Mein turbulentes erstes Schuljahr Erzählt von Altbauer Peter-Gustav Hansen, niedergeschrieben von Michael Weineck. Schulbeginn mit Hindernissen Als ich 6 ½ Jahre alt war, begann für mich im April 1955 meine Schullaufbahn in der „Lüll School“. Den Schulweg musste ich im ersten Schuljahr noch zu Fuß bewältigen. Er führte mich vom Hof im Marschkoog über Wulfenbüll nach Tetenbüll-Dorf zum zweiten Haus im Westerenn. Über den alten Stockenstieg war es ein Weg von ca. 2 km Länge. Der erste Schultag begann mit meiner Mutter zusammen, damit ich den Schulweg kennenlerne. Ansonsten hatte ich allein zu gehen. An manchen Tagen traten unangenehme Hindernisse auf, die es zu meistern galt. Ende April hatte unsere Nachbarin, Emmi Schmidt, mit ihrem Sohn Jan-Jacob, kurz „Jolli“ genannt, ihren Betrieb auf Gänsehaltung umgestellt, so ca. 200 bis 300 Stück. Unter den Gänsen waren natürlich auch einige Ganter, die ihre Herde und ihr Revier bewachten. Einige Male konnte ein Ganter ausbrechen und beißen und kneifen. Das war nicht nur sehr unangenehm, es tat auch ordentlich weh. Nach einiger Zeit und mehrfacher Ermahnung durch meinen Vater wurde das endlich abgestellt. Anmerkung zu den Gänsen: Im Frühjahr wurde die jungen Bullen unseres Hofes kastriert. Die Bullenhoden wurden gegen befruchtete Gänseeier getauscht. Familie Schmidt hat die Bullenhoden als Delikatesse gegessen. Die Gänseeier aber wurden von unseren Glucken ausgebrütet. So hatte jeder etwas davon – eine Delikatesse und schmackhafte Weihnachtsgänse. Das zweite Hindernis Der Stockenstieg führte an der Hofeinfahrt von Wulfenbüll vorbei. Heute ist dort übrigens nur noch die blanke Warft zu sehen. Auf dem Hof wohnte auch der Dackel Bauke, Kurzfassung von Rabauke. Bei Sonnenschein und allgemein gutem Wetter verbrachte Bauke seine Mittagsstunde im Garten. Kam ich mittags aus der Schule und er wurde wach, verteidigte er seine Hofeinfahrt – er bellte, kniff und biss manchmal in den Unterschenkel – auch das war mehr als unangenehm, sondern tat höllisch weh. Im Gegensatz zu der Episode mit den Gantern wurden Baukes Unsitten nicht abgestellt, da der Bauer von Wulfenbüll der beste Freund meines Vaters war. Der absolute Horror Um Bauke zu umgehen, wählte ich ab dem Sommer nicht den Stockenstieg, sondern den Wulfenbüller Weg, der damals noch ein grüner, unbefestigter Weg war. Diese Wege wurden an so genannte „kleine Leute“ zur Heubergung verpachtet. Eines Hochsommertages auf dem Heimweg von der Schule stand am letzten Ende des We- ges der Pächter und mähte Gras mit seiner großen Sense. Sie wurde beim Transport zur Sicherheit mit einem Leinen- oder Getreidesack umwickelt. Ich kam dem Mäher immer näher, und er hielt plötzlich seinen großen Jutesack auf und rief: „Komm, komm, mein Junge, kleine Jungs fang ich am liebsten!“ Was sollte ich nur machen? Ich war ja schon fast zu Hause. Voller Angst entschloss ich mich, den ganzen Weg ins Dorf zurück zu laufen, weil Bauke auch schon auf der anderen Seite wartete. Mein großer Umweg führte mich über den Kirchdeich zurück zum Marschkoog. Als ich schon fast zu Hause war, kam mir meine Mutter auf dem Fahrrad entgegen, um nach mir zu suchen. Ich klagte ihr mein Leid. Sie fuhr umgehend zum Grasmäher. Dort sind dann sicherlich ein paar unschöne Worte gefallen. (Anmerkung: Der Pächter war selbst Vater von vier Kindern, das jüngste war zwei Jahre älter als ich. Er hätte wissen müssen, was sein Verhalten für ein kleines Kind bedeutete.) Im Glück Es war endlich Weihnachten! Das versprochene Fahrrad stand tatsächlich unterm Tannenbaum. Gegen Ende des Winters durfte ich im März erstmals mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Die Natur war allerdings häufig genug mein Feind. Morgens kam ich des Öfteren zu spät zum Unterricht, da starker Ostwind mir arg zu schaffen machte. (Anmerkung: Erst viel später lernte ich den Spruch kennen: „Nicht das rechtzeitige Losfahren zählt!“) Mittags hatte der Wind natürlich gedreht und kam scharf aus Westen – wieder hatte ich den Gegenwind. Ich war damals unheimlich neidisch auf meine Klassenkameradinnen Gönna Ronneburger und Frauke Luhn, heute verheiratete Thiesen. Die beiden wohnten damals östlich des Dorfes und sind morgens und mittags immer mit Rückenwind durch Leben gekommen. Einfach unfähr! Das war mein erstes Schuljahr. Eine salomonische Entscheidung Während des Unterrichts saßen die engen Freunde Kurt und Rainer zusammen auf der Schulbank. Eines Tages hatten sich die beiden um ihre Schwammdosen fürchterlich erzürnt. Sie waren absolut identisch und beim Kaufmann Loof erworben worden, heute das Haus und die Pension von Helga Schmidt. Jeder der beiden Jungen meinte, die Dose des anderen zu haben. Die Lehrerin konnte den Streit nicht schlichten. In ihrer Verzweiflung verständigte sie die Mütter der beiden Kontrahenten. Kurts Mutter konnte keinen Unterschied zwischen den Dosen feststellen. Rainers Mutter nahm eine Schwammdose in die Hand, zog aus ihrem Dutt eine lange Nadel heraus und zerkratzte die Dose. Sie gab sie ihrem Sohn zurück mit den Worten: „Das ist fortan Deine!“ Sie traf damit eine wahrlich salomonische Entscheidung – sie war ja schließlich auch die Ehefrau des Pastors. Bittere Durstlöschung Nicht nur heute, auch damals schon war ich häufig sehr durstig. In meiner Jugend gab es aber noch keine Seltersflaschen, die man den Kindern mit auf den Schulweg gab, geschweige denn Wasserleitungen. Ich aber hatte großes Glück, denn ich konnte gleich neben der „Lüll School“ wann immer ich wollte bei Tante Bischoff und Meister Pick, dem Schuster, in der Nissenhütte einen Schluck zu Trinken bekommen. Es war immer bitterer, abgestandener, lauwarmer, schwarzer Tee. Aber ich konnte dort meinen Durst löschen. Die Bischoffs waren eben sehr nette und gütige Leute, die selbst nur sehr wenig hatten. Foto von 1955: Peter-Gustav Hansen mit seiner hübschen Schwester Margret. Ausschnitt aus einer alten Eiderstedt-Karte Wege und Stockenstiege in Tetenbüll Der Stockenstieg vom Kirchdeich zur Dorfmitte Tetenbülls
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