildwuchs, zu groß ist oftmals die Angst, die eingangs
erwähnte „Variantenlawine“ loszutreten.
Da sich das Problem der Variantenvielfalt aber nicht
von alleine löst, ist schnelles Handeln dringend notwendig. Sehr schnell wird man beim Einsatz geeigneter Methoden und Hilfsmittel, wie dem Complexity
Manager, feststellen, dass erste Teilerfolge rasch sichtbar werden, dass Licht am Ende des „Variantentun-
Abb. 5: Potenzial durch Vermeiden von Variantenvielfalt
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29
Komplexitätsbeherrschung durch
wandlungsfähige Produktion
Es gilt den Fit zwischen Komplexität und
Wandlungsfähigkeit eines Produktionssystems
einzustellen
Dr. Gregor Tücks / Jan Eilers
Diversifizierung und Ressourceneffizienz sind Megatrends unserer Zeit. Was bedeutet das für eine Produktlinie, die typischerweise kapitalintensive Anlagen bewirtschaftet? Es ist Chance und Risiko zugleich.
Es gilt den Grad der Wandlungsfähigkeit eines Produktionssystems auf die Systemkomplexität abzustimmen und richtig einzustellen. Als weiterführende Literatur wird der Tagungsband zum AWK [1] empfohlen. Viele Kernaussagen dieses Artikels basieren auf dort gehaltenen Vorträgen.
Herausforderungen, denen sich produzierende
Unternehmen in Hochlohnländern gegenüber sehen,
sind nicht nur vielfältig, sondern in zunehmendem
Maße komplex. Durch unternehmens-externe und
-interne Faktoren entsteht dabei ein Umfeld, geprägt
durch Vielfalt, Dynamik und Unsicherheit, in dem das
Unternehmen seine Leistungserbringung ausrichten
muss. Die Komplexität der Problemstellung, der sich
ein Produktionssystem gegenüber sieht, lässt sich in
den folgenden Dimensionen beschreiben:
ƒƒVielfalt im Produktionssystem
–– Individualität und Heterogenität der Produkte
–– Verschiedenheit der Wertschöpfungsprozesse
–– Heterogenität des Ressourcenbedarfs bei Restriktionen der Ressourcenbelegung
ƒƒDynamik im Produktionssystem
–– Kürzere Produktlebenszyklen und veränderliche
Kundenwünsche
–– Schwankung der Nachfragemenge und abnehmende Auftragsgrößen
30
ƒƒUnsicherheit im Produktionssystem
–– Art und Menge der Nachfrage / Aufträge
–– Störanfälligkeit von Prozessen und Ressourcen
Spannungsfelder komplexer Produktionssysteme
Alle Entscheidungen, welche die Produktionsumgebung eines Unternehmens betreffen, werden auf der
Grundlage der beiden Spannungsfelder „Planung der
Produktion“ und „Betrieb der Produktion“ getroffen.
Beide Spannungsfelder sind jeweils durch zwei sich
widersprechende Ziele beschrieben.
Bezogen auf das Spannungsfeld „Planung der Produktion“ wird einerseits eine Optimierung der Wertschöpfungsprozesse mit entsprechend anspruchsvollen und
kapitalintensiven Simulations- und Planungsinstrumenten angestrebt („Planungsorientierung“). Andererseits sollen die Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen flexibel und wandlungsfähig gestaltet werden
(„Wertorientierung“).
Der Haupteinflussfaktor für die Positionierung innerhalb des Spannungsfeldes „Betrieb der Produktion“
ist die bestehende Markt- und Kostenstruktur. Bei
der Produktion in Niedriglohnländern liegt der Fokus
dabei häufig auf der Erschließung von Skaleneffekten
(„Economies of Scale“), während die Optimierung in
Hochlohnländern vielfach auf eine Individualisierung
der Produkte abzielt, um den heterogenen Kundenanforderungen gerecht zu werden („Economies of
Scope“).
der Produktion berücksichtigt werden. Aus Kundensicht ist dabei ein hoher Individualisierungsgrad im
Sinne einer Kosten-Nutzen-Abwägung relevant. Aus
Sicht der Produktion ergibt sich jedoch die Forderung
nach einem sinnvollen Maß an standardisierten Produktionsfaktoren und -abläufen, mit denen individualisierte Produkte erzeugt und damit hinreichend große
Kundenmärkte erschlossen sowie größtmögliche
Skaleneffekte realisiert werden können.
Das durch diese vier Dimensionen aufgespannte
Gebiet wird als Polylemma der Produktion bezeichnet
(Abb. 1) [2].
„Die Produktionsstruktur
folgt der Produktstruktur.“
Der Schlüssel, um den zuvor genannten komplexen
Anforderungen gerecht zu werden, liegt darin, das
Produktionssystem derart einzustellen, dass zum einen
die Gegensätze in den Spannungsfeldern weitestgehend aufgelöst werden. Gleichzeitig gilt es, einen Fit
zwischen der gegebenen Systemkomplexität im Unternehmen und dem Grad der Wandlungsfähigkeit eines
Produktionssystems richtig einzustellen.
Jüngste Entwicklungsstufen von Produktionstechnologien wie dem Selective Laser Melting (SLM) sind
Beispiele, wie das Dilemma zwischen Scale und Scope
überwunden werden kann, da sie eine enge Kopplung
von Produktstruktur und Produktionsprozess ermöglichen und dennoch eine wirtschaftliche Fertigung auch
kleiner Losgrößen erlauben.
Handlungsfelder für die Einstellung komplexer
Produktionssysteme
Aus den zuvor genannten Spannungsfeldern lassen
sich die Handlungsfelder zur Einstellung des Produktionssystems ableiten. Diese können als praxisorientierte Realisierung der Wandlungsfähigkeit von Produktionssystemen angesehen werden. Im Vordergrund
stehen dabei Branchen und Themen, die insbesondere
für produzierende Unternehmen in Hochlohnländern
eine hohe Relevanz besitzen (Abb. 2).
Prof. Günther Schuh
Somit werden Unternehmen in die Lage versetzt, bei
steigender Komplexität der Maschinen und Anlagen,
individuelle Kundenwünsche zu erfüllen und gleichzeitig Skaleneffekte in Entwicklung, Produktion sowie im
weiteren Verlauf des Lebenszyklus zu realisieren [2].
Individualisiertes Produktionssystem. Die Forderung nach heterogenen und individualisierten Produkten wird durch das Konzept des individualisierten
Produktionssystems adressiert, in dem die gegensätzlichen Produktionskonzepte der Massenfertigung und
der Einzelfertigung verbunden werden. Dabei steht im
Vordergrund, die wirtschaftliche Fertigung individualisierter Produkte zu ermöglichen. Gerade in Hochlohnländern besteht die komplexe Herausforderung
vielfach darin, individualisierte Produkte zu konkurrenzfähigen Preisen anbieten zu können. Die Auflösung des Dilemmas zwischen Economies of Scale und
Economies of Scope kann dabei nur erfolgen, wenn
die strukturrelevanten Elemente von Produkt und
Produktion bestmöglich aufeinander abgestimmt sind.
Bei der Einstellung der Individualisierung der Produktion müssen sowohl die Sicht des Kunden als auch die
Abb. 1: Polylemma der Produktion [2]
31
Als Beispiele können virtuelle Manufacturing Systeme
genannt werden, die unter anderem durch eine Kombination von NC-Steuerung, Regelkreisen, mechanischer Maschinenstruktur und Prozesskräften eine
virtuelle Vorhersage sowohl von Einzeleffekten als
auch von Wechselwirkungen ermöglichen [2].
Abb. 2: Handlungsfelder zur Einstellung komplexer
Produktionssysteme [2]
Virtuelles Produktionssystem. Im Spannungsfeld
der „Planung der Produktion“ ist eine kontinuierliche
Optimierung der Produktionsprozesse hinsichtlich
Effizienz und Qualität anzustreben. Gerade im Falle
der zusehends komplexeren Produktionsprozesse bei
Unternehmen in Hochlohnländern ist diese Aufgabe
nicht trivial und vielfach nur durch den Einsatz von
Simulationssystemen zu realisieren. Da die Durchführung einer Simulation an sich jedoch keinen wertschöpfenden Prozess darstellt, muss deren Leistungsfähigkeit kontinuierlich erhöht werden. Insbesondere
die Qualität der erzeugten Ergebnisse und die Durchgängigkeit der technischen Unterstützung innerhalb
der Produktentstehungskette müssen in diesem Zusammenhang gesteigert werden.
Ein besonderer Schwerpunkt ist dabei auf die
durchgängige Planung des Produktionssystems unter
Verwendung übergreifender Simulationsansätze zu
legen, um die nächsthöhere Stufe der Simulationsqualität zu erreichen. Vielversprechende Ergebnisse
sind in diesem Zusammenhang durch eine Integration
verschiedenster Modelle und Simulationsmöglichkeiten
zu erzielen. Aus der Verbindung unterschiedlicher Systeme zu integrativen Simulationswerkszeugen resultiert
eine genauere Vorhersage von Prozessergebnissen, da
Effekte zu Tage treten, die bei isolierter Simulation unsichtbar blieben. Dabei darf die weitere Optimierung
der Einzeldisziplinen jedoch nicht außer Acht gelassen
werden.
32
Selbstoptimierendes Produktionssystem. Bei der
Selbstoptimierung von Produktionssystemen liegt
der Fokus auf einer Verlagerung der Planungsaktivitäten hin zu dezentralen Einheiten, die direkt in den
Wertschöpfungsprozess integriert sind. Eine zentrale
Eigenschaft von selbstoptimierenden Produktionssystemen ist die Fähigkeit, autonom auf komplexe, d. h.
sich schnell und häufig ändernde Umweltbedingungen,
Benutzereingriffe oder Systemeinwirkungen reagieren
zu können. Im Gegensatz zu einfachen Regelkreisen,
bei denen eine Regelung oder die Anpassung von
Regelparametern die Einhaltung extern vorgegebener
Ziele sicherstellt, besitzen selbstoptimierende Systeme
eine weitere zentrale Eigenschaft. Sie sind in der Lage,
das Zielsystem eigenständig zu dynamisieren und
verfügen damit über eine weitaus größere Wandlungsfähigkeit. Grundlage für die Funktionsfähigkeit ist
dabei eine kontinuierliche Analyse der IST-Situation,
Bestimmung der Ziele sowie eine Anpassung des Systemverhaltens zur Erreichung der Ziele.
Voraussetzung für eine erfolgreiche Selbstoptimierung eines Produktionssystems ist jedoch die exakte
Beschreibung der meist hoch komplexen Produktionsprozesse sowie die Identifikation aller wesentlichen zu
beeinflussenden Parameter [2].
Hybrides Produktionssystem. Vorteile für die Produktion ergeben sich unter anderem durch die Integration verschiedener Fertigungstechnologien zu einem
hybriden Produktionssystem. Beispielweise können
durch diese Verfahrensintegration Prozessketten verkürzt und schnelle Wechsel bei den Bearbeitungsverfahren mit lediglich einmaliger Aufspannung realisiert
werden. Neben der Vermeidung von Umspann- und
Einrichtungszeiten kann so auch eine höhere Bauteilqualität durch die flexible Anwendung aller Fertigungsverfahren in einer Aufspannung erzielt werden.
Größte Herausforderung bei dieser Hybridisierung ist
die Vermeidung von Kollisionen der unterschiedlichen
Technologieträger während der Bauteilbearbeitung.
Dies erfordert eine hochgenaue Synchronisation der
Bewegungen aller an der Bearbeitung beteiligten Partner, was wiederum eine hochgetaktete Verschaltung
der üblicherweise weitgehend autonomen Steuerungseinheiten voraussetzt. Realisiert wird eine solche
Hybridisierung beispielsweise in einer Multitechnologie-Plattform, bei der ein Fräsbearbeitungszentrum
Abb. 3: Lösungshypothesen für die Produktion der Zukunft
mit einem Roboter sowie einer Laserschweißanlage
zu einem hybriden Bearbeitungszentrum kombiniert
werden [2].
Fazit / Handlungsempfehlung
Um den Anforderungen eines komplexen Marktumfeldes gerecht zu werden, gilt es, ein Produktionssystem richtig einzustellen. Es muss also folgende Frage
beantwortet werden: „Wie viel Wandlungsfähigkeit
braucht meine Produktion?“ Dabei ist darauf zu
achten, das der Fit zwischen der gegebenen Systemkomplexität und dem Grad der Wandlungsfähigkeit
eines Produktionssystems aktiv eingestellt wird. Nur
so können stabile und robuste Ergebnisse erzielt
werden. Dies funktioniert nur durch einen integrierten
Komplexitätsmanagement-Ansatz, der die vier Handlungsfelder der integrierten und wandlungsfähigen
Produktionstechnik gleichermaßen berücksichtigt
(Abb. 3).
Zusammenfassend können folgende Handlungsempfehlungen zur zielgerichteten Umsetzung ausgesprochen werden:
ƒƒDie Produktionsstruktur folgt der Produktstruktur
–– schaffen Sie Transparenz in den Abhängigkeiten
und definieren Sie den Grad der Wandlungsfähigkeit!
ƒƒTechnologie-, Material- und Prozessinnovationen synchronisieren
–– stimmen Sie Innovationen in der Produktion im
Sinne eines Frontloading nach vorne gerichtet
ab!
ƒƒKompliziert, komplex und pseudokomplex unterscheiden
–– klassifizieren Sie die Produktion, einige
Dinge scheinen nur komplex!
Quelle:
[1] Tagungsband „Aachener Werkzeugmaschinen Kolloquium
2011“, ISBN: 978-3-8440-0087-0, Shaker Verlag Aachen, 2011
[2]: C. Brecher, S. Kozielski, O. Karmann: „Integrative Produktionstechnik für Hochlohnländer“, in: „Wettbewerbsfaktor Produktionstechnik – Aachener Perspektiven“, Shaker Verlag Aachen, 2011
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33
Mit dem Produktionsaudit die
eigene Position bestimmen
Dr. Gregor Tücks
Wie „Lean“ ist Ihre derzeitige Produktion wirklich? Diese Frage beantwortet Ihnen das Lean Enterprise
Institut (LEI) gemeinsam mit dem Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen. Innerhalb von nur
einer Woche wird hierzu in Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus ein standardisiertes Produktionsaudit durchgeführt, welches die spezifischen Rahmenbedingungen und Herausforderungen
der Branche berücksichtigt. Im Produktionsaudit werden die praktischen Erfahrungen aus dem Bereich
Lean-Training und -Coaching mit den aktuellen Lean-Forschungsergebnissen zusammengeführt, wobei
sowohl harte als auch weiche Faktoren betrachtet werden. Nach dieser Analyse wissen Sie, wo Sie stehen und was Sie konkret als nächstes tun müssen.
Auf die Produktionen des Maschinen- und Anlagenbaus wirken vor allem die Einflüsse des zu produzierenden Produkts bzw. des Leistungsangebots. Diese
Einflüsse können auf die Schlagworte „Bedarfsdynamik“ und „Individualität“ reduziert werden, was
konkret heißt:
ƒƒDie hohe Volatilität des Bedarfs erschwert die Planbarkeit und Produktionsauslastung
–– Schwankungsbreiten im monatlichen Auftragseingang von ca. 20-30 % sind branchenüblich
ƒƒNiedriger Vorleistungsgrad erschwert die Stabilisierung der Prozesse
–– Bis zu 85 % der Wertschöpfung muss auftragsspezifisch produziert werden
ƒƒProduktvielfalt erzeugt Prozessvielfalt
–– Eine ausgeprägte Qualifikationsbreite der Produktionsmitarbeiter ist notwendig
ƒƒWeitere Reduzierung der Fertigungstiefe
–– Die Fertigungstiefe wird sich im Schnitt unterhalb von 50 % bewegen
34
Die Potenziale liegen in der Umsetzung des Lean
Managements
Erfolgreiche Unternehmen des Maschinen- und
Anlagenbaus stellen sich den oben genannten Herausforderungen in ihrer Leistungserstellung mit den
Prinzipien des Lean Managements. Also mit konsequenter Kundenorientierung, hoher Transparenz im
Wertstrom, exzellenten Koordinations- und Reaktionsmechanismen nach dem Fluss- und Zieh-Prinzip,
standardisierten und stabilen Prozessen, einer aktiv
gestalteten Fertigungstiefe sowie dem ewigen Streben
nach Perfektion.
Dies führt zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen, die
in quantifizierbaren Kenngrößen aus den Bereichen
Effizienz, Schnelligkeit und Zuverlässigkeit sichtbar
werden. So weisen Unternehmen, welche Lean Production eingeführt haben
ƒƒeine hohe „Liefertermintreue“ von über
85 % auf,
ƒƒliegen beim „Bestand zum Umsatz“ unterhalb 25 %
und
ƒƒbesitzen eine signifikant höhere „Personalproduktivität“.
Unter dem Strich erfolgt ein gleichmäßiges „EBIT- zu
Umsatz-Wachstum“.
Um zu erkennen, wo das eigene Unternehmen vor
dem Hintergrund der genannten Herausforderungen
positioniert ist, bieten das Lean Enterprise Institut
und das Werkzeugmaschinenlabor der RWTH Aachen
ein umfassendes Produktionsaudit an. Es besteht aus
verschiedenen Bausteinen, die zusammengesetzt eine
ganzheitliche Beurteilung der Leistungserstellung erlauben. Es wird unterschieden zwischen einer Breitenund einer Tiefenanalyse. Die Breitenanalyse dient dem
Benchmarking mit der Lean-Datenbank und umfasst
die Aufnahme der relevanten Kennzahlen und eine Interviewserie mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens. Die Datenbank basiert auf den Ergebnissen der
Studie „Strategien im Maschinen- und Anlagenbau“,
welche vom VDMA und dem WZL durchgeführt
wurde. Um die Aktualität des Benchmarkings sicherzustellen, nutzt das Produktionsaudit auch relevante
Kennzahlen aus dem jährlich erscheinenden VDMA
Kennzahlenkompass. Darüber hinaus sind die aktuellen Ergebnisse des Konsortialbenchmarking-Projekts
„Production Systems“ des LEI und des WZL im
Benchmarking berücksichtigt (weitere Informationen
zum Konsortialbenchmarking „Production Systems“
erhalten Sie unter [email protected]).
Dabei sind Kennzahlen nur dann aussagekräftig,
wenn sie in Verbindung mit dem jeweiligen Unter-
nehmenstyp, dem angebotenen Produktprogramm,
der spezifischen Wertschöpfungsverteilung und der
existierenden Führungs- und Personalstruktur gesehen
werden.
Weiche Faktoren sind für die Erreichung hochgesteckter Produktivitätsziele entscheidend
Es werden aber nicht nur Fragen zu den „harten Faktoren“, wie beispielsweise dem Einsatz von Lean-Methoden gestellt, sondern auch weiche Faktoren bezüglich Motivation, Verhalten und Veränderungskultur in
der Produktion berücksichtigt. Vor allem die weichen
Faktoren werden bei Analysen oftmals vernachlässigt,
sind aber für die Erreichung hochgesteckter Produktivitätsziele entscheidend.
In der Tiefenanalyse werden die Ergebnisse aus der
Breitenanalyse überprüft und detailliert. Zum einen
finden Wertstrom- und Prozessschnittstellen-Workshops mit den Mitarbeitern der relevanten Produktionsabteilungen statt. Zum anderen werden Begehungen „vor Ort“ in der Produktion durchgeführt,
wobei die Mitarbeiter des Unternehmens aktiv eingebunden werden. Die anschließende Potenzialbewertung fasst die Analysen zusammen und liefert greifbare
Zahlen zur Leistungssteigerung. Die Erkenntnisse aus
den Analysen werden schließlich im Status „Lean Production“ dokumentiert und in konkrete Handlungsempfehlungen zur Umsetzung überführt.
Abb. 1: Aufbau des Produktionsaudits
35
Abb. 2: Das Vorgehen teilt sich in drei Phasen
Das Produktionsaudit bietet einen Überblick über Optimierungspotenziale und die spezifische Position der
Produktion im Spannungsfeld Effizienz, Schnelligkeit
und Zuverlässigkeit vor dem Hintergrund der Lean
Production Philosophie.
Darüber hinaus zeigt das Audit einen echten Vergleich mit anderen Unternehmen des Maschinen- und
Anlagenbaus. Man kann also herausfinden, ob man ein
Vorreiter oder ein Nachzügler in der Umsetzung von
Lean Production ist. Das Produktionsaudit liefert vier
wichtige Ergebnisse:
1. Identifikation der eigenen Position im individualisierten Vergleich mit Ihren Wettbewerbern und den
Top-Performern auf Grundlage unserer umfassenden Benchmarking-Datenbank
2. Eine detaillierte Bewertung der Lean-Umsetzung in
den für den Maschinen- und Anlagenbau entscheidenden Lean-Prinzipien „Wertorientierte Koordination“, „Sichere Reaktionsfähigkeit“, „Einfache
Stabilität“ und „Streben nach Perfektion“
3. Konkrete Aussagen zur Förderung der Veränderungsbereitschaft in Richtung Lean Production und
eine entsprechende Führungskultur in der Produktion
4. Eine Potenzialbewertung und einen auf Ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Umsetzungsplan mit der
Festlegung der durchzuführenden Aktivitäten, der
benötigten Ressourcen und Kompetenzen, des Umsetzungszeitraumes sowie der Bewertungsgrößen
zur Erfolgsmessung
36
Drei Phasen in einer Woche
Die erste Phase wird als Kick-off Veranstaltung organisiert. Hier trifft sich das Audit-Team mit allen Beteiligten, um zum einen in das Thema Lean Production
einzuführen und zum anderen die Vorgehensweise mit
einem detaillierten „Fahrplan“ für das Audit vorzustellen. Darüber hinaus werden Best Practice Lösungen
aus der Produktion im Maschinen- und Anlagenbau
vorgestellt, um die Beteiligten für mögliche Zielbilder
zu sensibilisieren.
In der zweiten Phase findet die eigentliche Analyse inklusive dem Benchmarking statt. Der Ansatz
umfasst intensive Befragungen von Mitarbeitern auf
der Grundlage eines strukturierten Fragebogens und
Kennzahlenkatalogs sowie Workshops und Vor-OrtBegehungen. Alle Ergebnisse werden präsentationsfähig aufgearbeitet und im Projektteam abgestimmt.
In einem abschließenden Management-Workshop werden die Ergebnisse vorgestellt und mit dem Management-Team gemeinsam diskutiert. Schließlich wird ein
Maßnahmenplan zur Umsetzung übergeben.
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Leistungsfähiges
Prozessmanagement:
Prozesse beschleunigen, Profitabilität
erhöhen und Qualität sicherstellen
Dr. Stephan Krumm / Jan Eilers
Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Schuh & Co. mit dem Thema Prozessmanagement. Das Thema ist
somit weder neu noch trendy. Die Relevanz aber ist ungebrochen, die Probleme so akut wie eh und je
und die ganzheitliche Beherrschung der Disziplin nach wie vor begrenzt.
Die Begründung für die überragende Relevanz sowie
die andauernde Aktualität des hier diskutierten Themas ist im Grunde ganz einfach. Ein zufriedener Kunde entsteht dadurch, dass die von ihm nachgefragten
Leistungen in der vereinbarten Zeit, in der vereinbarten Menge und zum vereinbarten Preis vom Unternehmen erbracht werden. Und dies nach Möglichkeit
nicht nur einmal, sondern so häufig wie nachgefragt
und in der stets gleichen oder besseren Performance.
In aller Regel ist hierzu das koordinierte und reibungsfreie Zusammenspiel unterschiedlichster Funktionen,
Bereiche, Abteilungen, Teams und Mitarbeitern
eines Unternehmens notwendig. Womit wir bereits
am Kern des Problems angekommen sind. Prozesse
haben die unangenehme Eigenschaft, genau quer zu
den etablierten Unternehmensstrukturen zu liegen.
Nur leider interessiert das den Kunden in aller Regel
nicht. Oder haben Sie schon häufiger Aussagen gehört
wie z. B. „Die Produkte sind ja in Ordnung, aber das
Produktmanagement, die Elektronikentwicklung sowie
der After-Sales von denen müsste man wirklich mal
aufräumen.“?
So differenziert setzt sich der Kunde mit den Gründen
und Ursachen seiner Unzufriedenheit üblicherweise
nicht auseinander. Das ist aber auch nicht seine Aufgabe, sondern die des Unternehmens. Es ist daher nur
konsequent, wenn der Kunde das Unternehmen dann
auch als Ganzes in Sippenhaft nimmt. Es macht für
Unternehmen folglich sehr viel Sinn, sich intensiv und
explizit mit den Prozessen im Unternehmen auseinanderzusetzen und Fragen zu beantworten wie:
ƒƒWelche unterschiedlichen Bedürfnisse und Anforderungen haben meine Kunden an meine Prozesse?
ƒƒWelche unterschiedlichen Prozesse habe ich überhaupt im Unternehmen und wie laufen diese im
Detail ab?
ƒƒWelche wirklich durchgängigen Prozesse benötige
ich?
ƒƒUnterstützt oder hemmt meine Organisation die
reibungslose Abwicklung eben dieser Prozesse?
ƒƒAn welchen Stellen kann und sollte ich organisatorische Anpassungen vornehmen, um die prozessuale Leistungsfähigkeit meines Unternehmens zu
erhöhen?
Wenn Sie sich nun gar nicht ertappt fühlen, dann
schauen Sie doch mal kritisch in ihr QM-Handbuch
und versuchen dort Antworten auf die von uns
soeben gestellten Fragen bzgl. prozessualer Durchgängigkeit und überfunktionaler Zusammenarbeit zu
finden. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit werden Sie
feststellen, dass sich die dort beschriebenen Prozesse
konsequent an den Strukturen des Unternehmens
orientieren und die Beschreibung an den kritischen
Schnittstellen zu wünschen übrig lässt. Alternativ sind
dort zwar die überfunktional notwendigen Prozesse
auch durchgängig beschrieben, funktionieren im Tagesgeschäft aber trotzdem nicht optimal. Die Schnittstellen entlang der Prozesse sorgen für erstaunlich
große Reibungsverluste.
Eine bereits etwas ältere aber bis heute aktuelle Analyse der Universität St. Gallen (HSG) ist den Ursachen
hierfür auf den Grund gegangen und identifizierte
dabei zwei Themen als wesentliche Treiber für die
meisten Prozessschwächen und Reibungsverluste.
37
Einerseits sind dies Barrieren, die durch die hierarchische Ordnung und Struktur von Unternehmen
entstehen. An den Schnittstellen zwischen den
Managementebenen gehen nicht nur Informationen
verloren, sie sind häufig auch der Austragungsort von
politischen und taktischen Machtspielen, die einer
effizienten Koordination und Steuerung von Prozessen nicht immer dienlich sind. Andererseits sind dies
Barrieren, die durch die funktionale, fachspezifische
Organisation von Unternehmen entstehen. Auch die
Schnittstellen zwischen Unternehmensfunktionen
bieten durchaus Potenzial für Reibungsverluste. Dies
liegt nicht nur in fachlichen Inkompatibilitäten begründet sondern durchaus auch an menschlichen Herausforderungen, die oftmals in den sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten und Menschentypen begründet
liegen, welche die verschiedenen Disziplinen üblicherweise repräsentieren. Man denke exemplarisch z. B. an
typische Vertreter des Vertriebs und der Entwicklung.
Häufig satirisch überzeichnet steckt aus Prozesssicht
an dieser Stelle dennoch ein nicht unerhebliches Konfliktpotenzial. Das Resultat dieser beiden Phänomene
bezeichnet man als „operative Inseln“, welche dadurch
gekennzeichnet sind, dass sie durch ihre hierarchischen sowie funktionalen Schnittstellen abgegrenzt
sind. Die Mitglieder dieser operativen Inseln könnte
man auch als den jeweils innersten Kreis des Vertrauens bezeichnen. Diese operativen Inseln sind nicht
nur im laufenden Tagesgeschäft häufig suboptimal
aufeinander abgestimmt, sondern tendieren dazu, sich
relativ unabhängig voneinander zu entwickeln und zu
optimieren, ohne dabei immer das Gesamtoptimum
im Blick zu haben. Ein bis heute in fast allen Unternehmen zu beobachtendes Phänomen.
Auf das Thema Prozesse übertragen ist also darauf
zu achten, welche Art von Kundenbedürfnissen durch
38
welche Art von Prozessen durchgängig, das heißt von
Hierarchie und Funktion unabhängig, bedient werden
sollten. Ein griffiges Beispiel hierfür ist stets der Auftragsabwicklungsprozess, den es in sehr unterschiedlichen Ausprägungen in jedem Unternehmen gibt.
Ebenso durchgängig wie Ihre Prozesse selbst sollte
das methodisch konzeptionelle Vorgehen sein
Von Durchgängigkeit im Rahmen von Prozessverbesserungen sprechen wir erst dann, wenn es gelingt,
die Strategie eines Unternehmens wirkungsvoll und
gewinnbringend mit der operativen Ebene zu verzahnen und aufeinander abzustimmen.
Diese Idee klingt logisch bis trivial, ist aber in der Praxis ein ausgesprochen anspruchsvolles Unterfangen.
Es gibt nur wenige Unternehmen, die es verstehen,
ihre Strategie systematisch über die Prozesse hinweg
bis auf die Ebene der Aktivitäten herunter zu brechen
und dabei gleichzeitig Ideen und Impulse von Seiten
der Mitarbeiter nicht nur zuzulassen, sondern effektiv
in die Diskussion mit einfließen zu lassen und auch
umzusetzen. Oftmals fehlt es an dieser Stelle bereits an
einer geeigneten, konzeptionellen Vorgehensweise in
Form geeigneter Prozesse, Plattformen und Gremien.
Top-down ist es möglich, auch weitreichende, strategisch notwendige Veränderungen im Unternehmen zu
treiben. Die aktive, auch inhaltliche Einbindung der
Mitarbeiter dagegen bringt in aller Regel Ideen und
Veränderungen zur evolutionären Weiterentwicklung
der Ablaufprozesse des bestehenden Geschäfts hervor.
Es braucht top-down die Leitplanken und Richtungen
nicht zuletzt in Form klarer Zielvorgaben, während
es auf der Aktivitätsebene notwendig ist, die operationelle Exzellenz des Tagesgeschäfts im Sinne eines
KVP immer weiter zu entwickeln. Dies ist nur mit
der aktiven Beteiligung möglichst vieler Mitarbeiter
umsetzbar.
Zur erfolgreichen Durchführung von Initiativen und
Projekten, welche dieser Durchgängigkeit Rechnung
tragen, ist es hilfreich, einem klaren Bezugsrahmen folgen zu können, der einem Orientierung und Leitplanken gibt. Wir empfehlen und nutzen in einem solchen
Fall den Prozessmanagement-Navigator. Er verbindet
alle notwendigen Projektbausteine zu einem Gesamtkonzept, stellt den inhaltlichen Bezug zwischen ihnen
her und schafft damit die Grundlage für ein systematisches und aufeinander abgestimmtes Vorgehen
(Abb. 1).
Eine der Besonderheiten des Prozessmanagement-Navigators besteht darin, dass er die Analysephase nicht
mehr wie sonst üblich strikt von der Gestaltungs- und
Umsetzungsphase trennt. Die jeweils notwendigen
Aktivitäten werden soweit wie möglich parallelisiert,
um auch durch schnelle Erfolge die Motivation und
Energie für das Vorhaben insgesamt aufrecht zu erhalten. Weiterhin besteht der Navigator aus einzelnen
Vorgehensmodulen, die in Summe stimmig ineinander
greifen und sich somit wirkungsvoll zu einem Gesamtkonzept verzahnen. Auf die einzelnen Module wird
nachfolgend kurz eingegangen.
Die inhaltlich aufeinander abgestimmten und
ineinandergreifenden Module des Prozessmanagement-Navigators stellen die Wirksamkeit
des gesamten Vorhabens sicher und helfen, den
Überblick zu bewahren
Strategieklärung: In diesem Modul geht es vor
allem darum, dass die Unternehmensleitung eine klare
Bedarfssituation und Zielvorstellung für die Initiative
entwickelt. Die wirkungsvolle Kommunikation dieser
Ausgangslage bildet dabei den Startpunkt zur Neugestaltung der Unternehmensprozesse. Im Rahmen dieser Kommunikation ist es notwendig, den Mitarbeitern
auch ein gewisses Gefühl von Dringlichkeit zu vermitteln, da Dringlichkeit einer der wesentlichen Treiber
für Veränderungsbereitschaft ist. Dies ist vor allem in
Situationen vordergründiger Stärke des Unternehmens
von besonderer Bedeutung, da eine fehlende Veränderungsbereitschaft bei Mitarbeitern ein ernsthaftes Problem für das Veränderungsvorhaben darstellen wird.
Nach Möglichkeit wartet man aber mit derartigen
Aktivitäten nicht solange, bis der Handlungsbedarf für
alle klar erkennbar wird, da es unter Umständen dann
bereits zu spät sein kann.
Die wesentliche Aufgabe des Top-Managements in
diesem Modul besteht darin, eine Strategie zu definieren oder eine bestehende zu überprüfen und auf Basis
einer Analyse des Umfelds sowie der eigenen Stärken
und Schwächen auf ihre Tauglichkeit und Umsetzbarkeit hin abzuklopfen. Die Diskussion auf Leitungsebene führt dazu, dass vormals implizit vorhandene
Annahmen explizit gemacht werden und das gemeinsame Verständnis für Sinn und Zweck der Ausrichtung
des Unternehmens hergestellt resp. vertieft wird. Die
Dokumentation der Diskussionen und Ideen schafft
zusätzlich die Grundlage für deren Kommunizierbarkeit in die Breite.
Das konkrete Ergebnis des Moduls sind klare Handlungsprioritäten in Form Strategischer Erfolgspositionen (SEP), in denen das Unternehmen dank
besonderer Fähigkeiten oder gezielter Aufbauarbeit
mittel- bis langfristig überdurchschnittliche Erträge
erzielen kann. SEP repräsentieren somit auf besonders anschauliche Weise die externe Kundensicht
Abb 1: Leistungsfähiges Prozessmanagement mit dem Prozessmanagement-Navigator
39
auf die Prozesslandschaft eines Unternehmens. Sie
bilden folglich auch die Grundlage dafür, die Strategie in den nachfolgenden Schritten systematisch auf
Prozesse und Aktivitäten herunter zu brechen, dabei
den Kunden ins Zentrum der Betrachtung zu stellen
und auf diese Weise erfolgreich und für alle verständlich operationalisierbar zu machen. Somit entspricht
dieses Vorgehen vollständig dem Leitgedanken von
Lean-Management, nämlich nach Möglichkeit alle
Aktivitäten auf das zu fokussieren, was aus Sicht des
Kunden wertig ist.
Prozessarchitektur, -portfolio und -strategien:
Die Prozessarchitektur stellt eine Visualisierung der
Prozesslandschaft des Geschäftsmodells des Unternehmens auf einer hoch aggregierten Ebene dar.
Diese Prozesslandschaft ist oftmals nur scheinbar allen
Beteiligten klar und erst die definierte und eindeutig
beschriebene Visualisierung führt zu deren Diskutierbarkeit und Kommunizierbarkeit, ohne das die Diskussionen schon auf der Ebene von Missverständnissen
zum Scheitern verurteilt sind. Ist sie erstellt, können
alle Prozesse vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung
zur Erreichung der formulierten SEP reflektiert und
strategisch gewichtet werden. Kombiniert mit einer
Einschätzung der aktuellen Leistungsfähigkeit der Prozesse im Vergleich zu den jeweils besten Wettbewerbern ergeben sich klare Handlungsprioritäten, welche
Prozesse in welche Richtung umzustrukturieren sind.
Das Hilfsmittel zur Unterstützung und Visualisierung
dieser Diskussion stellt das Prozessportfolio dar. Das
Portfolio wird durch die beiden Achsen Prozesseffektivität und Prozesseffizienz aufgespannt. Effektivität steht in diesem Fall für den relativen Beitrag des
Prozesses zur Erreichung der dem Prozess prioritär
zugeordneten SEP. Konkret kann das der Beitrag des
Prozesses zur Erfüllung bestimmter Kundenanforderungen sein, wie z. B. Betreiberwirtschaftlichkeit.
Effizienz hingegen steht für das relative Maß an Mitteleinsatz, welches für den entsprechenden Beitrag zur
SEP-Erreichung notwendig ist. Die Mitte des Portfolios wird entlang beider Achsen jeweils durch die
Leistungsfähigkeit des besten Wettbewerbers definiert.
Im Rahmen der Diskussion werden alle Prozesse der
Architektur vor dem Hintergrund dieser drei Aspekte
diskutiert und in das Portfolio eingetragen. Darüber hinaus können die Prozessstrategien, welche zur
gezielten Steigerung von Effektivität und Effizienz
verfolgt werden sollen, unmittelbar eingezeichnet,
begründet und mit konkreten Maßnahmen zu deren
Umsetzung belegt werden. Diese Maßnahmen sind mit
den folgenden beiden Aspekten abzugleichen:
40
1. Im Rahmen der partizipativen IST-Prozessanalyse
sollen und werden zusätzliche Maßnahmenvorschläge von den Mitarbeitern kommen. Dies ist gut und
richtig. Am Ende des Tages müssen aber alle zur
Umsetzung verabschiedeten Maßnahmen in sich
stimmig sein. Es dürfen also keine sich widersprechenden Maßnahmen verabschiedet werden, noch
sollten solche umgesetzt werden, die keinen klaren
Beitrag zur Zielerreichung liefern. Dieser Abgleich
ist explizit durchzuführen.
2. Die Maßnahmen müssen den Ansprüchen und
Prinzipien operationeller Exzellenz genügen. Es ist
zu überprüfen, ob alle notwendigen Treiber zur Erreichung von prozessualer Exzellenz adressiert und
mit Maßnahmen belegt sind. Hierzu bedient man
sich z. B. eines Bezugsrahmens zur operationellen
Exzellenz (kurz: OPEX), der Vollständigkeit und
sinnvolle Chronologie der abgeleiteten Maßnahmen
sicherstellt.
Das Ergebnis ist ein Maßnahmenpaket, welches in
Summe die strategische Ausrichtung mit der evolutionären Entwicklung der operationellen Exzellenz kraftvoll verbindet. Das Portfolio stellt somit den entscheidenden aber meist fehlenden Brückenkopf zwischen
strategischer und operativer Ebene dar (Abb. 2).
Prozessanalyse und -optimierung: Die Mitarbeiter
des Unternehmens müssen bereits in die Gestaltung
des Wandels zwingend einbezogen werden. Die Prozessanalyse stellt hierfür das wesentliche Vehikel dar.
Im Rahmen der Prozessanalyse werden zunächst für
die wichtigsten Prozesse die IST-Zustände mit allen
ihren Schwächen erfasst und modelliert.
Hierbei stehen heutzutage fünf Leitfragen im Vordergrund:
1. Was soll der Prozess erreichen? Welche z. B. SEP`s
oder Kundenanforderungen sollen übergreifend
durch den Gesamtprozess und im Einzelnen durch
die Prozessschritte realisiert werden?
2. Sind die einzelnen Prozessschritte sinnvoll und mit
ihren Inputs sowie Outputs klar definiert? (Sicherstellung eines optimalen Prozessschrittgerüstes)
3. Sind die Prozesse zur Vermeidung chronischer
Engpässe kapazitativ synchronisiert? (Sicherstellung
des Flussprinzips)
4. Wie wird die Prozessdurchführung zur Erreichung
einer bestmöglichen Prozessleistung aktiv geplant
Abb. 2: Das Prozessportfolio zur Visualisierung strategischer Prioritäten
und gesteuert? (Sicherstellung von Planung und
Steuerung z. B. durch PULL-Prinzipien)
5. Wie wird die Prozessleistung gemessen und wie
wird die Rückkoppelung, also der Abgleich von ISTzur SOLL-Prozessleistung, zur Absicherung und
Weiterentwicklung des Leistungsniveaus verarbeitet?
(Sicherstellung der fortlaufenden Leistungssteigerung)
Ohne ein klares Verständnis über die wahre ISTSituation der Prozesse im Unternehmen ist die
Identifikation der korrekten Ursachen von Fehlern
und Verschwendung nicht möglich. Es können keine
wirkungsvollen Maßnahmen, welche auf genau diese
Ursachen abzuzielen haben, abgeleitet werden. Ferner
braucht es die wahre IST-Situation, um die Differenz
zwischen einem zu erreichenden SOLL- und dem ISTZustand sauber beschreiben zu können. Genau diese
Lücke ist es nämlich, die es mit konkreten Maßnahmen
zu belegen gilt. Es bleibt noch festzuhalten, dass es
an dieser Stelle nicht ausreichend ist, die Prozesse auf
Basis ihrer Beschreibungen in den QM-Handbüchern
und SOPs zu beurteilen. Diese weichen vom gelebten
Tagesgeschäft fast immer substantiell ab und dürfen
daher auf keinen Fall zur Ursachenanalyse und Maßnahmenentwicklung herangezogen werden.
Das Ergebnis dieses Moduls besteht schlussendlich
aus zwei Bausteinen. Einerseits bilden die im Rahmen
der Prozessanalysen erstellten Maßnahmenlisten die
Grundlage zum Abgleich mit den Top-down Maßnahmen. Hieraus leitet sich eine ganzheitliche Umsetzungsroadmap ab. Andererseits muss das im Rahmen
dieses Moduls eingeübte Vorgehen in einen internen
Prozess „Prozessmanagement“ überführt werden,
damit es nicht bei einer Einmalaktion unter Hinzuzug
externer Ressourcen bleibt, sondern das Unternehmen
„Prozessmanagement“ als eigenen Prozess unternehmensweit etabliert. Als wichtig erweist sich bspw. die
klare Verankerung von Prozesseignern und die Einführung prozessorientierter Leistungsdialogen.
Die Begleitung durch erfahrene, externe Berater ist
zunächst empfehlenswert. Sie bringen die methodisch
konzeptionelle Erfahrung mit, haben vergleichbare
Situationen schon in anderen Unternehmen erlebt
und gemeistert und können daher Stabilität, Ruhe und
vor allem auch Sicherheit in die anstehende Veränderung mit einbringen. Das Ziel muss es aber sein, die
Mitarbeiter im Rahmen von Schulungen zu befähigen,
die kontinuierliche Prozessanalyse und -optimierung
mittel- bis langfristig selbstständig durchführen zu
können. In großen Unternehmen bietet sich an dieser
Stelle häufig ein Train-the-Trainer Konzept an, über
41
welches das Wissen schlussendlich in die gesamte Organisation getragen und umgesetzt werden kann.
das durch die Mitarbeiter auch als echte Teamleistung
wahrgenommen wird.
Umsetzungs- und Erfolgscontrolling: Einen
wichtigen Beitrag zum Erfolg von Prozessverbesserungen stellt ein sauber aufgesetztes Umsetzungs- und
Erfolgscontrolling dar. Dieses muss in der Lage sein,
mindestens die folgenden drei Aspekte transparent zu
machen:
Zur Unterstützung der Punkte 2 und 3 nutzt Schuh
& Co. das „Value Tree“-Konzept, welches auf die
spezifischen Herausforderungen im Prozessmanagement adaptiert wurde. Es stellt sicher, dass der neu zu
gestaltende Prozess auf die 1-2 wichtigsten Ziele konzentriert wird und leitet hieraus für jede Prozessphase
den spezifischen Ergebnisbeitrag ab. Das Ergebnis ist
kein Datenfriedhof, sondern ein extrem fokussiertes,
prozessual aufgesetztes Instrument, welches eine Geschichte erzählt und daher verstanden und als Steuerungsinstrument akzeptiert wird.
1)Umsetzungserfolg auf Maßnahmenebene in Abhängigkeit ihres Beitrags zur Gesamt-Zielerreichung
2)Leistungsfähigkeit der Prozesse anhand der generierten Prozess-Outputs
3)Leistungsfähigkeit der einzelnen Prozessphasen in
Abhängigkeit ihres Beitrags zum Prozess-Output
Punkt 1 dient der Sicherstellung der Umsetzung auf
Ebene der einzelnen Maßnahmen. Da die Summe der
Maßnahmen zur Erreichung des Änderungserfolgs
beitragen soll, ist es auf dieser Ebene wichtig, den
jeweiligen Ergebnisbeitrag der einzelnen Maßnahmen zur Gesamt-Zielerreichung im Blick zu haben.
Die Gesamt-Zielerreichung ist häufig auf Ebene der
Outputs von Prozessen definiert wie z. B. die Durchlaufzeit eines Auftragsabwicklungsprozesses. Insofern
muss Punkt 2 sicherstellen, dass Transparenz bzgl. der
jeweiligen Zielerreichung auf Ebene dieser ProzessOutputs herrscht. Der konzeptionell entscheidende
Schritt ist nun Punkt 3, der Transparenz darüber
herstellt, wie sich die Leistungsfähigkeit des GesamtProzesses auf die einzelnen Prozessphasen verteilt
und welchen Beitrag jede einzelne Phase somit zum
Gesamtergebnis leistet. Punkt 3 sorgt somit für das
Verständnis, wie der Gesamt-Prozess ineinandergreift
und aus welchen Einzelbestandteilen sich das Prozessergebnis zusammen setzt.
Obgleich von überragender Bedeutung, gibt es dennoch kaum Unternehmen, die eine solche Transparenz
über ihre End-to-End Prozesse besitzen. In aller Regel
findet man Unmengen an KPIs und Kennzahlen, die
zwar alle einen gewissen Erkenntnisgewinn beinhalten,
in Summe aber keine Geschichte erzählen und auch
nicht in wechselseitige Abhängigkeit gebracht wurden.
Für den Umsetzungserfolg ist es aber wichtig, dass alle
Mitarbeiter den Aufbau der Prozesse verstehen und
ihren spezifischen Wertbeitrag genau kennen. Erst die
Transparenz hierüber führt zu einem Prozessergebnis,
42
Die Durchgängigkeit des Vorgehens, die aktive
Mitarbeiterpartizipation sowie die organisatorische Verankerung des Themas sind die wichtigsten Treiber für den nachhaltigen Erfolg
Die Strategie muss konsequent mit den wichtigsten
Prozessen und hierüber mit allen erfolgskritischen
Aktivitäten verknüpft und in Abhängigkeit gebracht
werden. Das wichtigste Instrument hierfür ist das
Prozessportfolio, welches die Strategie in ihre Konsequenzen für die Prozesslandschaft übersetzt und von
dort den Ausgangspunkt zur Formulierung konkreter
Prozess-Strategien und passender Maßnahmenpakete
bildet.
Diese Top-down gesetzten Vorgaben sind einerseits
mit den Ideen und Impulsen der Mitarbeiter und andererseits mit dem Wissen um die Prinzipien operationeller Exzellenz in einem Diskurs zu konfrontieren,
abzugleichen und zu einem „Gesamt-Veränderungskunstwerk“, d. h. einer ganzheitlich orchestrierten und
aus Maßnahmenpaketen bestehenden Roadmap, zu
kombinieren. Das aktive Abstützen auf das Wissen
und die Inputs der Mitarbeiter stellt dabei die Akzeptanz für die Veränderung, für die darin notwendigen
Maßnahmen und damit schlussendlich für deren
erfolgreiche Umsetzung sicher.
Für die nachhaltige Wirksamkeit solcher Initiativen ist
es schlussendlich unerlässlich, die strukturellen und
organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen, die
gemachten Erfahrungen erfolgreich in einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu überführen. Dies
kann z. B. mittels der weiter oben skizzierten und institutionalisierten Leistungsdialoge geschehen. Ziel ist es,
Prozessverbesserungen zum Bestandteil des Tagesgeschäfts eines jeden Mitarbeiters zu machen und nicht
nur projektbasiert auf Anordnung des Managements
zu erzwingen. Gelingt es aber, die Ideen einer solchen
Initiative nachhaltig im Unternehmen zu verankern, so
ist ein wichtiger Baustein für die mittel- bis langfristige
Überlebensfähigkeit gelegt.
Die Erfolgsfaktoren im Überblick
1. Methodisch konzeptionelle Durchgängigkeit des
Vorgehens
2. Explizite Strategieklärung und -kommunikation
3. Prozessuale Zielvorgaben (nachvollziehbar aus der
Strategie abgeleitet)
4. Systematische Überprüfung der Prozessleistung
(inkl. der einzelnen Prozessphasen)
5. Durchgängige Beschreibung der wichtigsten Prozesse bis auf Aktivitätenebene
Wenn Sie wissen möchten, wo Sie stehen bzgl. der
Leistungsfähigkeit ihres Prozessmanagement-Ansatzes,
so stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung. Im Rahmen
eines eintägigen Prozessmanagement-Audits werden
wir Ihnen eine klare Vorstellung davon vermitteln,
wie Ihr derzeitiger Leistungsstand ist, wo die größten
Potenziale für Sie liegen und wie Sie diese erfolgreich
heben können. Melden Sie sich bei uns!
6. Aktive und frühe Einbindung der Mitarbeiter
7. Überführung des Projekterlebnisses in einen KVP
Unsere Erfahrungen aus über 20-jähriger Projekttätigkeit zeigen, dass teilweise auch dramatische Prozessverbesserungen durch Stabilisierung, Beherrschung
und kontinuierlicher Verbesserung nicht unüblich sind.
So sehen wir als Ergebnis unserer Projekte regelmäßig
drastisch reduzierte Durchlaufzeiten, stark gesunkene
Durchlaufzeitschwankungen, reduzierte Bestände
sowie eine substantiell gestiegene Liefertermintreue.
Nachfolgende Aufstellung zeigt exemplarisch die in
einem Projekt erreichte Steigerung der Leistungsfähigkeit eines Auftragsabwicklungsprozesses:
Weiterführende Literatur:
Kotter, J. P. (2008): A sense of urgency,
McGraw-Hill Professional, 2008
Pümpin, C. (2005): Strategische Erfolgspositionen,
Haupt Verlag, 2005
Schuh, G.; Friedli, Th.; Kurr, M. A. (2006):
Prozessorientierte Reorganisation, Hanser Verlag, 2006
Kontakt
Dr. Stephan Krumm
Telefon: +49 241 51031 0
[email protected]
Jan Eilers
Telefon: +49 241 51031 0
[email protected]
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Wertstrom im Unternehmen:
Prozesse sehen lernen
Norbert Große Entrup
Der Geschäftsalltag und seine Hektik, beziehungsweise die auf das Management einströmenden Informationen und Entscheidungsanfragen sorgen dafür, dass viele Manager heute kaum die Zeit finden, sich
Gedanken um die operative und strategische Optimierung ihrer Firma zu machen. Das Gefühl für die
Steuerung des Schiffes „Firma“ geht verloren und man findet sich oft operativ in der Kommandozentrale damit beschäftigt, die Fahrt zu erhöhen oder zu bremsen, leichte Ruderkorrekturen zu veranlassen
oder eine Planung der Routenressourcen wie Spritverbrauch und Mannschaftsversorgung zu planen.
Gefangen im Alltag: Managementscheuklappen
Lernen zu sehen
Der Sinn und Zweck hinter dem Handeln tritt zurück
und schafft Platz für „operative Hektik und planlose
Reaktionen“. Asiatische Weise fordern nicht umsonst,
dass der Mensch zehn Minuten am Tag über sein
Handeln und Tun und sein Dasein reflektieren soll. Es
sollte ein Lebensbild entstehen, dem man automatisch
durch Verinnerlichung nachfolgt und sein Handeln
auch dann situativ immer auf diese Zielausrichtung
anpasst. Nur so können langfristig gesteckte Ziele
erreicht werden, das Bild als Ziel muss immer vor dem
inneren Auge präsent sein.
Welcher Manager hat das Bild seiner Firma vor
Augen? Wo steht sein Schiff im Meer der Wirtschaft?
Welchen Zweck erfüllt es, für wen, für welche Kunden
und erfüllt es diesen Zweck und die Bedürfnisse der
Kunden auf eine „schlanke“ Weise, sprich mit dem
minimalsten Ressourcenaufwand?
Abb. 1: Beispiel einer Wertstromanalyse
44
Es gibt verschiedene Schiffe, Kreuzfahrtschiffe,
Tanker, Segelschiffe, Fregatten, Forschungsschiffe und
viele weitere Arten, die alle unterschiedliche Kundenbedürfnisse befriedigen. Es gilt herauszufinden, welche
Art von Schiff man darstellt und wie dieses Schiff
mit seiner Mannschaft die Wünsche der Kunden am
effizientesten erfüllt bzw. erfüllen kann.
konnten auch keine oder nur suboptimale Verbesserungen erzielt werden. Mit der Wertstromanalyse
stellen sie ihre, auf den Kunden gerichteten Prozesse
auf den Prüfstand und können diese sukzessiv und im
Kontext mit Kreativität und im Team verbessern.
Die Methode der Wertstromanalyse als Brille für
das Management
Was kennzeichnet eine Wertstromanalyse?
Die Methodik der Wertstromanalyse erlaubt es dem
Management und der Mannschaft, sich so ein Bild zu
verschaffen (Abb. 1). Es werden die Prozesse als verknüpfte Landschaft dargestellt und die Beziehungen
untereinander. So können schnell lange Durchlaufzeiten, lange Liegezeiten, komplexe und schwierige
Schnittstellen erkannt und in einem weiteren Schritt
alternative Prozesse und Abläufe definiert werden.
Rückfragequoten zeigen auf, wo die Prozesse nicht
sauber definiert sind und es ggf. an früheren Stellen in
der Prozesslandschaft zu eindeutigen Klärungen und
Weitertransport der Information kommen muss. Die
Verschwendung wird aufgezeigt, wird transparent und
kann somit aktiv beseitigt werden.
2. Alle Beteiligten kennen die Verschwendungsarten,
die es gilt zu eliminieren. Überproduktion und
Blindleistung, hohe Lagerbestände, unnötige Materialtransportwege, Warte- und Liegezeiten, Technologie- und Prozessdefizite, unnötige Handhabung
durch den Menschen, Rückfragen und Qualitätsverlust.
Im Rahmen eines Wertstromanalyse-Workshops fangen viele Manager und auch ihre Mitarbeiter erst an zu
„sehen“. Sie erkennen an der prozessorientierten und
bildhaften Darstellung, wo die Probleme stecken und
fangen an, neue Lösungen und Alternativen anzudenken. Im Tagesgeschäft suchte man in der Vergangenheit zwar auch bereits nach Lösungen, aber da die Zeit
fehlte, sich den gesamten Zusammenhang darzulegen,
3. Alle Beteiligten kennen die Philosophie des Wertstroms: Alles ist auf den Kunden ausgerichtet und
fokussiert, es gilt seine Anforderungen optimal zu
erfüllen, d. h. weder zu viel noch zu wenig. Alles
fließt als Wertstrom, d. h. auch Lieferanten und
ausgelagerte Prozesse fließen mit dem Hauptstrom
hinein und werden ganzheitlich mit betrachtet. Alles
funktioniert optimal nach dem Pull-Prinzip, der
1. Alle Beteiligten am Wertstrom des Unternehmens
haben die Ziele des Wertstromanalyse-Workshops
verinnerlicht. Diese Ziele sind, Verfügbarkeit erhöhen, Qualität verbessern, Individualität gewährleisten und Kosten reduzieren.
Abb. 2: Wertstromdesign
45
Bedarf „triggert“ die vorgelagerten Aktionen des
Systems.
Es wird ständig im Kreislauf kontrolliert und ein
kontinuierlicher Verbesserungsprozess eingerichtet,
der sicherstellt, dass der Kunde zufrieden ist und
bleibt, auch bei geänderten Rahmenbedingungen.
Alle Prinzipien des Wertstroms sind in der bildhaften Darstellung (Abb. 2) zu finden und sollten
gemeinsam mit allen Beteiligten immer wieder vor
einem Workshop wiederholt werden.
4. Trennung nach Tätigkeitsarten: Alle Tätigkeiten
werden analysiert und in Haupt-, Neben- oder Organisationstätigkeiten klassifiziert.
Wie ordnet sich die Wertstromanalyse in die
ganzheitliche Optimierung hin zu einer schlanken
Organisation ein?
Analysephase: In dieser Phase wird das Geschäftsmodell hinterfragt und dargelegt, die bestehende
Organisation aufgenommen sowie die Auftragsarten
des Unternehmens klassifiziert. ABC Analyse teilt die
Aufträge nach Umsatz und Menge ein, wobei die XYZ
Analyse die Aufträge nach Häufigkeit und Regelmäßigkeit einteilt. In den Wertstromanalyse-Workshops
sollten primär die Auftragsarten untersucht werden,
die in die Kategorie AX fallen, um schnellstmöglich
die größten Verbesserungseffekte zu erzielen. Es gilt
nicht, das Zahlen- und Datenmaterial bis auf die letzte
Kommastelle genau zu ermitteln. In der Wertstromanalyse kann man und muss man oft (besonders in den
administrativen Bereichen, weniger in der Produktion)
mit einer gesicherten ggf. 2 x abgefragten Schätzung
leben lernen.
Der Wertstrom wird skizziert und aufgenommen
mit Brown Paper und den Standardprozesskärtchen,
die die speziellen Informationen wie Zeitbedarf und
Subprozesse beeinhalten. An Stellen, wo nicht sofort
transparent wird, wo die Probleme liegen, muss mit einer Prozessfeinanalyse in die Tiefe „gebohrt“ werden.
Aus den ersten Wertstromanalyse-Workshops lassen
sich oft schon die ersten „quick wins“, also schnell
umsetzbare Lösungen definieren, die dann auch zügig
per aufgesetztem Maßnahmenplan in Angriff genommen werden müssen.
Modularisierungsphase: In dieser Phase prüfen wir,
ob und wo wir innerhalb der Prozesslandschaft Module bilden können, die eindeutig sind und wiederholt
nutzbar. Diese so definierten Module werden spezifiziert und festgeschrieben und einer weiteren Optimie-
46
rungsprüfung unterzogen. Sind alle möglichen Module
definiert, erfolgt die Standardisierung der Information,
es werden die Schnittstellen geprüft und eindeutig
beschrieben. Informationen werden dort erhoben,
wo sie automatisch und ohne großen Mehraufwand
abfallen und werden dann auf effiziente Weise durch
den Wertstrom mit transportiert.
Integrationsphase: In dieser Phase werden die Module in die Prozesslandschaft eingepasst und auf ihre
Gesamtfunktionalität untersucht.
Umsetzungsphase: In dieser Phase erfolgt die Anpassung der Kapazitäten, Umsetzung der operativen
Prozesse und eine damit ggf. verbundene Veränderung
der Organisationsstruktur. Idealerweise erfolgt eine
parallele Einführung eines Prozesskostenmanagements
und die Absicherung durch einen kontinuierlichen
Verbesserungsprozess.
Der Wertstrom-Workshop und seine Inhalte
Die wichtigsten und notwendigen Kundendaten
werden erfasst und bereit gestellt. Welche Daten in
welcher Tiefe Sinn machen, muss der Workshopmanager und -coach mit dem Kunden vorab definieren und
erarbeiten. Es werden die betroffenen Stellen definiert
und aufgenommen. Die prozessauslösenden Stellen
müssen identifiziert und die einzelnen Prozessschritte
auf dem Brown Paper in Schwimmbahnen dargestellt
werden.
Die Schnittstellen des Informationsflusses werden
definiert und ermittelt. Wichtig und elementarster
Bestandteil ist die Aufnahme der Prozesszeiten, die
Aufnahme der Liege- und Wartezeiten sowie die
Zeiten für Rückfragebedarf und Reklamationen.
An kritischen Stellen muss eine Prozessfeinanalyse
einsetzen, um Details besser herauszuarbeiten und
Problemen auf den Grund zu gehen. Aus den im
Workshop erlangten Erkenntnissen werden Maßnahmen für sogenannte „quick wins“ geplant und umgesetzt. Dies erhöht die Motivation für alle Beteiligten,
an der Optimierung des Wertstroms auch langfristig
mitzuwirken.
Häufige Probleme bei der Umsetzung in der Praxis
1. Zuviel Theorie. Die Methodik wird zu theoretisch
angewendet. Man versteift sich auf das prozedurale
Vorgehen und vergisst dabei „das Bild zu zeichnen“, es bedarf hier einer gewissen Kreativität
und auch eines gewissen Pragmatismus, damit das
Thema nicht zu holzig und frustrierend wird für alle
Beteiligten.
2. Zu wenig Zeit und nicht alle beteiligt. Das
Tagesgeschäft ruft und wichtige Personen für die
Teilnahme am Workshop, deren Know-how um die
Abläufe unverzichtbar ist, nehmen nicht teil. Die
Häufigkeit der aufeinanderfolgenden notwendigen
Treffen wird unterschätzt und wichtige Personen
sind durch Reisetätigkeiten oder andere Projekte
immer wieder verhindert. Workshops ohne die
wichtigsten Ansprechpartner sind wertlos und
können keine Lösungen erarbeiten. Die Investition
„Zeit“ ist die wertvollste und wichtigste, die ein
Unternehmen bereit sein muss zu leisten.
3. Abkürzungen und Fokus auf Teilelemente.
Leider wird aufgrund der sich abzeichnenden Aufwändungen und Zeiten für eine WertstromanalyseWorkshopreihe oft eine Abkürzung genutzt. Man
fokussiert sich direkt auf identifizierte Problemstellen (1-3 Stück), die man dann angeht und mehr oder
minder prozessorientiert versucht zu optimieren.
Dies entspricht in keinster Weise der Wertstromanalyse und greift natürlicherweise viel zu kurz. Die
grundsätzlichen Riesenpotenziale, die sich oft mit
der Wertstrombetrachtung auftun, sind so nicht zu
erschließen.
4. Keine professionelle Begleitung. Die Moderation und Vorbereitung der Workshops muss von
einem erfahrenen Wertstromexperten erfolgen. Nur
so ist sichergestellt, dass man mit dem geringsten
Aufwand und zielgerichtet im Team arbeitet. Von
einer Eigenmoderation (es sei denn, es hat eine Ausbildung zum Moderator z. B. am Lean Enterprise
Institut stattgefunden) ist dringend abzuraten. Auch
der Blickwinkel von Außen, wo sind Potenziale zu
finden und zu heben, ist wichtig und kann wertvolle
Hinweise liefern und die Ergebnisse sehr positiv
beeinflussen.
Fazit
Die Wertstromanalyse ist ein wichtiges und wertvolles
Werkzeug zur ganzheitlichen Betrachtung und Optimierung einer Firma oder einer Organisation. Wichtig
ist die konsequente Anwendung der Wertstromprinzipien und die bewährte Vorgehensweise. Sind die Optimierungen erarbeitet und wird das neue Firmenbild
von allen Beteiligten gepflegt und verinnerlicht, stehen
einer Neuausrichtung und einem Erfolg im Markt und
im Wettbewerb nichts mehr entgegen. Viele Firmen
haben daher die Wertstromanalyse als strategisches
Werkzeug für ihre permanente strategische Weiterentwicklung festgeschrieben und wenden die Methodik
regelmäßig an.
Die Schuh & Co. GmbH setzt diese Methodik in
vielen Projekten ein und begleitet die Firmen bei einer
einmaligen Reorientierung oder aber auch über
Change-Projekte bis hin zur kompletten Verinnerlichung neuer Werkzeuge und Methoden in einer ganzheitlichen Form, die zur neuen Unternehmenskultur
wird. Durch die enge Anbindung an die Wissenschaft
und Forschung in Aachen und durch den hohen Praxisbezug der Berater ist eine optimale Ausgestaltung
und Begleitung der Kunden über Workshopreihen hin
zu operativer Exzellenz möglich.
Kontakt
Norbert Große Entrup
Telefon: +49 241 51031 0
[email protected]
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Lean Innovation –
Entwicklungsproduktivität
signifikant steigern
Dr. Stephan Krumm / Dr. Stephan U. Schittny
Im globalen Wettbewerb ist es entscheidend, sich durch erfolgreiche Innovation vom Wettbewerb zu
differenzieren und dem Kunden überzeugenden Nutzen anzubieten. Kurze Entwicklungszeiten, vom
Kunden honorierte Innovationen und reduzierter F & E-Aufwand muss in den Fokus jeder Produktentwicklung gehören. Tatsächlich aber misslingen die meisten Innovationsversuche in der Praxis: Vielen
Unternehmen gelingt es nur unzureichend, echte Einzigartigkeit und überzeugende Differenzierung
durch Innovationen zu erzielen. Mehr als die Hälfte aller Innovationsprojekte scheitert auf diese Weise –
dies ist Verschwendung mit horrenden Kosten!
Die Herausforderung
Lean Champions schaffen es, trotz eng begrenzter
Entwicklungsressourcen wiederholt und nachhaltig
Innovationserfolge zu erzielen.
Hierzu ist es notwendig, sich auf die Wertschöpfung
der Entwicklungsprozesse zu konzentrieren und Verschwendungen im Prozess sowie in den zu entwickelnden Produkten zu erkennen und zu minimieren.
Typische Verschwendungen sind unter anderem:
ƒƒMangelnde Kundennutzenorientierung, unklare Produktpositionierung, unpräzise Projektziele, unnötige
Produkteigenschaften
ƒƒZu teure Produkte durch ungesteuerte Entstehung
von Produktkomplexität und ungenutzte Skaleneffekte
ƒƒUnzureichende Ausnutzung von Entwicklungsressourcen und -kompetenzen
ƒƒUnnötig lange Time-to-Market durch unterbrochene
Wertströme
ƒƒRückfragen und Iterationen aufgrund ungenügender
Standards
ƒƒVermeidbare Defekte und Nacharbeit in der Prototypenphase
Vorsicht: Mehr ist nicht immer besser! Auf die Wirkung kommt es an!
in Anlehnung an: WZL
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Das Ziel: Signifikante Steigerung der Entwicklungsproduktivität
Lean Thinking beschreibt die Fokussierung auf echte
Wertschöpfung und die Vermeidung von Verschwendung als obersten Grundsatz. Dieses Verständnis
für Wertgenerierung aus Kundensicht ist für das
Innovationsmanagement im Unternehmen besonders
entscheidend, aber gerade dort heute noch drastisch
unterrepräsentiert. Ziel von Lean Innovation ist es, die
Grundsätze des Lean Thinking auf das Innovationsmanagement systematisch zu übertragen.
Bislang wurde dieser Übertrag in ersten Ansätzen
begonnen, aber keineswegs systematisch vollzogen.
Entsprechend zeigt eine Befragung des Werkzeugmaschinenlabors WZL der RWTH Aachen und
der Schuh & Co. GmbH unter 165 produzierenden
Unternehmen in Deutschland, dass erst ein Drittel
überhaupt begonnen hat, eine systematische Identifikation von Verschwendung in der Produktentwicklung
durchzuführen.
Die Lean Innovation-Systematik beruht auf
12 Prinzipien:
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12 Lean Innovation Prinzipien
Strategische Positionierung mit dominanten Fähigkeiten
ƒƒProaktiver Aufbau verteidigbarer strategischer Erfolgspositionen und dominanter
Fähigkeiten, die zu Wettbewerbsvorteilen im Markt führen
ƒƒKaskadenförmige Erarbeitung und Kommunikation der Strategie als Rahmen für
zielgerichtete verschwendungsfreie Entwicklungsarbeit
Klare Hierarchisierung von Kundenwerten und Projektzielen
ƒƒWertanforderungen der Stakeholder transparent strukturieren
ƒƒAnforderungen und Projektziele eindeutig hierarchisieren, um Kundennutzen
exakt zu treffen und Zielkonflikte sowie Verschwendung in Entwicklungsprojekten zu vermeiden
Roadmapping für Produkte und Technologien
ƒƒCross-funktionaler Diskurs zur Festlegung der Produkt-, Technologieund Projektplanung
ƒƒSystematische Technologiefrüherkennung und -planung zur fokussierten,
verschwendungsfreien Technologieentwicklung
Produktarchitekturgestaltung durch Funktions- und Technologiemodelle
ƒƒDefinition von Modulen mit standardisierten und entkoppelten Schnittstellen
ƒƒWiederverwendung von Anforderungen, Funktionen und Technologien
bei der Produktentwicklung
Sortimentsoptimierung durch Merkmals-Klassifizierung
ƒƒBewertung des Nutzens der Produktvielfalt
ƒƒAnalyse der Komplexitätskosten
ƒƒGezielte Fokussierung auf wirtschaftliche Produktvarianten
Lösungsraum-Steuerung durch Freiheitsgrade und Design-Sets
ƒƒSystematische, parallele Betrachtung von Lösungsalternativen bei neuen Produktfunktionen („Set Based Design“)
ƒƒSukzessive Eingrenzung von Freiheitsgraden bei der Entwicklung
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Wertstromoptimierung durch angepasste Prozessstandardisierung
ƒƒOptimierung der Entwicklungsprozesse
ƒƒFokussierung des Wertstroms auf kundenrelevante Werte
ƒƒKonsequente Standardisierung repetitiver Prozesse zur Effizienzsteigerung
sowie eindeutig definierte Schnittstellen und Übergaben
Datenkonsistenz durch zielgerichtete Information
ƒƒIntegration und Konsolidierung bestehender Systeme
ƒƒKonsistente Produktdaten, rollenspezifischer Zugriff
ƒƒHohe Zuverlässigkeit der IT-Systeme
Projektkoordination durch Multiprojektmanagement und Taktung
ƒƒEinfache zeitliche Strukturierung des Entwicklungsprozesses
ƒƒStandardisierte Controlling-Charts zur Visualisierung des Projektstatus
ƒƒFrühzeitige Messung von Abweichungen
Innovationscontrolling durch Regelkreise für Prozesse
ƒƒIdentifikation der Werttreiber in der F & E
ƒƒAufstellen transparent messbarer Zielgrößen für Regelstrecken
ƒƒInstallation kurzer Feedbackschleifen zur kontinuierlichen Verbesserung
Release-Engineering durch Derivatisierung
ƒƒProdukte mit längeren Lebenszyklen werden durch Releases aus Kundensicht
dauerhaft „frisch“ gehalten
ƒƒSteuerung der Lebenszyklen einzelner Produktfunktionen
ƒƒFortführung der Produktstrukturierung im Lifecycle-Management
Kontinuierliche Verbesserung im Innovationsreifegrad-Modell
ƒƒBeschreibung des Lean Innovation-Reifegrades in fünf Stufen
ƒƒGemeinsam entwickelte Idealzustände dienen den Mitarbeitern als Orientierung
ƒƒStändiges Hinterfragen / Messen des Erreichten zur kontinuierlichen
Verbesserung der Prozesse, Strukturen, Verhaltensweisen und Hilfsmittel
ƒƒKontinuierliches Bemühen, Verschwendungen zu vermeiden
Kontakt
Dr. Stephan Krumm
Telefon: +49 241 51031 0
[email protected]
Dr. Stephan U. Schittny
Telefon: +49 241 51031 0
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Den Wert verstehen,
das ist das A und O –
F&E-spezifische Wertstromanalyse
Dr. Stephan U. Schittny
Gerade Unternehmen der Konsumgüterindustrie investieren jährlich große Summen ihres MarketingBudgets nicht mehr nur in Maßnahmen der reinen Absatzförderungen, sondern immer mehr in Marktund Kundenforschung, um die Bedürfnisse und Wünsche des Konsumenten adäquat verstehen und befriedigen zu können. Hier beginnt der Wertstrom, der über die Entwicklung entsprechender Produkte,
die Produktion auf verschiedenen Wertschöpfungsstufen, bis zu Vertrieb und Service letztendlich wieder
beim Kunden endet. Mit den Methoden und Werkzeugen der Lean Production und Lean Administration
wurden in den letzten Jahren erfolgreich die durch repetitive Tätigkeiten gekennzeichneten Abschnitte
dieses Wertstroms optimiert. Die expliziten Herausforderungen der Produktentwicklung, deren Prozesse vergleichsweise stärker durch Kreativität und Einmaligkeit geprägt sind, wurden jedoch nur wenig
adressiert. An diesem Punkt setzt die F&E-spezifische Wertstromanalyse (WSA) an.
Wert und Verschwendung in der F&E
Ausgangspunkt einer Innovation ist die einfache
Kommunizierbarkeit des Vorteils eines Produktes. Nur
durch transparente, am Wertverständnis aus Kundenperspektive ausgerichtete Entwicklungsziele, können
die Prozesse und Abläufe und schließlich die Produkteigenschaften konsequent wertorientiert und verschwendungsfrei gestaltet werden. Die Optimierung
von Produktionsprozessen zielt auf eine möglichst
effiziente Erzeugung eines vollständig definierten
Produktes ab. Dies ist ein fundamentaler Unterschied
zu Innovationsprozessen, in denen das Produkt noch
gestaltet werden kann und die Optimierung sowohl
auf eine effiziente Erstellung als auch auf ein effektives Ergebnis abzielen muss.
Daher hat es sich in Analyseprojekten für Innovationsprozesse bewährt, nicht nur die klassischen sieben
Verschwendungsformen nach Womack und Jones und
ihre Entsprechungen in der Produktentwicklung, wie
Wartezeiten, Hand-offs oder Stop-and-go-Bearbeitung
zu betrachten (Abb. 1), sondern zusätzlich Defizite
der Kundenorientierung, des Innovationsgrades oder
des Gleichteileanteils des Produktes zu identifizieren.
Diesem Aspekt kommt eine besonders große Bedeutung zu, da ein einmal verabschiedetes Lastenheft, eine
Produktarchitektur oder ein fertiges Service-Konzept
wesentlich die Freiheitsgrade determinieren, innerhalb
derer sich die nachfolgenden Bereiche noch optimieren können. Kurz gesagt, das Ergebnis der Entwicklung legt immer auch einen gewissen Teil an nicht
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mehr vermeidbarer Verschwendung in nachfolgenden
Bereichen wie Montage, Qualitätssicherung oder Serviceleistungen fest.
Wie die klassische WSA unterscheidet die F&E-spezifische WSA zwischen wertschöpfenden Tätigkeiten,
notwendiger Stützleistung und Verschwendung. Die
Identifikation von Verschwendungsformen, wie oben
beschrieben, gestaltet sich dabei wesentlich einfacher
als die Bestimmung des Wertes einer Tätigkeit in der
Produktentwicklung. Wie ist beispielsweise der Output
des Prototypenbaus eines großen Automobil-OEM’s
zu bewerten? Keiner der drei- bis fünftausend physischen Prototypen, die in ihrem Aufbau ein Vielfaches
eines Serienautomobils kosten, erreicht je einen Endkunden. Das durch Aufbau und Erprobung erzielte
Know-how steckt jedoch zu einem gewissen Teil in
jedem ausgelieferten Fahrzeug. Wie viele Prototypen
sollten je Modell oder je ausgeliefertem Fahrzeug im
optimalen Fall gebaut und erprobt werden, bevor die
Qualität beginnt nachzulassen? Die Problematik, die
in der Beantwortung dieser Frage steckt, liegt ganz
allgemein in den nicht offensichtlichen Werttreibern
der Innovationsprozesskette. Werttreiber stellen
beeinflussbare Faktoren dar, die eine hohe Relevanz
für das finanzielle Ergebnis eines Unternehmens bzw.
einer Unternehmenseinheit besitzen. Der Werttreiber
eines Schritts im Innovationsprozess leitet sich dabei
aus dem Kundenwert und der Produktstrategie des
Unternehmens ab, die in einem Wertesystem zusammengeführt werden sollten. Im Wertesystem werden
die Wertvorstellungen der Stakeholder des Wertstroms
Abb. 1: Verschwendung im Entwicklungsprozess und im Produkt
erfasst und transparent strukturiert. Erst mit der Benennung des eigentlichen Werttreibers für bestimmte
Phasen des Innovationsprozesses kann in der Wertstromanalyse letztlich die Bewertung des Wertschöpfungsgrades erfolgen (Abb. 2).
Die Wertstromanalyse im Praxiscase
Am Beispiel der Optimierung des F&E-Bereichs eines
Konsumgüterherstellers wird im Folgenden das Vorgehen in WSA-Projekten näher erklärt. Die Erfolgsposition des Unternehmens besteht darin, seinen Kunden
Technologien und Design-Trends in neuen, bedürfnisgerechten Lösungen anzubieten. Übergeordnetes
Ziel des WSA-Projektes war es, die Effizienz und
Effektivität des Produktentwicklungsprozesses zweier
ausgewählter Produktgruppen zu steigern.
Im Vorfeld des ersten Workshops wurde als Prozessabschnitt die Konzeptphase und frühe Prototypenentwicklung festgelegt. Anschließend wurde ein repräsentatives Entwicklungsprojekt ausgesucht, anhand
dessen der Prozess exemplarisch analysiert werden
sollte und die relevanten Stakeholder aus Marketing,
Design, Entwicklung und dem Testlabor wurden
benannt.
In einem ersten Workshop wurde die Aufnahme des
Ist-Wertstroms mit den Teilnehmern vorbereitet.
Dazu wurde ein kurzes Review des gewählten Entwicklungsprojekts gemeinsam durchgeführt, um erste
charakteristische Defizite zu identifizieren. Ergänzend
dazu wurde die strategische Top-down-Perspektive
des Entwicklungsleiters definiert. Zur Aufnahme des
Wertstroms im zweiten Workshop kommt die auch in
der Lean Administration übliche Schwimmbahn-Darstellung zum Einsatz, die jedem der Stakeholder des
Prozesses eine eigene Bahn zuordnet und so Übergabepunkte durch den Wechsel zwischen den Schwimmbahnen abbildet (Abb. 3).
Wichtig ist vor der Prozessaufnahme die Festlegung
des Detaillierungsgrades in Abhängigkeit von der
Größe und Komplexität des abzubildenden Prozesses. Der im Projekt betrachtete Prozess hatte eine
typische Durchlaufzeit von sechs bis neun Monaten,
daher kamen für den Detaillierungsgrad nur Prozessschritte mit einer Dauer von ein bis zwei Wochen in
Betracht. Für den wichtigen Abstimmungsprozess
von Designentwurf und Architekturkonzept wurde
jedoch eine etwas feinere Auflösung gewählt, um den
Informationsfluss korrekt abbilden zu können. Für die
Prozesselemente wurden Prozess-Input und -Output
aufgenommen und eine Charakterisierung nach Tätigkeitsart, Wertschöpfungs- und Standardisierungsgrad
durchgeführt. Weitere Prozessparameter zur Detaillierung sind die Übergangszeit, die Prozesszeit, eingesetzte Hilfsmittel und Ausschussraten. Zur Festlegung
des Wertschöpfungsgrades wurde die übliche Prozess-
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Abb. 2: Wertesystem und Werttreiber im Innovationsprozess
sicht um eine Wertsicht ergänzt, in der die Werttreiber
der Stakeholder in den jeweiligen Entwicklungsphasen
aufgenommen werden. Dieses Vorgehen trägt der
oben beschriebenen Problematik der Wertdefinition
in Innovationsprozessen Rechnung. Die Diskussion
der Werttreiber im Workshop führt den Teilnehmern
dabei den Beitrag ihrer Entwicklungsleistung zur Steigerung des Kundenwertes und die Interdependenzen
mit anderen Funktionsbereichen vor Augen.
Als besondere Defizite im Prozess wurden, neben
langen Durchlaufzeiten und Iterationsschleifen,
eine teilweise unsystematische Kommunikation der
Kundenwerte durch das Marketing, eine unzureichende Absicherung der ersten Entwürfe der DesignAbteilung durch Kundentests mit Design-Prototypen
und eine zu schnelle Festlegung auf ein finales
Produktkonzept festgestellt. Letztere konnte daran
festgemacht werden, dass erfahrungsgemäß beim
Scheitern eines Prototyps im Kundenakzeptanztest
weder alternative Produktkonzepte bereitstehen noch
genug Zeit für ein vollständiges Re-Design bleibt.
Als Konsequenz muss in solchen Fällen das Projekt
abgebrochen werden. In der Mehrheit der Fälle wird
das Produkt aber dennoch in den Markt eingeführt, da
ansonsten hohe Strafen aus Absprachen mit Händlern
drohen.
Nach Abschluss der Dokumentation des Ist-Prozesses
wurden zunächst Verbesserungsmaßnahmen für die
erkannten Defizite definiert und anschließend in
einem weiteren Workshop in Form eines zu realisie-
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renden Soll-Prozesses visualisiert. Als wohl radikalste
Änderung hat man sich für den Soll-Prozess auf eine
konsequent alternativenorientierte Entwicklung im
Sinne des Set-Based-Design verständigt. Das bedeutet,
dass zukünftig gezielt mehrere sich ausreichend differenzierende Lösungskonzepte in Design und Entwicklung parallel vorangetrieben werden. Die Reduzierung
der in Entwicklung befindlichen Anzahl an Konzepten
erfolgt dann nur an bestimmten Meilensteinen auf
Basis der Ergebnisse aus Markt- und Kundentests. Bei
Projekten mit einem besonders hohen Schadenspotenzial wird bis zum Ende der Entwicklungsphase
eine Fallback-Lösung mitgeführt.
Als weitere Maßnahmen wurden ein neues Vorgehen
zur Kommunikation der Kundenwerte in die Bereiche Design und Entwicklung definiert sowie der
frühzeitige Einsatz hochwertiger Design-Prototypen
und die Anpassung der Testmethoden beschlossen.
Die identifizierten Veränderungsmaßnahmen wurden
abschließend gemeinsam im Workshopteam detailliert
und in einem Aufwand-Nutzen-Portfolio bewertet.
Das Ergebnis wird in einer Roadmap-Planung festgehalten, die neben der Terminierung der Maßnahmen
insbesondere die Benennung von Verantwortlichen
aus dem Workshopteam zum Gegenstand hat, um das
Momentum des WSA-Projektes zu erhalten und in das
Tagesgeschäft der Beteiligten zu transportieren.
Durch den Einsatz der WSA wurde den Teilnehmern
das Zusammenwirken der Teilprozesse am Beispiel
und auch visuell verdeutlicht, gleichzeitig konnten
Abb. 3: Exemplarische Abbildung des Ist-Wertstroms
alltägliche Probleme einfach und gezielt im Prozess
lokalisiert und neutral diskutiert werden. Neben der
rein strukturellen Optimierung des Prozesses fördert
die WSA auch die notwendige Integration von unterschiedlichen Fachbereichen in einem gemeinsamen
Wertstrom.
Ausblick: Fließende Prozesse erzeugen!
Die Schaffung von wertorientierten Prozessen in der
Produktentwicklung anhand der WSA, wie im obigen
Beispiel geschildert, ist ein zentraler Bestandteil jeder
Lean Innovation-Initiative. Neben der Optimierung
ganzer Entwicklungsprozesse eignet sich die WSA
auch für das Re-Design von repetitiven Standardprozessen der Produktentwicklung, wie beispielsweise von
Änderungs-, Beschaffungs- oder Test- und Prüfprozessen. Um jedoch fließende Entwicklungsprozesse
realisieren zu können, bedarf es noch der Umsetzung
der zentralen Methode jedes Lean Production-Systems, der Taktung. Die Taktung adressiert eines der
Grundprinzipien industrieller Produktion, die Trennung von Planung und Ausführung. Da komplexe
Entwicklungsprojekte jedoch nicht von vornherein
vollständig deterministisch planbar sind, wird in nahezu jedem Projekt dieses Prinzip verletzt und neben
den Tätigkeiten der Entwicklung beinahe kontinuierlich weiter, um- und neu geplant. Für die Taktung der
Produktentwicklung gilt es, eine einheitliche zeitliche
Strukturierung der Abläufe zu erzielen und für die
Bearbeitung der Entwicklungsaufgabe überschaubare
Zeiteinheiten zu schaffen, die durch explizite Planungszeitpunkte separiert werden.
Zu den Planungszeitpunkten sind die Aufträge der
Produktentwicklung entsprechend des aktuellen
Kenntnisstandes und der Kundenwerte zu priorisieren und abgestimmt auf die verfügbaren Ressourcen
in den nächsten Takt einzulasten. Flankierend hierzu
werden Methoden des Visual Managements in die
Planungs- und Steuerungsprozesse des Projektmanagements integriert und die Rollen von Projektleiter
und Projektteam neu definiert. Mit der Einführung des
Taktprinzips in die F&E wird eine bessere Synchronisation der Prozesse miteinander und eine wachsende
Leistungstransparenz erzielt.
Kontakt
Dr. Stephan U. Schittny
Telefon: +49 241 51031 0
[email protected]
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Die Schuh & Co. Gruppe
Die Schuh & Co. Gruppe ist spezialisiert auf strategisches
und operatives Komplexitätsmanagement.
Mit diesem Ansatz hat sich das Unternehmen als umsetzungsorientierter Problemlöser in der Industrie profiliert.
Zum Unternehmen gehören rund 50 Mitarbeiter: Strategie-, Organisationsberater sowie Managementtrainer. Die
Heimat des Unternehmens ist Aachen, weitere Standorte
sind St. Gallen, Schweiz (seit 1991) und Atlanta, USA (seit
1997).
Standorte
Schuh & Co. GmbH
Campus-Boulevard 57
52074 Aachen, Deutschland
Telefon: +49 241 51031 0
Telefax: +49 241 51031 100
E-Mail:[email protected]
Schuh & Co. Komplexitätsmanagement AG
Rehetobelstrasse 5
9037 Speicherschwendi, Schweiz
Telefon: +41 71 243 60 00
Telefax: +41 71 243 60 01
E-Mail:[email protected]
Schuh Complexity Management, Inc.
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Telefon: +1 770 614 9384
Telefax: +1 678 730 2728
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