Mittwoch, 16. Dezember 2015 wirtschaft Oberhessische Presse I23 Die Gefahr lauert in der Kabinenluft Tim van Beveren stellte Film „Ungefiltert eingeatmet“ in Marburg vor und diskutierte mit Flugbegleitern Mit dem Flugzeug in den Urlaub oder zu einem Geschäftstermin: Zahllose Menschen sitzen täglich in Fliegern. Sie gelten als sicher, schnell. Kaum einer hat vom „aerotoxischen Syndrom“ gehört. von Patricia Grähling Marburg. Der Filmemacher und Journalist Tim van Beveren recherchiert seit mehr als sieben Jahren über das sogenannte „aerotoxische Syndrom“. Nun hat er einen zweistündigen Dokumentationsfilm veröffentlicht und persönlich im Kino Palette vorgestellt. Gäste aus der Flugbranche haben im Anschluss mit ihm darüber diskutiert. Der Film ist beklemmend: Van Beveren zeigt Menschen – vor allem Piloten oder Flugbegleiterinnen – die an ähnlichen und extremen neurologischen Störungen leiden. Der Pilot Richard Westgate von British Airways ist daran vor drei Jahren verstorben, überließ seinen Körper der Wissenschaft. Und die fand heraus: Zahllose Nervenzellen von Westgate waren vergiftet, abgestorben. Verantwortlich macht der Regisseur, unterstützt von Wissenschaftlern, sogenannte „Fume-Events“, bei denen Rauch in die Kabine eindringt. Die Luft im Flugzeug wird aus der Turbine abgezapft. Manchmal könne in diese Luft das hochgiftige Schmieröl gelangen, das durch die Abdichtung leckt. Dies ist eine andere Art von „Fume-Event“, die laut van Beveren nicht sichtbar ist und oft auch nicht gerochen wird. Gemessen werde die Luftqualität an Bord nicht. So müsse der verstorbene Pilot unbewusst öfter mit Nervengift versetzte Luft Oben: Bearnairdine Baumann war ehemalige Lufthansa-Chefstewardess – heute ist sie arbeitsunfähig. Links: Regisseur und Journalist Tim van Beveren. Fotos: tvbmedia eingeatmet haben, als er gewusst habe. Eine Flugbegleiterin habe eine Nase voll eingeatmet, wurde sofort bewusstlos, ist bis heute arbeitsunfähig. Einen Zusammenhang zwischen ihrer Krankheit und ihrem Beruf schließen die Berufsgenossenschaften und die Luftfahrtindustrie aus – diese bestreiten die Existenz des „aerotoxischen Syndroms“. Die junge Frau lebt daher nun von Hartz IV. Van Beveren zeigt in seinem Film zahlreiche Zusammenhänge, erklärt die „Fume-Events“ technisch. Und zeigt auf, dass die Flugindustrie untätig sei, die Existenz abstreite und Passagiere nicht über solche Ereignisse informiere. So konnten laut Regisseur 2010 in Deutschland zwei Piloten ein Flugzeug nur mit viel Glück landen: Sie konnten kaum noch reagieren, hatten einen Tunnelblick – bis sie eine Atemschutzmaske aufsetzten. Die Crew wurde anschließend behandelt, die Passagiere gingen ahnungslos von Bord. Flugbegleiterin hat „ein mulmiges Gefühl“ Eine Flugbegleiterin, die in Frankfurt arbeitet, war bei der Premiere in Marburg. Sie habe „ein mulmiges Gefühl“ bei dem Gedanken an die Gefahren. „Wir Flugbegleiterinnen kennen das Thema, aber wir sprechen eigentlich an Bord nie darüber.“ Sie hoffe, dass das Thema durch den Film breiter diskutiert werde. „Natürlich gibt es auch ‚Smell-Vorkommnisse‘ während eines Fluges, die wir bemerken. Die melden wir dann und können direkt etwas dagegen tun.“ Einem jungen Pilotenanwärter riet van Beveren in Marburg, eine Blutprobe zu nehmen und zu sichern, bevor er oft fliege. So habe er eine Vergleichsprobe und könne nachweisen, dass er nicht schon vor dem Fliegen krank war. „Denn in Deutschland haben die Betroffenen die Beweislast.“ Als perfide bezeichnete der Regisseur, dass die Arbeitgeber genau wüssten, dass viele Crewmitglieder durch die Kabinenluft krank würden – es aber nicht akzeptierten. Und in Deutschland würde sich einzig die Gewerkschaft Cockpit intensiv mit dem Thema beschäftigen. Van Beveren erklärte, dass die Fälle sich häuften – aber auch die Forschung. Einige wichtige Studien stünden kurz vor der Veröffentlichung. In Marburg war auch ein Kritiker zu Gast, der sich als pen- sionierter Mitarbeiter des Flugzeugbauers Airbus entpuppte. Er meinte, der Film hätte viele Ungereimtheiten, zöge unbewiesene Schlüsse bezüglich der „Fume-Events“ und der erkrankten Crewmitglieder. So sei es in seiner Sicht unlogisch, dass die Piloten krank seien, die Passagiere aber nicht. Regisseur van Beveren erklärte dazu, dass im Cockpit 100 Prozent Zapfluft zugeführt werde – in der Kabine seien es indes nur etwa 40 Prozent. Der Rest sei zirkulierende Luft. Auch sagte der Kritiker, dass die Fälle statistisch gesehen irrelevant seien: So heiße es im Film, dass die Lufthansa in zwei Jahren 120 „Fume-Events“ hatte. Im Vergleich zu der Anzahl der Flugbewegungen sei dies allerdings kaum erwähnenswert. n Der Film „Ungefiltert eingeatmet“ ist heute um 17.50 Uhr in der „Palette“ zu sehen.
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