6 Samstag/Sonntag, 14./15. November 2015 LEKTÜRE Rhein-Neckar-Zeitung / RNZ Magazin / Nr. 264 Schöner wohnen nur mit Büchern Auf Versfüßen durchs Jahr Für mehr als die Hälfte der Deutschen ist laut einer Umfrage ein Wohnzimmer ohne Bücher unvorstellbar / Von Roland Mischke Lyrik-Taschenkalender 2016 Von Volker Oesterreich „Ein Raum ohne Bücher ist wie ein Körper ohne Seele“, hat der römische Philosoph Cicero gesagt. Auch wenn heute immer weniger Bücher gelesen werden – es gibt so viele andere, auf digitaler Schiene eintreffende Leseinhalte zu sichten –, verkaufen sich Bücherregale nach wie vor in riesigen Mengen. Viele Wohnungen werden automatisch mit Unterkünften für Gebundenes ausgestattet. Denn schöner Wohnen geht nur mit Büchern. Axel Venn, Professor für Gestaltung und Trendscouting an der Universität Hildesheim, hat herausgefunden, warum Bücher als geistige Körper in der Wohnung eine so außerordentlich hohe Bedeutung haben. „Vor einer Bücherwand verfällt niemand in Streit“, erklärt er, „die Bücherwand befriedet. Sie ist wie der Kühlschrank ein Speicher für sichtbare Vorräte, die den Besitzer charakterisieren. Bücher machen ein wunderbares Raumklima, weil Papier als nachwachsender Rohstoff Staub, Gerüche und Geräusche bindet und für eine gesunde Luftfeuchte sorgt. Die Bücherwand ist so wichtig wie ein knisterndes Kaminfeuer. Wir leben ja in der Epoche des Homing, des Rückzugs ins Private, wo man gern Essen, Trinken, Spiele und Gespräche mit Freunden in den eigenen vier Wänden teilt. Man stelle sich ein Essen mit Freunden in einem kahlen weißen Raum vor – grauenhaft!“ Die Kampagne „Vorsicht Buch!“, eine Initiative der deutschen Buchbranche und des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, hat 5000 Menschen ab 14 Jahren bundesweit repräsentativ befragen lassen. 53,2 Prozent der Bundesdeutschen können sich ein Wohnzimmer ganz ohne Bücher nicht vorstellen. Frauen mit 59,1 Prozent noch mehr als Männer mit 46,9 Prozent. Da spielt der Wohnort keine Rolle, in der Stadt genauso wie draußen auf dem Land hat das Bücherregal seine Anhänger. Die meisten Regalfans, 59,3 Prozent, leben in Thüringen, in Berlin dagegen sind es nur 46 Prozent. Dabei ist nicht ausschlaggebend, nur solchen Büchern mit ihren bunten Rücken in der Wohnung eine Heimstatt zu Regale voller Bücher machen die eigenen vier Wände wohnlicher. Und wer weiß, vielleicht steht auf den schrägen Regalbrettern dieses Paars besonders schräge und anregende Literatur. Foto: thinkstock geben, die man unbedingt lesen will. Bücher als Gegenstände gehören einfach für die meisten zur üblichen Ausstattung. Das hat Tradition. Der Dichter Arno Schmidt (1914-1979) hat einmal eine Rechnung aufgemacht: „Das Leben ist so kurz! Selbst wenn Sie ein Bücherfresser sind und nur fünf Tage brauchen, um ein Buch zwei Mal zu lesen, schaffen Sie im Jahr nur 70. Und für die 45 Jahre, von Fünfzehn bis Sechzig, die man aufnahmefähig ist, ergibt das 3150 Bände: Die wollen sorgfältigst ausgewählt sein!“ Arno Schmidt lebte in einer Zeit, in der viele Zeitgenossen keine lange Lebensdauer hatten, vor allem nicht die Kriegsversehrten. Wie anders soll er sonst auf die Ansicht gekommen sein, jenseits der Sechzig würde das Lesen weitgehend eingestellt. Heutige Menschen mit einer recht hohen Lebenserwartung haben vermutlich viel mehr Zeit, um sich dem Lesegenuss hinzugeben. Also stimmt Schmidts Aufrechnung nicht ganz. Und Regale mit mehr als 3000 Büchern darin, die gibt es nur bei Viellesern und Büchersammlern. Es geht aber um die Möglichkeit, an einem Tag, an dem es draußen regnet, die Temperatur ins Eisige stürzt, die Melancholie aufkeimt oder einfach die Lust da ist, nach einem Buch zu greifen und hineinzuschauen, nutzen zu können. Da ist es gut, wenn genügend Bücher zur Auswahl stehen. Schon manch eine/r hat solche Tage nur mit der Lektüre von Literatur oder auch Ratgebern gut überstanden. Deshalb ist es keine Überraschung, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung ohne Bücher in den Wohnräumen nicht auskommt. Von der Gier getriebene Charaktere Kein Mangel an Verdächtigen: Wolfgang Burgers packender Krimi über eine Geiselnahme in Heidelberg / Von Rüdiger Busch „Was die Arbeit betraf, bestand Hoffnung auf eine ruhige Woche, denn die Hitze hatte aus Sicht der Kriminalpolizei den Vorteil, auch die Bösewichte kraft- und fantasielos zu machen.“ Doch eines hatte der Heidelberger Kripochef Alexander Gerlach dabei nicht bedacht: „Nicht jedes Verbrechen geschieht aus Berechnung, nach einem genau kalkulierten Plan.“ Und so müssen Gerlach und seine Kollegen nicht nur mit ungewöhnlich heißen Temperaturen, sondern auch mit einem verzwickten Fall zurechtkommen. „Drei Tage im Mai“, die den Ermittlern alles abverlangen und an deren Ende vier Menschen ihr Leben verloren haben. Doch der Reihe nach: Eine Geiselnahme versetzt die Polizei in Alarmbereitschaft. Ein Unbekannter ist in das Bürogebäude des Heidelberger ImmobilienTycoons Alfred Leonhard eingedrungen und hat den Firmenchef in seine Gewalt gebracht. Der Multimillionär genießt als Kunstförderer und Mäzen in der Metro- polregion einen ausgezeichneten Ruf. Da der Täter keine Lösegeldforderung stellt, macht sich Gerlach auf die Suche nach einem Motiv. Wer könnte sich an Leonhard rächen wollen? Ein an die Luft gesetzter Mieter? Eine verflossene Liebschaft? Ein gehörnter Ehemann? Oder vielleicht doch Leonhards Ehefrau, die seltsam distanziert auf die Entführung ihres Mannes regiert. Während die Beamten auf den nächsten Schritt des Geiselnehmers warten müssen, ergeben sich im Hintergrund eine ganze Reihe möglicher Motive. Je intensiver sich der Kommissar mit dem Leben des Unternehmers beschäftigt, desto länger wird die Liste der Verdächtigen. Und auf der steht plötzlich Florian Marinetti ganz oben, ein früherer Schulfreund von Leonhards Tochter. Die Indizien sind eindeutig, doch das Bild wird nicht klarer: „Alles ist so unlogisch“, ärgert sich Gerlach, „von vorne bis hinten unlogisch.“ Noch vertrackter wird die Si- Wolfgang Burger. Foto: Archiv tuation, als dem Geiselnehmer mit seinem Opfer die Flucht aus dem Bürogebäude gelingt. Was bezweckt der Täter mit seinem Verhalten? Wolfgang Burger gelingt es Schritt für Schritt, das verworrene Knäuel an Beziehungsgeflechten zu lösen. Als endlich Licht ins Dunkel kommt, treten vom Schicksal gezeichnete und von der Gier getriebene Charaktere sowie von Sprachlosigkeit geprägte Familien zu Tage. Leonhard war nie der Mann, als der er sich in der Öffentlichkeit präsentierte. Kein Wunder, dass ihn die Vergangenheit eines Tages einholt. Wolfgang Burger hat einen starken Kriminalroman mit Tiefgang und Lokalkolorit vorgelegt, der – als einziges Manko – auf eine bewährte Stärke der Reihe größtenteils verzichtet: auf das turbulente Privatleben des Ermittlers. Das geht aber nicht zu Lasten der Qualität – der Fall allein genügt für erstklassige Unterhaltung. F i Info: Wolfgang Burger: „Drei Tage im Mai“. Piper, München 2015, 394 Seiten, 14,99 Euro. Intellekt und Gefühl kommen gleichermaßen zum Zuge Ben Roeg beschreibt die Lebensläufe berühmter Frauen / Von Ursula Christmann „Es braucht einen scharfen Verstand und ein fühlendes Herz!“ Dieser Wahlspruch der „Weißen Rose“, der studentischen Widerstandsgruppe gegen Hitler, stimmt geradezu vorbildlich mit der jahrzehntelangen empirischen Forschung zur Kreativitätspsychologie überein: nämlich dass die kreative Persönlichkeit aus einer Verbindung von Eigenschaften besteht, die üblicherweise als gegensätzlich empfunden – und gelernt werden! In diesem Fall also Rationalität und Emotionalität! Aber nicht nur Sophie Scholl als Mitglied der „Weißen Rose“ stellt ein beeindruckendes Beispiel für diese kreative Persönlichkeitsstruktur dar, sondern es gibt eine ganze Bandbreite von unkonventionellen Eigenschaftsverbindungen, die sich an den Lebensläufen berühmter Frauen aufzeigen lässt. Wie es die literarisch-biografischen Miniaturen des Bandes „Große Frauen – Portraits der kreativen Per- sönlichkeitsstruktur“ von Ben Roeg zeigen. Dabei fehlt selbstverständlich auch die schon klassisch zu nennende Überwindung der Gegensätzlichkeit von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht, hier verdeutlicht an der berühmten Science Fiction-Autorin (Alice B. Sheldon), die zeit ihres Lebens unter dem Pseudonym James Tiptree, Jr. publiziert hat und lange nicht nur wegen des Namens, sondern auch wegen ihres „harten“ Stils für einen Mann gehalten wurde – nicht zuletzt von der (männlichen) Literaturkritik. Der Band von Ben Roeg versammelt 20 biografische Skizzen über bekannte Frauen aus den Bereichen Literatur, bildende Kunst, Wissenschaft und Politik, an denen man diese Überwindung konventioneller Eigenschaftsgegensätze kennenlernen kann. So zum Beispiel an dem Satz der jüdischen Dichterin des Heiter-Melancholischen, Mascha Kaléko: „Da fand ich Schopenhauer. Sein Pes- simismus rettete mir das Leben.“ Die DDR-Autorin Irmtraud Morgner steht für die Verbindung von Fantasie und Realismus: „Mein Antrieb wäre nicht, Kunst zu machen, mein Antrieb wäre, Welt zu machen.“ An der engagierten Kunst von Käthe Kollwitz, die immer wieder Werke gegen den Krieg geschaffen hat, wird als Utopie-Prinzip verdeutlicht: „Das Leiden an der Welt als Voraussetzung, als Quelle der Energie, um immer wieder gegen Inhumanität aufzustehen...“ In der Politik reicht der Bogen der Neuerscheinung von Rosa Luxemburg mit ihrem berühmten Zitat „Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden“ bis zur Brandenburger Ministerin Regine Hildebrandt, die ihrer Krebserkrankung nicht mit der klassischen Frage ‚Warum gerade ich?‘ begegnet ist, sondern mit einem „Warum hat das Schicksal mich bisher verschont?“ Aus der Wissenschaft werden verständlicherweise Psychologinnen vorgestellt, so z.B. die Sozialpsychologin Marie Jahoda, mit der Konsequenz: „In manchen Situationen ist Scheitern die einzige Möglichkeit, um sich selbst treu zu bleiben.“ Im Vorwort des Bandes wird diese „Dialektik der Kreativität als Verbindung gegensätzlicher Persönlichkeitseigenschaften“ vom Heidelberger Psychologen und Literaturwissenschaftler Norbert Groeben erläutert. Zugleich stellt das Vorwort eine, wie die Literaturwissenschaft es nennt, „Herausgeberfiktion“ dar, d.h. der Autor gibt vor, Texte eines anderen, hier des Literaten Ben Roeg, herauszugeben. Damit wird verdeutlicht, dass es sich um ein erzählendes Sachbuch handelt, dessen literarisch-biografische Anschaulichkeit nicht nur den Intellekt, sondern auch das Gefühl ansprechen soll. Auch dies also eine Verbindung von konventionellen Gegensätzen, die das Buch zu einer faszinierenden Anregung für eigene Kreativitätsentwicklung macht! F i Info: Ben Roeg: „Große Frauen – Portraits der kreativen Persönlichkeit. Literarisch-biografische Miniaturen“. Custos Verlag, Solingen 2015. 212 Seiten, 12,90 Euro. Mit Pegasus, dem geflügelten Pferd der Poesie, kommt man besser durchs neue Jahr als mit Bleigießen, Knall, Bumm, Peng oder Schampus bis zum Abwinken. Nach dieser Devise handeln zumindest der Heidelberger Kritiker Michael Braun und die Verantwortlichen im Verlag Das Wunderhorn, in dem erneut ein „LyrikTaschenkalender“ als geistreicher Jahresbegleiter für 2016 erschienen ist. Passt in jede Tasche, bietet Platz für wichtige Notizen, versammelt auf Versfüßen oder in freirhythmischen Wortfolgen dahertrabenden Geist, bietet individuelle Kommentare. Und versagt niemals seinen Dienst wie ein Smartphone mit Kalenderfunktion, weil der Akku wieder einmal schwächelt. Kurzum: Print sticht bei Kalendern die Elektronik aus. Und wenn’s als Zugabe auch noch anspruchsvolle Literatur gibt, kann man mit dem Taschenkalender getrost den kommenden 365 Tagen entgegensehen. Michael Braun, der Herausgeber, verfährt nach bewährter Methode: 17 Autorinnen und Autoren hat er eingeladen, jeweils zwei Gedichte auszuwählen und zu kommentieren. Querbeet durch die Literaturgeschichte. Hinzu kommt ein „Special guest“. Der Herausgeber sowie der Lyriker Henning Ziebritzki stellen alle beteiligten Schriftsteller ihrerseits mit einem kommentierten Gedicht vor. Mit Goethes „Willkommen und Abschied“ beginnt der Reigen im Januar, mit dem Schweizer Kraftpaket Ernst Jandl und dessen Gedicht „die ersten zwölf zeilen“ über den Schreibprozess endet er. Die Weihnachtszeit wartet mit einem besonderen Clou auf: einer leere Seite für das eigene Lieblingsgedicht. Aha, der Käufer selbst ist der „Special guest“. Und Pegasus, der tritt natürlich auch auf, allerdings in morbid-anrüchiger Form: Joachim Ringelnatz lässt ihn in seinem Gedicht „Schindluder“ fröhlich furzen. Gute Verrichtung und ein gutes Neues! F i Info: „Lyrik-Taschenkalender 2016“, hrsg. von Michael Braun. Wunderhorn-Verlag, Heidelberg 2015. Geb., 222 S. mit Lesebändchen, 15,80 Euro. Schweizer Seitensprünge Jill Alexander Essbaums Roman „Hausfrau“ Von Roland Mischke Anna langweilt sich. Die Frau des Schweizer Bankers Bruno lebt in einem Haus in der Nähe von Zürich, drei Kinder, guter Mittelstand. Depression, sagt Bruno, und schickt sie zur Therapeutin. Die fragt: „Was machen Sie gern?“ „Ich liebe... Stricken“, sagt Anna. Wollte aber sagen: „Ficken“, schluckte das Wort gerade noch weg. Die 37-Jährige kann nicht Auto fahren, in der Schweiz gibt es gute Bahnen, das wird ausführlich beschrieben. Kann kein Schwyzerdeutsch – „Alle sind nett. Aber kalt, you know?“ Kann ihre Kinder nicht gut betreuen, so dass Brunos Mutter Ursula sich ihrer Enkel annimmt. Anna ist nur „Hausfrau“. Die aus Texas stammende Autorin Jill Alexander Essbaum, 44, hat das deutsche Titelwort sogar der englischsprachigen Ausgabe verpasst. Ehebruch als Thema wie bei Flaubert, bei Tolstoi, geht das noch in der Literatur? Es kommt, wie es kommen muss: Bruno zieht es mehr zu den Spielen der ZSC Lions, Anna sammelt „Märkli“ bei Coop. Als sie nach acht Jahren endlich bereit ist, einen Deutschkurs zu besuchen, lernt sie dort einen Schotten kennen und steigt noch am selben Tag in sein Bett. „Sie begehrte, begehrt zu werden“, heißt es. Sex, Sex, Sex. Anna verliert sich im körperlichen Rausch. Männer kommen und gehen, Anna nimmt das so schlaff hin wie zu Hause die Betreuung der Kleinen. Sie hat keine Arbeit, der Nachwuchs reicht nicht als Lebenssinn, obwohl sie versucht, eine gute Mutter zu sein. Sie ist fremd. „Die Schweiz ist eine Maschine, die in der Nacht runterfährt. Kein Laden ist offen. Die Menschen schlafen, wenn es sich gehört“, heißt es. Gegen das „Switzerland syndrome“ lässt sich nur anvögeln. Eine traurige Geschichte. F i Info: Jill Alexander Essbaum: „Hausfrau.“ Aus dem Englischen von Eva Bonné. Eichborn, Köln 2015. 336 Seiten, 22 Euro.
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