Kantaten-Gottesdienst: "Brich dem Hungrigen dein Brot"

Kantaten-Gottesdienst
15.11.2015 – 9.30 Uhr – ref. Kirche Elgg
„Brich dem Hungrigen dein Brot“
Mitwirkung: Bach-Amateur-Ensemble
- EINGANGSCHOR BWV 39: „BRICH DEM HUNGRIGEN DEIN BROT“ (Alle Texte s. unten)
- Begrüssung u. Einführung
(…)
Unser Gottesdienst heute Morgen ist aber nicht nur geprägt durch die erwähnten Kantatensätze…,
nein, gar nicht anders möglich ist es, als dass auch diejenigen zutiefst erschütternden Geschehnisse nur
allzu präsent sind, die sich in der Nacht von Freitag auf Samstag in Paris ereignet haben.
(…)
Und so werden wir Bachs Musik – schon ganz ursprünglich komponiert und betextet zum Zwecke der
gottesdienstlichen Verkündigung – hören vor dem Hintergrund dessen, was sich dieser Tage nicht
einfach ausblenden lässt.
Öffnen wir darum all unsere Sinne…, zu hören und zu vernehmen mit Kopf und Herz, was uns von
dieser wunderbaren Musik…, von diesen kraftvollen alten Texten auch heute erreichen kann.
Und so feiern wir heute Gottesdienst…, im Namen der Liebe und Menschlichkeit wider jeden Hass…,
im Namen der ergreifenden Schönheit wider vernichtendes Chaos…, im Namen der trotzigen
Hoffnung wider alle Angst und Schrecken.
- ALT-ARIE BWV 39: „SEINEM SCHÖPFER NOCH AUF ERDEN“
- Psalmgebet (Ps 146); RG 144
Gemeinde im Wechsel
- SCHLUSS-CHORAL BWV 39: „SELIG SIND, DIE AUS ERBARMEN“
(Gemeinde singt mit)
- 1. Betrachtung
Drei wunderbare Sätze haben wir nun schon gehört und – wie eben – mitgesungen…, Sätze aus der
Kantate „Brich dem Hungrigen Dein Brot“, komponiert für den ersten Sonntag nach Trinitatis, am 23.
Juni 1726. Die Lesungen an diesem Sonntag handelten von der Liebe Gottes – sie galt es, in den
Texten aufscheinen und bedacht werden zu lassen.
Wunderbare Musik, Worte aus einer anderen Zeit – wie leicht, sich dem Ganzen bildungsbürgerlich
souverän und abgeklärt auszusetzen wie einem Museumsbesuch an einem verregneten
Sonntagnachmittag…: schön…, beruhigend…, betreffen lässt man sich gerade so weit, dass nichts
Gewohntes allzu sehr aus den Fugen zu geraten droht.
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Dabei – lassen wir die Texte nur in die heutige Zeit hineinsprechen, so könnten wir merken, dass sie
uns nicht zart umspinnen, sondern recht eigentlich mitten ins Mark treffen.
„Brich dem Hungrigen dein Brot und die, so in Elend sind, führe ins Haus.“ Da geht es nicht um
Sozialromantik in Albert-Anker-Ästhetik, gegen die gar niemand etwas haben kann. Nein, lassen wir
uns wirklich davon betreffen, dann erwischt es uns existentiell:
„Brich dem Hungrigen dein Brot“…, was hiesse das denn konkret? Es hiesse: zu teilen! Und zwar
dasjenige – beachten wir den ursprünglichen Kontext bei Jesaja –, wovon wir selber nicht im
Überfluss haben: Wohnraum – „die, so im Elend sind, führe ins Haus“, hiess es doch –,
Arbeitsplätze…, Steuergelder für Sozialausgaben…, den Sitzplatz im Dichtestress-geplagten S-BahnWaggon – „entzieh dich deinem Mitmenschen nicht!“
Das sollen wir teilen? Das sich gern als christlich bezeichnende Abendland baut Zäune und
Mauern…, errichtet Lager hinter Stacheldraht…, spricht von Flüchtlings-Flut… Wir Pfarrpersonen
werden angehalten, bettelnde Menschen an der Pfarrhaustür unverzüglich der Polizei zu melden…,
diese seien nämlich illegal.
Dagegen: „Brich dem Hungrigen dein Brot“… „Und die, so im Elend sind“ führe ins Haus“.
Was nun? Für was entscheiden wir uns? Beides gleichzeitig ist nicht möglich.
Und dann das! Unsere offene Gesellschaft wird angegriffen…, unschuldige Menschen werden auf
grausamste Weise ermordet…, im Herzen der europäischen Aufklärung…, Töchter und Söhne sind
gestorben…, Brüder und Schwestern…, Freunde und Freundinnen. Aus Hass…, aus vermeintlicher
Rache…, aus menschenverachtender ideologischer und religiöser Verblendung. Von Menschen –
mutmasslich –, denen einst selbst die Türe geöffnet wurde, die aber offenbar dennoch nie ganz
angekommen sind…, ankommen wollten…, ankommen konnten.
Kommt da nicht jegliches Erbarmen an Grenzen? Gerade den Menschen gegenüber, die einen – in
unseren Augen – ähnlichen geographischen, kulturellen, religiösen Hintergrund haben wie diese
Mörder? Ist da der Wunsch nach Abschottung nicht verständlich? Das Bedürfnis nach Zäunen und
Mauern? Danach, sich das Recht herauszunehmen, sehr genau hinzuschauen, wer denn ins eigene
Haus gelassen wird…, nach unseren ganz eigenen Interessen zu entscheiden, wessen „fremder Not“
wir uns aus Erbarmen annehmen?
Ja, er ist verständlich, dieser Wunsch…, verständlich und wohl zutiefst menschlich.
Ihm…, diesem Wunsch nachzugeben, hiesse aber auch: zu kapitulieren…, an ein Ende dessen zu
kommen, was uns als jüdisch-christliches Erbe aufgegeben ist…: eine Kultur der Gastlichkeit und
Barmherzigkeit…, geboren einst im Wunsch, das Erbarmen des Schöpfers nachzuahmen.
Wollen wir das aufgeben? Mit welchen Ohren hörten wir dann Bachs Kantate…: „Brich dem
Hungrigen dein Brot?“ Dürften wir sie noch hören?
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Und wie weit reicht es denn überhaupt noch…: unser Vertrauen in des Schöpfers Barmherzigkeit,
wenn wir das Leid sehen, vor unserer Tür…, in Paris in diesen Stunden…, auf den Flüchtlingsrouten
übers Mittelmeer und durch Südosteuropa…, in den vergessenen Dörfern irgendwo in Afrika? Wo –
um Himmels Willen – soll sie da sein, diese Barmherzigkeit?
An was halten wir uns? Was ist uns wichtig und wesentlich? An was hängen wir uns Herz?
- BASS-ARIE BWV 26: „AN IRDISCHE SCHÄTZE“
- 2. Betrachtung
Ja, woran hängen wir unser Herz? An irdische Schätze? Das zu tun, hiesse den Versuchungen einer
Welt erliegen, deren Ordnung immer wieder auf dem Kopf steht – so haben wir es eben gehört.
Reichtum, Status und Macht – wir wissen, das alles hat letztlich keinen Bestand. Wie leicht entstehen
verzehrende Gluten, wallende Fluten und lassen alles zerschmettert in Trümmern zerfallen.
Nein, kaum jemand kann ernstlich und aufrichtig meinen, Materielles und eine hohe Position auf der
sozialen Leiter könnten „Schätze“ sein, die Sinn und Zweck unseres Lebens hier auf dieser Welt zu
begründen vermöchten.
Was ist aber mit anderen „Schätzen“? Mit solchen, die durchaus auch als „irdisch“ gelten können und
an die wir durchaus unser Herz hängen?
Was ist mit der Liebe? Was ist mit Lebensfreude…, mit Hoffnung und Dankbarkeit für all das, was
uns geschenkt wird? Was ist mit dem Leben als solchem?
Sind das nicht alles auch „irdische Schätze“? Ja, zumindest wenn wir diese unsere Erde als Schöpfung
begreifen…, als Raum, dem Sinn und Zweck eingeschrieben ist…, zumindest dann sind Liebe,
Achtsamkeit, Freude, Hoffnung und Dankbarkeit durchaus auch „irdische Schätze“…, und zwar
solche, an die ich mein Herz mit aller Inbrunst hängen will!
Aber, so der Arien-Text, den wir gehört haben…, ist es nicht töricht, sein Herz auch an so verstandene
„irdische Schätze“ zu hängen? Auch hier gilt doch: Wie leicht und schnell kommt die Flut und alles
liegt in Trümmern?
Ja, das ist wohl wahr…, viel schmerzlicher als in diesen Tagen und Stunden kann uns das nicht
bewusst werden. Das Leben und die Liebe – wie zerbrechlich…, wie hauchzart! Wie „flüchtig“, wie
„nichtig“!
- EINGANGSCHOR BWV 26: „ACH WIE FLÜCHTIG, ACH WIE NICHTIG“
- REZITATIV SOPRAN BWV 26: „DIE HÖCHSTE HERRLICHKEIT UND PRACHT“
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- 3. Betrachtung
Ja, kein Leben entgeht dem Staub, der Asche. Und vergeht nur genügend Zeit, so breitet sich der
Mantel des Vergessens auch über vormals Geliebtes.
Unsere Hoffnungen, unsere Lieben…: endlich…, vergänglich…, „eitel“, wie Luther es nannte. Auch
an sie sein Herz zu hängen, mag tatsächlich „töricht“ sein.
Ja, wer liebt, der macht sich verletzlich…, der macht sich schwach…, wer hofft und glaubt, der macht
sich verwundbar auf eine Weise, wie es enttäuschungsresistente Resignation…, wie es
achselzuckender Fatalismus nicht kennen.
Die Liebe macht uns schwach…, und genau darin liegt ihre ureigene Stärke – Torheit in den Augen
weltlicher Vernunft…, Weisheit in den Augen Gottes, wie es Paulus schreibt.
Die Macht der Liebe liegt in ihrer freiwilligen Ohnmacht – von nichts anderem berichten die
Evangelien.
Wer liebt, weiss, dass dies nie ohne Schmerzen…, ohne Sorge gehen wird. Und trotzdem wählt er oder
sie diesen Weg – im Wissen um Fluten und Gluten…, im Wissen um Vergänglichkeit und Endlichkeit.
Aus den Reihen der Hinterbliebenen der Anschläge von Paris würde sich niemand wünschen, die
verlorene geliebte Person vorher nicht geliebt zu haben, nur weil der Verlust so nicht ganz so schwer
wöge.
Lieben wir weiter…, hängen wir unser Herz daran…, an die Liebe für unsere Nächsten…, aber auch
an die Liebe zu den Fernsten…, an eine Mitmenschlichkeit, die im anderen Bruder und Schwester
sieht und sich nicht blenden lassen will von Hass und Feindlichkeit.
Darin…, in liebender Menschlichkeit…, darin liegt der einzige Weg zu bestehen, wo alles andere
nichtig wird…, der einzige Weg, Mensch zu bleiben in lauter Unmenschlichkeit.
Liebende Menschlichkeit…, Ehrfurcht vor dem Leben…, vor der Liebe…, vor Gott. Sie lässt uns
bestehen.
So singen wir es gemeinsam mit dem Bach-Ensemble im Schlusschoral, den Sie auf der Rückseite des
Liedblattes finden:
„Ach wie flüchtig, ach wie nichtig sind des Menschen Sachen. Alles, alles, was wir sehen, das muss
fallen und vergehen. Wer Gott fürcht’, bleibt ewig stehen.“
- SCHLUSS-CHORAL BWV 26: „ACH WIE FLÜCHTIG, ACH WIE NICHTIG“
(Gemeinde singt mit)
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- Fürbittengebet
Gott des Erbarmens
Fassungslos, entsetzt und mit tiefer Betroffenheit schauen wir nach Paris in diesen Tagen.
Unsere Gedanken und Gebete gelten zuallererst den Opfern und ihren Angehörigen…, den Rettungsund Sicherheitskräften…, all den Menschen, die in diesen Tagen Beistand, Kraft und Hilfe brauchen.
Wir spüren die Wut in uns, die sich gegen jeglichen Hass und jegliche Ideologie richtet, die anderen
Schlechtes will.
Wir spüren die Angst…, Angst, die sich auch in unser Leben schleicht…, Angst um unsere Lieben…,
Angst um unsere Welt, wie wir sie kennen.
Und wir spüren, dass all das die Macht hat, uns zu verändern. Uns dahin zu bringen, die Welt
ebenfalls im Schwarz-Weiss eines „Wir“ gegen „die Anderen“ zu sehen…, uns dahin zu bringen, dass
es nur noch eine eingeschränkte Liebe und Mitmenschlichkeit ist, zu der wir fähig und willens sind.
Du, Gott, der Liebe! Das wollen wir nicht! Gib Du uns den Mut und die Kraft, Deine Liebe für alle
Menschen in unserem Leben abzubilden…, lass uns Zeugen sein dieser Liebe…, gegen jeden Hass…,
so lange wir leben auf dieser Welt.
Wir bitten Dich, erbarme Dich! Amen.
- SOPRAN-ARIE BWV 127: „DIE SEELE RUHT IN JESU HÄNDEN“
- Abschlussbetrachtung
„Ach ruft mich bald, ihr Sterbeglocken“ – Ob wir diesen konkreten (soeben gehörten) Wunsch so nun
teilen oder nicht…, wir wissen: Auch unser Leben ist flüchtig, ist vergänglich…, auch unseren Leib
wird dereinst die Erde bedecken.
Dieses Wissen macht kostbar all das, was uns jetzt noch geschenkt ist…, dieses Wissen darf aber – im
Horizont der biblischen Verheissung – genährt sein von der Hoffnung, wie sie dem christlichen
Glauben seit je eigen ist: Dass wir im Leben wie im Sterben…, im Tod und darüber hinaus nicht fallen
können aus der Liebe, die von Gott ist und uns alle – jeden einzelnen, jede einzelne – begleitet, wo
immer wir auch sind.
Aus dieser Liebe heraus…: lieben auch wir!…, wider alle Logik…, wider allen Hass…, wider
jeglichen Wunsch nach blindwütiger Vergeltung!
Machen wir uns stark durch die Verletzlichkeit der Liebe…, brechen wir dem Hungrigen das Brot…,
lassen wir ein den Fremden in grosser Not…, kleiden wir die Nackten!
Es ist der einzige Weg, zu bestehen…, Mensch zu bleiben als Kinder Gottes…, in dieser flüchtigen, in
dieser nichtigen Welt und darüber hinaus.
So helfe uns Gott! Amen.
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Kantaten-Gottesdienst, 15.11.2015, ref. Kirche Elgg
Mitwirkung: Bach-Amateurensemble; Leitung: K. Brühwiler
Dorothea Christ, Sopran
Manuela Gerzner, Alt
Bernhard Bichler, Bass
Elsbeth Bornhauser, Orgel
Texte:
EINGANGSCHOR BWV 39: „BRICH DEM HUNGRIGEN DEIN BROT“
Brich dem Hungrigen dein Brot und die, so in Elend sind, führe ins Haus! So du einen
nackend siehest, so kleide ihn und entzeuch dich nicht von deinem Fleisch (= entzieh
dich deinem Mitmenschen nicht).
Alsdenn wird dein Licht herfürbrechen wie die Morgenröte, und deine Besserung
wird schnell wachsen, und deine Gerechtigkeit wird für dir hergehen, und die
Herrlichkeit des Herrn wird dich zu sich nehmen.
ALT-ARIE BWV 39: „SEINEM SCHÖPFER NOCH AUF ERDEN“
Seinem Schöpfer noch auf Erden
nur im Schatten ähnlich werden,
ist im Vorschmack selig sein.
Sein Erbarmen nachzuahmen,
streuet hier des Segens Samen,
den wir dorten bringen ein.
SCHLUSS-CHORAL BWV 39: „SELIG SIND, DIE AUS ERBARMEN“
(Gemeinde singt mit)
Selig sind, die aus Erbarmen
sich annehmen fremder Not,
sind mitleidig mit den Armen,
bitten treulich für sie Gott.
Die behülflich sind mit Rat,
auch, womöglich, mit der Tat,
werden wieder Hülf empfangen
und Barmherzigkeit erlangen.
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BASS-ARIE BWV 26: „AN IRDISCHE SCHÄTZE“
An irdische Schätze das Herze zu hängen,
ist eine Verführung der törichten Welt.
Wie leichtlich entstehen verzehrende Gluten,
wie rauschen und reißen die wallenden Fluten,
bis alles zerschmettert in Trümmern zerfällt.
EINGANGSCHOR BWV 26: „ACH WIE FLÜCHTIG, ACH WIE NICHTIG“
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
ist der Menschen Leben!
Wie ein Nebel bald entstehet
und auch wieder bald vergehet,
so ist unser Leben, sehet!
REZITATIV SOPRAN BWV 26: „DIE HÖCHSTE HERRLICHKEIT UND PRACHT“
Die höchste Herrlichkeit und Pracht
umhüllt zuletzt des Todes Nacht.
Wer gleichsam als ein Gott gesessen,
entgeht dem Staub und Asche nicht,
und wenn die letzte Stunde schläget,
dass man ihn zu der Erde träget,
und seiner Hoheit Grund zerbricht,
wird seiner ganz vergessen.
SCHLUSS-CHORAL BWV 26: „ACH WIE FLÜCHTIG, ACH WIE NICHTIG“
(Gemeinde singt mit)
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
sind der Menschen Sachen!
Alles, alles, was wir sehen,
das muss fallen und vergehen.
Wer Gott fürcht', bleibt ewig stehen.
SOPRAN-ARIE BWV 127: „DIE SEELE RUHT IN JESU HÄNDEN“
Die Seele ruht in Jesu Händen,
wenn Erde diesen Leib bedeckt.
Ach ruft mich bald, ihr Sterbeglocken,
ich bin zum Sterben unerschrocken,
weil mich mein Jesus wieder weckt.
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