Identität und Hörbeeinträchtigung

Identität und
Hörbeeinträchtigung
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Was bedeutet Identität
•
•
•
•
„Wer bin ich?“
„Wer bin ich hier im Vergleich zu dort?“
„Wer bin ich jetzt im Vergleich zu damals?“
„Wie möchten mich andere sehen und wie
würde ich mich gerne sehen?“
• „Wer möchte ich in zehn Jahren im Vergleich
zu heute sein?“
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Merkmale der Identität
• Einzigartigkeit und Individualität
• Verschiedene Rollen haben und doch doch selber sein
• Sich verändern und doch sich selber bleiben
• Kontrolle haben
• Selbstvertrauen
Im Vordergrund steht die das Selbsterleben der Person
und die Abgrenzung von Anderen im Sinne der eigenen
Individualität, Besonderheit oder gar Einzigartigkeit.
Die Identität eines Menschen kann sich erst in der
Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt entwickeln.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Die 5 Säulen der Identität
• Körper/ Gesundheit
• Soziales Netzwerk
• Arbeit und Leistung
• Materielle Sicherheit
• Werte und Normen
Zur Identitätskrise kann es kommen, wenn eine
oder mehrere Säulen "wegbrechen" oder sich
plötzlich stark verändern und die anderen Säulen
die Identität nicht ausreichend stabilisieren können.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Entwicklung der Identität
• Vom Säuglingsalter an im Wandel, Entwicklung
über Krisen und Entwicklungsherausforderungen
• Identität entwickelt und verändert sich im
Lebensverlauf (Identitätsentwicklung,
Identitätskrisen).
• Dabei werden ständig Informationen aus dem Ich
("Wie sehe ich mich selbst?") und der Umwelt (
"Wie werde ich von meinen Mitmenschen
gesehen ?") bewertet und übernommen oder
zurückgewiesen.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Entwicklung der Identität
• 13- 20 Jahre : Entwicklung der Identität als
Hauptherausforderung.
• Im Jugendalter starke Bemühungen um
Identitätsformung, aktiver Prozess
• Ursache: beginnende Selbstreflexion + damit
verbundene erhöhte Selbstaufmerksamkeit, hohe
Sensibilität für Defizite bzw. Verletzungen des
Selbst.
• Die Identität im Erwachsenenalter ist relativ stabil
in Bezug auf Werte, Geschmack, sexuelle
Orientierung, politische Haltung, Intelligenz.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Gefahren
• Die Jugendlichen vergleichen:
„Wie bin ich“ mit „wie will ich sein“, oder „wie
sollte ich sein“, „wie sehen mich andere“, „wie
wollen mich andere“.
• Grosse Diskrepanzen führen zu
Enttäuschungen, Angst, Scham.
• Ich-Identität als gelungener Balanceakt
zwischen persönlicher & sozialer Identität.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
• Wenn es dem Jugendlichen gelingt, die
Balance zwischen der individuellen
Entwicklung (Wünsche, Ziele, Stärken,
Schwächen) und den Anforderungen der
Gesellschaft zu finden, ist die
Identitätsfindung geglückt.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Die Entwicklung der Identität bei
hörbeeinträchtigten Kindern
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Risiken für die Identitäts-Entwicklung
von hörbeeinträchtigten Kindern
• Die frühe Erfassung: Risiken und Chancen
• Die Bewertung der Behinderung durch die Eltern und
die Gesellschaft ist negativ.
• Alleine unter Hörenden: 90 % der Eltern sind hörend.
• Hörgeräte, CI: mein Körper ist nicht so, wie er sein
sollte.
• Spezialbehandlungen: Bin ich o.k.? Frühes In- FrageStellen der Akzeptanz durch andere und sich selber.
• Orientierung am Normalen: eine hohe Richtschnur
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Entwicklungsrisiken
• Verstärkte Abhängigkeit von den Eltern und
von Fachleuten. Kontrolle über das eigene
Leben ist eingeschränkt.
• Autonomie verzögert.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Eine hörende Identität?
• Identifikation mit hörenden Angehörigen und
hörenden MitschülerInnen in den Regelklassen.
• Die Familie ist für das hörbeeinträchtigte Kind ein
Puffer und Vermittler zwischen dem Kind, seiner
Hörbeeinträchtigung und den
Bewertungen/Ansprüchen der Umwelt.
• Dieser Puffer fällt in der Pubertät weg.
• Neue Studie: Vermeidungsstrategien in der
Kindheit stabilisieren den Selbstwert,
Vermeidungsstrategien ab der Pubertät
destabilisieren den Selbstwert.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Der veränderte Körper,
die veränderte Stimmungen und die
veränderten Ansprüche destabilisieren das
Selbstvertrauen.
PUBERTÄT UND ADOLESZENZ: DIE
PHASE DER IDENTITÄTSBEDROHUNG
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Wer bin ich?
• Pubertät und Adoleszenz: Nachdenken über sich und
andere und den Eindruck, den man bei anderen
hnterlässt, verstärken sich.
• In einer Studie von 2003 bezeichneten sich 56 % der
befragten hörbeeinträchtigten Teenager als
schwerhörig, aber nicht hörbehindert.
• Es stellt sich die Frage der Zugehörigkeit
(Orientierungsambivalenz) und der Akzeptanz des
eigenen Hörverlustes.
• Schwerhörige Identifikationsfiguren im Leben, in der
Literatur und in Filmen sind rar. Ausnahme: z.B.
Switched at birth.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Kommunikation wird zum Problem
• In der Pubertät wird den hörbeeinträchtigten
Jugendlichen erst so richtig bewusst, dass die
Kommunikation mit hörenden Gleichaltrigen oft
ungenügend ist.
• Missverständnisse sind häufig, bei der Interpretation
von Mimik, Gestik und beim Lippenablesen kommt es
zu Fehldeutungen.
• Soziale und emotionale Informationen können nicht
aus der Stimme der Sprechenden herausgelesen
werden.
• Die Kommunikation mit Hörenden wird zunehmend als
beschämend und verunsichernd erlebt.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Kommunikation wird zum Problem
• Die kommunikative Nichtrücksichtsnahme
durch Hörende entmutigt.
• Folge: Gruppensituationen werden vermieden
oder schweigend überstanden. Drop outGefahr.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Zuschreibungen
• Von hörbeeinträchtigten Menschen wird oft
stillschweigend erwartet, sie sollten ein angenehmes
Wesen haben und die ihnen gebotene Toleranz nicht
überstrapazieren. Fragen ja, aber nicht zuviel!!
• Negative Zuschreibungen, soziale Stereotypien wie z.B.
• „Nur Dumme fragen nach!“, werden vom Jugendlichen
sensibel wahrgenommen und beeinträchtigen das
Selbstvertrauen der Betroffenen.
• Folge: Der Versuch nicht (hör)behindert zu erscheinen.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
• Tendenzen zur Überanpassung an Hörende. So
sein wollen wie die Referenzgruppe.
• Bei Nichtverstehen kein Nachfragen, die
Hörbeeinträchtigung wird versteckt.
• Von hörbeeinträchtigten Menschen wird oft
stillschweigend erwartet, sie sollten ein
angenehmes Wesen haben und die ihnen
gebotene Toleranz nicht überstrapazieren.
Fragen ja, aber nicht zuviel!!
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Freunde /Peers
• Hörbeeinträchtigte Jugendlichen haben zu wenig hörende
Freunde und noch weniger Kontakt mit anderen
hörbeeinträchtigten Jugendlichen.
• Die Gruppe ist aber für die Identität von Jugendlichen ein
wichtiger Faktor:
• „We define who we are by the groups of we are a part!“
• Zugehörigkeit zu hörenden Gruppen im beruflichen Kontext
erfolgreich möglich, aber oft ohne echte soziale Akzeptanz.
• Soziale Akzeptanz in Gruppen von hörbeeinträchtigten
Jugendlichen gut möglich, wird aber von den Betroffenen
nicht nur als attraktiv und eher einengend eingeschätzt.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Identifikation in der Gruppe
• Zugehörigkeit zu Gruppen mit besonderen Kleidern,
Ritualen, Symbolen stabilisiert den Selbstwert und
die jugendliche Identität und dient der Abgrenzung
gegenüber den Erwachsenen.
• Die Gehörlosengemeinschaft kann einigen
Jugendlichen diese Unterstützung geben.
• Ablehnung der Hörhilfen, Orientierung in der
Gehörlosenkultur als Befreiungsschlag.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Identität durch Sprache
• „Es ist unsere Sprache, die uns eine Identität
verleiht, ein Mittel, durch das wir etwas über die
Welt lernen, durch das wir erfahren, was wirklich
ist und was unwirklich, was richtig ist und was
nicht, wer wir sind und wer wir nicht sind“. S.
Rutherford
• Identität durch Sprache ist kulturelle Identität.
Kulturelle Identität ist die Rückversicherung
gegen Isolation.
• Was bedeutet das für schwerhörige Jugendliche?
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Entwicklungsaufgaben lösen
• Lehrstellensuche : Kompetenz und Akzeptanz
stabilisieren das Selbstvertrauen.
• Die Ablösung vom Elternhaus verunsichert die
Jugendlichen, da die Bindung an die Familie oft
sehr stark ist.
• Die sexuelle Identität finden: bin ich
begehrenswert.
Hörbeeinträchtigte Jugendliche meistern diese
Aufgaben zwischen maximaler Frustrationstoleranz
und erschöpftem Rückzug. Extreme, die belasten.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Bei Scheitern der Entwicklungsaufgaben, kann es
zu einer Chronifizierung von Problemverhalten
(z.B. Drogen, Risikoverhalten und Delinquenz
kommen).
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Entwicklungskrisen
• Akute Anpassungskrisen sind in der Adoleszenz
häufig und sollten nicht ignoriert werden.
• Als Folge der jahrelangen Überanstrengung und
einem Scheitern in den aktuellen
Entwicklungsaufgaben kann es zu psychiatrischen
Symptomen kommen (Panik, Selbstentfremdung,
Selbstverletzungen, Essstörungen, Borderline).
• Nicht ignorieren, behandeln.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Eine positive Identität finden
• Akzeptanz und Wertschätzung der eigenen
Hörbeeinträchtigung als zum Körper gehörend.
• Der Austausch mit anderen hörbeeinträchtigten
Jugendlichen kann dem Betroffenen ermöglichen,
(wieder) ein Gefühl der Ganzheit und Intaktheit zu
empfinden.
• Die offene, unverhüllte und selbstbewusste
Zugehörigkeit zur Gruppe der Schwerhörigen oder
Gehörlosen kann helfen, nicht mehr in Konflikt mit
dem „beschämenden“ Teil der Identität zu stehen.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
• Die selbstbewusste öffentliche Präsenz der
Interessenvertretung der Schwerhörigen in
der Gesellschaft wäre hilfreich.
Attraktivierung!
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
Leben in zwei Welten.
Ist das so?
• Wir leben nicht in verschiedenen Welten, sondern wir alle
sind in einer einzigen Welt mit verschiedenen Pässen
unterwegs.
• Hörbeeinträchtigte Jugendliche entscheiden selber, ob sie
ihre Hörbeeinträchtigung als wichtigen oder eher
unwichtigen Teil ihrer Identität ansehen.
• Die Wenig-Sichtbarkeit der Behinderung bewirkt, dass der
Jugendliche lernen muss, sich täglich zu entscheiden, ob er
seine Behinderung preisgeben will oder nicht, ob er sich als
schwerhörig oder gehörlos ausweist oder eben nicht.
• Identitätsfindung: ein selbstbewusster Akt zu entscheiden,
wer ich sein möchte.
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung
•
•
•
•
•
•
•
•
Ich muß nicht sein, was andere meinen
Ich muß nicht sein, wie andere mich behandeln
Ich muß nicht sein, wie andere mich bewerten
Ich muß nicht sein, wie andere mich wünschen
Ich muß nicht sein, wie andere mich sehen
Ich muß nicht sein, woher ich abstamme
Ich bin nicht meine Eltern
Ich bin nicht meine Familie
• Im Kern, im Wesen und in letzter Tiefe,
• kann und darf ich mich - in meinen Grenzen • selbst bestimmen
11.11.2015
Identität und Hörbeeinträchtigung