Berufswahl gleich Lebenswahl? 1/13

Berufswahl gleich Lebenswahl?
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Vets 2009 • Workshop SAVIR
Guten Tag meine Damen und Herren
Stellen Sie sich vor: Ende Woche hängen Sie ein Schild an Ihre Praxis- oder Bürotüre. Da steht drauf:
Ich bedanke mich für die Zusammenarbeit in den letzten Jahren und verabschiede mich heute definitiv aus meiner Funktion.
Gleichzeitig heisse ich Sie ab 1. Oktober an der Bonifaziostrasse willkommen
im neuen Café Medico d'espresso. Dort erhalten Sie ein exquisites Angebot
italienischer Getränke, Kleinspeisen und Süssigkeiten. Zudem werde ich jeden
Freitag ab 15.00 eine Frage- und Antwortstunde für Tierfreunde halten.
Dann reiben Sie sich zufrieden die Hände, gehen nach Hause und freuen sich auf
die neue Ära, in der Sie endlich Ihre italophile Seele ausleben können. Dass Sie
parallel gelegentlich noch Vorlesungen für den Nachwuchs halten, sei am Rande
erwähnt.
Soweit das Fantasiebeispiel, das übrigens nicht utopisch sein muss. Eine Berufskollegin von mir, ca. 50, Psychologin, Berufsberaterin, Bildungsfachfrau, führt seit
einigen Jahren eingangs der Cinque Terre eine Bar und arbeitet in der Zwischensaison an Schulevaluationsprojekten in der Schweiz.
Zum Titel des Referats:
1947 ist das Buch «Berufswahl – Lebenswahl» von Jean Ungrich erschienen. Damals waren Biografien, auch berufliche Lebensläufe, stärker tradiert als heute und
Berufswahlen öfter nachhaltig. Die Wahlmöglichkeiten waren weniger zahlreich,
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die Wahlfreiheit war eher kleiner als heute und die Berufswelt weniger durchlässig. Die aktuellen Schlagworte von Job-Change und Second Career vermitteln den
Eindruck, es sei heute alles möglich. Freiheit erlebt aber immer auch Grenzen. Sie
wissen das als Veterinärfachleute bestens. Die Freiheit zum Beispiel, das ganze
Spektrum an Behandlungs- und Heilungsmöglichkeiten einzusetzen, wird vor allem in der Landwirtschaft durch wirtschaftliche Überlegungen beschnitten.
Wahlfreiheit wird zudem auch heute noch in einem gewissen Masse erweitert oder
begrenzt durch Einflüsse finanzieller, kognitiver, konjunktureller Natur, durch die
Existenz von Impulsen oder das Fehlen solcher oder durch Altershürden, um nur
einige Beispiele zu nennen. Der Mensch selber kann die je gegebene Freiheit mutig, kreativ, unter Ausschöpfung der eigenen Ressourcen, einer positiven Einschätzung der Möglichkeiten nutzen oder umgekehrt einschränken.
Und wenn einer von Job-Change spricht, dann soll er gefälligst zuerst über seine
persönlichen Change-Erfahrungen berichten. Einsichtig will ich diesem Gebot
nachkommen:
Während zu Zeiten der Zünfte die Geburt über Stand und Beruf entscheiden
konnte, ist das 1948 im Jahr der Geburt des kleinen Peter Gisler nicht mehr
zwingend. Der Papa hofft zwar eine Weile, der Stammhalter werde dereinst
die bescheidene, selbstständige väterliche Existenz als Sattler/Tapezierer weiterführen. Spätestes nach der technischen Berufswahl erübrigt sich diese
Hoffnung. In der Lehrfirma zeichnet der Personalchef, wenn der schulmüde
Pubertierende sich wieder einmal verschläft, ein düsteres Bild der Zukunft:
«Aus dir wird nie etwas». Damit trägt er zur Überzeugung des Jünglings bei,
dass im braven Mittun im betrieblichen Umfeld die Bäume kaum in den
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Himmel wüchsen. Der junge, von Lebenserfahrung noch unangefochtene
Mann, macht sich mit 21 selbständig. Die Firma wird in den 80er-Jahren quasi mündig, nach Aktivitäten in der Konstruktion, dann im neuen Feld der
Vermittlung von technischen Mitarbeitenden bis zur Rekrutierung und Selektion von Fachkräften und Kader erlebt sie die Blüte mit neun beteiligten Köpfen. 1988 steht wieder Job-Change auf dem Programm: Eine Ausbildung zum
Berufs- und Laufbahnberater folgt, der Verkauf der Firmenanteile, die Gründung einer Beratungspraxis bringen umfassende Veränderung. Eine Coaching-Ausbildung, ein Gerontologie-NDS und in diesem Frühjahr die Neuschreibung der Dienstleistungen stellen wiederum markante Veränderungen
dar. Neben Führungs-Coaching geht es heute in meinen Beratungen um Menschen ab 40, um Fragen der Laufbahn- und Lebensgestaltung, der Übergänge,
auch in die Nacherwerbszeit.
Arbeit ist in der industrialisierten Welt ein wichtiger Lebensbestandteil, für viele
der wichtigste. Menschen identifizieren sich mit ihrem Beruf, ihrer Aufgabe. Nebst
dem Verdienen des Lebensunterhaltes gewinnen sie Status und ein Feld für soziale
Kontakte. Csikszentmihaly, emeritierter Professor für Psychologie an der University of Chicago entwickelte die Theorie des «Flow»: Nach Csikszentmihaly ist Flow
ein tiefes Gefühl der Freude und Befriedigung im völligen Aufgehen in einer Tätigkeit. Das Aufgehen ergibt sich durch Kompetenz, Begeisterung, Engagement
und durch eine starke Motivation als Basis für das Tun.
Verliert sich Motivation und Freude, wird die Arbeit zum reinen Muss, vielleicht
zur Qual. Bei der erwähnten hohen Bedeutung von Arbeit wäre das eine fatale Reduktion der Lebensqualität. Bestenfalls liesse sich dann von resignierter Arbeitszufriedenheit sprechen. Etwas Besseres als Resignation gibt es aber allemal.
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Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will Ihnen nicht allesamt ein Burn-out unterstellen und Sie jetzt zum Ausstieg aus Ihrem schönen Beruf animieren. Allerdings hat mich SAVIR wohl nicht engagiert, um an Sie zu appellieren: Liebe Tierdoktores, bleiben Sie unter allen Umständen bei Ihren Hunden, Kühen, Meer- und
anderen -sauen. Nein, SAVIR will - und das passt dann zum Kongress-Thema sozusagen Ihren Kopf fordern, damit Sie über Ihre je persönliche Arbeitszufriedenheit nachdenken.
Als der Wissenschaft Verpflichtete wissen Sie, dass es die Arbeitszufriedenheit,
die Resignation, das Burn-out nicht gibt. Es gibt letztlich immer nur die Einzelsituation.
Ich will Ihnen nun erzählen, was geschieht, wenn ein Mensch mit dem Gedanken
an Job-Change zu mir kommt, wobei ich, das sei hier eingefügt, diesen Begriff selber nicht verwende. Ich rede von Neuorientierung. Das Ergebnis einer Neuorientierung kann nach zweifelndem Gang ein aufrechtes Fortschreiten in die gleiche oder
ähnliche Richtung sein oder etwas in unterschiedlichem Masse Neues.
Eine Begriffspräzisierung: Oft wird von Laufbahn- oder Karriereplanung gesprochen, was den Widerspruch vieler hervorruft, die zu Recht fragen, ob man ein Leben planen könne. Können und wollen wir alles planen, minutiös, auf Sicherheit
bedacht? «Wer nichts dem Zufall überlässt, dem fällt nichts zu», heisst es.
Neuorientierung ist vielmehr ein Prozess und ist immer in diese untrennbare Ehe
von Mensch und Umwelt eingebunden. Diese entspricht allen gängigen psychologischen Modellen, in denen der Mensch zwar in einer bestimmten Freiheit motiva-
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tions-, kompetenz- und erfahrungsgesteuert seinen Weg in der Welt auf einer zeitlichen Achse sucht und beschreitet, ausgesetzt jedoch ständig den Einflüssen dieser
Welt. Auch die Philosophie hält sich an dieses Muster: Jasper postulierte, das Leben sei ein Ganzes aus Innenwelt und Umwelt in je besonderer Gestalt.
An dieser Gestalt zu arbeiten ist Inhalt eines Neuorientierungsprozesses. Als erstes
werde ich mit einem Menschen seine aktuelle Situation und den bisherigen Weg
dahin erkunden: Drei Grundthemen machen die Sammelarbeit der Standortbestimmung aus:
A Selbstbild/Fremdbild/Identität
Was für ein Mensch bin ich?
Wie nehme ich mich, wie nehmen andere mich wahr?
B Werte
Wie bin ich zu dem Menschen geworden, der ich bin – Sozialisierung?
Welche Werte zählen in meinem Leben, werden immer wichtiger?
Welche Lebensqualität strebe ich an?
C Ressourcen
Was habe ich im Laufe des Lebens an Kompetenzen fachlicher, methodischer,
persönlicher und sozialer Art entwickelt?
In welchem Kontext habe ich sie eingesetzt, welche Lebens- und Berufserfahrungen habe ich gemacht. Und wobei war es mir wohl?
Welche Ergebnisse habe ich mir erarbeitet, welche Erfolgserlebnisse gehabt?
Sehen wir es so, dass Laufbahngestaltung immer auch Lebensgestaltung ist, dann
führt Standortbestimmung zur Lebens-Bilanz und zur Überlegung, was auch in
Zukunft eine Rolle spielen könnte, was zurückzulassen sei und welche wünschenswerten neuen Aspekte und Inhalte in einer künftigen Lebensphase Raum
einnehmen sollen.
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Nun geht es also um die Inhalte des künftigen Lebens- und Arbeitsalltages. Es ist
sozusagen ein neuer Alltag zu erfinden. Das entstehende Bild hat visionären Charakter, ist noch ein Entwurf und bedarf präzisierender Pinselstriche. Bilder entwickeln aber Kräfte, sie ziehen.
Es gilt nun aus den Visionen reale Bilder zu erarbeiten, zu recherchieren, mit Menschen zu sprechen, die Ähnliches tun, Unternehmen, Organisationen aufzusuchen
und sich nach und nach realisierbaren Zielen und Teilzielen anzunähern. Da werden auch Netzwerke genutzt, weiter- und neu geknüpft.
So zeichnen sich allmählich konkrete Ziele und Schritte ab. Um bei unserem Eingangsbeispiel zu bleiben: Für Ihr Café Medico d'espresso werden Sie in dieser
Phase vorerst ganz spielerisch einen Business-Plan erstellen. Darin gewinnt Ihre
Vision Konturen. Die Idee entpuppt sich entweder als durchführbar oder sie zeigt
Schwachstellen, für die Abhilfe zu überlegen ist oder die Idee erweist sich als nicht
realisierbar, was nicht als Scheitern aufzufassen ist. Sie haben nämlich in diesem
Prozess so oder so bereits sehr viel gelernt. Im letzteren Fall werden Sie frei für
eine andere Idee. Vielleicht, um ein paar gängige Stichworte zu nennen:
Lehre
Forschung
Lebensmittelhygiene
Marketing, Verkauf
Produktmanagement
Beratung von Praxen
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Coaching von Einzelpersonen
Bildungsangebote im freien Markt
Aber lassen Sie uns danach fragen, was Menschen bewegt, sich zu verändern, die
Strapazen eines solchen Prozesses auf sich zu nehmen. Die Motive sind vielfältig.
Eine Möglichkeit hat klassischen Charakter: Die Arbeit, das Arbeitsgebiet, die
Technologien haben sich im Laufe der Jahre verändert, sie passen nicht mehr zu
den Neigungen des Menschen. Es kann natürlich auch umgekehrt sein, die Neigungen haben sich verändert oder es kann eine Kombination von beidem sein. Ein
gravierendes Beispiel ist der Beruf des Schriftsetzers, der vor Jahrzehnten noch
erlernt wurde. Die Neigungen waren auf eine seltene Kombination von mechanisch
technischen Vorgängen und auf Sprache gerichtet. Nicht selten wurden aus den
Bleisetzern Journalisten. Der Bleisatz verschwand, die Computerisierung brachte
mehrere neue Berufsformen hervor, die sich in rascher Folge ablösten. Die heutige
entsprechende Berufsausbildung führt zum Titel Polygraph.
Auch die Welt der Veterinärmedizin verändert sich und damit wird die Zufriedenheit tangiert. Wir würden unter allen Kongressteilnehmenden grosse Unterschiede
antreffen, wenn wir die Arbeitszufriedenheit in der je aktuellen Situation erheben
würden. Lassen Sie mich einmal spekulieren: Sie, die sich für diesen SAVIRWorkshop entschieden haben, dürften Neugier, begründetes Interesse, Fragen, Offenheit und vielleicht auch Not mitgebracht haben.
Ich will Ihnen ein Beispiel eines Menschen erzählen, wenn auch aus einer ganz
anderen Sparte, der sich zu Veränderungen entschlossen hat – freiwillig und unfreiwillig. Die Erzählung ist so verfremdet, dass die Person nicht erkennbar ist. Als
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Bespiel aus Ihrer Studienfamilie wird Ihnen anschliessend Herr Löpfe seine persönlichen Erfahrungen weitergeben.
Der Ingenieur X mit ETH-Studium
50, Projektleiter in einem Grossbetrieb. Er macht dieselbe Erfahrung wie mancher
seiner Funktionskollegen. Einst der Entwickler mit Herzblut, ist er früh zum Projektleiter geworden, der ganzen Produkte-Generationen in die Welt geholfen hat.
Gefragt war einst als Projektleiter der Entwickler, nah am Geschehen, der mit dem
gut qualifizierten Team fast kollegial von A - Z alle Prozesse leitete.
Die Veränderungen kamen schleichend. Sie hatten etwas mit der Globalisierung
der Märkte zu tun, auferlegten Qualitätsvorschriften, Strategien der Gewinnmaximierung und anderem. Heute wird an seinem Platz ein Projektmanager gefordert,
der sich nicht mit der Technologie an der Front herumschlägt, sondern dafür sorgt,
dass die Kennzahlen stimmen. Herr X fühlte sich zunehmend unwohl und wurde
auch mit Vorwürfen der Führungsunfähigkeit konfrontiert. So entschied er sich für
eine Neuorientierung.
Er war in seinen Vorstellungen offen: Technikbezug, eine gewisse Komplexität,
selbstständiges Arbeiten, eher nicht am Markt orientiert, Führungsaufgaben.
Heute leitet er das Facility-Management eines Spitals, ist für 35 Mitarbeiter, für
den Zustand der technischen Anlagen und für die Energie-Optimierung verantwortlich. Er ist, was ihm gefällt, immer wieder in technische Fragen involviert, beackert ein breites Spektrum und hat einen nahen herzlichen Bezug zu seinen Mitarbeitenden.
Wenn ich mich wieder Ihnen zuwende, stellt sich mir die Frage, welcher Art können Motive sein, die Tiermedizinerinnen und ihre männlichen Kollegen über beruf-
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liche Veränderungen nachdenken oder sich in resignativer Zufriedenheit in die Gegebenheiten schicken lassen. In Recherchen sind mir Stichworte genannt worden
wie
• Einsamkeit in der Praxis
• die Feminisierung der Veterinärmedizin (so nennt sich auch eine Studie)
• Geschlechtsrollenprobleme in der Gemeinschaftspraxis
• der Verlust der Hoffnung (zum Beispiel aufgrund der Spezialisierung), in einem
anderen Bereich Fuss fassen zu können, in der eigenen Branche oder erst recht
in einer andern
• der Druck, stets auf dem neuesten Stand sein zu müssen (TV-/Internet-Bildung
der Kunden)
• zunehmende Administration
• Ängste vor denkbaren wirtschaftlichen Problemen (in Deutschland hätten Kleintierärzte teilweise Mühe)
• Belastungen der Einzelpraxis
• regionaler Futterneid
Sie sind hier die Expertinnen und Experten. In der anschliessenden Diskussion
werden darum vielleicht Präzisierungen und noch weitere Aspekte genannt.
Falls es unter Ihnen Personen gibt, die insgeheim oder auch schon laut Überlegungen angestellt haben, ihren beruflichen Alltag zu erneuern, zu verändern, zu bereichern, dann sage ich Ihnen: Es gibt ein Leben nach dem Aufbruch! Meine Erfahrungen zeigen immer wieder, dass es Alternativen und neue Wege gibt. Es sind
nicht immer die nahe liegenden oder die konformen Dinge. Und es sind nicht immer ausschliesslich berufliche Überlegungen und Kriterien, die neue Lösungen
mitbestimmen.
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Laufbahngestaltung ist immer auch Lebensgestaltung und Lebensgestaltung hat
auch mit Lebenskunst zu tun. Gestaltung ist ein kreativer Prozess, in dem etwas
Neues entsteht. Jegliche Gestaltung, insbesondere die Lebenskunst, orientiert sich
nicht am Mainstream. Ein gestaltetes (Laufbahn)Leben ist ein waches, reflektiertes
Leben. Das tönt ein bisschen schlagwortartig – ist aber mehr als das. Es ist lebbar,
löst aber auch Ängste aus, wie alles, was als Neues ins Leben drängen könnte.
In den letzten paar Jahren habe ich einige Freunde, auch jüngere, an den Tod verloren. Obwohl mir, wie Ihnen, nicht unbekannt ist, dass wir sterblich sind, haben diese (schmerzlichen) Ereignisse die theoretisch vorhandene Einsicht nachhaltig vertieft: Leben findet jetzt statt, heute, kann nicht aufgeschoben werden. Wie wir es
gestalten und ob wir das tun, haben wir in der Hand. Je älter wir werden, desto offenkundiger wird die Aufforderung, sich auf Wesentliches zu konzentrieren und es
zu leben.
Kurt Guggenheim, der bedeutende Romancier, der 1983 87-jährig starb, lässt seinen Romanprotagonisten in «Gerufen und nicht gerufen» erkennen: «Daher werden die meisten, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, dass sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert sein, zu seh'n, dass das, was
sie so ungeachtet und ungenossen vorübergehen liessen, eben ihr Leben war, eben
das war, in dessen Erwartung sie lebten.»
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Um dieses Arbeits- und Alltags-Leben nicht nur in Erwartung einer undefinierten
Verheissung zu verbringen, ist es hilfreich, sich periodisch Fragen folgender Art zu
stellen:
• Bereitet mir Freude, was ich mache und wie ich es mache?
• Wer und was hat Raum in meinem Leben neben der Arbeit?
• Finde ich Sinn und Erfüllung in meinem Tun und Sein?
• Gibt es wichtige Aspekte, die ich nicht lebe? Was fehlt mir?
• Gibt es Träume, Verdrängtes, resignativ Abgeschriebenes?
• Wie gehe ich um mit anderen Menschen und mit mir?
• Wie gehe ich um mit meinen Ressourcen?
• usw.
Mit wem Sie Ihre Reflexionen besprechen, mit einer Fachperson, mit befreundeten
oder mit Ihnen enger liierten Menschen, ist vielleicht zweitrangig, wichtig ist, Gedanken auszusprechen, ihnen Raum zu geben, sich und seine Anliegen Ernst zu
nehmen, sie weiterzudenken.
Ich werde immer wieder nach den Erfolgsaussichten und Ergebnissen von solchen
Prozessen befragt. Beratungsresultate lassen sich kaum in Prozentzahlen ausdrücken. Befragungen von Absolventen solcher Beratungen zeigen in der Regel hohe
Zufriedenheitsquoten. Seien wir ehrlich. Solche Zahlen sagen nichts aus über die
Beratungsergebnisse, sondern über die Beziehung zwischen Berater und Ratsuchenden. Das ist auch wichtig, weil eine Beratung nur gelingen kann, wenn die
Beziehung gut ist. Wird eine Beratung also zu Ende geführt, kann man von einer
guten Beziehung ausgehen, ergo die hohen Quoten.
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Vets 2009 • Workshop SAVIR
Ich habe aus langjähriger Erfahrung, aus schriftlichen Berichten und Gesprächen,
die oft lange nach der Beratung datieren, eine für mich zentrale Schlussfolgerung
gezogen:
Während eines solchen Gestaltungsprozesses wird Offenheit geschaffen, der Rahmen eingeengter Vorstellungen wird gesprengt. Die Kreation einer Vision kann
den Blick auf Bilder eines künftigen Alltages öffnen, kann konkrete Ziele und
Teilziele, Schritte und Schrittchen ermöglichen. Was dann oft geäussert wird, ist,
auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, folgende Aussage: «Und dann hat sich
ergeben...». Geht man dem auf den Grund, zeigt sich, dass diese Menschen Situationen, Chancen, Angebote wahrgenommen haben, die sie ohne die errungene Offenheit übersehen hätten. Aufgrund der erfolgten Reflexionen sind Beurteilungskriterien schon da und klar, die Entscheidungszeit ist kurz. Aber auch die aktive
Recherche nach Neuem findet durch die erweiterte Offenheit weitflächigere Jagdgründe. Übrigens kommt es nicht selten vor, dass dabei im eigenen Berufsfeld oder
in der aktuellen Arbeit, ohne Seitensprung, innovative Prozesse eingeläutet werden.
Auf meiner Website gisler-coach.ch finden Sie gegen 30 Porträts von Menschen
mit spannenden Lebensläufen in Bild und Text – darunter übrigens auch die BarPsychologin aus der Cinque Terre.
Ich bin nun am Schluss, kann es allerdings nicht lassen, Ihnen noch eine kürzlich
persönlich erlebte Begebenheit zu erzählen. Es ist für mich ein Beispiel besonderer
Arbeitshaltung, und das unter denkbar schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen:
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Vets 2009 • Workshop SAVIR
Es ist eine komfortable Situation, den direkten Bus zum Berliner Flughafen
Tegel vor der Nase zu haben, zugänglich mit einem Fahrschein für bescheidene zwei Euro zehn. An der Haltestelle erwartet mich ein Taxi. Eingedenk Berliner Cleverness sagt meine innere Stimme hämisch: «Ich werde nicht ohne
Not 20 Euro ausgeben und erst noch mit einem Billet im Sack.» «Guten Tag,
ich fahre Sie nach Tegel, dahin wollen Sie doch, für 5 Euro – ist das ein Angebot?» «Ich besitze bereits einen Fahrschein», meine Antwort. «Ich nehme
ihn an Zahlung, also Ticket plus zwei Euro neunzig». «Rentiert das?», frage
ich den munteren Enddreissiger. «Man muss sich heute etwas einfallen lassen
und ich fahre sowieso zum Flughafen, weil ich jemanden abholen soll. Das
sind also ein paar Euro für die Leerfahrt. Ich werde an der nächsten Haltestelle versuchen, noch ein, zwei Personen aufzuladen, wenn Ihnen das nicht unrecht ist», ergänzt er. Das schafft er auch und wir sind also drei Fahrgäste.
Nach dem definitiven Start wendet er sich uns zu: «So, nun stelle ich Ihnen
Quizfragen. Für jede richtige Antwort kriegen Sie 50 Cents des Fahrgeldes retour.» Er beginnt: «Wer ist Premierministerpräsident von Polen?» Weder die
Damen noch ich können den Namen Donald Tusk nennen, auch der niederländische Ministerpräsident Balkenende hält sich nicht im aktiven Wortschatz
auf. Dennoch kommen einige richtige Antworten zu Stande und je ein Euro
wandert auf die Hinterbank und den Nebensitz des Fahrers. Der findige Taximann hat dann noch ein anderes Spiel auf Lager, das er gewinnt. Selbstredend kriegt er von allen noch ein gutes Trinkgeld und wir drei mischen uns
mit fröhlichen Gesichtern unter den Strom der Reisenden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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