Symbolik des Essens in der KJL Von Kaspar H. Spinner 4 Das Motiv des Essens spielt eine zentrale Rolle auf der Ebene der symbolischen Sinnzusammenhänge. Illustration (auch Vignetten) von Verena Ballhaus Begierde und Verführung Bis weit ins Mittelalter hinein lässt sich die Vorstellung des Schlaraffenlandes zurückverfolgen (Richter 1995). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist sie auch Inhalt der Kinderliteratur geworden und hat vor allem durch das „Märchen vom Schlaraffenland“ in der Fassung von Ludwig Bechstein1 Bekanntheit erlangt. Das Land, in dem die Häuser mit Eierfladen gedeckt sind, die Wände und Türen aus Lebkuchen und die Balken aus Schweinebraten bestehen und die Vögel den Menschen gebraten direkt in den Mund fliegen, ist geradezu sprichwörtlich geworden. Das Schlaraffenland ist Inbegriff einer Welt, in der all die Entbehrungen und die Normen des wohlanständigen Verhaltens außer Kraft gesetzt sind. Augenzwinkernd wird eine Lust ausgemalt, von der man weiß, dass sie eigentlich ungehörig ist. Die satirische Form entschuldigt sozusagen die Lustphantasie. Allerdings ist solch freies Ausleben ungezügelter Lustphantasie in der traditionellen Kinder- und Jugendliteratur die Ausnahme. Zwar gehört das Motiv der Esslust und -begierde durchaus zu den häufigen Motiven; aber so ohne pädagogische Lehre wie im Schlaraffenlandmärchen kommt sie selten zur Darstellung. Typischer ist da die Gestaltung, die Wilhelm Busch dem Motiv gegeben hat. „Du“, sagt der Peterl zum Hansel, „gehn wir ‘nüber zu dem Nachbar seinen Bienenstock, der ist obenauf voll vom schönsten Honig!“ Und richtig, sie gehen nüber und begucken lüstern des Nachbars Bienenstock.2 So beginnt die erste Bildergeschichte, die Wilhelm Busch erzählt und gezeichnet hat. Er greift ein tradiertes Motiv der Kinderliteratur auf: Kinder können ihrer Naschsucht nicht widerstehen und erleiden dafür ihre Strafe. So ergeht es auch den Honigdieben, von denen Busch erzählt: 1000 und 1 Buch 3|04 Nahrungsaufnahme ist eine Tätigkeit, die tagtäglich von uns Menschen ausgeübt wird. So ist es nicht verwunderlich, dass auch in Geschichten immer wieder Essensszenen vorkommen. Gerade weil es um etwas so Alltägliches geht, wird einem jedoch oft gar nicht bewusst, welche Bedeutungen mit dem Essen in Erzählungen verknüpft sind. Mit den folgenden Ausführungen soll gezeigt werden, dass dem Essensmotiv in der Kinder- und Jugendliteratur eine zentrale Rolle auf der Ebene der symbolischen Sinnzusammenhänge zukommt. 5 1000 und 1 Buch 3|04 Sie werden von den Bienen gestochen. Jammernd sieht man sie einige Bilder weiter dann am Tisch sitzen mit ihrem Lieblingsessen, einer Schüssel voll duftender Knödel, die sie in ihrem Zustand nicht essen können, bis ihnen ein Schmied die Bienenstachel mit einer Zange aus der Nase zieht. Derartige Geschichten, die vor dem Naschen warnen, sind insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert sehr verbreitet (vgl. Richter 1987, S. 41ff ) und in Erziehungsbüchern wird in gleicher Weise vor der Gefahr des Naschens gewarnt. Der Philanthrop Christian Gotthilf Salzmann zeigt dies in seinem „Moralischen Elementarbuch“3 z.B. an einer Köchin, die eingemachte Kirschen nascht; als dies von ihrer Herrin entdeckt wird, bittet sie unter Vergießung vieler Thränen, daß man sie doch nicht so sehr beschimpfen solle: weil, wenn es nun die andre Magd erführe, daß sie naschhaft wäre, sie deswegen würde verachtet und verspottet werden. Wilhelm Busch greift das Motiv des Essens in seinen Bildergeschichten immer wieder auf . „Max und Moritz“ z.B. beginnen ihre Streichserie damit, dass sie Köder – Brotstückchen an Fäden gebunden – auslegen, durch die die Hühner zu Tode kommen, um dann im zweiten Streich die gebratenen Hühner zu stehlen und zu verzehren. Die Bildergeschichte endet bekanntlich damit, dass Max und Moritz vom Müller geschrotet und von Gänsen gefressen werden. Der zum Teil durchaus makabre Humor von Busch verleiht seinen Geschichten einen satirischen Akzent, so dass man die Belehrung nur halb ernst nehmen kann. Umso deutlicher wird bei ihm, dass die Esslust in der Tradition der Warngeschichte mehr als nur orale Befriedigung meint. Sie hat mit der Bosheit von Max und Moritz, mit ihrer Unerzogenheit zu tun; die beiden bösen Buben leben losgelöst von jeder Erziehungsinstanz – von Eltern oder anderen Familienangehörigen ist nicht die Rede. So können sie tun und lassen, was sie wollen – bis es zum bösen Ende kommt. Das Ausleben der Esslust wird dabei zum sprechenden Symbol für ihr geradezu anarchistisches Verhalten. Man kann in entwicklungspsychologischer Sicht die Zähmung des Essverhaltens als die elementarste Form von Triebkontrolle bezeichnen, die schon dem Säugling widerfährt, wenn er nicht jederzeit die Mutterbrust zu seiner Verfügung haben kann, und die sich dann im Beibringen der Tischmanieren fortsetzt. In keinem anderen Bereich erleidet das Kind so elementar Macht und Kontrolle der Erwachsenen. So verwundert es nicht, dass das Essen in der Kinderliteratur bis heute zu den Hauptmotiven gehört und dass es immer wieder auf das spannungsreiche Gegeneinander von trieborientiertem Wünschen auf der einen und Domestizierung durch Erziehung auf der anderen Seite verweist. In diesem Sinne findet man das Essensmotiv auch vielfältig variiert in den Grimmschen Märchen. Das Hexenhäuschen, aus Brot gebaut, mit Kuchen gedeckt und mit Fenstern aus Zucker versehen, dem Hänsel und Gretel nicht widerstehen können, dürfte sich von allen Essensmotiven in den Märchen am stärksten ins kollektive kulturelle Bewusstsein eingeschrieben haben. Für die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur ist interessant, dass die Umadressierung der Märchen zu Kinderliteratur, die durch die Grimmsche Sammlung vollzogen wurde, auch eine Verstärkung der Essensmotivik bewirkt hat. Das zeigt das Märchen von „Rotkäppchen“ besonders deutlich. In der Fassung von Perrault (etwas mehr als 100 Jahre vor der Grimmschen Sammlung publiziert) wird mit erotisch-sexuellen Assoziationen und Hinweisen gespielt. So zieht sich Rotkäppchen aus und schlüpft zum Wolf ins Bett, während bei den Grimms der Wolf aus dem Bett herausspringt. Schon der erste Satz bei den Grimms „Es war einmal eine kleine süße Dirne“ verwendet als Adjektiv ein Wort aus dem Wortfeld des Kulinarischen, während Perrault das Mädchen als „das hübscheste, das man sich vorstellen konnte“4, bezeichnet. Und wenn am Ende des Grimmschen Märchens die Großmutter den Kuchen isst und den Wein trinkt, wird noch einmal das Essensmotiv hervorgehoben. Weitere bekannte Motive der Verführung durch Speisen sind in den Grimmschen Märchen z.B. die Rapunzeln im Rapunzelmärchen, denen die Frau nicht widerstehen kann, und der vergiftete Apfel in „Schneewittchen“. Die satirische Überzeichnung der traditionellen Essenserziehung, die schon bei Wilhelm Busch einsetzt, wird in der modernen Kinderliteratur zur Infragestellung der Domestizierung weiter entwickelt. Die Essensszenen in Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“5 sind dafür das vielleicht bekannteste Beispiel. Hier wird ohne einen moralischen Zeigefinger die Essenslust ausgemalt. Das Picknick, das Pippi beim Ausflug mit Thomas und Annika bereitet, wird folgendermaßen beschrieben: Da lagen kleine Butterbrote mit Fleischklops und Schinken, ein ganzer Haufen Eierpfannkuchen mit Zucker darauf, einige kleine braune Würstchen und drei Stück Ananaspudding (S. 69). Beim Kaffeekränzchen, zu dem die Mutter von Thomas und Annika einige Damen eingeladen hat, häuft Pippi so viele Kuchenstücke, wie sie nur erwischen konnte, auf ihren Teller und wirft fünf Zuckerstücke in eine Kaffeetasse und leert die halbe Sahnenkanne in die Tasse, dann isst sie eine Sahnetorte selbst ganz auf (S. 100ff ). Beim Einkaufen mit Thomas und Annika kauft Pippi achtzehn Kilo Bonbons, sechzig Zuckerstangen, zweiundsiebzig Pakete Sahnebonbons und hundertdrei Schokoladenzigaretten und verteilt dann die Köstlichkeiten an die Kinder, die sich vor dem Geschäft angesammelt haben (S. 147ff ). Das Essen beim Schulausflug in Ullas Garten (S. 177ff ), das Frühstück auf der unbewohnten Insel (S. 212f.), das Abschiedsfest (S. 237) und das nachträgliche Weihnachtsessen im Schlusskapitel (S. 245) sind weitere markante Essensszenen in diesem Schlüsselwerk antiautoritärer Kinder- und Jugendliteratur. Satirische, groteske und lustvolle Essenszenen findet man dann vor allem im Werk von Christine Nöstlinger. In „Konrad oder das Kind aus der Konservenbüchse“6 z.B. gibt sich Frau Bartolotti, die unverhoffte Mutter Konrads, ungehemmt dem Essvergnügen hin; Konrad aber, das fabrikgemachte und deshalb auf Wohlerzogenheit getrimmte Kind, hat Bedenken, als ihm Frau Bartolotti Eis anbietet, und fragt, ob man Eis denn nicht nur im Sommer und nur als Nachspeise essen solle. So werden die tradierten Rollenverteilungen und Normen der bürgerlichen Erziehung verdreht (S. 32). In „Das Austauschkind“7 kommt Jasper als Austauschschüler in die Familie von Ewald; schon bei der Fahrt vom Flughafen zeichnet er sich dadurch aus, dass er Schantikerne mampft und die Schalen auf den „schwarzplüschenen Wagenboden“ (S. 54f.) fallen lässt. Am Kaffeetisch greift er mit dreckigen Fingern in die Schwarzwälder Kirschtorte (S. 60). Beim Abendessen des folgenden Tages schüttet Jasper den gesamten Inhalt einer Ketchup-Flasche über Fleisch und Kartoffeln auf seinen Teller, löffelt das Ketchup weg, bis Fleisch und Kartoffeln wieder sichtbar werden, gießt sich den Rest Bier aus Vaters Bierflasche ins Glas, trinkt ihn aus, rülpst und verschwindet in seinem Zimmer (S. 71). So geht es dann weiter mit Jasper, der gegenüber jeglicher erzieherischer Einwirkung immun ist – wie Heinrich Hoffmanns Suppenkaspar, nur dass Jasper Nahrung nicht verweigert, sondern in der Nacht Marillenmarmelade, Fisch und Eis aus der Speisekammer holt (S. 72). Ein Grund für sein asoziales Verhalten liegt darin, dass er nicht bei seiner Stiefmutter, die er liebt und die von seinem Vater geschieden ist, leben darf und dass er sich von seiner leiblichen Mutter nicht geliebt fühlt. So ist das Essensmotiv mit der Beziehung zur Mutter verknüpft, allerdings in einer Form, die wiederum die tradierte Konstellation verfremdet (Jasper vermisst seine Stiefmuttter). Damit ist ein Zusammenhang angesprochen, der im Folgenden weiter erläutert werden soll. 6 1000 und 1 Buch 3|04 Mutter als Ernährerin Ein wesentlicher symbolischer Bedeutungshorizont ergibt sich durch die Verbindung der Essensmotivik mit der Mutterbeziehung; dieser symbolische Zusammenhang ist darin begründet, dass die Mutter (in der Regel) die erste Ernährerin des Kindes ist. Von der Mutter nicht mehr die Nahrung zu erhalten wird insbesondere im Märchen zum Zeichen der Ablösung von elterlicher Fürsorge. Die (Stief ) Mutter in „Hänsel und Gretel“ verstößt die Kinder, weil sie ihnen nicht mehr das nötige Essen bieten kann, die Muttergeiß muss ihre sieben Geißlein allein lassen, um Nahrung zu holen, und überantwortet ihnen so die gefährliche Aufgabe, sich selbst zu schützen. Sich loszulösen von der Mutter, sich frei zu machen vom Wunsch, immer in symbiotischer Beziehung und Behütung mit ihr verbunden zu sein, ist eine der grundlegenden Entwicklungsaufgaben des Kindes, die im Essensmotiv vielfältig zur Gestaltung kommt. Im modernen Bilderbuchklassiker „Wo die wilden Kerle wohnen“ von Maurice Sendak8 wird die Essensverweigerung (die Mutter schickt Max ohne Essen ins Bett) zum Auslöser für die phantastischen Abenteuer. Das warme Essen, das dann bei der Rückkehr von Max in seinem Zimmer wartet, zeigt an, dass die Beziehung zur Mutter nicht wie bei Grimms Stiefmüttern zerbrochen ist, sondern in einer Balance von Nähe und Distanz (Max kehrt nicht in die Arme der Mutter zurück) aufrecht erhalten bleibt. Wo die Mutter fehlt, kann die Natur zur Ersatzmutter werden, wie das in Johanna Spyris „Heidi“-Roman gestaltet ist (vgl. Spinner 1999). In „Harry Potter“ wird die Essensmotivik in ihrem Bezug zur Elternlosigkeit besonders drastisch entfaltet, wenn Harry bei seinen Pflegeeltern hungern muss, während sein fetter Vetter Dudley mit Süßigkeiten vollgestopft wird. Dass Harry bei Mrs Weasley dann eine Art Ersatzmutter findet, spiegelt sich im üppigen Essen, das er bei ihr bekommt. In ähnlicher Weise setzt Astrid Lindgren das Motiv des Essens in „Mio, mein Mio“9 ein. Bosses (alias Mios) Zurücksetzung als Pflegekind kommt am Anfang der Erzählung besonders intensiv zum Ausdruck in der Situation, wo er im Park alleine auf der Bank sitzt: Alle waren nach Hause gegangen, um zu essen. Im Park war es dämmerig, und es regnete ein wenig. Aber in den Häusern ringsum war es hell. Ich konnte sehen, daß auch aus Benkas Fenster Licht schien. Nun saß er dort und aß Erbsen und Eierkuchen, zusammen mit seinem Vater und seiner Mutter. (S. 109) Die Sehnsucht nach elterlicher Zuwendung und nach Geborgenheit verdichtet sich hier im Bild der gemeinsamen Mahlzeit. Im Land der Ferne beginnt die Freundschaft mit Jum-Jum dann mit einer Mahlzeit bei dessen Mutter. Die beiden Jungen essen von den Eierkuchen und dem Erdbeerkompott, bis wir beinah platzten, und sahen uns an und lachten (S. 122). Für das Reich des bösen Kato dagegen steht der Hunger, eingeleitet durch die Begegnung mit dem alten Mann, der vor Hunger jammert, und dann fortgesetzt durch die Kerkerszene, wo Mio und Jum-Jum vor Hunger zu sterben glauben, bis sie merken, dass der Löffel, den Mio gefunden hat, Nahrung spendet. Am Ende wird noch einmal an die Szene im Park erinnert und ihr die neue Heimat von Mio gegenübergestellt, das Land, wo es Brot gibt, das Hunger stillt, und wo er seinen Vater, den König, hat, den er sehr liebt und der ihn auch sehr liebt“. (S. 241) Zwar ist es nicht die Mutter, zu der Mio zurückgefunden hat, sondern der Vater; aber dieser wird genau so wie in anderen Erzählungen die Mutter mit dem Motiv des Ernährens, das zum Symbol der Zuwendung wird, in Verbindung gebracht. Als Beispiele für die neuere Kinderliteratur sei der psychologische Kinderroman „Mit Kindern redet ja keiner“ von Kirsten Boie10 genannt. In ihm wird die Entfremdung von Mutter und Kind unter anderem dadurch veranschaulicht, dass die Mutter in ihrer psychischen Krise nicht mehr für ihre Tochter Charlotte kocht. Sie sorgt auch nicht mehr für den Hamster von Charlotte; diese übernimmt zwar die Fütterung – „Ich paß auf dich auf. Ich laß dich nicht verhungern. Ich beschütz dich immer und ewig“, sagt sie zu ihm (S. 43) – aber sie ist von der Aufgabe überfordert, der Hamster verhungert. Das Gegenbild zum Motiv des Hungers und der mangelnden Fürsorge ist gegen Ende in dem Kapitel entfaltet, in dem Charlotte Lules Mutter bei der Herstellung von Schmalzgebäck hilft. Der folgende Absatz leitet über zu dem Gespräch, das für Charlotte zur entscheidenden Hilfe wird: Und wir nehmen uns von dem warmen Hefegebäck, obwohl man davon ganz bestimmt Bauchschmerzen kriegt. Aber Lules Mutter ißt mit, sogar fast am meisten, und da tu ich es auch. „Und wie geht es jetzt deiner Mutter?“ fragt Lules Mutter. Ganz plötzlich. Sie hat Zuckerkrümel überall um den Mund und den Rest vom Kuchen noch in der Hand. Sie redet darüber. Einfach so. Beim Essen. (S. 117) Auf den ersten Blick kaum auffallend, aber doch genau abgestimmt auf die innere Handlung der Geschichte, den psychischen Entwicklungsprozess der Protagonistin, wird im Buch das Motiv des Essens auf diese Weise in seinen symbolischen Bezügen eingesetzt. Eine verwandte Rolle spielt das Motiv in Mirjam Presslers „Wenn das Glück kommt, muß man ihm einen 7 Stuhl hinstellen“11. Der Roman beginnt mit dem Satz Zwei Kartoffeln sind noch übrig und endet mit [...] was braucht man Honig, wenn auch Zucker süß schmeckt; diese Einrahmung durch zwei Sätze aus dem Bedeutungsfeld des Kulinarischen zeigt die Bedeutung, die hier diesem Motiv zukommt. Die Eingangsszene stellt eine Situation des Mangels dar. Halinka, die Protagonistin, möchte noch eine Kartoffel, aber sie wird von einem anderen Kind gegen das Schienbein getreten. Die Mangelerfahrung reicht weit über das Essen hinaus: Halinka ist im Heim, weil ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen worden ist: Für mich gekocht hat sie jedenfalls selten, als ich noch bei ihr war (S. 11), heißt es im Text. Im Heim herrscht unter den Mädchen eine Atmosphäre des Misstrauens und der Konkurrenz. So findet Halinka auch hier kein Aufgehobensein. Sie verschließt sich gegenüber den anderen und auch gegenüber ihren eigenen Gefühlen. Das zweite Kapitel handelt davon, wie Halinka vor der Metzgerei für das Müttergenesungswerk sammelt; gegen Abend geht sie in die Metzgerei hinein, um auch die Verkäuferin um eine Spende zu bitten: Dabei kann ich die Augen nicht von der Glastheke lassen. Fleischwurst, Salami, Leber- und Blutwurst, Zervelat, Schwartenmagen und andere Würste, deren Namen ich noch nicht mal kenne. Würste, Würste, Würste. Und sogar Schinken. (S. 22) Der äußere Handlungszusammenhang – Sammeln für das Müttergenesungswerk und Fleischauslage – verweist auch hier auf innere, situationsübergreifende Bezüge. Dass Halinka von der Verkäuferin ein Stück Wurst bekommt, ist einer der kleinen Schritte, die Halinka zu größerem Vertrauen in ihre Umwelt bringen. Eine Schlüsselfunktion innerhalb des Romans kommt dann der Stelle zu, wo Halinka in der Nacht der weinenden Zimmergenossin Renate Schokolade füttert. Sie schiebt ihr einen Riegel Schokolade sorgfältig in den Mund, worauf Renate aufhört zu weinen, schlagartig, wie ein kleines Kind, dem man den Schnuller in die Schnute schiebt (S. 96). So erfährt Renate, deren Mutter im Gefängnis sitzt, mütterliche Zuwendung. Daraus entsteht eine Freundschaft zwischen beiden, Renate schenkt dann Halinka eine kleine Puppe, womit erneut die Muttermotivik angesprochen ist. Den Höhepunkt des Romans stellt ein Besuch im Schwetzinger Schlosspark dar, den Halinka als Preis gewonnen hat, weil sie am meisten für das Müttergenesungswerk gesammelt hat. Verbunden ist dieser Ausflug mit Eis-Essen und Restaurantbesuch. Für Halinka wird aber etwas ganz anderes wichtig: Sie ist überwältigt von der Schönheit des Parks, insbesondere von einer weiblichen Statue. Halinka erfährt hier, dass es neben den Dingen, die einfach nur nützlich sind, auch noch Dinge gibt, die einen verzaubern können, weil sie nämlich schön sind (S. 165). Im Ästhetischen, so könnte man sagen, findet das mutterlose Kind eine neue Art von Glück – so wie Heidi in der prächtigen Bergnatur Geborgenheit findet. 1000 und 1 Buch 3|04 Menschenfressende Monster Zu erörtern ist freilich noch eine dunklere Seite der Essenssymbolik. In „Hänsel und Gretel“, wo schon das Motiv der Verführung zum Essen und das der Ablösung von der Mutter gestaltet ist, findet man auch diesen dritten wichtigen Aspekt der Essensmotivik, nämlich das Gefressenwerden. Die Frau im Lebkuchenhaus ist eine Kinderfresserin und sie verspricht sich durch ihren Fang einen guten Bissen. In vielen anderen Märchen der Brüder Grimm kommt das Menschenfressermotiv ebenfalls vor, so in „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“, dessen Worte Ich rieche, rieche Menschenfleisch vielen Kindern unvergessen bleiben, und der verschlingende Wolf in „Rotkäpp chen“ und im „Wolf und die sieben jungen Geißlein“. Im Märchen „Von dem Machandelboom“ in der Grimmschen Sammlung bzw. seiner hochdeutschen Übersetzung bei Bechstein12 ist das Motiv besonders drastisch gestaltet: Die Mutter tötet ihren Stiefsohn, hackt ihn in Stückchen und kocht ihn in Essig. Dem Vater schmeckt das Essen, er will, ohne dass er weiß, dass es sich um das Fleisch seines Sohnes handelt, immer mehr davon haben und den anderen nichts übriglassen. Statt den Weg in die Selbständigkeit zu finden, vereinigt sich der Sohn durch das Verschlungenwerden mit seinem Vater. In der außerdeutschen Märchentradition erscheint der Menschenfresser meist in der Gestalt des Oger, so in Perraults „Däumling“13. Gefressen zu werden ist sozusagen die Umkehrung der Esslust und erscheint deshalb als Strafphantasie, die aus oraler Begierde erwächst. In tiefenpsychologischer Sicht kann man davon sprechen, dass Lust auf Nahrung, Mutterbindung und kannibalistische Phantasie Ausdruck von Regression sind: Verschlungen zu werden ist gleichsam die Umkehrung des Geburtsvorgangs, des Herausgestoßenseins in die Individuation, es ist eine Rückkehr ins Innere eines anderen Wesens. Deshalb erzeugen literarische Kannibalismusphantasien Angst und zugleich geheime Lust. In der neueren Kinderliteratur hat vor allem Roald Dahl das Menschenfressermotiv aufgegriffen. Gleich als ganze Gruppe treten die kannibalistischen Riesen in „Sophiechen und die Riesen“14 auf, versehen mit den sprechenden Namen Fleischfetzenfresser, Knochenknakker, Menschenpresser, Kinderkauer, Hackepeter, Klumpenwürger, Mädchenmanscher, Blutschlucker und Metzgerhetzer. Roald Dahl lässt es sich auch nicht entgehen, in seiner grotesk-makabren Art die Kinderfresserei ausführlich zu beschreiben; der gute Riese, von dem Sophiechen, die Protagonistin, ins Riesenland entführt wird, schildert den Knochenknacker folgendermaßen: Der Knochenknackerriese knackt jeden Abend zwei leckrige schleckrige menschliche Leberwesen [sic! Der Riese tut sich mit dem Sprechen schwer]. Das Krachen tut weh in den Ohren! Das Krachen vom Knochenknacken, immer kchch, kchch, kannst du von ganz weit weg hören! (S. 24) Die Riesen werden dann von Sophiechen, dem guten Riesen und den englischen Streitkräften gefangen und in einer Grube gefangen gehalten, wo sie nur Kotzgurken zum Essen bekommen. So erscheint das alte Motiv des Menschenfressers, das in Mythen und im Aberglauben immer wieder schrekkenerregend gestaltet ist (vgl. Thomsen 1983), in aufgeklärten Märchen gemildert durch ein gutes Ende und wird im modernen Kinderbuch durch groteske Verfremdung zum Spiel mit den dunklen Seiten menschlicher Existenz. Angespielt wird auf das Menschenfressermotiv übrigens auch von Sendak in seinem schon erwähnten Bilderbuch, wenn die wilden Kerle mit ihren fürchterlichen Zähnen fletschen und ihre Krallen zeigen oder wenn sie gegen Schluss sagen: Geh bitte nicht fort – wir fressen dich auf –, wir haben dich so gern!15 Allerdings ist hier das Auffressen dop- peldeutig: Ist es angedrohte Strafe und Rache oder Ausdruck der Liebe, im Sinne von „zum Fressen gern“? Die Stelle greift übrigens einen Ausspruch von Max vom Anfang der Geschichte auf; da sagt er, als ihn seine Mutter ins Bett schickt, Ich freß dich auf. So schlägt enttäuschte Liebe in eine kannibalistische Verschlingphantasie um (zum Zusammenhang von Essen und Hunger nach Liebe vgl. vor allem Liebs 1988). Schluss Immer wieder umkreisen Kinder- und Jugendbücher die Themen der Ablösung von Geborgenheit, des Weges in die Selbständigkeit und zur Sozialität. In der Essensmotivik spiegeln sich in aspektreicher Variation das Spannungsverhältnis sowohl zwischen egozentrischer, anarchischer Lust und erzieherischer Domestizierung als auch zwischen Entbehrung von Geborgenheit und Gewinn an Sozialität. Hunger, Essbegierde und Lust sind in den Geschichten nicht nur physisch-sinnliche Erfahrungen, sondern Symbole für Entwicklungsprozesse und innere Dispositionen. | Kaspar H.Spinner hat Germanistik, Kunstgeschichte und Pädagogik an den Universitäten Zürich und Berlin studiert. Nach Professuren in Kassel und Aachen ist er seit 1988 Professor für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Verena Ballhaus arbeitet als Illustratorin in München. 2004 erhielt sie für „Meine Füße sind der Rollstuhl“ (Text: Franz-Joseph Huainigg, Annette Betz 2003) den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis in der Sparte Illustration (siehe Beitrag in „1000 und 1 Buch“ 2|04). Zuletzt erschien: Gefunden (Text: Johann Wolfgang von Goethe, Bajazzo 2003). 8 Literatur Elke Liebs: Das Köstlichste von allem. Von der Lust am Essen und dem Hunger nach Liebe. Zürich: Kreuz 1988 Dieter Richter: Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a. M.: Fischer 1987 Dieter Richter: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Utopie. Frankfurt a. M.: 1995 Kaspar H. Spinner: Böse Buben: Erziehung, Lust und Aggression in der Geschichte der Kinderliteratur. In: Bernhard Rank/Cornelia Rosebrock (Hrsg.): Kinderliteratur, literarische Sozialisation und Schule. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag 1997, S.157-175 Kaspar H. Spinner: Semiotik des Essens und Trinkens in Johanna Spyris Heidi. In: Henriette Herwig/Irmgard Wirtz/Stefan Bodo Würffel (Hrsg.): Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit. Tübingen: Francke 1999, S. 431-440 Christian W. Thomsen: Menschenfresser in der Kunst und Literatur, in fernen Ländern, Mythen, Märchen und Satiren, in Dramen, Liedern, Epen und Romanen. Wien: Brandstätter 1983 Anmerkungen 1 Ludwig Bechstein: Märchen. München: Diederich 1997, S. 232-236 2 Wilhelm Busch: Sämtliche Werke. Hrsg. R. Hochhuth. München: Bertelsmann 7.Aufl. 1993, Bd. 1, S. 85f. 3 Christian Gotthilf Salzmann: Moralisches Elementarbuch. Nachdruck der Auflage von 1985. Hrsg. v. H. Göbels. Harenberg 1980, S. 155 4 Charles Perrault: Contes de Fées. Märchen. München: dtv Neuausg. 1996, S. 33 5 Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf. Hamburg: Oetinger 1967 6 Christine Nöstlinger: Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse. Hamburg: Oetinger 1975 7 Christine Nöstlinger: Das Austauschkind. Beltz & Gelberg 1995 8 Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen. Diogenes 1967 9 Astrid Lindgren: Mio, mein Mio. In: A.L.: Märchen. Oetinger 1978, S. 105-241 10 Kirsten Boie: Mit Kindern redet ja keiner. dtv 1997 11 Mirjam Pressler: Wenn das Glück kommt, muß man ihm einen Stuhl hinstellen. Beltz & Gelberg 1994 12 Bechstein, a.a.O., S. 303-314 13 Perrault a.a.O., S. 123 ff. 14 Roald Dahl: Sophiechen und der Riese. Rowohlt 1990 15 Sendak a.a.O., o.S. 16 Michael Ende: Momo. Thienemann 1973 17 Anaïs Vaugelade: Steinsuppe. Moritz 2000 1000 und 1 Buch 3|04 Gemeinsames Essen als soziale Situation Die Essensmotivik, so scheinen die bisherigen Ausführungen nahezulegen, ist verknüpft mit asozialen Regressionsphantasien und mit egoistischer Lust (dazu auch Spinner 1997). Aber es gibt einen weiteren Symbolzusammenhang, der oft kontrapunktisch den bisher ausgeführten Aspekten entgegengesetzt ist. Im „Schneewittchen“-Märchen wird dies zum Beispiel deutlich in der Entgegensetzung von böser Königin, die glaubt, Schneewittchens Lunge und Leber zu verspeisen, und gedecktem Tisch im Haus der Zwerge. Bei ihnen ist das Essen eine Angelegenheit der Gemeinschaft, in die auch Schneewittchen aufgenommen wird. Das Essen stellt Sozialität dar. Darin drückt sich eine kulturgeschichtlich wichtige Funktion des Essens aus: Zum Essen kommen die Menschen zusammen, gemeinsames Essen ist Teil festlicher Anlässe. Das zivilisierte Essen erscheint hier nicht als lustfeindliche Disziplinierung, sondern als genussvolle gemeinsame Veranstaltung. So sind zum Beispiel die Festessen in Hogwarts, wo Harry Potter Anerkennung in der Gemeinschaft findet, als prächtiger Essgenuss gestaltet. Nicht so üppig, aber in seiner sozialen Funktion nicht weniger bedeutsam ist das Essen am Anfang von Michael Endes „Momo“16. Die Kinder aus der Umgebung bringen am Ende des ersten Kapitels was man an Essen erübrigen konnte, das eine ein Stückchen Käse, das andere einen kleinen Brotwecken, das dritte etwas Obst und so fort, und es kommt so viel zusammen, dass ein vergnügtes Fest gefeiert werden kann (S. 13). So wird die Freundschaft Momos mit den Kindern gestiftet. Gegenbild zu diesem Fest ist die Szene in Ninos Schnellrestaurant, wo Momo viel zu viel zu essen bekommen hat, aber trotzdem das Gefühl hat, als ob ich nicht satt bin (S. 192-200), und ein sozialer Kontakt durch die Hetze und die fehlenden Sitzgelegenheiten verunmöglicht wird. Eine anspielungsreiche Gestaltung der sozialen Funktion des Essens hat Anaïs Vaugelade, einen bekannten Stoff aufgreifend und variierend, in ihrem Bilderbuch „Steinsuppe“17 realisiert. Der Wolf kommt ins Dorf der Tiere und klopft an die Tür der Henne; er sagt, er möchte eine Steinsuppe kochen. Die Henne, bei der die Neugier die Angst überwiegt, lässt den Wolf herein und die beiden kochen eine Steinsuppe. Die Henne gibt etwas Sellerie dazu; nach und nach kommen weitere Tiere, die gesehen haben, dass der Wolf in das Haus der Henne gegangen ist, und sie alle helfen beim Kochen mit und geben je etwas Zusätzliches hinein. Schließlich sitzen sie vergnügt zusammen, essen die Suppe und unterhalten sich, bis der Wolf aufbricht und in der Winternacht verschwindet. Mit dieser Geschichte wird die Fabelfigur des bösen Wolfes aufgegriffen, aber der Wolf ist nicht mehr gefährlich, an die Stelle des Gefressenwerdens tritt in humorvoller Uminterpretation der soziale Aspekt des gemeinschaftlichen Essens, ohne dass übrigens das Buch in ein simples Happy-End münden würde. Der Weggang des alten Wolfes, der allein in die Winternacht geht, setzt einen leicht melancholischen Akzent an den Schluss.
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