Der andere Blick - Dokumentarfilm.info

Kultur
Nummer 13 • Montag, 18. Januar 2016
13
Tagestipp
Solo der Konzertmeisterin
Matineekonzert des Staatsorchesters am
Sonntag verpasst? Macht nichts, denn an
diesem Montag um 19.30 Uhr im Beethovensaal bietet sich eine zweite Chance,
die Konzertmeisterin Elena Graf bei
ihrem ersten Solo-Auftritt mit Bernd
Alois Zimmermanns Violinkonzert zu
hören. Außerdem dirigiert Simon Hewett
noch die sinfonische Dichtung „Die Toteninsel“ und die sinfonischen Tänze op.
45 von Sergej Rachmaninow. Restkarten
an der Abendkasse. (StN)
Was ist Realität? Sieht sie womöglich
ganz anders aus als das, was wir dafür
halten? Scheinbare Gewissheiten zu
dekonstruieren und neue Wahrnehmungen anzuregen: Das ist dem Filmund Medienkunstfestival Filmwinter in
seiner 29. Ausgabe wieder gelungen.
Glückwunsch
Von Oliver Stenzel
Der Geburtstagsmusiker
Der Mensch schaut bekanntlich selten ganz
unvoreingenommen auf eine ihm neu begegnende Sache, seine Wahrnehmung ist von
Rastern, Kategorien, Stereotypen vorgeprägt. Umso schöner ist es, wenn solche kognitiven Muster durchbrochen werden. So
mag allein der Name Teatrino Elettrico eines
Bologneser Künstlerprojekts bei manchen
Besuchern durch den Klang der Worte
Assoziationen von Putzigkeit hervorgerufen
haben, die dann bei der audiovisuellen Performance des Duos am Samstagabend im
Foyer des Theaters Rampe in kürzester Zeit
pulverisiert wurden: Ein infernalischer
Geräusch-Bilder-Cocktail, Fabriklärm und
elektronisch verzerrte Töne in rudimentärem Maschinenrhythmus, die teils an frühe
Bands des Industrial-Genres wie Throbbing
Gristle oder Einstürzende Neubauten erinnern und oft hart an der Schmerzgrenze
sind.
Feierte mit Musik seinen 50.: Rainer
Johannes Homburg Foto: Eidenmüller
Chormacher
Konformität, Selbstzensur und
Anpassung als Folgen der
Überwachungsgesellschaft
„Ceci n’est pas une Musique“ („Dies ist
keine Musik“) war passend der Titel der Performance, pfiffig den Surrealisten René
Magritte zitierend, der die Zeile „Ceci n’est
pas une pipe“ („Dies ist keine Pfeife“) unter
sein berühmtes, eine Pfeife zeigendes Gemälde „Der Verrat der Bilder“ gesetzt hatte.
Magritte habe damit betonen wollen, dass
selbst eine realistische Abbildung eines Objekts nicht mit dem Objekt identisch ist.
Was ist überhaupt Realität? Sieht sie vielleicht ganz anders aus als das, was wir dafür
halten? Solche Fragen zu stellen und neue,
auch zum gesellschaftlichen Mainstream
konträre Wahrnehmungen anzuregen gehört
glücklicherweise immer noch zum Selbstverständnis vieler Künstler. Der am Sonntag
zu Ende gegangene 29. Stuttgarter Filmwinter, treffender charakterisiert durch den Zusatztitel „Festival for Expanded Media“, hat
dies wieder einmal mit vielen so unterschiedlichen wie anregenden Werken aus
den Bereichen Film- und Medienkunst
demonstriert. Vertieft wurde dieser Fokus
durch die Programmreihe zum Festivalmotto „Formwandler“. Akuten sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungsprozessen, dem Ende der Eindeutigkeit in vielen Bereichen sollten sich diese
Veranstaltungen auf unterschiedlichste
Weise widmen.
Dass zum Auftakt der Reihe am Freitag im
Kunstraum 34 ein recht konventionell gemachter Dokumentarfilm gezeigt wurde,
war nur auf den allerersten Blick erstaunlich. In „Digitale Dissidenten“ porträtiert
Filmemacher Cyril Tuschi mehrere Whistleblower wie die ehemaligen NSA-Mitarbeiter Edward Snowden, Thomas Drake und
Der andere Blick
Filmwinter Von „Digitale Dissidenten“ bis zum „Bauangriff“
Verena Friedrichs Installation „heavythinking.org“ (Deutschland 2015)
William Binney sowie den Journalisten Daniel Ellsberg, außerdem den WikileaksGründer und Transparenz-Aktivisten Julian
Assange. Deren Aussagen kondensiert der
Film zu zentralen Fragen: Haben wir es in
einem System, das Massenüberwachung
praktiziert, noch mit einer Demokratie zu
tun? Lässt nicht eher die mit vermeintlichen
Sicherheitsinteressen begründete, intrans-
Foto: Festival
parente Datensammelwut des Staates alle
Aktivisten für die in demokratischen Verfassungen garantierten Menschenrechte zu
Dissidenten werden? Und welche Folgen
kann das Leben in einer Überwachungsgesellschaft haben, selbst wenn man die Überwachung nicht unmittelbar spürt?
Den größten Publikumsandrang verzeichnete indes der Kurzfilmwettbewerb,
Info
Die Preisträger des 29. Stuttgarter Filmwinters
¡ Kategorie „Internationale Kurzfilme“: Den
Norman 2016 (4000 Euro), gestiftet von der
Landeshauptstadt Stuttgart, erhält Sebastian
Gimmel für „Approaching the Puddle“.
¡ Kategorie „2 Minutes Short Film Award“:
Den Preis der Jury (1500 Euro) für die Arbeit
eines Nachwuchskünstlers bis 35 Jahre,
gestiftet von der Klett-Gruppe, erhält Eva
Becker für ihren Film „The Beatles, Peter
and me“.
¡ Der „Wand 5 Ehrenpreis“ geht an Max Grau
für „Craving for Narrative“
¡ Preisträger der Kategorie „Medien im Raum
und Network Culture“ ist Franz Reimer mit
seinem Performance-Film „Justice has been
done!“
¡ Den Media Preis für Network Culture erhalten Esther Polak und Ivar van Bekkum für
„The Mailman’s Bag“
und neben rein formalen Experimenten waren die jeweiligen Rollen meist so komponiert, dass man einige wiederkehrende Themen ausmachen konnte. Etwa Wohn- und
Lebensräume im siebten Programm am
Samstagabend.
So dokumentiert Laura Engelhardt etwa
in „Bauangriff“ den Zyklus von Baumaterial im Umland von Peking: Um Investorenbauten Platz zu machen, werden immer wieder komplette Ortschaften umgesiedelt, die
Bewohner können aber die Höhe der Entschädigungen durch die Höhe der auf ihren
Grundstücken liegenden Bauten mitbestimmen. So entstehen reihum völlig ungenutzte,
nur in die Höhe gebaute Mauerstrukturen,
deren Ziegel von Abrissgebiet zu Abrissgebiet wandern. Ein Kreislauf, der durch Engelhardts virtuose Kombination mit Fetzen
der knallbunten Hochglanz-Videos aus den
U-Bahnen, die in die Neubaugebiete führen,
noch absurder wirkt.
Wie kann man so leben, mag man sich da
fragen, aber vielleicht ist der Blick anderer
auf uns ja ähnlich verblüfft. Dass die Realität möglicherweise vielgestaltiger als unsere
Wahrnehmungsraster ist, daran hat der
Filmwinter mal wieder erinnert.
aus den Stuttgarter Nachrichten vom 18. Januar 2016 | Quelle: www.stuttgarter-nachrichten.de
Man kann sich zu seinem 50. von Freunden besuchen und beschenken lassen.
Man kann, wenn man Musiker ist, aber
auch tun, was man am liebsten tut: Musik machen. Rainer Johannes Homburg
hat das eine getan und das andere auch:
Am Samstagnachmittag feierte der Leiter des Stuttgarter Hymnus-Knabenchors seinen runden Geburtstag mit seinem Chor und mit dem von ihm gegründeten, farbschön und geschmeidig begleitenden Ensemble Handel’s Company
in der Stiftskirche. Glückwünsche kamen von den Dekanen Sören Schwesig
und Hans-Peter Ehrlich, und die Musik
kam vor allem von Bach. Bei dessen Motette „Komm, Jesu, komm“ und bei der
fünften Kantate aus dem „Weihnachtsoratorium“ hörte man, welch exzellente
Arbeit Homburg seit 2010 beim Hymnus
geleistet hat: Hoch konzentriert wurde
da gesungen, mit präziser Textaussprache und (meist auch) präziser Intonation,
mit gut verschmolzenen Stimmen und
lebendigem Erzählfluss. Nur dem zweiten Sopran fehlte es ein wenig an Glanz.
Ein wundervolles Fest! (ben)
Gemüse
läuft immer
Im Hallschlag zeigen die Kassierer
Haut und singen von Blumenkohl
Von Cornelius W. M. Oettle
Wer sich in ein Konzert verirrt, in dem der
Drummer plötzlich mit heruntergelassener Hose vor der Menge steht, hat’s schwer.
Sollte selbiger sich daraufhin einen Einweghandschuh über den Kopf ziehen und
versuchen, mit der Stirn in den After des
auf dem Rücken liegenden Gitarristen
einzutauchen – dann muss man dem Konzertbesucher eventuell einen Besuch beim
Psychiater finanzieren. Oder ihn diese Geschichte zumindest mit der Stuttgarter
Öffentlichkeit, den Lesern der Stuttgarter
Nachrichten teilen und somit verarbeiten
lassen. Vielen Dank, Stuttgart.
Es rappelt in der Kiste
Dreiecksbeziehungen und Bücher auf dem Kopf: Gauthier Dance mit „Out of the Box 5“ im Theaterhaus Stuttgart
Von Anne Abelein
Was verbirgt sich dieses Mal in Eric Gauthiers mysteriösem Überraschungspaket
„Out of the Box“? Zum fünften Jubiläum des
Choreografen-Formats hat Gauthier Dance
am Samstagabend acht Uraufführungen auf
die Bühne des Theaterhauses gezaubert. Dabei freut es Eric Gauthier besonders, dass er
Stücke von gleich mehreren Tänzerinnen
präsentieren konnte: „Es gibt zu wenige
weibliche Choreografen“, meint er.
Den Anfang macht Maria Prat Balasch
mit „Endless Circles“. Die Tänzer treten hier
im Ensemble und ganz in Weiß auf. Sie verkörpern ständig instabile Atome im Tanz des
Universums, wanken, vollführen archaische
Bewegungen und zucken im Schwarzlicht.
Der Einstieg kommt beim Publikum gut an.
Fragen werfen die nächsten beiden Stücke
auf: Alessio Marchini befasst sich in „Exchange“ mit dem Unterschied zwischen gesunder Selbstliebe und Egozentrik; als Höhepunkt des Stücks tauschen die Tänzer ihre
Kleidungsstücke aus. Wie kann man lernen,
geliebte Menschen gehen zu lassen?, fragt
sich Alessandra La Bella in „Not in Vain“.
Beide Choreografen zeigen also Dreierkonstellationen – aber die Stücke gestalten sich
zu vieldeutig und vage, um großen Eindruck
zu hinterlassen.
Ein Zug oder eine U-Bahn ist Schauplatz
des nächsten Stücks „Clickety-Clack, down
the Track“ von Anna Süheyla Harms: Zwei
Bilder mit verwischten Formen bilden die
Fenster, Stühle die Sitze. Tänzer steigen ein
und aus, begleiten sich oder bewegen sich
gegen den Strom. Sie sind den anderen voraus oder bleiben zurück, je nachdem. Regenschirme fungieren in dieser Choreografie
als ein reizvolles Requisit für Bewegungsimpulse, und Antonin Dvoráks dramatischmalerische Klänge kontrastieren spannungsvoll mit der alltäglichen Situation.
In Nora Browns kurzem Stück „Untitled“, das sich um eingebildete und tatsächliche Grenzen dreht, spielen die Requisiten
sogar die Hauptrolle: Die Tänzer balancieren Bücher auf dem Kopf. Nur die Solistin
Anna Süheyla Harms wirft sie ab und testet
ihren Bewegungsspielraum aus – um zum
Schluss erneut eingeengt von Bücherinsel zu
Bücherinsel zu hüpfen. Dann ist Nora
Browns choreografische Caprice aber auch
schon wieder vorbei.
Die Liebe steht in Rosario Guerras
„Goodbye Prince“ und Jonathan dos Santos’
„A.M.O.R.“ im Mittelpunkt. In Guerras
Stück treten Luke Prunty und Alessio Marchini als Paar auf den Plan, ihre weißen Masken geben dabei Rätsel auf. Geht es um eine
Erinnerung, eine Vorstellung oder eine aktuelle Situation? Alles in allem ist es ein eher
enigmatischer Abend, der große Höhepunkte und einen prägnanten choreografischen
Stil vermissen lässt, gleichwohl aber einige
interessante Ansätze bietet.
Jonathan dos Santos schwärmt in
„A.M.O.R.“ mit Sandra Bourdais und Maria
Prat Balasch von der Liebe. Die drei umgarnen zu schmachtenden Songs tänzerisch ein
Bett und eine Parkbank unter der Laterne
und rufen so im Publikum Schmunzeln hervor.
Ganz anders im Charakter präsentiert
sich David Rodriguez’ „Some People“: Die
Choreografie, so Rodriguez, sei seinen diskriminierten Brüdern und Schwestern gewidmet, „die noch immer jeden Tag für das
kämpfen müssen, was sie sind“.
Die Vorurteile, die hier angesprochen
sind, können vielfältig sein; Sandra Bourdais, Alessandra La Bella, Luke Prunty und
Rosario Guerra stellen sich ihnen tänzerisch
energisch entgegen. Liza Minnellis ausgelassener Broadway-Song „Some People“
nach dem Original von Jule Styne setzt dabei
einen überzeugenden Schlusspunkt.
Info
Besuch bei Gauthier Dance
¡ Der Abend „Out of the Box 5“ von Gauthier
Dance ist nochmals am 19. und vom 21.bis
24. Januar im Saal T 2 des Theaterhauses
Stuttgart zu sehen.
¡ Karten gibt es täglich von 10 bis 21.30 Uhr
unter 07 11 / 4 02 07 - 20 / - 21 / - 22 / - 23
¡ „Infinity“ heißt die nächste Produktion der
Kompanie: Ab 30. April präsentiert Gauthier Dance vier Uraufführungen von Johan Inger, Nanine Linning, Cayetano Soto
und Alejandro Cerrudo, außerdem neues
von Po-Cheng Tsai, Alexander Ekman,
Charles Moulton und Hans van Manen.
¡ www.theaterhaus.de/gauthierdance
Szene aus „Endless Cycles“
Foto: Regina Brocke
Die Kassierer geben ihr Letztes – und
manchmal sogar mehr
Foto: Promo
Nach dem, sagen wir mal: Ausfall Xavier
Naidoos als deutscher Vertreter beim
Eurovision Song Contest (ESC) konnte es
nur einen logischen Nachfolger geben.
Tausende hatten für diesen bereits eine Petition unterzeichnet, als der große Schock
folgte: Der NDR hatte Die Kassierer auf
seiner Liste der zehn nominierten Künstler
für den ESC-Vorentscheid vergessen. Oder
bewusst übersehen. Am Freitag im Jugendhaus Hallschlag folgte die Trotzreaktion:
Die Kassierer ließen’s krachen.
Wölfi, der Sänger, eigentlich mit dem
Namen Wolfgang Wendland in die Welt
entsandt, zeigte sich bereits nach dem
zweiten Song splitterfasernackt. Wenig
später kam er seinem Bildungsauftrag
nach. Man wolle auf alternative Ernährungsmethoden hinweisen und spiele daher den Song „Blumenkohl am Pillemann“. Gemüse läuft halt immer.
Die Herren im Publikum präsentierten
ihren blanken Oberkörper, während der
Frontmann häufig textilfrei über die Bühne stiefelte. Hits wie „Das Schlimmste ist,
wenn das Bier alle ist“ und „Mein Glied ist
zu groß“ führten zu Masseneskalationen.
Bierbecher, die Wendlands Antlitz touchierten oder an seiner Wampe abprallten,
ignorierte er gekonnt.
Was blieb ihm auch übrig? Ein dickeres
Fell besitzt jedenfalls keiner. Beim ESC
würden Die Kassierer vermutlich besser
abschneiden als viele zuvor. Allein: Den
Verantwortlichen fehlt der Glaube.