Keun, Irmgard

Leseprobe aus:
Hiltrud Häntzschel
Keun, Irmgard
Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier.
(c) 2001 by Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg.
Rollenspiele
Biographie und Legenden
«Alter ist zum Kotzen», titelte die
Münchner «tz» am 6. April 1981
ein «Gespräch mit der Schriftstellerin Irmgard Keun (71)». Was
die Zeitungsleser nicht wissen
konnten, sondern allein die Autorin selbst: 1981 war sie schon 76
Jahre alt. Die kleine Mogelei, mit
der sich die junge schauspielernde Irmgard Keun kurz vor ihrem Schriftstellerdebüt kurzerhand um fünf Jahre jünger und
damit zum jugendlichen Wundertalent gemacht hatte, holte sie
im Alter wieder ein. «Siebenmal war sie per Schiff in Amerika»,
heißt es weiter in der «tz». «Weil sie Nazi-Gegnerin war und
viele Juden zu ihren Freunden zählte, emigrierte sie 1936. Ihr
Leben verlief abenteuerlich. ‹Ich bin 3000mal gefragt worden,
warum ich das nicht aufschreibe. Jetzt bin ich dabei.› Wann
wird das neue Buch fertig? ‹Ich nehme an: Weihnachten. Sollte
ich vorher die Geduld verlieren, lasse ich alle meine Gestalten
umkommen – bei einem Zugunglück oder einer Schiffskatastrophe!› Vorläufiger Titel: ‹Kein Anschluß unter dieser Nummer.›» In Wahrheit war sie genau einmal in Amerika, und die
Ankündigung der Autobiographie diente wohl eher zur Abwehr der auf Neues gierigen literarischen Öffentlichkeit. Es
gibt nicht einmal Bruchstücke.
Irmgard Keun hatte zur Wahrheit ihrer Lebensumstände
ein ganz spezielles Verhältnis: mal aufrichtig, mal leichtsinnig,
mal erfinderisch aus Sehnsucht nach Erfolg, mal phantasievoll
aus Lust, unehrlich aus Not, mal verschwiegen aus Schonung.
Ob dieser Umgang mit der Wahrheit schon als krankhafter Zug
7
1905 – 82
und also als Pseudologie einzustufen ist, bleibt für die Würdigung ihres Werkes unerheblich. Was die Äußerungen zur eigenen Person angeht, ist Vorsicht geboten: Die dürren Fakten ihrer Biographie kennen wir – wenngleich lückenhaft – aus amtlichen Dokumenten.
Zahlreich sind die Äußerungen von Menschen, die ihr begegnet sind. In solchen Erinnerungen spiegelt und bricht sich
ihr Bild auf vielfältige, auf schillernde Weise, aber wir müssen
sie immer als persönliche, nicht als objektive Wahrnehmungen lesen.
Überliefert (aber erst Ende der achtziger Jahre aufgefunden) sind über 250 Briefe an ihren emigrierten Freund Arnold
Strauss, einige Briefe an ihren zeitweiligen Ehemann Johannes
Tralow, der Briefwechsel mit dem Freund aus der guten alten
Zeit des Exils 1, Hermann Kesten. Sie geben Aufschluss über ihre
Arbeit, über ihre Befindlichkeit, über ihre Sehnsüchte, ihre
Hoffnungen und Verzweiflungen. Als Nachweise für ihre faktische Lebenssituation sind sie nur mit Behutsamkeit zu verwenden. Zu oft hat Irmgard Keun ihre Situationsberichte frisiert, beschönigt, dramatisiert, ja selbst ihre Gefühle für den
Briefpartner aus guten Gründen inszeniert.
Schließlich hat sie seit Ende der siebziger Jahre, seit ihrem
späten Comeback durch eine Reportage von Jürgen Serke 2 in
der Illustrierten «Stern», häufig und nicht ohne Vergnügen
Interviews gegeben, vielleicht als Ersatz oder Alternative zur
kontinuierlichen Erinnerungsarbeit an der Autobiographie.
So viele Widersprüche wie in der Summe dieser Interviews
kann es in einem Leben gar nicht geben. Christa Maerker titelt
ihr Rundfunkgespräch mit Irmgard Keun mit dem Zitat: «Ich
habe mich überall zu Hause gefühlt» 3, in Klaus Antes’ Gespräch mit ihr sagt sie: Ich fühlte mich immer wie auf der Flucht.
[. . .] Ja, ich habe immer Fluchtgefühle. Wo ich auch bin . . . 4 Wir müssen diese Äußerungen lesen als die Fortsetzung ihrer schriftstellerischen Arbeit in zahlreichen Variationen und mit einer
neuen Heldin, ihrer eigenen Person.
Zweifellos hat Irmgard Keun bei der Zeichnung der Heldinnen ihrer Romane eifrig in die Spiegel geschaut. Dennoch
8
1905 – 82
sind die Gilgi, Doris, Sanna allesamt Kunstfiguren, immer die
Geschöpfe der Autorin, nie sie selbst. Und so ist allergrößte
Vorsicht geboten, sobald wir Rückschlüsse ziehen von den Romanfiguren auf die Person der Autorin. Irmgard Keun hat diese Falle selbst aufgestellt, wenn sie Doris, das kunstseidene
Mädchen, über Leben und Schreiben sinnieren lässt: Und ich
denke, daß es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch – das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber
ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch
mehr so sein. (KuM 6) In einem anderen Gespräch mit Christa
Maerker scheint Keun sich der Frage nach ihrem Verhältnis zu
ihren literarischen Figuren in einer Weise zu stellen, die wir
ihr abnehmen müssen: Und außerdem spiele ich sehr gerne, es
sind auch Rollen, die ich gerne spiele. Das macht mir Spaß. Ich hantiere mit den Figuren. Frage: «Aber spielen Sie mit allen? Sie sind
ja praktisch jede dieser Figuren? Sie leiten die.» Keun: Ich spiele
mit allen. Das sind alles meine Rollen. Frage: «Wie weit ist da eigenes Erleben verarbeitet?» Keun: Kaum. Wenig. Mehr Beobachtung an anderen. Da hab’ ich viel zuviel Hemmungen, um meine
eigenen Erlebnisse preiszugeben. Sogar im Gespräch. 5
Gabriele Kreis, die erste Biographin Irmgard Keuns 6, hat sich
mit der halb fiktionalen Erzählung persönlicher Begegnungen
und Gespräche der Frau und Schriftstellerin angenähert, hat
einige Fakten zurechtgerückt und Ungereimtheiten geklärt.
Wo die Lücken zwischen dem biographisch Gesicherten zu
groß waren, hat sie Erzählungen eingefügt von einem Leben,
wie es hätte sein können. Auch für ihr Buch gilt, was ihr eine
andere Interviewpartnerin, die Emigrantin Charlotte Beradt,
warnend gesagt hatte: «Wie es wirklich war, werden Sie nie erfahren.» 7 1995 haben Heike Beutel und Anna Barbara Hagin
einen Sammelband vorgelegt von vereinheitlichend umgeschriebenen Gesprächen mit Menschen aus Irmgard Keuns
engerem und weiterem Lebensumfeld.8 Bis auf eine Ausnahme
(die Freundin Ria Hans) sind alle Beiträger erst Zeugen ihrer
Nachkriegszeit, und die allermeisten kennen sie erst, seit sie
9
1905
nicht mehr die Schriftstellerin Irmgard Keun ist, sondern die
Patientin, der Problemfall, die Suchtkranke mit allen Spannungen und Verletzungen, die sich für ihre Umgebung daraus
ergeben. Von ihrem Werk, um dessentwillen wir an diesem
Menschen Interesse haben, ist ernsthaft gar nicht die Rede.
Lesen wir die dokumentarischen Quellen ebenso wie die
Selbstäußerungen also mit der geratenen Vorsicht und stellen
ins Zentrum Irmgard Keuns schriftstellerisches Werk, mit dem
sie in nur zwei Jahrzehnten die deutsche Literatur um ganz
neue Gestalten, Szenerien und Sprechweisen bereichert hat.
Vier Schauplätze und Zeiträume sind es, die durch ihre
Sprachkunst literarischen Ausdruck gefunden haben: die zu
Ende gehende Weimarer Republik, das nationalsozialistische
Deutschland, die Emigration und die Nachkriegszeit.
Berliner Kindheit um 1910 –
K ö l n e r J u g e n d i m E r s t e n W e lt k r i e g
Als Irmgard Charlotte Keun am 6. Februar 1905 in Berlin-Charlottenburg zur Welt kommt, befindet sich Deutschland fest
in kaiserlich-wilhelminischer Hand. Mit Pomp heiratet der
deutsche Kronprinz Wilhelm im Juni in Berlin die Herzogin
Cecilie von Mecklenburg-Schwerin. Rilkes «Stundenbuch» erscheint und Heinrich Manns «Professor Unrat», Ludwig Thomas «Lausbubengeschichten» und Christian Morgensterns
«Galgenlieder», und in Berlin gibt es wie fast jedes Jahr eine
Gerhart-Hauptmann-Uraufführung. Irmgards Vater Eduard
Keun war Kaufmann, angestellt bei der Firma Rudolf Kroseberg, einer Importfirma für Benzin. Er wurde am 16. Juni 1868
in Werden an der Ruhr geboren, die Mutter Elsa Charlotte
Keun, geborene Haese (10. Mai 1872) stammt aus Berlin. Beide
Familien sind seit Generationen evangelisch, die väterlichen
Vorfahren lebten in der Osnabrücker Gegend, der Urgroßvater
Eduard Kattenbusch war Tuchfabrikant und stammte aus Holland. 9 In Charlottenburg herrscht immer noch Gründerzeit.
Die Stadt frisst sich Straße für Straße mit großbürgerlichen
Häusern nach Westen. Die Adresse der jungen Familie lautet:
Meineckestraße 6.10 Gleich um die Ecke geht es auf den Kur10
Die Meineckestraße in Berlin-Charlottenburg, um 1905
fürstendamm. Im ersten Jahr wohnen die Keuns im Gartenhaus, in der für Berlin typischen zweiten Häuserreihe, dann
ziehen sie in die zweite Etage des Vorderhauses, eines stattlichen Baus von 1898. Bis zur Übersiedlung nach Köln 1913
wechselt die Familie noch dreimal die Wohnung, immer in der
unmittelbaren Nachbarschaft.11
Jürgen Serke hat in jenem Interview mit Irmgard Keun,
das ihre Wiederentdeckung einleitete, ihre Kindheit (mit oder
ohne ihr Zutun) ins Großbürgerliche stilisiert: «Ihr Vater war
Fabrikant. Ein gebildeter Mann, der neun Sprachen sprach. [. . .]
Sie wuchs mit Kindermädchen und privaten Sprachlehrerinnen auf.» 12 Wir kennen keinen als Dokument überlieferten
fremden Blick auf dieses Kind. Die Großeltern lebten schon
nicht mehr, von den zahlreichen Tanten und Onkeln wissen
wir nur aus Irmgard Keuns Abstammungsnachweis.13 Für Biographen erscheint diese Kindheit wie in einem schalltoten
Raum. Auf die Frage von Klaus Antes nach ganz frühen Kindheitserinnerungen wehrte Irmgard Keun zwar ein bewusstes
Ausklammern von Kindheitseindrücken ab: Aber die Erinnerungen sind sehr verblasst. Am eindrucksvollsten war damals, dass
11
1910
ich mit fünf Jahren dieses widerliche Brüderchen bekam, da wollt’ ich
mir sogar das Leben nehmen . . .14
Die Geburt des Bruders Gerd 1910 scheint dem fünfjährigen Mädchen in der Tat zu schaffen gemacht zu haben. Über
die Erinnerung lagert sich aber in den späten Selbstaussagen
die Erzählung. Und es spielt für Irmgard Keun keine Rolle, ob
sie es so erlebt oder so erfunden hat. Wir haben ein neues Kind,
heißt ein Kapitel aus den Geschichten Das Mädchen, mit dem die
Kinder nicht verkehren durften, erschienen 1936 in Amsterdam.
Die Ich-Erzählerin, der kesse Kindermund, hadert mit der Mutter und ihrem Schicksal: [. . .] jetzt hat sie ein neues Kind und küßt
es immerzu, und ich darf ihr nichts vorlesen. Tante Millie sagt, ich
dürfte nicht, weil meine Mutter zu krank und zu schwach wäre. Aber
ich weiß genau, daß sie mich forthaben wollen, weil sie jetzt ein neues Kind haben. Sie haben ja immer gesagt, sie wollten ein artigeres
Grande Dame,
um 1908
12
«Vielleicht leihe
ich ihm mal
meinen einen
Rollschuh » :
Irmgard und Gerd
Keun, 1913
Kind als mich. Ach, wenn ich doch immer artig gewesen wäre. Aber
ich habe doch nie gedacht, daß so eine furchtbare Strafe über mich
kommen würde. [. . .] Mein Vater hat gerufen: «Gott sei Dank, endlich
ein Junge.» (Mä 33 – 35) Die klassische Familienkonstellation,
die Entthronung des Erstlings, erst recht die Degradierung des
Mädchens bei der Geburt des ‹Stammhalters›, ist aus der Perspektive der kindlichen Akteurin so scharf getroffen, dass die
Frage nach Wahrheit oder Phantasie sich für Irmgard Keun erübrigt. Immerhin hat die junge Schauspielerin Irmgard Keun,
als sie in den zwanziger Jahren beschloss, für immer ihr Alter
nach unten zu retouchieren, das Geburtsjahr des Bruders zu
dem ihren gemacht.
Es gibt keinen Anhaltspunkt, an Irmgard Keuns Bild ihrer
Eltern und ihrem Verhältnis zu ihnen zu zweifeln, wie sie es
Klaus Antes geschildert hat: der liberale und aufgeschlossene,
hilfsbereite Vater und die überhausfrauliche Mutter.15 Welch
13
1913
1921 /22
festen Halt diese Eltern trotz aller abweichenden Lebensvorstellungen ihr gegeben haben müssen, das wird nirgends so
deutlich wie in Keuns verzweifeltem Entschluss zur Rückkehr
aus dem besetzten Holland 1940 ins Elternhaus in Köln, besonders zur Mutter, als dem ihr noch einzig möglichen Fluchtpunkt.
1913 ziehen die Keuns nach Köln, wo der Vater, nun zu gleichen Teilen mit Rudolf Kroseberg Inhaber der Firma Cölner
Benzin-Raffinerie-Kroseberg GmbH, deren Geschäftsführer
wird.16 Die Firma und die wechselnden Wohnungen liegen im
Stadtteil Köln-Braunsfeld. Sesshaft wird die Familie schließlich
1921 / 22 im eigenen Haus in der Eupener Straße 19 17: Da war ja
diese ekelhafte Fabrikgegend, als das noch alles nicht bebaut war.18
1913 war Irmgard Keun acht Jahre alt. Auf Interviewfragen nach ihrer Schulzeit wird es für sie kompliziert, die fünf
getilgten Lebensjahre zu verschleiern. Über ihre kurze Schulzeit in Berlin gibt sie nicht mehr preis als: [. . .] dann kam ich mit
fünf Jahren bereits in die Schule, damit ich aus’m Weg war. Wir
hatten damals schon jüdische Freunde. Die Familie Kahn und Luise
Kratz, mit der ich zur Schule ging . . .19, und dass sie den Hang
« Da war ja diese ekelhafte Fabrikgegend » : die Eupener Straße
in Köln-Braunsfeld nach der Jahrhundertwende
14
1911
1921
hatte, sich gelegentlich wichtig zu machen. In der Fasanenstraße, nahe ihrem Wohnquartier, stand die Synagoge von
Charlottenburg. Ingrid Marchlewitz hat über die Schulakten
des Lyzeum Teschner in Köln Irmgard Keuns Schuljahre an
der Cecilienschule in Berlin-Charlottenburg von 1911 bis 1913
nachgewiesen.20 In Köln besuchte ich das Lyzeum Täschner [richtig
Teschner] in der Lindenstraße bis zum Abschluss des zehnten Schuljahres und Erhalt des Reifezeugnisses.21 Darunter ist ein Zeugnis
der so genannten mittleren Reife zu verstehen. Da hab’ ich
gleich zwei Klassen übersprungen und war überhaupt wie ein
Fremdarbeiterkind. [. . .] Die Kinder die da spielten, die gingen alle auf
die Volksschule, ich war direkt auf ’m Lyzeum, also war ich irgendwie schon ein feineres Kind, wurde schon deswegen gehaßt . . .22
Diese Bemerkung gibt ihrer Schulkarriere den Anstrich
von Frühbegabung und Exklusivität. Für das Bürgertum war
der zehnklassige Lyzeumsbesuch der bevorzugte Ausbildungsgang für die Töchter, häufig auf einer privaten, meist konfessionell ausgerichteten Schule. Nur ein ganz geringer Prozentsatz
eines Mädchenjahrgangs besuchte bis 1920 ein Gymnasium
oder eine Oberrealschule und legte die Reifeprüfung ab. Irmgard Keun besuchte das Lyzeum mit eher nachlassenden Leistungen – außer im Fach Deutsch – bis zum Abschluss mit dem
10. Schuljahr 1921.23 Rückschauend beschreibt sie sich als
Kind, das sich nicht zugehörig, das sich fremd und einsam fühlte. Dieses Bild deckt sich wenig mit dem der charmanten, witzigen jungen Schauspielerin, wie sie ihre Kolleginnen später
beschreiben.
Irmgard Keuns wache Kinder- und Jugendjahre fallen in
die Zeit des Ersten Weltkriegs. Sie muss das Ende des Kaiserreichs, die Gründung der Republik und die nachhaltigste Umwertung aller bürgerlichen Werte bewusst erlebt haben. Die
längst professionelle Schriftstellerin lässt in den Geschichten
von dem Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften
(1936) die kindliche Protagonistin einen vorwurfsvollen Brief
an den Kaiser schreiben. Darin listet sie all die sonderbaren und
traurigen Veränderungen auf, die der Krieg mit sich gebracht
hat: Die fiese Marmelade (Mä 47), die toten und gefallenen Brü15
1921
1935
der der Mutter, die Hamstertour, den fortgeschossenen Arm
vom Nachbarn, die Munitionsarbeiterinnen, im Volksmund
‹Kanarienvögel› genannt (Die mit den grünen und gelben Gesichtern und Haaren sind immer aus Munitionsfabriken, da werden sie
so, und ich kenne viele. Mä 48), der gemiedene Kriegsgefangene,
die Verwundeten und die segnende Kaiserin: Die Kaiserin legt
einem Fiebernden gütig die milde Hand auf die Stirn, und dann sind
alle Verwundeten glücklich und wollen vor Glück sterben. Um sogleich auf arglose Weise den Zynismus dieser propagandistischen Gesten satirisch aufscheinen zu lassen: So was kann ich
nicht. (Mä 50) Das ist die Literarisierung von allgemeinen Erfahrungen des Krieges, projiziert in einen kindlichen Erfahrungsund Beobachtungshorizont, der durchaus der ihre sein könnte.
Von der Schauspielschülerin
zur Schriftstellerin
1921 ist Irmgard Keuns Schulzeit zu Ende. Sie ist sechzehn
Jahre alt. Nirgendwo hat sie das Familienleben der Keuns beschrieben, das Verhältnis zum damals elfjährigen Bruder, zu
gleichaltrigen Freunden, nirgends hat sie sich über eigene
Pläne, Lebenswünsche, Berufsvorstellungen geäußert. Einzig
über gemeinsame Familienferien in Ostende ist eine private
Bemerkung erhalten: Bereits als Kind reisten meine Eltern mit mir
und meinem (längst verstorbenen) Bruder in den Ferien meistens
nach Ostende. Sogar meine Blinddarm-Operation fand in Ostende
statt. [. . .] Ostende war etwas wie Heimat für mich geworden.24 Die
Erinnerung genügte, um ihr in den ersten Wochen des Exils
das Gefühl zu vermitteln: Und Ostende war mir so vertraut.25
Ihre eigenen Angaben über die Tätigkeiten in den Jahren
nach dem Schulabschluss widersprechen sich. Und solche
Widersprüche und Lücken laden ein zu Spekulationen in der
Rekonstruktion ihrer Biographie. Der Fund ihres Lebenslaufes
macht diesen Spekulationen nun ein Ende. Sie hat ihn für den
Aufnahmeantrag in die Reichsschrifttumskammer im Dezember 1935 geschrieben, und man kann annehmen, dass sie sich
hier – eingeschüchtert von der Akribie der gläsernen Bürokratie der NS-Behörden – (fast) gänzlich an die Fakten (hier auch
16
1927
1932
an ihr korrektes Geburtsdatum) gehalten hat: Nach Abschluß
des zehnten Schuljahres kam ich von Ostern bis Weihnachten in das
Pensionat von General Kannegießer in Bad Grund im Harz, um
Haushalts- und Gartenarbeit zu lernen und um meine Kenntnisse in
englisch und französisch weiter zu pflegen. Als ich wieder bei meinen
Eltern in Köln war, besuchte ich dort die Berlitz-school und nahm Privatunterricht in Stenographie und Schreibmaschine. Nachdem ich
kurze Zeit im Betriebe meines Vaters tätig war, nahm ich eine Stellung als Stenotypistin in der damaligen Firma «Westdeutsche Gardinen Akt.Ges.», Köln, Schwerthof an, wo ich ein halbes Jahr arbeitete, um dann auf eigenen Wunsch mit einem guten Zeugnis entlassen
zu werden. Es war nämlich schon lange mein Wunsch gewesen, zur
Bühne zu gehen, und mein Vater gab mir endlich die Erlaubnis, die
Kölner Schauspielschule zu besuchen.26
Zu ihrer Entscheidung für eine Berufslaufbahn am Theater
mag neben ihrer Lust an der Selbstinszenierung die Bekanntschaft mit Johannes Tralow beigetragen haben. Aus der Bewunderung des Teenagers für den 23 Jahre älteren Theaterhelden (Schauspieler, Regisseur, Oberspielleiter, Direktor 27) wird
eine engere Beziehung, die die Übersiedlung Tralows nach
Frankfurt überdauerte und 1932 nach der Scheidung seiner
zweiten Ehe in eine dritte mit
Irmgard Keun mündet.
Die Kölner Schauspielschule ist an die Vereinigten
Stadttheater Köln angeschlossen. Mitschüler sind Ria Hans,
die spätere Kollegin und lebenslange Freundin, unter
heute noch bekannten Schauspielern Sybille Schmitz und
René Deltgen. Am 5. Juli 1927
hat Walter Hasenclevers Lustspiel «Ein besserer Herr» in
Köln Premiere, Irmgard Keun
Johannes Tralow, um 1930
17
Die Frauen
in reiferem
Alter werden
gespielt von
den Freundinnen Annemarie Schäfer,
Ria Hans und
Irmgard Keun.
spielt wie die Freundin Ria Hans eine der «Frauen im reiferen
Alter». Und wollte doch gerade siebzehn sein! Die Freundin erinnert sich: «Irmgard hatte ihren eigenen Witz, sie hat zunächst
alles mit Charme und ihrem guten Aussehen erreicht. Sie war
zwar nicht der Typ ihrer Zeit, nicht die gertenschlanke, schmale
‹Verrückte› mit überlangen Beinen, aber sie war eine auffallende Person. Wenn wir irgendwo im Lokal saßen und es kamen
junge Männer vorbei, haben die nach Irmgard geguckt, nicht
nach der aparten Sybille Schmitz.» 28 Die Schauspielausbildung
in Köln dauert knapp zwei Jahre, vom 1. Oktober 1925 bis zum
Sommer 1927. Danach erhielt ich ein Engagement als jugendliche
Salondame an das Hamburger Thalia-Theater, wo ich eine Saison
18
1927/28
1928 /29
lang tätig war.29 Es war die Spielzeit 1927 / 28, und auch Ria Hans
ging nach Hamburg, an die Kammerspiele.
Noch eine weitere Spielzeit, 1928 / 29, bleibt Irmgard Keun
bei der Bühne, diesmal tief in der Provinz, am Stadttheater in
Greifswald, als erste Heldin. 30 Ein Durchbruch über das Mittelmäßige hinaus stellt sich nicht ein, eher Langeweile. Nach der
Premiere von Maxim Gorkis «Nachtasyl» liest man in der
Greifswalder Zeitung: «Nicht ganz so glücklich war Irmgard
Keun, die die zanksüchtige Herbergswirtin Wassilissa mehr
laut als boshaft zur Darstellung brachte. Der Künstlerin fehlten
bisher ein wenig die Möglichkeiten zu reichen Nuancierungen.
Sie legt ihre Rolle allzu stark auf eine Linie fest.» 31 Sie spielt die
Magda in Gerhart Hauptmanns Märchendrama «Die versunkene Glocke», versucht sich in Hermann Sudermanns «Der
Hasenfellhändler», als eine der Königinnen in Shakespeares
« So hochelegant bin ich
in dem Pelz. Der ist wie
ein seltener Mann, der
mich schön macht durch
Liebe zu mir. » Reklameseite des Programmheftes
Nr. 71, 1927 / 28, des Thalia-Theaters in Hamburg
19
1931
«Richard III.». Die «Greifswalder Schauspiel-Bilanz» zum Ende
der Spielzeit klingt wenig ermutigend: «Die Damen Keun und
Schwarz traten trotz mancher liebenswürdiger Ansätze nicht
allzu sehr in Erscheinung.» 32 Die Zurücknahme der eigenen
Persönlichkeit zugunsten der Darstellung einer fremden Rolle
scheint ihre Sache nicht zu sein. Ihr Charme glänzt nicht auf
der Bühne, sondern hinter der Bühne und nach dem Spiel, wenn
sie mit Witz und Pfiff die Aufführungen, die Kollegen durch den
Kakao zieht. 33
Im folgenden Jahr war ich engagementlos und kehrte nach Köln
zu meinen Eltern zurück. Das Leben und die Arbeit am Theater machten mir keine Freude mehr. Ich fing an zu schreiben und schickte meine
schriftstellerischen Anfängerarbeiten dem verstorbenen Schriftsteller
Rudolf Presber, der mich dann mit seinem Urteil stark ermutigte, in
meiner Arbeit fortzufahren. 34 Immer häufiger sieht die Freundin
Ria Hans sie nun in der Freizeit schreiben, drängt sie zur ernsthaften Arbeit an ihrem Vorhaben. Das Charakteristikum von
Irmgard Keuns Stil ist von der Bühne gar nicht so weit entfernt.
So gut wie alles, was sie geschrieben hat, ist Rollenprosa. Aber
sie, die Autorin, ist es, die die Figuren erfindet und ihnen ihre
Sprache gibt. Und sie hat ihr eigentliches Metier entdeckt: Menschen beobachten, sich mit Klugheit, Witz und Gefühl in ihr
Innenleben hineinphantasieren, ihre Sehnsüchte, Eitelkeiten,
Schwächen mit Sympathie bloßlegen.
Sie arbeitet an ihrem ersten Roman. Eine Autodidaktin?
Dankbar erinnert sie sich der Lektüreanregungen durch den
Vater. 35 Am Lyzeum war es mit dem Literaturunterricht gewiss
nicht sonderlich weither gewesen. Ein Repertoire an deutscher,
vor allem zeitgenössischer Dramenliteratur kannte sie von ihrer Zeit am Theater. Zu den von ihr oder ihren Interviewpartnern erzählten Anekdoten ihres Lebens gehört die Ermunterung der unbekannten jungen Irmgard Keun durch den bereits
prominenten Schriftsteller und Arzt Alfred Döblin. Auf seiner
Vortragsreise ins Rheinland im Januar 1931 hat sie ihn nach
einer Lesung in Köln kennen gelernt. Und emphatisch habe
er ihr – so erzählt es zumindest Jürgen Serke – prophezeit:
«Wenn Sie nur halb so gut schreiben, wie Sie sprechen, erzäh20
len und beobachten, dann werden Sie die beste Schriftstellerin, die Deutschland je gehabt
hat.» 36 Für einen Aufnahmeantrag in die Reichsschrifttumskammer konnte sie sich
auf einen Alfred Döblin –
«Asphaltliterat», Jude, Emigrant – als Mentor nicht mehr
berufen. Rudolf Presber (1868
– 1935), dessen Bekanntschaft
Keun später nie erwähnt hat,
war seit 1909 Chefredakteur
der beliebten Familienzeitschrift «Über Land und Meer»
und besaß große Popularität
durch seine heiteren, episodenhaften Geschichten und
Feuilletons, ein Genre, das
Irmgard Keun, wenn sie es
auch nicht sonderlich schätzte, ihr Schriftstellerleben lang
als Broterwerb pflegte.
Um 1930
Z e i t ta f e l
1905 6. Februar: Irmgard Charlotte Keun in Berlin-Charlottenburg als Tochter des Kaufmanns
Eduard Ferdinand Keun und von
Elsa Charlotte Keun, geborene
Haese, geboren
1910 Geburt des Bruders Gerd
1913 1. April: Gründung der
Firma Cölner Benzin-Raffinerie
GmbH, Inhaber Rudolf Kroseberg,
Teilhaber und Geschäftsführer
Eduard Keun.
Umzug der Familie nach KölnBraunsfeld. Einschulung in das
evangelische Mädchenlyzeum
Teschner in Köln-Lindenthal
1921 Abschluss des Lyzeums mit
dem 10. Schuljahr. Umzug der
Familie ins eigene Haus Eupener
Straße 19
1921 – 1923 Mädchenpensionat in
Bad Grund. Berlitz-School. Privatunterricht in Stenographie und
Schreibmaschine. Mitarbeit im
väterlichen Betrieb. Stenotypistin
in der «Westdeutschen Gardinen
A.G.», Schwerthof
1925 – 1927 Besuch der Kölner
Schauspielschule. Begegnung mit
dem Regisseur und Schriftsteller
Johannes Tralow
1927 Mitwirkung an den Vereinigten Stadttheatern Köln
1927 / 28 Engagement am Hamburger Thalia-Theater
1928 / 29 Engagement am Stadttheater Greifswald
1929 Sommer: Rückkehr nach
Köln. Schreibbeginn
1931 Oktober: Gilgi, eine von uns
1932 Frühjahr: Das kunstseidene
Mädchen.
August bis Oktober: Abdruck
von Gilgi – eine von uns im «Vorwärts». Verfilmung von Gilgi
u. d. T.: Eine von uns (Paris).
17. Oktober: Heirat mit
Johannes Tralow in Cochem
1933 Keuns Bücher auf den Vorläufern der «Schwarzen Listen»
Im Mai erste Begegnung mit Arnold Strauss.
Das kunstseidene Mädchen wird beschlagnahmt. Die Ablehnung von
Umarbeitungsauflagen für ihren
neuen Roman Der hungrige Ernährer verhindern die Aufnahme in
den Reichsverband Deutscher
Schriftsteller ebenso wie das Erscheinen des Buches
1934 / 35 Ohne Genehmigung
Feuilletons in deutschen Zeitungen und Zeitschriften und im
«Pariser Tageblatt»
1935 Im Frühjahr übernimmt
Tralow die Leitung des deutschen
Theaters in Frankfurt. Keun pendelt zwischen Köln, Moselkern
und Frankfurt
1936 9. Januar: Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer.
1. April: Antrag abgelehnt.
11. April: Vertrag mit dem Verlag
Allert de Lange in Amsterdam.
4. Mai: Ankunft in Ostende. Hôtel
de la Couronne.
Juni 1936: Das Mädchen, mit dem
die Kinder nicht verkehren durften.
Seit Mitte des Jahres Zusammenleben mit Joseph Roth.
25. Oktober – 2. Dezember: Vorabdruck von Nach Mitternacht in der
«Pariser Tageszeitung».
5. November: Allert de Lange
lehnt Nach Mitternacht ab, Wechsel zum Querido Verlag.
Seit November Reise mit Joseph
Roth: Brüssel, Zürich, Wien, Lemberg
1937 Nach Mitternacht.
März: Mit Joseph Roth Vortragsreise nach Österreich, Polen,
Amsterdam, Brüssel.
April / Mai: In Salzburg.
25. Juni: Das Scheidungsurteil ist
rechtskräftig.
November: Grand Hôtel Cosmopolite Brüssel
149
1938 Januar: Trennung von Joseph Roth. Reise nach Bordighera,
Urlaubstreffen mit der Mutter aus
Deutschland, Aufenthalte in
Marseille und Nizza.
März: In New York und London
erscheint After Midnight.
April: D-Zug dritter Klasse.
24. April: Aufnahme in den
Londoner Exil-P. E. N, Deutsche
Gruppe.
13. Mai: Abfahrt nach Amerika,
bis 8. Juli. Aufenthalt bei Arnold
Strauss in Virginia Beach
11. Juli: Rückreise nach Holland.
Herbst: Kind aller Länder.
31. Dezember: Auf der Jahresliste
1938 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums
1939 27. Mai: Tod von Joseph Roth
in Paris.
Hektische Bemühungen um Visum und Ausreisemöglichkeit,
krank und in finanziellen Nöten
1940 Nach dem Einfall der deutschen Wehrmacht Mitte Mai
taucht Keun unter.
16. August: Meldung von ihrem
Selbstmord im «Daily Telegraph». Rückkehr nach Köln ins
Elternhaus.
Herbst: Treffen mit Tralow
1941 Adresse: Charlotte Tralow,
Raschdorffstr 18, Köln-Braunsfeld.
Jahresliste 1941 des schädlichen
und unerwünschten Schrifttums
unter «Tralow, Irmgard»
1943 Teilweise Zerstörung beider
Häuser der Keuns. Umzug mit
den Eltern nach Hönningen am
Rhein. Der Bruder Gerd fällt in
Russland
1946 12. Januar: Einweisung ins
Landeskrankenhaus Bonn nach
Zusammenbruch unter Alkohol.
Entlassung nach zwei Tagen.
Bis Januar 1948 Mitarbeit beim
NWDR: Wolfgang und Agathe in
«Kabarett der Zeit»
1947 Wohnung im zerbombten
Haus Eupener Str.19, KölnBraunsfeld.
Bilder und Gedichte aus der Emigration
1950 Ferdinand, der Mann mit dem
freundlichen Herzen. Sommer in
München
1951 16. Mai: Geburt der Tochter
Martina.
Einmalige Abfindung für Entschädigung der Opfer der NS-Verfolgungen: 82 300 DM
1954 Wenn wir alle gut wären
1955 Tod des Vaters.
Oktober – Dezember: Briefwechsel
für die Nachwelt von Heinrich Böll
und Irmgard Keun, bleibt unveröffentlicht.
Keun zunehmend suchtkrank
1956 Nach Mitternacht (Verlag der
Nation, DDR).
Sommeraufenthalt in der DDR
1962 Blühende Neurosen. Flimmerkistenblüten.
13. Juli: Einlieferung ins Landeskrankenhaus Düren.
26. November: Tod der Mutter.
5. Dezember: Entlassung
1966 31. März: Verkauf des Hauses
Eupener Str. 19.
22. August: Einweisung ins Landeskrankenhaus Bonn
1972 23. Dezember: Entlassung
aus der Bonner Klinik.
Wohnung in Bonn, Breite Straße
1977 Umzug nach Köln, Trajanstraße 10.
Wiederentdeckung durch
«Stern»-Serie «Die verbrannten
Dichter» von Jürgen Serke
1977 – 1980 Alle Bücher werden
bei Claassen neu verlegt, zahlreiche Interviews erscheinen
1981 Marieluise-Fleißer-Preis der
Stadt Ingolstadt
1982 5. Mai: Irmgard Keun stirbt
an einem Lungenkarzinom
1988 Entdeckung und Teilpublikation des Briefwechsels mit
Arnold Strauss