Verfassung als Ordnungskonzept Verfassung im Allgemeinen

Generalthema: Verfassung als Ordnungskonzept
Verfassung im Allgemeinen Verwaltungsrecht
– Bedeutungsverlust durch Europäisierung und Emanzipation?
Lothar Michael, Düsseldorf
Gliederung
I. Der Konstitutionalist und die Emanzipation
II. Das Allgemeine Verwaltungsrecht und seine Ordnungsbausteine
1. Allgemeines Verwaltungsrecht als eigenständige Kategorie
2. Die Ordnungsbausteine des Allgemeinen Verwaltungsrechts als Tertium neben dem
Verfassungsrecht und dem einfachen Recht
III. Staatsrechtslehre als Denken in Prozessrelationen
1. Grundlegung
2. Historische Relationen: Constitutional moments und die Narrative des Allgemeinen
Verwaltungsrechts
3. Institutionelle Relationen: Legitimation und Zusammenspiel der Akteure bei der Entwicklung
des Allgemeinen Verwaltungsrechts
IV. Verfassungsrechtsdogmatik in Relation zur Entwicklung des Allgemeinen
Verwaltungsrechts
1. Das vorgefundene Rechtsstaatsprinzip und die verwaltungsrechtliche Systembildung
2. Mythos und Dogmatik des Art. 19 Abs. 4 GG
3. Entwicklung des Demokratiekonzeptes für die Verwaltungsorganisation als Leitbildwechsel
auf Verfassungsebene?
V. Betrachtung der europäischen Entwicklungen in Prozessrelationen
VI. Schluss
Gliederung mit Leitsätzen
I.
Der Konstitutionalist und die Emanzipation
(1) Es ist eine Legende, dass alles Verwaltungsrecht und also auch das Allgemeine Verwaltungsrecht
verfassungsgeprägt sei. Sie folgt entweder einer konstitutionalistischen Agenda oder dient der rhetorischen Selbstbestätigung der Systembildung.
(2) Die Rechtserkenntnisquellen, die als Ordnungsbausteine das Allgemeine Verwaltungsrecht stattdessen prägen, sind ein Tertium neben dem Verfassungsrecht und dem einfachen Recht.
(3) Der Befund einer emanzipierten verwaltungsrechtlichen Systembildung indiziert eine Neuinterpretation des grundgesetzlichen Ordnungskonzeptes.
(4) Verfassung ist als Prozess (Peter Häberle) zu verstehen und sie hat in unterschiedlichen Rechtsbereichen je eigene Funktionalität. Nationales Verfassungsrecht im hier verstandenen Sinne zeichnet sich
dadurch aus, durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit als vorrangiges Recht durchsetzbar und nur durch
die verfassungsrevidierenden Gewalten änderbar zu sein. Als Ordnungskonzept prägt es das Recht
gegebenenfalls über die direkte Anwendbarkeit seiner Normen hinaus.
II. Das Allgemeine Verwaltungsrecht und seine Ordnungsbausteine
1. Allgemeines Verwaltungsrecht als eigenständige Kategorie
(5) Allgemeines Verwaltungsrecht ist nicht als verfassungsgeprägte, sondern als eigenrationale Systembildung zu rekonstruieren. Diese bedarf einer Legitimation jenseits des Konstitutionalisierungsarguments.
(6) Allgemeines Verwaltungsrecht ist „allgemein“ i. S. von fachübergreifend und landesübergreifend.
Von seiner Genese her ist es immer ein zu Suchendes gewesen, also „verallgemeinernd“.
2. Die Ordnungsbausteine des Allgemeinen Verwaltungsrechts als Tertium neben dem
Verfassungsrecht und dem einfachen Recht
(7) Die Ordnungsbausteine des Allgemeinen Verwaltungsrechts bestehen aus drei Rechtserkenntnisquellen: a) Allgemeinen Rechtsgrundsätzen, b) Bewährten Regelungsmodellen c) Leitbildern.
a) Beispiel: Die Grenzen der Aufhebung begünstigender Verwaltungsakte wurden in Fällen des Allgemeinen Verwaltungsrechts aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz „Treu und Glauben“ entwickelt.
Ein verfassungsrechtlicher Mindeststandard des Vertrauensschutzes kommt in der Rechtsprechung nur
im besonderen Verwaltungsrecht ins Spiel. Das Grundgesetz ist – unbeschadet seines Vorranganspruchs – offen für Einstrahlungen von allgemeinen Rechtsgrundsätzen.
b) Allgemeines Verwaltungsrecht ist induktiv offen für die Rezeption von Regelungsmodellen, die
sich in der Praxis bereits bewährt haben. Allgemeines Verwaltungsrecht als Prozess ist auf stetiger
Suche nach immer neuen impulsgebenden Methoden. Die neue Verwaltungsrechtswissenschaft steht
in dieser Tradition.
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c) Wenn die Rechtsprechung die Verfassung colorandi causa zitiert, dient eine solche „invocatio constitutionis“ nur der rhetorischen Bekräftigung eines verfassungsbestätigten Leitbildes.
III. Staatsrechtslehre als Denken in Prozessrelationen
1. Grundlegung
(8) Das Allgemeine Verwaltungsrecht gibt Anlass, Staatsrechtslehre in Prozessrelationen zu denken,
hier als Relation zwischen dem Konstitutionalisierungsprozess und dem Prozess der Entwicklung des
Allgemeinen Verwaltungsrechts. Dazu sind
1. diese beiden Prozesse zueinander in Beziehung zu setzen, mit ihren je eigenen Inhalten und
Geschwindigkeiten, mit ihren Akteuren und Verfahren und
2. die Legitimation dieser beiden Prozesse nicht aus einem verfassungseinheitlichen Ordnungskonzept, sondern bereichsspezifisch – hier für das Allgemeine Verwaltungsrecht – zu
begründen und d. h. im funktionellen Vergleich.
(9) Die beiden Prozesse lassen sich wie folgt beschreiben:
Auf der einen Seite steht eine kontinuierliche Entwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts seit
dem Kaiserreich, die sich grob in drei Phasen gliedert: Erste Phase der wissenschaftlichen Systembildung, zweite Phase der richterrechtlichen Bestätigung bzw. Weiterentwickelung, dritte Phase der Teilkodifizierung Allgemeinen Verwaltungsrechts.
Allein in die erste Phase dieser Entwicklung fallen auf der anderen Seite die Geltung einer monarchischen und einer republikanischen Verfassung, der Nationalsozialismus und die Entstehung des Grundgesetzes.
(10) Legitimation hängt nicht nur von der Ableitbarkeit des Rechts, sondern vor allem von den verschiedenen Modi seiner Änderbarkeit und Entwicklung ab.
2. Historische Relationen: Constitutional moments und die Narrative des Allgemeinen
Verwaltungsrechts
(11) In einem Denken in Prozessrelationen ist Verfassunggebung eine relative Größe, deren Funktion
hinterfragt werden darf.
(12) „Constitutional moments“ sind keine Zeitpunkte für Verwaltungs- und Verwaltungsrechtsreformen.
(13) Es ist plausibel, dass der Verfassunggeber die weitere Systembildung im Verwaltungsrecht anderen Akteuren überlässt. Der Konstitutionalist macht sich selbst zum Leitakteur.
(14) Wer allein den Akt der Verfassunggebung zum Anlass nimmt, trägt die Argumentationslast dafür,
dass ein Leitbild der Systembildung nicht nur im Rahmen der Verfassung möglich, sondern seinerseits
verfassungsgeprägt ist. Wer Spielräume der Rechtsentwicklung durch Berufung auf eine diffuse Verfassungskonkretisierung einschränkt, stärkt nicht, sondern schwächt die Legitimität der Systembildung.
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(15) Abweichend von Otto Mayer und Fritz Werner kann die Entwicklung vom Allgemeinen Verwaltungsrecht als Emanzipationsgeschichte erzählt werden („Allgemeines Verwaltungsrecht als emanzipierte Systembildung“): Sie handelt von einer Emanzipation gegenüber der Disziplin des Zivilrechts,
die außerhalb des Ausstrahlungsradius der Verfassung bleibt und die der Gesetzgebung als sonst erster
Gewalt voranschreitet.
3. Institutionelle Relationen: Legitimation und Zusammenspiel der Akteure bei der
Entwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts
(16) Die Teilkodifikation des Allgemeinen Verwaltungsrechts ist kein (Recht-)Setzungsakt der ersten
Gewalt im idealtypischen Sinne des Grundgesetzes.
(17) Das Allgemeine Verwaltungsrecht folgt dem überkommen geglaubten materiellen Gesetzesbegriff, der seine Legitimation nicht in einer Entscheidung der Mehrheit, sondern in der Verallgemeinerbarkeit von Rechtsätzen sucht.
(18) Kodifikationsgesetzgebung ist ein eigener Typus der Rechtsfortbildung in Gesetzesform. Solche
Konsensgesetzgebung ist dem Idealtypus der Gesetzgebung geradezu entgegengesetzt: Sie baut weder
auf parlamentarische Kompromissfindung noch auf die jederzeitige Änderbarkeit bei wechselnden
Mehrheiten. Klassische Gesetzgebung äußert sich nicht in der Bestätigung Allgemeiner Rechtsgrundsätze, sondern in der Möglichkeit, von diesen abzuweichen.
(19) Die Entwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts lässt sich institutionell nur erklären, wenn
wir auch die Rechtsfortbildung als eigenen Typus richterlicher Gewalt anerkennen. Es ist verengend,
lediglich drei Gewalten zu unterscheiden und dabei die Gerichte allein von ihrer Aufgabe der Einzelfall-Rechtsprechung zu konzipieren.
(20) Eine rechtsfortbildende Gewalt der Obergerichte ist als originär zu begreifen. Es wäre dysfunktional, die maßstabsfortbildende Gewalt auf der hohen Abstraktionsebene der Systembildung und der
folgerichtigen Konkretisierung allgemeiner Rechtsgrundsätze als originäre Aufgabe der Parlamente zu
verstehen.
(21) Dem Zusammenspiel der Akteure auf Bundes- und Landesebene bei der Entwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts liegt ein Verbundmodell zugrunde. Das BVerwG hat sich in der Phase vor
der Kodifikation des VwVfG in einen konsensgerichteten Dialog mit den Oberverwaltungsgerichten
begeben, statt alle Revisionskompetenz für das Allgemeine Verwaltungsrecht an sich zu reißen
(„Verwaltungsgerichtsverbund“). Die Parallelgesetzgebung der VwVfG-Gesetzgeber kann als „Gesetzgeberverbund“ bezeichnet werden.
(22) Der Entwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts liegt kein Modell hierarchischer Unitarisierung durch Bundes(verfassungs)recht, sondern ein Modell konsentierter Homogenisierung des Rechts
zu Grunde. Dieses Verbundmodell trägt die organisationsrechtliche Legitimation einer vernunftrechtlichen Rechtsverallgemeinerung und damit auch die innerstaatliche Systembildung.
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IV. Verfassungsrechtsdogmatik in Relation zur Entwicklung des Allgemeinen
Verwaltungsrechts
1. Das vorgefundene Rechtsstaatsprinzip und die verwaltungsrechtliche Systembildung
(23) Die Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung i. S. d. Grundgesetzes ist das Extrakt einer bereits weit
fortgeschrittenen verwaltungsrechtlichen Systembildung. Der verfassungsrechtliche Vorbehalt des
Gesetzes gilt im Allgemeinen Verwaltungsrecht allenfalls als Rückschrittsverbot.
2. Mythos und Dogmatik des Art. 19 Abs. 4 GG
(24) Es ist eine Legende, Art. 19 Abs. 4 GG habe eine „kopernikanische Wende“ ausgelöst und sei
„neuartig“, „prägend“ und „nicht wegzudenken“ aus dem Allgemeinen Verwaltungsrecht. Er ist das
bestätigende Extrakt der Entwicklung des einfachen Rechts und die reife Frucht einer kontinuierlichen
Entwicklung.
(25) Art. 19 Abs. 4 GG ist offen gegenüber auch objektivrechtlicher oder weniger intensiver materiellrechtlicher Kontrolle.
3. Entwicklung des Demokratiekonzeptes für die Verwaltungsorganisation als
Leitbildwechsel auf Verfassungsebene?
(26) Im Grundgesetz und in Landesverfassungen finden wir drei Ansätze vor, die kein geschlossenes
Konzept ergeben und für eine Leitbildentwicklung offen stehen: Selbstverwaltung, hierarchische Verwaltung und unabhängige Verwaltung.
(27) Aus dem Grundgesetz ist kein Umkehrschluss zu ziehen, dass Unabhängigkeit verboten wäre, wo
sie nicht garantiert wird. Ihm kann keine Ausgangsvermutung zugunsten eines hierarchischen Ableitungszusammenhangs von Behörden entnommen werden. Es ist offen gegenüber unabhängigen Behörden, die dem unionsrechtlichen Leitbild entsprechen.
V. Betrachtung der europäischen Entwicklungen in Prozessrelationen
(28) Das Unionsrecht ist heute die primäre Impulsquelle für die verwaltungsrechtliche Systembildung.
(29) Während wir im nationalen Recht Verfassungsrecht und Allgemeines Verwaltungsrecht als zwei
voneinander zu trennende Entwicklungen erkennen, beobachten wir auf Unionsebene einen weitgehend parallel verlaufenden Prozess.
(30) Es wäre zwar denkbar, ist aber nicht wünschenswert, Effektivitätskategorien umfassend in das
Verfassungsrecht hineinzulesen.
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