Vorübergehender Schutz als möglicher Ausweg

Vorübergehender Schutz als möglicher Ausweg
Flüchtlingskrise. Es gibt ein EU-Instrument für Fälle eines Massenzustroms
Vertriebener aus Drittländern. Erstaunlicherweise wird offiziell darüber nicht
nachgedacht.
Von Hannes Tretter
Wien. In der Diskussion über den europäischen Rechtsrahmen zur Bewältigung des Massenzustroms
an Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak war bislang vor allem von den beiden EU-Richtlinien 2011
und 2013 die Rede. Sie setzen die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) um, harmonisieren die
Asylverfahren und sehen Maßnahmen zum subsidiären Schutz für alle diejenigen vor, die keinen
Anspruch auf Asyl haben, aber wegen drohender Gefahren nicht in ihre Heimat abgeschoben werden
dürfen.
Völlig unverständlich ist, dass bisher ein EU-Rechtsinstrument ausgeblendet wurde, das für die
Bewältigung von Massenflucht geschaffen wurde und ein rechtliches Fundament bietet, Flüchtlinge
auf Zeit aufzunehmen: die „Massenzustrom-Richtlinie“ 2001/55/EG (RL), die als Folge ethnischer
Vertreibungen aus Ex-Jugoslawien erlassen wurde.
Bewaffneter Konflikt, Gewalt
Die RL ist für den Fall eines Massenzustroms von Staatsangehörigen aus Drittländern und
Staatenlosen gedacht, die aus Gebieten vertrieben oder evakuiert wurden, in denen „ein
bewaffneter Konflikt oder dauernde Gewalt herrscht“ oder die „ernsthaft von systematischen oder
weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen bedroht waren oder Opfer solcher geworden sind“,
und deshalb nicht sicher und dauerhaft zurückkehren können. Sie werden nicht als „Flüchtlinge“,
sondern als „Vertriebene“ bezeichnet und brauchen ihre Herkunft vorerst nur glaubhaft machen. Das
Instrument gewährt für maximal drei Jahre eine sofortige, aber eben vorübergehende kollektive
Aufnahme insbesondere dann, wenn die Gefahr besteht, „dass das Asylsystem diesen Zustrom nicht
ohne Beeinträchtigung seiner Funktionsweise und ohne Nachteile für die um Schutz nachsuchende
Personen auffangen kann“.
Genau das aber ist durch die Uneinigkeit und Unentschlossenheit der EU und ihrer Mitgliedstaaten
eingetreten – ein weitgehender Zusammenbruch des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ und
mancher nationaler Asylsysteme, weil diese für eine Massenflucht weder konzipiert noch geeignet
sind. Dadurch wird auch den Flüchtlingen eine völlig unsichere Zukunft beschert. Anstatt sich des
Instruments vorübergehenden Schutzes zu erinnern und zu bedienen, werden lautstark die
Abschaffung der Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums, Obergrenzen und eine Verschärfung
des Asylrechts gefordert, was die chaotische Situation noch verschärft.
Zusätzlicher Anreiz zur Flucht?
So sieht verantwortungsvolle Politik nicht aus. Warum aber denkt nicht einmal die EU-Kommission
(offiziell) daran, die Anwendung der RL vorzuschlagen? Zu hören ist hinter den Kulissen, es gäbe
dafür keine Einigkeit der EU-Staaten, weil Solidarität gefragt sei und es für Betroffene ein zusätzlicher
Anreiz wäre, nach Europa zu fliehen.
Wahr wird wohl sein, dass es derzeit kaum Aussicht auf eine solidarische Aufnahme von
Schutzsuchenden durch die meisten EU-Staaten gibt. Sie müssten ihre Aufnahmekapazitäten bekannt
geben und wären für die Abwicklung von Asylanträgen derjenigen zuständig, die sie aufgenommen
1
haben. Völlig verkannt wird aber offenbar, dass die Anwendung der RL zur Bewältigung der Situation
eine Reihe von Vorteilen böte:

Da es völlig illusorisch und zudem völkerrechtswidrig wäre, die EU-Außengrenzen für Flüchtlinge
dicht zu machen, könnten mit deren vorübergehenden, kollektiven, raschen und geordneten
Aufnahme die Asylbehörden der EU-Staaten entlastet werden. Sie hätten die nötige Zeit, auf
gesichertem rechtlichem Fundament alle Flüchtlinge zu registrieren und Anträge auf Asyl oder
subsidiären Schutz ohne übermäßigen Zeitdruck zu prüfen. Denn die RL verhindert nicht die
Anerkennung von Flüchtlingen und die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach der GFK.

Zugleich hätten die EU und ihre Mitgliedstaaten Zeit, eine Repatriierung vorzubereiten, die dann
erfolgen kann, wenn sich die Situation in Syrien und/oder dem Irak stabilisiert (was ein Anreiz
sein könnte, sich intensiver als bisher an einer Lösung zu beteiligen). Oder einen Plan B
auszuarbeiten, falls eine Rückführung nicht erfolgen kann, weil nach der RL „zwingende
humanitäre Gründe vorliegen, die die Rückkehr in besonderen Fällen als unmöglich oder
unzumutbar erscheinen lassen“. Das ist mit dem subsidiären Schutz für abgelehnte Asylsuchende
etwa vergleichbar.

Vermutlich haben die meisten Vertriebenen keinen Anspruch auf Asyl, weil sie nicht individuell
verfolgt werden, sondern vor einem Konflikt fliehen, in dem serienweise Verbrechen gegen die
Menschlichkeit begangen werden. Da viele von ihnen bereit sein werden, in ihr Land
zurückzukehren, wenn sich die Sicherheitslage bessert und ein Wiederaufbau des Landes möglich
ist, werden sie auch keinen Antrag auf Asyl stellen, weil sie als Vertriebene bis zu einer sicheren
Repatriierung in Europa bleiben können und Schutz erhalten.

Vertriebene haben zwar im Aufnahmestaat auch, wenngleich zeitlich limitiert, das Recht auf
Aufenthalt und Dokumente sowie Ansprüche auf Unterkunft, Erwerbstätigkeit und
Weiterbildung, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und auf medizinische Versorgung,
aber in einem geringeren Ausmaß als Personen, die internationalen Schutz nach den
asylrechtlichen Bestimmungen genießen. Auch das würde die Situation in den Aufnahmestaaten
entlasten.

Es wäre zudem leichter, den Überblick über aufgenommene Vertriebene zu behalten: Temporär
Schutzberechtigte haben im Gegensatz zu international Schutzberechtigten keinen Anspruch auf
die Ausstellung eines Reisedokuments, was ihre Bewegungsfreiheit auf den Aufnahmestaat
beschränkt. Dieser hat es wiederum in der Hand, ihre auf Zeit beschränkte Unterbringung und
Versorgung durch logistische Maßnahmen in einen besseren Einklang mit der ansässigen
Bevölkerung zu bringen.

Denkbar wäre aufgrund der RL sogar, mit finanzieller Unterstützung des Asyl-, Migrations- und
Integrationsfonds (AMIF) Vertriebene nur in bestimmten EU-Staaten aufzunehmen und dort ihre
Registrierung und Versorgung sicherzustellen. Dabei könnten Behörden anderer EU-Staaten,
UNHCR und weitere internationale Organisationen mitwirken.
Wenngleich schon viel kostbare Zeit verstrichen ist, käme eine Anwendung der RL nicht zu spät. Sie
kann sich sowohl auf bereits nach Europa gekommene als auch auf zukünftige Vertriebene
erstrecken. Erforderlich wäre ein Beschluss des EU-Rates mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag
der EU-Kommission. Da in Brüssel offenbar Ratlosigkeit herrscht, hätte es jeder EU-Staat in der Hand,
die Kommission aus dem Dornröschenschlaf zu wecken: Diese muss den Antrag eines Mitgliedstaats
prüfen, dass die Kommission dem Rat einen Vorschlag unterbreiten soll. Herr Bundeskanzler, Herr
Außenminister, Frau Innenministerin – wollen Sie nicht auf einen solchen Beschluss der
Bundesregierung hinwirken? Vielleicht spielt Angela Merkel mit. Und vielleicht erwachen auch Jean2
Claude Juncker und Federica Mogherini aus ihrer Lethargie und schaffen es doch, nicht nur das
europäische Asyl- und Flüchtlingssystem, sondern auch die gefährdete Gemeinsame EU-Außen- und
Sicherheitspolitik vor einem völligen Kollaps zu bewahren.
____________
Hannes Tretter ist ao. Univ.Prof. für Grund- und Menschenrechte an der Universität Wien und einer
der Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte (BIM).
Der Artikel ist in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ am 1. Februar 2016 im
„Rechtspanorama“ erschienen.
3