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Lawinen und Recht
Lawinenbeurteilung und -sicherung im Skigebiet
Serafin Siegele
1Einleitung
Ischgl im Tirol hat 1600 Einwohner und 11 500
Gäs­tebetten. Pro Wintersaison werden 1,3 Millionen Übernachtungen verzeichnet und die Silvrettaseilbahn AG weist über 2 Millionen Ersteintritte
auf. Das Skigebiet Ischgl (mit Samnaun) umfasst
45 Seilbahnen und Sesselbahnen, deren Förderleistung bei 90 000 Personen pro Stunde liegt.
238 Pistenkilometer sind zu unterhalten und zu
­sichern. Im Winter sind rund 500 Personen bei den
Bahnen inkl. Restaurants angestellt.
Anfang der 1970er Jahre gab es einen starken Anstieg der Gästezahl. Bei schlechtem Wetter war
das Skigebiet und die Talabfahrt nach Ischgl oft
mehrere Tage gesperrt. Damals gab es erste
Überlegungen, im Bereich der Talabfahrt Lawinen
künstlich auszulösen. Das erste Sprengstofflager
wurde im Dorf Ischgl erstellt. In der Saison 1972/
1973 betrug der Verbrauch 25 kg Gelatine Donarit.
Heute werden pro Wintersaison durchschnittlich 7
Tonnen Lawinensprengstoff verbraucht. Dazu
kommen noch Gazex-Einsätze. Wie in Österreich
üblich, wurden, z. B. zum Schutz von Sesselbahnstützen, auch Lawinenverbauungen erstellt (permanenter Lawinenschutz). Im Perimeter mit La­
winenverbauungen sind Auslösungen durch Skifahrer aufgetreten.
Die künstliche Lawinenauslösung wird als wichtigste Lawinenschutzmassnahme angesehen, um
eine möglichst frühzeitige Öffnung der Anlagen
und Pisten zu erreichen. In Ischgl wird neben der
Sicherung der Anlagen und Pisten auch ein
­grosser Teil des Freeridegebietes mitgesichert,
um Lawinenrettungseinsätze möglichst zu vermeiden.
Abb. 1: Skigebiet Ischgl, ohne Samnaun:
präparierte Skipisten (in gelb).
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Tagungsband Internationales Seminar, Davos 2015
Im Land Tirol ist grundsätzlich jede Gemeinde, in
deren Gemeindegebiet eine Gefahr für Lawinenkatastrophen besteht, verpflichtet, eine Lawinenkommission einzurichten. Dies gilt insbesondere
auch für Lifte, Seilbahnanlagen, Skipisten, Loipen
und Rodelbahnen. Ist der Bahnbetreiber nicht in
der Lage diese selbst zu bestellen, so ist der Bürgermeister verantwortlich, auch gegen Entgelt,
eine Lawinenkommission einzurichten. Grössere
Skigebiete haben in der Regel eine eigene Lawinenkommission. Dies ist auch bei der Silvrettaseilbahn AG der Fall.
2
Was sind die Aufgaben der
Lawinenkommission?
Die Aufgaben bestehen darin, auf die Lawinengefahr hinzuweisen (Vorhersagen von Wind, Wetter
berücksichtigen, um Zeit zum Räumen des Ski­
gebietes oder Teilen davon einzurechnen), Arbeitschecklisten zu erstellen, und Pistensperrungen
oder Öffnungen zu empfehlen. Im Weiteren wer-
den Sprengresultate und spontane Ereignisse beurteilt, es werden Schneedeckenuntersuchungen
durchgeführt und Beobachtungen im Gelände
(z. B. über die Windverhältnisse) gemacht. Wichtig
ist, alles aufzuzeichnen und zu protokollieren. Wie
bei vielen Bergbahnen üblich werden die Massnahmen, wie z. B. Einsätze der künstlichen Lawinenauslösung, von der Lawinenkommission auch
selbst ausgeführt.
3
Welche Hilfsmittel stehen den
Lawinenkommissionsmitgliedern
für ihre Entscheidung zur
Verfügung?
Wichtige Hilfsmittel sind automatische Schneeund Windstationen, Wetterberichte, Lawinenla­
geberichte, tägliche Beobachtungen, Ergebnisse
der künstlichen Auslösung, Schneedeckenuntersuchungen und besonders im Frühjahr auch der
Temperaturverlauf und das Mitberücksichtigen
des Strahlungseinflusses.
Abb. 2: Lawinenabgang auf Skiweg, daneben Freeridespuren (Foto S. Siegele)
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Temporäre Sicherungsmass­
nahmen im Skigebiet Ischgl
Folgende Methoden der künstlichen Lawinenauslösung werden eingesetzt: Handwurfladungen,
Sprengseilbahnen, Sprengungen vom Helikopter,
Gazex und Wyssen-Lawinensprengmasten (auf
Schweizer Gebiet zusätzlich noch Armeewaffen).
Handwurfladungen: Jederzeit einsetzbar, Auslöse­
erfolg sofort sichtbar, kostengünstig. Nachteilig
ist, dass die Sprengpunkte oben im Lawinenhang
zuerst erreicht werden müssen (benötigt häufig
eine Pistenmaschine mit Fahrer), dass die Arbeit
nicht ungefährlich ist, der Sprengpunkt häufig
nicht ideal ist, es zeitaufwendig ist und die Sprengladungen in der Schneedecke detonieren (was
eine kleinere Sprengwirkung bedeutet).
Sprengseilbahn: Bei jedem Wetter einsetzbar,
sehr gute Wirkung durch die Sprengung oberhalb
der Schneedecke, viele Sprengpunkte im Lawinenhang erreichbar. Es besteht ein grösserer Zeitaufwand gegenüber den anderen ortsfesten An­
lagen mit Funkauslösung und nachteilig sind auch
die Investitionskosten, dies insbesondere bei längeren Bahnen.
Gazex: Bei Tag und Nacht einsetzbar, Zündung ab
Computer, sicheres Arbeiten, Explosion über der
Schneedecke und kein Hantieren mit Sprengstoff.
Folgende Nachteile werden genannt: Fixer Standort, Bestückung mit Helikopter, Wartung im Gelände, Investitionskosten. Hingewiesen wurde,
dass die Wartungsarbeiten sehr sorgfältig durchzuführen sind (Ventile usw.).
Wyssen-Lawinensprengmasten: Bei Tag und Nacht
einsetzbar, Sprengung oberhalb der Schneedecke,
sehr grosse Sprengwirkung, Sprengen ab Computer, sicheres Arbeiten sowie Wartungsarbeiten
nicht im Gelände. Als nachteilig werden wiederum
der fixe Standort, die Bestückung nur mittels Helikopter und die Investitionskosten angesehen.
Lawinensprengung aus dem Helikopter: Schnell,
jeder Sprengpunkt erreichbar, Lawinenzüge können von unten «entladen» werden. Nachteilig ist
vor ­allemdie Abhängigkeit von Flugwetter (daher
nicht immer der ideale Zeitpunkt), Sprengung in
der Schneedecke sowie die Kosten.
Abb. 3: Beispiele von Gleitschneeabgängen und eines Fischmauls (Foto S. Siegele).
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5Gleitschneelawinen
Die Gleitschneeproblematik stellt in manchen
Wintern ein sehr grosses Problem dar. Falls der
Boden im Herbst beim Einschneien nicht gefroren
ist und es früh sehr viel schneit, können Gleitschneelawinen über den gesamten Winter auf­
treten.
Falls Risse in der Schneedecke entstehen («Lawinenmaul», «Fischmaul»), werden darunterliegende
Pisten zum Teil tagelang gesperrt. Sprengver­
suche wurden zum Teil auch durchgeführt, aber
meist ohne Auslösung der Gleitschneelawine.
Falls längere Zeit (Tage) keine Bewegung zu beobachten ist, wurden Sperrungen wieder aufgehoben.
Nicht bei jedem Fischmaul kommt es zu einem
Abgang der Gleitschneelawine. Ein Gleitschneeriss kann sich einen halben Meter oder weiter öffnen und danach kaum mehr grösser werden. Andererseits kann es auch unmittelbar oder äusserst
kurz nach der Rissbildung zu einem Lawinenabgang kommen. Die Situation ist sehr schwierig
einzuschätzen.
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Umgang mit Nassschneelawinen
Wichtige zu beobachtende Faktoren, sind die
Strahlung, die Temperatur, die Bewölkung, die
Windverhältnisse (v. a. bei Föhn) sowie die Luftfeuchte während der vorangehenden Nacht und
die Abstrahlung.
In Ischgl werden viele Sprengversuche bei Nass­
schneeverhältnissen gemacht – mit gutem Erfolg
(d. h. Auslösung). Falls der Schnee stark durchnässt ist, werden Sprengungen auch während des
Skibetriebes durchgeführt. Die Pisten werden
dann mit Netzen abgesperrt und mittels Absperrposten kontrolliert. Falls nötig, werden ­Pisten aber
auch (z. B. im Tagesverlauf).
Serafin Siegele ist seit 24 Jahren Pistenchef der Silvretta Schiarena ­in Ischgl und Chef der Lawinenkommission.
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Résumé: Évaluation des dangers
d’avalanche et sécurisation dans un
domaine skiable
Le thème Évaluation et sécurisation des avalanches
dans un domaine skiable est abordé par l’exemple du
domaine skiable d’Ischgl. Après une présentation du
domaine et un bref historique du développement des
mesures de sécurité, les responsabilités et le travail de
la Commission avalanches dans le domaine skiable
sont abordés. Par la suite, le conférencier présente les
mesures de sécurité actuelles, qu’elles soient permanentes ou temporaires, et décrit leurs avantages et inconvénients. Pour les mesures temporaires de sécurité,
l’accent est mis sur les différentes méthodes de
­déclenchement par explosif mises en oeuvre dans le
domaine skiable. Un autre point important est la prise
en compte des avalanches de glissement et de neige
humide dans le domaine skiable.
Serafin Siegele, chef du service des pistes de Silvretta
Schiarena Ischgl depuis 24 ans et chef de la Commission avalanches.
Riassunto: Valutazione del pericolo
di valanghe e messa in sicurezza nei
comprensori sciistici
Il tema della valutazione del pericolo di valanghe e della
messa in sicurezza nei comprensori sciistici sarà
­affrontato sull’esempio del comprensorio di Ischgl. A tal
fine verrà dapprima presentato il comprensorio sciistico. Dopo una breve retrospettiva storica sull’evoluzione
delle misure di sicurezza, saranno illustrate le competenze e le attività della commissione valanghe che opera nel comprensorio sciistico. Il relatore presenterà
quindi le odierne misure di sicurezza permanenti e temporanee e illustrerà i loro vantaggi e svantaggi. Dal punto di vista delle le misure di sicurezza temporanee, il
relatore si soffermerà sui vari metodi di distacco artificiale tramite esplosivi impiegati nel comprensorio. Inoltre verrà spiegato come vengono affrontate le valanghe
bagnate e da reptazione nell’area di competenza.
Serafin Siegele è responsabile delle piste Silvretta
Schiarena Ischgl da 24 anni e capo della commissione
valanghe.
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