Leseprobe aus: Hiltrud Häntzschel Keun, Irmgard Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier. (c) 2001 by Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg. Rollenspiele Biographie und Legenden «Alter ist zum Kotzen», titelte die Münchner «tz» am 6. April 1981 ein «Gespräch mit der Schriftstellerin Irmgard Keun (71)». Was die Zeitungsleser nicht wissen konnten, sondern allein die Autorin selbst: 1981 war sie schon 76 Jahre alt. Die kleine Mogelei, mit der sich die junge schauspielernde Irmgard Keun kurz vor ihrem Schriftstellerdebüt kurzerhand um fünf Jahre jünger und damit zum jugendlichen Wundertalent gemacht hatte, holte sie im Alter wieder ein. «Siebenmal war sie per Schiff in Amerika», heißt es weiter in der «tz». «Weil sie Nazi-Gegnerin war und viele Juden zu ihren Freunden zählte, emigrierte sie 1936. Ihr Leben verlief abenteuerlich. ‹Ich bin 3000mal gefragt worden, warum ich das nicht aufschreibe. Jetzt bin ich dabei.› Wann wird das neue Buch fertig? ‹Ich nehme an: Weihnachten. Sollte ich vorher die Geduld verlieren, lasse ich alle meine Gestalten umkommen – bei einem Zugunglück oder einer Schiffskatastrophe!› Vorläufiger Titel: ‹Kein Anschluß unter dieser Nummer.›» In Wahrheit war sie genau einmal in Amerika, und die Ankündigung der Autobiographie diente wohl eher zur Abwehr der auf Neues gierigen literarischen Öffentlichkeit. Es gibt nicht einmal Bruchstücke. Irmgard Keun hatte zur Wahrheit ihrer Lebensumstände ein ganz spezielles Verhältnis: mal aufrichtig, mal leichtsinnig, mal erfinderisch aus Sehnsucht nach Erfolg, mal phantasievoll aus Lust, unehrlich aus Not, mal verschwiegen aus Schonung. Ob dieser Umgang mit der Wahrheit schon als krankhafter Zug 7 1905 – 82 und also als Pseudologie einzustufen ist, bleibt für die Würdigung ihres Werkes unerheblich. Was die Äußerungen zur eigenen Person angeht, ist Vorsicht geboten: Die dürren Fakten ihrer Biographie kennen wir – wenngleich lückenhaft – aus amtlichen Dokumenten. Zahlreich sind die Äußerungen von Menschen, die ihr begegnet sind. In solchen Erinnerungen spiegelt und bricht sich ihr Bild auf vielfältige, auf schillernde Weise, aber wir müssen sie immer als persönliche, nicht als objektive Wahrnehmungen lesen. Überliefert (aber erst Ende der achtziger Jahre aufgefunden) sind über 250 Briefe an ihren emigrierten Freund Arnold Strauss, einige Briefe an ihren zeitweiligen Ehemann Johannes Tralow, der Briefwechsel mit dem Freund aus der guten alten Zeit des Exils 1, Hermann Kesten. Sie geben Aufschluss über ihre Arbeit, über ihre Befindlichkeit, über ihre Sehnsüchte, ihre Hoffnungen und Verzweiflungen. Als Nachweise für ihre faktische Lebenssituation sind sie nur mit Behutsamkeit zu verwenden. Zu oft hat Irmgard Keun ihre Situationsberichte frisiert, beschönigt, dramatisiert, ja selbst ihre Gefühle für den Briefpartner aus guten Gründen inszeniert. Schließlich hat sie seit Ende der siebziger Jahre, seit ihrem späten Comeback durch eine Reportage von Jürgen Serke 2 in der Illustrierten «Stern», häufig und nicht ohne Vergnügen Interviews gegeben, vielleicht als Ersatz oder Alternative zur kontinuierlichen Erinnerungsarbeit an der Autobiographie. So viele Widersprüche wie in der Summe dieser Interviews kann es in einem Leben gar nicht geben. Christa Maerker titelt ihr Rundfunkgespräch mit Irmgard Keun mit dem Zitat: «Ich habe mich überall zu Hause gefühlt» 3, in Klaus Antes’ Gespräch mit ihr sagt sie: Ich fühlte mich immer wie auf der Flucht. [. . .] Ja, ich habe immer Fluchtgefühle. Wo ich auch bin . . . 4 Wir müssen diese Äußerungen lesen als die Fortsetzung ihrer schriftstellerischen Arbeit in zahlreichen Variationen und mit einer neuen Heldin, ihrer eigenen Person. Zweifellos hat Irmgard Keun bei der Zeichnung der Heldinnen ihrer Romane eifrig in die Spiegel geschaut. Dennoch 8 1905 – 82 sind die Gilgi, Doris, Sanna allesamt Kunstfiguren, immer die Geschöpfe der Autorin, nie sie selbst. Und so ist allergrößte Vorsicht geboten, sobald wir Rückschlüsse ziehen von den Romanfiguren auf die Person der Autorin. Irmgard Keun hat diese Falle selbst aufgestellt, wenn sie Doris, das kunstseidene Mädchen, über Leben und Schreiben sinnieren lässt: Und ich denke, daß es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch – das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein. (KuM 6) In einem anderen Gespräch mit Christa Maerker scheint Keun sich der Frage nach ihrem Verhältnis zu ihren literarischen Figuren in einer Weise zu stellen, die wir ihr abnehmen müssen: Und außerdem spiele ich sehr gerne, es sind auch Rollen, die ich gerne spiele. Das macht mir Spaß. Ich hantiere mit den Figuren. Frage: «Aber spielen Sie mit allen? Sie sind ja praktisch jede dieser Figuren? Sie leiten die.» Keun: Ich spiele mit allen. Das sind alles meine Rollen. Frage: «Wie weit ist da eigenes Erleben verarbeitet?» Keun: Kaum. Wenig. Mehr Beobachtung an anderen. Da hab’ ich viel zuviel Hemmungen, um meine eigenen Erlebnisse preiszugeben. Sogar im Gespräch. 5 Gabriele Kreis, die erste Biographin Irmgard Keuns 6, hat sich mit der halb fiktionalen Erzählung persönlicher Begegnungen und Gespräche der Frau und Schriftstellerin angenähert, hat einige Fakten zurechtgerückt und Ungereimtheiten geklärt. Wo die Lücken zwischen dem biographisch Gesicherten zu groß waren, hat sie Erzählungen eingefügt von einem Leben, wie es hätte sein können. Auch für ihr Buch gilt, was ihr eine andere Interviewpartnerin, die Emigrantin Charlotte Beradt, warnend gesagt hatte: «Wie es wirklich war, werden Sie nie erfahren.» 7 1995 haben Heike Beutel und Anna Barbara Hagin einen Sammelband vorgelegt von vereinheitlichend umgeschriebenen Gesprächen mit Menschen aus Irmgard Keuns engerem und weiterem Lebensumfeld.8 Bis auf eine Ausnahme (die Freundin Ria Hans) sind alle Beiträger erst Zeugen ihrer Nachkriegszeit, und die allermeisten kennen sie erst, seit sie 9 1905 nicht mehr die Schriftstellerin Irmgard Keun ist, sondern die Patientin, der Problemfall, die Suchtkranke mit allen Spannungen und Verletzungen, die sich für ihre Umgebung daraus ergeben. Von ihrem Werk, um dessentwillen wir an diesem Menschen Interesse haben, ist ernsthaft gar nicht die Rede. Lesen wir die dokumentarischen Quellen ebenso wie die Selbstäußerungen also mit der geratenen Vorsicht und stellen ins Zentrum Irmgard Keuns schriftstellerisches Werk, mit dem sie in nur zwei Jahrzehnten die deutsche Literatur um ganz neue Gestalten, Szenerien und Sprechweisen bereichert hat. Vier Schauplätze und Zeiträume sind es, die durch ihre Sprachkunst literarischen Ausdruck gefunden haben: die zu Ende gehende Weimarer Republik, das nationalsozialistische Deutschland, die Emigration und die Nachkriegszeit. Berliner Kindheit um 1910 – K ö l n e r J u g e n d i m E r s t e n W e lt k r i e g Als Irmgard Charlotte Keun am 6. Februar 1905 in Berlin-Charlottenburg zur Welt kommt, befindet sich Deutschland fest in kaiserlich-wilhelminischer Hand. Mit Pomp heiratet der deutsche Kronprinz Wilhelm im Juni in Berlin die Herzogin Cecilie von Mecklenburg-Schwerin. Rilkes «Stundenbuch» erscheint und Heinrich Manns «Professor Unrat», Ludwig Thomas «Lausbubengeschichten» und Christian Morgensterns «Galgenlieder», und in Berlin gibt es wie fast jedes Jahr eine Gerhart-Hauptmann-Uraufführung. Irmgards Vater Eduard Keun war Kaufmann, angestellt bei der Firma Rudolf Kroseberg, einer Importfirma für Benzin. Er wurde am 16. Juni 1868 in Werden an der Ruhr geboren, die Mutter Elsa Charlotte Keun, geborene Haese (10. Mai 1872) stammt aus Berlin. Beide Familien sind seit Generationen evangelisch, die väterlichen Vorfahren lebten in der Osnabrücker Gegend, der Urgroßvater Eduard Kattenbusch war Tuchfabrikant und stammte aus Holland. 9 In Charlottenburg herrscht immer noch Gründerzeit. Die Stadt frisst sich Straße für Straße mit großbürgerlichen Häusern nach Westen. Die Adresse der jungen Familie lautet: Meineckestraße 6.10 Gleich um die Ecke geht es auf den Kur10 Die Meineckestraße in Berlin-Charlottenburg, um 1905 fürstendamm. Im ersten Jahr wohnen die Keuns im Gartenhaus, in der für Berlin typischen zweiten Häuserreihe, dann ziehen sie in die zweite Etage des Vorderhauses, eines stattlichen Baus von 1898. Bis zur Übersiedlung nach Köln 1913 wechselt die Familie noch dreimal die Wohnung, immer in der unmittelbaren Nachbarschaft.11 Jürgen Serke hat in jenem Interview mit Irmgard Keun, das ihre Wiederentdeckung einleitete, ihre Kindheit (mit oder ohne ihr Zutun) ins Großbürgerliche stilisiert: «Ihr Vater war Fabrikant. Ein gebildeter Mann, der neun Sprachen sprach. [. . .] Sie wuchs mit Kindermädchen und privaten Sprachlehrerinnen auf.» 12 Wir kennen keinen als Dokument überlieferten fremden Blick auf dieses Kind. Die Großeltern lebten schon nicht mehr, von den zahlreichen Tanten und Onkeln wissen wir nur aus Irmgard Keuns Abstammungsnachweis.13 Für Biographen erscheint diese Kindheit wie in einem schalltoten Raum. Auf die Frage von Klaus Antes nach ganz frühen Kindheitserinnerungen wehrte Irmgard Keun zwar ein bewusstes Ausklammern von Kindheitseindrücken ab: Aber die Erinnerungen sind sehr verblasst. Am eindrucksvollsten war damals, dass 11 1910 ich mit fünf Jahren dieses widerliche Brüderchen bekam, da wollt’ ich mir sogar das Leben nehmen . . .14 Die Geburt des Bruders Gerd 1910 scheint dem fünfjährigen Mädchen in der Tat zu schaffen gemacht zu haben. Über die Erinnerung lagert sich aber in den späten Selbstaussagen die Erzählung. Und es spielt für Irmgard Keun keine Rolle, ob sie es so erlebt oder so erfunden hat. Wir haben ein neues Kind, heißt ein Kapitel aus den Geschichten Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften, erschienen 1936 in Amsterdam. Die Ich-Erzählerin, der kesse Kindermund, hadert mit der Mutter und ihrem Schicksal: [. . .] jetzt hat sie ein neues Kind und küßt es immerzu, und ich darf ihr nichts vorlesen. Tante Millie sagt, ich dürfte nicht, weil meine Mutter zu krank und zu schwach wäre. Aber ich weiß genau, daß sie mich forthaben wollen, weil sie jetzt ein neues Kind haben. Sie haben ja immer gesagt, sie wollten ein artigeres Grande Dame, um 1908 12 «Vielleicht leihe ich ihm mal meinen einen Rollschuh » : Irmgard und Gerd Keun, 1913 Kind als mich. Ach, wenn ich doch immer artig gewesen wäre. Aber ich habe doch nie gedacht, daß so eine furchtbare Strafe über mich kommen würde. [. . .] Mein Vater hat gerufen: «Gott sei Dank, endlich ein Junge.» (Mä 33 – 35) Die klassische Familienkonstellation, die Entthronung des Erstlings, erst recht die Degradierung des Mädchens bei der Geburt des ‹Stammhalters›, ist aus der Perspektive der kindlichen Akteurin so scharf getroffen, dass die Frage nach Wahrheit oder Phantasie sich für Irmgard Keun erübrigt. Immerhin hat die junge Schauspielerin Irmgard Keun, als sie in den zwanziger Jahren beschloss, für immer ihr Alter nach unten zu retouchieren, das Geburtsjahr des Bruders zu dem ihren gemacht. Es gibt keinen Anhaltspunkt, an Irmgard Keuns Bild ihrer Eltern und ihrem Verhältnis zu ihnen zu zweifeln, wie sie es Klaus Antes geschildert hat: der liberale und aufgeschlossene, hilfsbereite Vater und die überhausfrauliche Mutter.15 Welch 13 1913 1921 /22 festen Halt diese Eltern trotz aller abweichenden Lebensvorstellungen ihr gegeben haben müssen, das wird nirgends so deutlich wie in Keuns verzweifeltem Entschluss zur Rückkehr aus dem besetzten Holland 1940 ins Elternhaus in Köln, besonders zur Mutter, als dem ihr noch einzig möglichen Fluchtpunkt. 1913 ziehen die Keuns nach Köln, wo der Vater, nun zu gleichen Teilen mit Rudolf Kroseberg Inhaber der Firma Cölner Benzin-Raffinerie-Kroseberg GmbH, deren Geschäftsführer wird.16 Die Firma und die wechselnden Wohnungen liegen im Stadtteil Köln-Braunsfeld. Sesshaft wird die Familie schließlich 1921 / 22 im eigenen Haus in der Eupener Straße 19 17: Da war ja diese ekelhafte Fabrikgegend, als das noch alles nicht bebaut war.18 1913 war Irmgard Keun acht Jahre alt. Auf Interviewfragen nach ihrer Schulzeit wird es für sie kompliziert, die fünf getilgten Lebensjahre zu verschleiern. Über ihre kurze Schulzeit in Berlin gibt sie nicht mehr preis als: [. . .] dann kam ich mit fünf Jahren bereits in die Schule, damit ich aus’m Weg war. Wir hatten damals schon jüdische Freunde. Die Familie Kahn und Luise Kratz, mit der ich zur Schule ging . . .19, und dass sie den Hang « Da war ja diese ekelhafte Fabrikgegend » : die Eupener Straße in Köln-Braunsfeld nach der Jahrhundertwende 14 1911 1921 hatte, sich gelegentlich wichtig zu machen. In der Fasanenstraße, nahe ihrem Wohnquartier, stand die Synagoge von Charlottenburg. Ingrid Marchlewitz hat über die Schulakten des Lyzeum Teschner in Köln Irmgard Keuns Schuljahre an der Cecilienschule in Berlin-Charlottenburg von 1911 bis 1913 nachgewiesen.20 In Köln besuchte ich das Lyzeum Täschner [richtig Teschner] in der Lindenstraße bis zum Abschluss des zehnten Schuljahres und Erhalt des Reifezeugnisses.21 Darunter ist ein Zeugnis der so genannten mittleren Reife zu verstehen. Da hab’ ich gleich zwei Klassen übersprungen und war überhaupt wie ein Fremdarbeiterkind. [. . .] Die Kinder die da spielten, die gingen alle auf die Volksschule, ich war direkt auf ’m Lyzeum, also war ich irgendwie schon ein feineres Kind, wurde schon deswegen gehaßt . . .22 Diese Bemerkung gibt ihrer Schulkarriere den Anstrich von Frühbegabung und Exklusivität. Für das Bürgertum war der zehnklassige Lyzeumsbesuch der bevorzugte Ausbildungsgang für die Töchter, häufig auf einer privaten, meist konfessionell ausgerichteten Schule. Nur ein ganz geringer Prozentsatz eines Mädchenjahrgangs besuchte bis 1920 ein Gymnasium oder eine Oberrealschule und legte die Reifeprüfung ab. Irmgard Keun besuchte das Lyzeum mit eher nachlassenden Leistungen – außer im Fach Deutsch – bis zum Abschluss mit dem 10. Schuljahr 1921.23 Rückschauend beschreibt sie sich als Kind, das sich nicht zugehörig, das sich fremd und einsam fühlte. Dieses Bild deckt sich wenig mit dem der charmanten, witzigen jungen Schauspielerin, wie sie ihre Kolleginnen später beschreiben. Irmgard Keuns wache Kinder- und Jugendjahre fallen in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Sie muss das Ende des Kaiserreichs, die Gründung der Republik und die nachhaltigste Umwertung aller bürgerlichen Werte bewusst erlebt haben. Die längst professionelle Schriftstellerin lässt in den Geschichten von dem Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften (1936) die kindliche Protagonistin einen vorwurfsvollen Brief an den Kaiser schreiben. Darin listet sie all die sonderbaren und traurigen Veränderungen auf, die der Krieg mit sich gebracht hat: Die fiese Marmelade (Mä 47), die toten und gefallenen Brü15 1921 1935 der der Mutter, die Hamstertour, den fortgeschossenen Arm vom Nachbarn, die Munitionsarbeiterinnen, im Volksmund ‹Kanarienvögel› genannt (Die mit den grünen und gelben Gesichtern und Haaren sind immer aus Munitionsfabriken, da werden sie so, und ich kenne viele. Mä 48), der gemiedene Kriegsgefangene, die Verwundeten und die segnende Kaiserin: Die Kaiserin legt einem Fiebernden gütig die milde Hand auf die Stirn, und dann sind alle Verwundeten glücklich und wollen vor Glück sterben. Um sogleich auf arglose Weise den Zynismus dieser propagandistischen Gesten satirisch aufscheinen zu lassen: So was kann ich nicht. (Mä 50) Das ist die Literarisierung von allgemeinen Erfahrungen des Krieges, projiziert in einen kindlichen Erfahrungsund Beobachtungshorizont, der durchaus der ihre sein könnte. Von der Schauspielschülerin zur Schriftstellerin 1921 ist Irmgard Keuns Schulzeit zu Ende. Sie ist sechzehn Jahre alt. Nirgendwo hat sie das Familienleben der Keuns beschrieben, das Verhältnis zum damals elfjährigen Bruder, zu gleichaltrigen Freunden, nirgends hat sie sich über eigene Pläne, Lebenswünsche, Berufsvorstellungen geäußert. Einzig über gemeinsame Familienferien in Ostende ist eine private Bemerkung erhalten: Bereits als Kind reisten meine Eltern mit mir und meinem (längst verstorbenen) Bruder in den Ferien meistens nach Ostende. Sogar meine Blinddarm-Operation fand in Ostende statt. [. . .] Ostende war etwas wie Heimat für mich geworden.24 Die Erinnerung genügte, um ihr in den ersten Wochen des Exils das Gefühl zu vermitteln: Und Ostende war mir so vertraut.25 Ihre eigenen Angaben über die Tätigkeiten in den Jahren nach dem Schulabschluss widersprechen sich. Und solche Widersprüche und Lücken laden ein zu Spekulationen in der Rekonstruktion ihrer Biographie. Der Fund ihres Lebenslaufes macht diesen Spekulationen nun ein Ende. Sie hat ihn für den Aufnahmeantrag in die Reichsschrifttumskammer im Dezember 1935 geschrieben, und man kann annehmen, dass sie sich hier – eingeschüchtert von der Akribie der gläsernen Bürokratie der NS-Behörden – (fast) gänzlich an die Fakten (hier auch 16 1927 1932 an ihr korrektes Geburtsdatum) gehalten hat: Nach Abschluß des zehnten Schuljahres kam ich von Ostern bis Weihnachten in das Pensionat von General Kannegießer in Bad Grund im Harz, um Haushalts- und Gartenarbeit zu lernen und um meine Kenntnisse in englisch und französisch weiter zu pflegen. Als ich wieder bei meinen Eltern in Köln war, besuchte ich dort die Berlitz-school und nahm Privatunterricht in Stenographie und Schreibmaschine. Nachdem ich kurze Zeit im Betriebe meines Vaters tätig war, nahm ich eine Stellung als Stenotypistin in der damaligen Firma «Westdeutsche Gardinen Akt.Ges.», Köln, Schwerthof an, wo ich ein halbes Jahr arbeitete, um dann auf eigenen Wunsch mit einem guten Zeugnis entlassen zu werden. Es war nämlich schon lange mein Wunsch gewesen, zur Bühne zu gehen, und mein Vater gab mir endlich die Erlaubnis, die Kölner Schauspielschule zu besuchen.26 Zu ihrer Entscheidung für eine Berufslaufbahn am Theater mag neben ihrer Lust an der Selbstinszenierung die Bekanntschaft mit Johannes Tralow beigetragen haben. Aus der Bewunderung des Teenagers für den 23 Jahre älteren Theaterhelden (Schauspieler, Regisseur, Oberspielleiter, Direktor 27) wird eine engere Beziehung, die die Übersiedlung Tralows nach Frankfurt überdauerte und 1932 nach der Scheidung seiner zweiten Ehe in eine dritte mit Irmgard Keun mündet. Die Kölner Schauspielschule ist an die Vereinigten Stadttheater Köln angeschlossen. Mitschüler sind Ria Hans, die spätere Kollegin und lebenslange Freundin, unter heute noch bekannten Schauspielern Sybille Schmitz und René Deltgen. Am 5. Juli 1927 hat Walter Hasenclevers Lustspiel «Ein besserer Herr» in Köln Premiere, Irmgard Keun Johannes Tralow, um 1930 17 Die Frauen in reiferem Alter werden gespielt von den Freundinnen Annemarie Schäfer, Ria Hans und Irmgard Keun. spielt wie die Freundin Ria Hans eine der «Frauen im reiferen Alter». Und wollte doch gerade siebzehn sein! Die Freundin erinnert sich: «Irmgard hatte ihren eigenen Witz, sie hat zunächst alles mit Charme und ihrem guten Aussehen erreicht. Sie war zwar nicht der Typ ihrer Zeit, nicht die gertenschlanke, schmale ‹Verrückte› mit überlangen Beinen, aber sie war eine auffallende Person. Wenn wir irgendwo im Lokal saßen und es kamen junge Männer vorbei, haben die nach Irmgard geguckt, nicht nach der aparten Sybille Schmitz.» 28 Die Schauspielausbildung in Köln dauert knapp zwei Jahre, vom 1. Oktober 1925 bis zum Sommer 1927. Danach erhielt ich ein Engagement als jugendliche Salondame an das Hamburger Thalia-Theater, wo ich eine Saison 18 1927/28 1928 /29 lang tätig war.29 Es war die Spielzeit 1927 / 28, und auch Ria Hans ging nach Hamburg, an die Kammerspiele. Noch eine weitere Spielzeit, 1928 / 29, bleibt Irmgard Keun bei der Bühne, diesmal tief in der Provinz, am Stadttheater in Greifswald, als erste Heldin. 30 Ein Durchbruch über das Mittelmäßige hinaus stellt sich nicht ein, eher Langeweile. Nach der Premiere von Maxim Gorkis «Nachtasyl» liest man in der Greifswalder Zeitung: «Nicht ganz so glücklich war Irmgard Keun, die die zanksüchtige Herbergswirtin Wassilissa mehr laut als boshaft zur Darstellung brachte. Der Künstlerin fehlten bisher ein wenig die Möglichkeiten zu reichen Nuancierungen. Sie legt ihre Rolle allzu stark auf eine Linie fest.» 31 Sie spielt die Magda in Gerhart Hauptmanns Märchendrama «Die versunkene Glocke», versucht sich in Hermann Sudermanns «Der Hasenfellhändler», als eine der Königinnen in Shakespeares « So hochelegant bin ich in dem Pelz. Der ist wie ein seltener Mann, der mich schön macht durch Liebe zu mir. » Reklameseite des Programmheftes Nr. 71, 1927 / 28, des Thalia-Theaters in Hamburg 19 1931 «Richard III.». Die «Greifswalder Schauspiel-Bilanz» zum Ende der Spielzeit klingt wenig ermutigend: «Die Damen Keun und Schwarz traten trotz mancher liebenswürdiger Ansätze nicht allzu sehr in Erscheinung.» 32 Die Zurücknahme der eigenen Persönlichkeit zugunsten der Darstellung einer fremden Rolle scheint ihre Sache nicht zu sein. Ihr Charme glänzt nicht auf der Bühne, sondern hinter der Bühne und nach dem Spiel, wenn sie mit Witz und Pfiff die Aufführungen, die Kollegen durch den Kakao zieht. 33 Im folgenden Jahr war ich engagementlos und kehrte nach Köln zu meinen Eltern zurück. Das Leben und die Arbeit am Theater machten mir keine Freude mehr. Ich fing an zu schreiben und schickte meine schriftstellerischen Anfängerarbeiten dem verstorbenen Schriftsteller Rudolf Presber, der mich dann mit seinem Urteil stark ermutigte, in meiner Arbeit fortzufahren. 34 Immer häufiger sieht die Freundin Ria Hans sie nun in der Freizeit schreiben, drängt sie zur ernsthaften Arbeit an ihrem Vorhaben. Das Charakteristikum von Irmgard Keuns Stil ist von der Bühne gar nicht so weit entfernt. So gut wie alles, was sie geschrieben hat, ist Rollenprosa. Aber sie, die Autorin, ist es, die die Figuren erfindet und ihnen ihre Sprache gibt. Und sie hat ihr eigentliches Metier entdeckt: Menschen beobachten, sich mit Klugheit, Witz und Gefühl in ihr Innenleben hineinphantasieren, ihre Sehnsüchte, Eitelkeiten, Schwächen mit Sympathie bloßlegen. Sie arbeitet an ihrem ersten Roman. Eine Autodidaktin? Dankbar erinnert sie sich der Lektüreanregungen durch den Vater. 35 Am Lyzeum war es mit dem Literaturunterricht gewiss nicht sonderlich weither gewesen. Ein Repertoire an deutscher, vor allem zeitgenössischer Dramenliteratur kannte sie von ihrer Zeit am Theater. Zu den von ihr oder ihren Interviewpartnern erzählten Anekdoten ihres Lebens gehört die Ermunterung der unbekannten jungen Irmgard Keun durch den bereits prominenten Schriftsteller und Arzt Alfred Döblin. Auf seiner Vortragsreise ins Rheinland im Januar 1931 hat sie ihn nach einer Lesung in Köln kennen gelernt. Und emphatisch habe er ihr – so erzählt es zumindest Jürgen Serke – prophezeit: «Wenn Sie nur halb so gut schreiben, wie Sie sprechen, erzäh20 len und beobachten, dann werden Sie die beste Schriftstellerin, die Deutschland je gehabt hat.» 36 Für einen Aufnahmeantrag in die Reichsschrifttumskammer konnte sie sich auf einen Alfred Döblin – «Asphaltliterat», Jude, Emigrant – als Mentor nicht mehr berufen. Rudolf Presber (1868 – 1935), dessen Bekanntschaft Keun später nie erwähnt hat, war seit 1909 Chefredakteur der beliebten Familienzeitschrift «Über Land und Meer» und besaß große Popularität durch seine heiteren, episodenhaften Geschichten und Feuilletons, ein Genre, das Irmgard Keun, wenn sie es auch nicht sonderlich schätzte, ihr Schriftstellerleben lang als Broterwerb pflegte. Um 1930 Z e i t ta f e l 1905 6. Februar: Irmgard Charlotte Keun in Berlin-Charlottenburg als Tochter des Kaufmanns Eduard Ferdinand Keun und von Elsa Charlotte Keun, geborene Haese, geboren 1910 Geburt des Bruders Gerd 1913 1. April: Gründung der Firma Cölner Benzin-Raffinerie GmbH, Inhaber Rudolf Kroseberg, Teilhaber und Geschäftsführer Eduard Keun. Umzug der Familie nach KölnBraunsfeld. Einschulung in das evangelische Mädchenlyzeum Teschner in Köln-Lindenthal 1921 Abschluss des Lyzeums mit dem 10. Schuljahr. Umzug der Familie ins eigene Haus Eupener Straße 19 1921 – 1923 Mädchenpensionat in Bad Grund. Berlitz-School. Privatunterricht in Stenographie und Schreibmaschine. Mitarbeit im väterlichen Betrieb. Stenotypistin in der «Westdeutschen Gardinen A.G.», Schwerthof 1925 – 1927 Besuch der Kölner Schauspielschule. Begegnung mit dem Regisseur und Schriftsteller Johannes Tralow 1927 Mitwirkung an den Vereinigten Stadttheatern Köln 1927 / 28 Engagement am Hamburger Thalia-Theater 1928 / 29 Engagement am Stadttheater Greifswald 1929 Sommer: Rückkehr nach Köln. Schreibbeginn 1931 Oktober: Gilgi, eine von uns 1932 Frühjahr: Das kunstseidene Mädchen. August bis Oktober: Abdruck von Gilgi – eine von uns im «Vorwärts». Verfilmung von Gilgi u. d. T.: Eine von uns (Paris). 17. Oktober: Heirat mit Johannes Tralow in Cochem 1933 Keuns Bücher auf den Vorläufern der «Schwarzen Listen» Im Mai erste Begegnung mit Arnold Strauss. Das kunstseidene Mädchen wird beschlagnahmt. Die Ablehnung von Umarbeitungsauflagen für ihren neuen Roman Der hungrige Ernährer verhindern die Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller ebenso wie das Erscheinen des Buches 1934 / 35 Ohne Genehmigung Feuilletons in deutschen Zeitungen und Zeitschriften und im «Pariser Tageblatt» 1935 Im Frühjahr übernimmt Tralow die Leitung des deutschen Theaters in Frankfurt. Keun pendelt zwischen Köln, Moselkern und Frankfurt 1936 9. Januar: Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer. 1. April: Antrag abgelehnt. 11. April: Vertrag mit dem Verlag Allert de Lange in Amsterdam. 4. Mai: Ankunft in Ostende. Hôtel de la Couronne. Juni 1936: Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften. Seit Mitte des Jahres Zusammenleben mit Joseph Roth. 25. Oktober – 2. Dezember: Vorabdruck von Nach Mitternacht in der «Pariser Tageszeitung». 5. November: Allert de Lange lehnt Nach Mitternacht ab, Wechsel zum Querido Verlag. Seit November Reise mit Joseph Roth: Brüssel, Zürich, Wien, Lemberg 1937 Nach Mitternacht. März: Mit Joseph Roth Vortragsreise nach Österreich, Polen, Amsterdam, Brüssel. April / Mai: In Salzburg. 25. Juni: Das Scheidungsurteil ist rechtskräftig. November: Grand Hôtel Cosmopolite Brüssel 149 1938 Januar: Trennung von Joseph Roth. Reise nach Bordighera, Urlaubstreffen mit der Mutter aus Deutschland, Aufenthalte in Marseille und Nizza. März: In New York und London erscheint After Midnight. April: D-Zug dritter Klasse. 24. April: Aufnahme in den Londoner Exil-P. E. N, Deutsche Gruppe. 13. Mai: Abfahrt nach Amerika, bis 8. Juli. Aufenthalt bei Arnold Strauss in Virginia Beach 11. Juli: Rückreise nach Holland. Herbst: Kind aller Länder. 31. Dezember: Auf der Jahresliste 1938 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums 1939 27. Mai: Tod von Joseph Roth in Paris. Hektische Bemühungen um Visum und Ausreisemöglichkeit, krank und in finanziellen Nöten 1940 Nach dem Einfall der deutschen Wehrmacht Mitte Mai taucht Keun unter. 16. August: Meldung von ihrem Selbstmord im «Daily Telegraph». Rückkehr nach Köln ins Elternhaus. Herbst: Treffen mit Tralow 1941 Adresse: Charlotte Tralow, Raschdorffstr 18, Köln-Braunsfeld. Jahresliste 1941 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums unter «Tralow, Irmgard» 1943 Teilweise Zerstörung beider Häuser der Keuns. Umzug mit den Eltern nach Hönningen am Rhein. Der Bruder Gerd fällt in Russland 1946 12. Januar: Einweisung ins Landeskrankenhaus Bonn nach Zusammenbruch unter Alkohol. Entlassung nach zwei Tagen. Bis Januar 1948 Mitarbeit beim NWDR: Wolfgang und Agathe in «Kabarett der Zeit» 1947 Wohnung im zerbombten Haus Eupener Str.19, KölnBraunsfeld. Bilder und Gedichte aus der Emigration 1950 Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen. Sommer in München 1951 16. Mai: Geburt der Tochter Martina. Einmalige Abfindung für Entschädigung der Opfer der NS-Verfolgungen: 82 300 DM 1954 Wenn wir alle gut wären 1955 Tod des Vaters. Oktober – Dezember: Briefwechsel für die Nachwelt von Heinrich Böll und Irmgard Keun, bleibt unveröffentlicht. Keun zunehmend suchtkrank 1956 Nach Mitternacht (Verlag der Nation, DDR). Sommeraufenthalt in der DDR 1962 Blühende Neurosen. Flimmerkistenblüten. 13. Juli: Einlieferung ins Landeskrankenhaus Düren. 26. November: Tod der Mutter. 5. Dezember: Entlassung 1966 31. März: Verkauf des Hauses Eupener Str. 19. 22. August: Einweisung ins Landeskrankenhaus Bonn 1972 23. Dezember: Entlassung aus der Bonner Klinik. Wohnung in Bonn, Breite Straße 1977 Umzug nach Köln, Trajanstraße 10. Wiederentdeckung durch «Stern»-Serie «Die verbrannten Dichter» von Jürgen Serke 1977 – 1980 Alle Bücher werden bei Claassen neu verlegt, zahlreiche Interviews erscheinen 1981 Marieluise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt 1982 5. Mai: Irmgard Keun stirbt an einem Lungenkarzinom 1988 Entdeckung und Teilpublikation des Briefwechsels mit Arnold Strauss
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