X <9POL <10 DEU 12> 14LES> R<< << 06.06. 2015 >> >>R A4 ? www.sz-archiv.de 11 DEFGH Nr. 127, Samstag/Sonntag, 6./7. Juni 2015 BUCH ZWEI Was passiert mit den Kindern, wenn die Eltern sich trennen? Kinderseiten trennten, sagt Brisch. „Das reicht aber nicht. Sie müssen es schaffen, die Paarvon der Elternebene zu lösen.“ Mutter und Vater sollen also Kränkungen und Verletzungen aus der Beziehung ausblenden, wenn es um die Kinder geht. Leichter gesagt als getan. Das allein zu bewältigen ist für viele Eltern schlichtweg unmöglich. Trotzdem weigern sich viele, Hilfe anzunehmen. Die Standardantwort, die Brisch zu hören bekommt, lautet: „Ich bin okay, der andere gehört therapiert.“ Paul Bern und seine Exfrau waren nur einmal bei einer Beratung, ein zweiter Termin kam nicht mehr zustande. Der Grad ihrer Zerstrittenheit misst sich im Moment darin, wo sie Kira einander übergeben. Bis vor Kurzem durfte der Vater noch den Flur von Mareikes Wohnung betreten, manchmal sogar noch schnell auf die Toilette. Inzwischen darf er nicht einmal mehr ins Haus. Kira wird an öffentlichen Plätzen oder am Bahnhof übergeben. Wie sie sich dabei fühlt? Wenn sie spürt, dass die beiden Menschen, die ihr am meisten bedeuten, es keine zwei Minuten mehr miteinander aushalten? „Nach der Trennung waren wir wie zwei Magneten, die sich gegenseitig abstoßen “, sagt Bern kaum lauter als das Rattern des Zuges, irgendwo zwischen Würzburg und Aschaffenburg. Eine Frau neben ihm blickt von ihrem Buch auf. Im Großraumwagen riecht es nach Schweiß und Bier. Bern, der Comfort-Kunde, registriert es nicht mehr. Mal wollte seine Ehefrau mehr Kontakt, mal er. Nie beide gleichzeitig. Aber immerhin: Sie konnten anfangs noch miteinander reden. Wie es schließlich so weit kam, dass seine Exfrau und er heute nur noch in der Lage sind, das Allernötigste miteinander zu besprechen, kann Bern selbst nicht so genau sagen. Vermutlich, weil sie sich jetzt auch vor Gericht streiten. von ann-kathrin eckardt M ontagnachmittag, gleich muss Paul Bern wieder zum Bahnhof. Die letzten zwei Stunden verbringt er mit Kira in Bremen auf dem Spielplatz. Der Frühsommer ist zum Glück nicht mehr so verhalten wie die Tage zuvor. Paul Bern hat seine Tochter schon mittags aus dem Kindergarten abgeholt, damit sie noch etwas Zeit haben, Zeit zu zweit. Der Vater sitzt auf der Bank, das Mädchen im Sandkasten. Sie sagt: „Ich will bei dir bleiben, Papa.“ Er sagt: „Aber wir sehen uns doch bald wieder.“ Wir sehen uns doch bald wieder. Wie oft hat er diesen Satz inzwischen schon zu seiner Tochter gesagt? Fünfzigmal? Hundertmal? Kira ist jetzt fünf. Seine Exfrau hat sich von ihm getrennt, da war seine Tochter noch nicht mal zwei. Die sechs Wörter sind mit den Jahren eine Art Schutzschild geworden, hinter dem er sich verstecken kann, wenn der Abschied wieder naht. Bloß keine Tränen. Bloß nicht auf den Wunsch eingehen. Das macht alles nur noch schlimmer. „Irgendetwas muss ich ja antworten“, wird Paul Bern später, zurück in Passau, sagen. Es klingt wie eine Entschuldigung an sich selbst. Er hat erlaubt, ihn ein paar Monate zu begleiten. In den schönen Momenten mit seiner Tochter und in den schwierigen ohne sie. Es ist die Geschichte eines Vaters, der sich viel um sein Kind kümmert und es trotzdem verloren hat, zumindest für die meiste Zeit des Jahres. Es ist ein Drama, das zeigt, was schieflaufen kann in diesem Land, wenn zwei Menschen mit Kind aufhören, sich zu lieben. Manchmal legt der Vater an langen Wochenenden mehr als 3000 Kilometer zurück Paul Berns richtiger Name soll hier nicht stehen, einige Details und die Namen von Mutter und Tochter wurden ebenfalls verändert. Zu groß ist bei Bern die Angst, Kira ganz zu verlieren. Denn ob sie sich wirklich bald wieder sehen werden, das weiß der Vater beim Abschied auf dem Spielplatz selbst nicht so genau. Am Morgen, als Kira im Kindergarten war, hat er seine Exfrau vor Gericht getroffen. Ihr Antrag: alleinige elterliche Sorge für die gemeinsame Tochter. Es ist der Tiefpunkt einer Reihe aus Anschuldigungen und Zurückweisungen, aus Falschverstandenfühlen und Fehlinterpretationen. Vor allem aber ist es ein Rückfall in alte Rollenmuster. Paul Bern, 38, wollte da eigentlich nie reinpassen. Seine Haare fallen ihm glatt über die Schulter, er trägt Dreitagebart, Norwegerpulli und Turnschuhe, aber keine coolen. Bei den Passionsspielen in Oberammergau würde man ihn als Jesus besetzen. Nach drei Monaten hatte er Mareike bereits einen Heiratsantrag gemacht – das ist jetzt sieben Jahre her. Dann kam Kira. Nach ihrer Geburt lebten beide das, was Psychologen und Soziologen eine „moderne Ehe“ nennen. Sie ging nach vier Monaten wieder arbeiten, er blieb zu Hause. Weil sie den besseren Job hatte und weil er sich gern um das Wunschkind kümmern wollte. Stolz schob er Kira durch die Straßen, ging mit ihr in die Krabbelgruppe, brachte ihr ein paar Monate später die ersten Wörter und das Ballwerfen bei. Sie waren unzertrennlich. Vater und Tochter. Heute sieht Paul Bern sein Kind zwar täglich, aber nur auf dem Bildschirmhintergrund seines Computers. Will er Kira in den Arm nehmen, muss er erst einmal warten. Zwei, drei, vier, manchmal auch fünf Wochen, bis er „dran“ ist. Dann packt er ein paar Klamotten in eine kleine Reisetasche und Teddy, Hase und Leo, den Löwen, in einen blauen Jutebeutel. Die ersten Lieblingsstofftiere von Kira sind seine Reisegefährten geworden auf den langen Fahrten zwischen den Welten. Zwischen der mit und der ohne Kind. Ist Paul Bern dran, steigt er am Freitagabend um 19.24 Uhr in Passau in den ICE Richtung Frankfurt. Dort muss er umsteigen, eine halbe Stunde warten, dann geht es weiter mit dem IC Richtung Bremen. 900 Kilometer Fahrt liegen vor ihm, die ganze Nacht hindurch. Wenn sie gelegentlich die Oma in Süddeutschland besuchen, legt Bern, längst Bahn-Comfort-Kunde, an einem langen Wochenende mehr als 3000 Kilometer zurück. ZEICHNUNG: LISA BUCHER Verständnishilfe Sein Herz begann zu rasen, als Mareike ihm verkündete: Wir ziehen nach Bremen Im Kreidekreis Paul Bern sieht seine Tochter täglich – auf dem Bildschirmhintergrund seines Computers. In echt nur noch alle paar Wochen. Warum? Weil das heutige Umgangsrecht immer noch die Hausfrauenehe zugrunde legt Es gibt Züge, die keinen Umweg fahren, oder Flüge, aber die sind alle teurer. Und Geld spielt, wie in fast allen Scheidungsgeschichten, eine Rolle. Zwischen 200 und 500 Euro zahlt Paul Bern für jedes BremenWochenende, vorausgesetzt, er ergattert exakt drei Monate vor dem Umgangstermin ein gutes Sparticket. Plus 225 Euro Unterhalt. Als Musiker verdient er nicht besonders viel. Geld war schon immer ein Thema, auch damals, als Mareike und er noch zusammen waren. Vielleicht war es sogar der Grund für das Aus. Ein Streitpunkt war es auf jeden Fall. Obwohl sie eine moderne Ehe lebten, sieht das Ende nun auch bei Paul und Mareike so aus, wie bei den allermeisten der jährlich etwa 170 000 geschiedenen Ehen in Deutschland: Der Vater zahlt, die Mutter kümmert sich ums Kind. Etwa 200 000 minderjährige Kinder erleben jedes Jahr die Trennung ihrer Eltern. Das Grundgesetz sichert ihnen zwar das Recht auf Umgang mit beiden Eltern zu. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Deutsche Familiengerichte kommen mit den Streitigkeiten kaum noch nach. In Umgangsverfahren müssen sie minutiös re- DIZdigital: Alle Alle Rechte Rechte vorbehalten vorbehalten –- Süddeutsche Süddeutsche Zeitung Zeitung GmbH, GmbH, München München DIZdigital: Jegliche Veröffentlichung Veröffentlichungund undnicht-private nicht-privateNutzung Nutzungexklusiv exklusivüber überwww.sz-content.de www.sz-content.de Jegliche geln, wer wann das Kind sehen oder mit ihm wie lange telefonieren darf. In Sorgerechtsverfahren müssen sie prüfen, ob einem Elternteil tatsächlich das Recht abgesprochen werden sollte, zum Beispiel mitzubestimmen, wo sein Kind wohnt oder welche Schule es besucht. Viele Richter entscheiden noch immer nach dem Grundsatz: Im Zweifel für die Mutter. Denn obwohl vor der Trennung immer mehr Paare gemeinsam Geld verdienen und die Kinder Neun von zehn Kindern bleiben nach einer Trennung bei der Mutter zusammen erziehen, basiert das deutsche Familienrecht noch auf der Hausfrauenehe. Dass sich beide Eltern auch nach der Trennung die Erziehung teilen, ist im deutschen Gesetz so nicht vorgesehen. Nur wenn die Kinder exakt gleich viel Zeit bei Mutter und Vater verbringen, entfällt der Unterhalt. Hat ein Vater die Kinder aber nur 45 Prozent der Zeit bei sich, zahlt er trotzdem vollen Unterhalt. Am Ende bleiben neun von zehn Kindern bei der Mutter. Die Väter packen ihre Umzugskartons und verlassen das Zuhause. Und viel zu oft auch das Leben ihrer Kinder. Durch die Trennung werden viele Männer ausgeschlossen aus dem Familiengefüge, aus eben dem System also, das Politik und Gesellschaft seit Jahren versuchen, den Männern nahezubringen. Besonders hart trifft das die Generation der Väter um die dreißig, vierzig, für die Gleichberechtigung keine Frauenvision mehr ist, sondern gelebte Realität. Männer, die nicht stolz auf ihre Karriere sind, sondern darauf, einen wichtigen Platz in der Familie zu besetzen. Väter wie Paul. Die alleinerziehenden Frauen hingegen rotieren zwischen Arbeit und Kindern, nicht selten bis zur Erschöpfung, weil auch sie eben nicht mehr „nur“ die Kinder versorgen. Und die Kinder? Sie leiden. Manche still, manche laut, manche erst Jahre später. Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Die Kinder fragen sich: Bin ich es nicht wert? Was habe ich falsch gemacht? Vor allem im Alter zwischen fünf und acht, wenn Kinder alles auf sich beziehen. Kira ist gerade fünf geworden. Sie ist ein fröhliches, offenes Mädchen, das Yakari, den kleinen Indianerjungen, liebt. Und Pferde. Tote Fliegen können sie zum Weinen bringen – weil sie sich schuldig fühlt an deren Tod. Dass sie ein Problem mit der Trennung ihrer Eltern hat, fällt Fremden nicht auf. Den Eltern und den Erzieherinnen im Kindergarten schon. Schreianfälle bei den Übergaben oder Lügen: „Der Papa hat gesagt, du bist blöd“ sind nur zwei Symptome. Seit ein paar Wochen reißt sie sich einzelne Haare aus. Die Mutter will, dass Kira zum Psychologen geht. „Der Klassiker“, sagt Karl Heinz Brisch, „die Eltern schicken ihre Kinder in Therapie, dabei müssten sie selbst dort sitzen.“ Zu ihm in die psychosomatische Ambulanz im Haunerschen Kinderspital in München kommen Kinder, die denken, der Vater sei gegangen, weil sie den Hund nicht Gassi geführt haben. Kinder, die die Briefe vom Anwalt verstecken, um neuen Ärger zwischen den Eltern zu verhindern. Er behandelt Fünfjährige mit Angststörungen, Siebenjährige mit Schlafstörungen, Dreijährige mit Essstörungen, Elfjährige mit Lernstörungen. Fast alle sind Trennungskinder. Viele Eltern glaubten, dass ihre Probleme erledigt seien, wenn sie sich räumlich Gerne würde man auch seine Exfrau fragen. Vom Ende einer Liebe gibt es schließlich immer zwei Versionen. Aber beide zusammen an einen Tisch zu bringen, ist zurzeit unmöglich. Sie getrennt zu befragen, ebenfalls. Wie würde sie reagieren, wenn sie erfährt, dass ihr Exmann seine Geschichte erzählt? „Keine gute Idee“, sagt Bern knapp. Wo früher Vertrauen war, ist heute Misstrauen. Wo früher Verständnis war, ist heute Unverständnis. Jedes falsche Wort kann wieder zur nächsten Eskalation führen. Dabei hatten sie eigentlich alles ganz gut hinbekommen nach der Trennung, damals, als sie alle drei noch in Passau gelebt haben. Mareike, Kira und Paul. Die Eltern hatten ohne Gericht eine Lösung für den Umgang mit Kira gefunden: zweieinhalb Tage Mama, zweieinhalb Tage Papa, am Wochenende mal der eine, mal der andere. „Kira ging es gut, und uns auch“, sagt Bern. Sie praktizierten das Umgangsprinzip, das einer gleichberechtigten Gesellschaft am nächsten kommt: das Wechselmodell. Mindestens ein Drittel ihrer Zeit verbringen die Kinder beim anderen Elternteil. Sie sind dort nicht nur zu Besuch, sondern Zuhause. In Ländern wie Schweden, Belgien oder Australien gilt das Wechselmodell inzwischen als das beste. Zum Teil kann es auch gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden. Denn Dutzende Studien haben gezeigt: Wenn sie nach der Trennung eine enge Bindung zu beiden Elternteilen haben dürfen, geht es den Kindern am besten - auch wenn sie dafür häufiger umziehen müssen. In Deutschland ist das Wechselmodell noch die Ausnahme. Viele Richter rümpfen die Nase, wenn sie das Wort nur hören. Dabei werden auch die Mütter dadurch entlastet. Und die Gerichte. Denn wenn beide Eltern von vornherein wissen, dass der andere nicht einfach rausgekegelt werden kann, ist die Ausgangslage vor dem drohenden Rosenkrieg eine andere. Kiras Mutter aber lernte irgendwann einen neuen Mann kennen. Paul Berns Herz begann zu rasen, als sie ihm verkündete: In drei Wochen ziehen wir nach Bremen. Wir. Mareike und Kira. Nach dem ersten Schock kamen Wut, Verzweiflung und Verlustängste hoch. Und ja, auch Hass. Bremenkirabremenkirabremenkira – an etwas anderes zu denken, war unmöglich. Fortsetzung nächste Seite MockeviciuteJ SZ20150606S2687767 X <10PAN <11 DEU 14> 15FEU> R<< << 06.06. 2015 >> >>R A4 ? www.sz-archiv.de 12/13 BUCH ZWEI Samstag/Sonntag, 6./7. Juni 2015, Nr. 127 DEFGH 19.24 Uhr, Abfahrt in Passau. 900 Kilometer Fahrt liegen vor Paul Bern, die ganze Nacht hindurch. Am nächsten Morgen kann er Kira endlich wieder in die Arme schließen. Dann müssen sie sich irgendwo in der Stadt rumtreiben. In den Wochen zwischen den Besuchen schickt Bern seinem Kind selbstgemalte Postkarten mit Szenen aus dem Vater-TochterLeben, zum Beispiel von einem Besuch im Kindertheater. 18.09 Uhr, Rückfahrt nach Passau. Die letzten zwei Stunden haben Paul Bern und seine Tochter auf dem Spielplatz verbracht. „Ich will bei dir bleiben, Papa“, hat Kira gesagt, aber der Vater weiß, dass er den Wunsch ignorieren muss. Mit der Zeichnung oben hat er versucht, seiner Tochter die neuen Familienverhältnisse zu erklären dass sie jetzt zwar zwei Familien hat, aber nur einen Papa. ALLE FOTOS: KATHRIN SPIRK Fortsetzung von Seite 11 Es war, als würde er wissen, dass ihm in ein paar Wochen ohne Grund ein Bein amputiert werden würde. Noch schlimmer: ausgerissen. Dazu das Gefühl der Ohnmacht, etwas dagegen tun zu wollen, aber es nicht zu können – trotz gemeinsamen Sorgenrechts. Er fand sich auf einmal am Rande des kaukasischen Kreidekreises wieder. Kira in der Mitte, er auf der einen, die Mutter auf der anderen Seite des Kreises. Jeder versuchte, das Kind zu sich zu ziehen. „Am Ende habe ich das Kostbarste, das ich habe, losgelassen“, sagt Bern. Nächster Halt: Aschaffenburg. Auf dem Bahnsteig flackert eine Halogenleuchte. Eine Handvoll Fahrgäste steigt zu. Doch anders, als in Brechts Drama, hat Paul Bern sein Kind nicht gewonnen. Er hat es verloren. Das ist deutsches Familienrecht. Oberstes Gebot ist das Kindeswohl. Doch was genau das ist, weiß keiner. Jeder Richter, jeder Sachverständige, jeder Vater, jede Mutter, kann den Begriff nach Belieben auslegen. Manche Eltern verwechseln das Kindeswohl auch mit dem eigenen Wohlbefinden. Für sie gilt das ungeschriebene Gesetz: Wer das Kind hat, hat die Macht. Und wer die Macht hat, muss sich um das Gesetz nicht kümmern. Das gilt für Frauen Wer das Kind hat, hat die Macht – und muss sich um das Gesetz nicht kümmern wie für Männer. Aber meistens sind es die Frauen, bei denen die Kinder bleiben. Wollen sie den Vater nicht nur aus ihrem, sondern auch aus dem Leben ihrer Kinder jagen, hilft ihnen die Zeit. Hat ein Kind seinen Vater erst einmal ein paar Monate nicht gesehen, schwindet die Sehnsucht. Oft folgt auf den fehlenden Kontakt irgendwann sogar Ablehnung. Zeit frisst Bindung, so einfach ist das. Erst im Januar rügte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die langen Verfahrensdauern in Deutschland. Der Kläger, ein Vater aus Heidelberg, hatte zwar vor Gericht Besuchszeiten durchsetzen können, um seinen Sohn zu sehen, doch die Mutter verhinderte mehrmals den Umgang. Schließlich verhängte das Gericht ein Strafgeld gegen die Mutter: 300 Euro, nach insgesamt zehn Jahren Rechtsstreit. In kaum einem anderen Rechtsgebiet haben Richter einen so großen Ermessensspielraum – und Falschaussagen so geringe Konsequenzen. Die Wahrheit von der Unwahrheit zu trennen, ist für Familienrichter ein fast aussichtsloses Unterfangen. Wie sollen sie zum Beispiel entscheiden, wer Recht hat, wenn sowohl Vater als auch Mutter behaupten, das Kind wolle nicht zum anderen Elternteil? Als junger Richter stand Jürgen Rudolph vor genau dieser Frage. Von der Baukammer am Landgericht Koblenz war er in die unbeliebte „Familie“ im Moselstädtchen Cochem versetzt worden. Ohne zusätzliche psychologische Schulung sollte er auf einmal über das Schicksal von Kindern entscheiden. „Das war kompletter Wahnsinn. Ohne familienpsychologisches Grundlagenwissen kommt man da nicht weiter.“ Die ersten 13 Jahre, gibt er zu, habe auch ihm dieses Wissen gefehlt. „Man könnte sagen: Auch ich habe so eine Blutspur hinterlassen, wie ich sie heute durch die Bank in deutschen Gerichten wiederfinde.“ Als Familienanwalt hat er in den vergangenen vier Jahren nach der Richterpensionierung mehr als 80 Gerichte besucht. Inzwischen weiß Rudolph, dass vermutlich damals beide Eltern Recht hatten, weil sich Kinder meist loyal gegenüber dem Elternteil verhalten, bei dem sie gerade sind. Freitags wollen sie bei Mama bleiben, sonntags bei Papa. So wie Kira. „Das ist kein Widerspruch. Erkenne ich das allerdings nicht, gebe ich ein Gutachten in Auftrag, ohne zu wissen, welcher Sachverständige für diesen konkreten Fall der richtige ist“, sagt Rudolph. So ziehen die Monate ins Land. Auf Gutachten folgen Anträge und Gegenanträge. Eine ganze Industrie aus Anwälten und Sachverständigen profitiert davon. Eine ganze Generation von Trennungskindern verliert. Warum also hat Paul Bern sich nicht gegen den Wegzug der Tochter gewehrt? Die Frage drängt sich gleich beim ersten Treffen mit ihm auf, vor fünf Monaten in einem Café in Passau, es ist Winter . Bern blickt in den verschneiten Garten, als könne er irgendwo zwischen den vom Wind gejagten Flocken eine Antwort finden. Die Frage quält ihn seit zwei Jahren in schlaflosen Nächten, auf langen Zugfahrten und immer, wenn er allein an Spielplätzen vorbei kommt. Warum also? Er streicht sich die Haare mit beiden Händen aus dem Gesicht. „Natürlich hätte ich vor Gericht gehen können“, sagt er fast zögernd. Er hätte kämpfen können, um Kira aus dem Kreidekreis zu sich zu ziehen. Er hat sich das damals gut überlegt. „Aber was hätte mir das gebracht – außer einem Riesenstreit mit der Mutter? Außerdem wollte ich uns das Gericht ersparen, eine gute Basis schaffen.“ Vom Jugendamt musste er sich damals anhören, dass es seiner Tochter ohne ihn vielleicht besser gehe. Natürlich weiß Paul Bern, dass nicht alle Familienrichter zugunsten der Mutter entscheiden. Aber es ist wie beim Roulette. Wer kann voraussagen, ob die Kugel auf Schwarz liegen bleibt oder auf Rot? „Man kann als Vater eh nur alles falsch machen.“ Am Ende kapitulierte er. Heute bereut er die Entscheidung. „Ich hätte nicht mehr verlieren können.“ Nie wird er den ersten Skype-Anruf mit Kira nach dem Umzug vergessen. Freudig erzählt ihm die Dreijährige: „Papa, stell dir vor, ich hab hier jetzt noch einen Papa.“ Strahlen in Bremen. Tränen in Passau. Seit diesem Tag ist das Wort „Papa“ für Paul Bern kein unbefangenes mehr. Er hat ver- DIZdigital: Alle Alle Rechte Rechte vorbehalten vorbehalten –- Süddeutsche Süddeutsche Zeitung Zeitung GmbH, GmbH, München München DIZdigital: Jegliche Veröffentlichung Veröffentlichungund undnicht-private nicht-privateNutzung Nutzungexklusiv exklusivüber überwww.sz-content.de www.sz-content.de Jegliche sucht, Kira zu erklären, sie könne den anderen ja einfach „Papi“ oder bei seinem Vornamen nennen. Nur eben nicht Papa. Kurz bevor der Zug Frankfurt erreicht, steht Paul Bern von seinem Sitz auf, nimmt seinen Rucksack von der Gepäckablage und kramt Papier und Stift hervor. Den Block auf den Knien, malt er zwei gleichgroße Dreiecke nebeneinander (siehe Bild oben). „So hab’ ich versucht, ihr zu erklären, dass sie jetzt zwei Familien hat, aber eben nicht zwei Papas.“ Es hat nicht funktioniert. Kira sagt weiterhin „Papa“, wenn sie den Stiefvater meint. Dass ihn das so verletzt, darüber ärgert sich Bern selbst. Ist doch nur ein blödes Wort, versucht er sich einzureden. Manchmal bemüht er sich sogar, seinem Leid etwas Positives abzutrotzen: Sei froh, dass du überhaupt so intensive Gefühle erleben darfst. Wer weiß, vielleicht hilft dir das bei deiner Arbeit. Werden nicht alle Musiker von großen Gefühlen getrieben? Aber Berns Verstand kommt gegen die Angst, Gegen diese Angst, seine Tochter zu verlieren, kommt sein Verstand einfach nicht an seine Tochter zu verlieren, nicht an. „,Papa’, das Wort ist irgendwie das Einzige, das bleibt, aber selbst das wird einem genommen“, sagt er. Umsteigen in Frankfurt. Zum Glück ist der Nachtzug leerer als der erste. Bern hat ein Abteil allein für sich. Braunorangefarbene Ausziehsitze, matschgrüne Vorhänge, gut zum Reden, gut zum Heulen, eigent- lich auch gut zum Schlafen. Wenn nur das Gedankenkarussell aufhören würde, sich zu drehen. Wie soll ein Kind, das sechs Omas und zwei Familien hat, überhaupt verstehen, dass es nicht zwei Papas haben darf? Warum haben seine Frau Mareike und er, beide selbst Scheidungskinder, die Trennung nicht besser hinbekommen? Wie hat es sich angefühlt, als sich seine eigenen Eltern getrennt haben? Hatte er immer Bauchweh, wenn sich seine Eltern stritten oder nur manchmal? Warum hat er seinen Vater nach der Trennung kaum noch gesehen? Hat ihm der Vater gefehlt? Soll er selbst nun nach Bremen ziehen? Was, wenn Mareike dann ganz dicht macht, weil er ihr zu sehr auf die Pelle rückt? Würde er dort überhaupt genügend neue Musikschüler finden? Wird sich Kira später noch an die Zeit erinnern, die sie jetzt mit ihrem Vater verbringt? Was will er mit Kira eigentlich noch alles unternehmen? Kurz nach eins gewinnt endlich die Müdigkeit, schläft Paul Bern ein. Um 5.52 Uhr rollt der Zug in den Bremer Bahnhof ein. Immerhin: keine drei Stunden Verspätung heute, kein Streik, kein Zugausfall, keinen Flieger verpasst, keine verärgerten SMS von der Mutter. Noch ein paar Stationen mit der Straßenbahn, dann ist Paul Bern endlich wieder bei seiner Tochter. Die Haare sind vom Zugschlaf zerzaust, die Augen klein. Aus den Knöcheln seiner Hände ist das Blut gewichen, so fest umklammert er die Wasserflasche. Wie wird es Kira heute gehen? Wie wird die Übergabe laufen? Normalerweise zählt Kira am Telefon die Tage, bis er kommt. Dieses Mal nicht. „Der erste Mo- ment unseres Treffens ist immer der wichtigste“, sagt Bern. Wenn Kira gleich ihre Arme um ihn schlingt, Papapapapapa ruft, „dann wird es ein gutes Wochenende“. Aber zwei-, dreimal hat er auch schon gespürt, dass seine Tochter überfordert war. „Das schwingt dann das ganze Wochenende mit.“ Vielleicht ist das so, weil er besonders sensibel auf Kira reagiert. Weil er jede Regung, jedes Wort von ihr in sich aufsaugt. Wie ein Kamel am Wassertrog. Es muss ja reichen für die nächsten Wochen. Vielleicht ist es aber auch so, dass ihm einfach so viel fehlt. So viel Tochter, vor allem der Alltag mit ihr. Neulich, als Kira mal eine Woche bei ihm in Passau war, wurde sie krank. „Zuerst war ich traurig, aber dann war es eigentlich sehr schön.“ Weil er plötzlich nicht mehr der Programmpapa war, sondern ein Vater, der sein krankes Kind pflegt. Ein Alltagspapa. Mit seiner Exfrau teilt er sich zwar das Sorgerecht, aber er weiß nicht mal, wie Kiras Zimmer aussieht, mit was für Spielsachen sie spielt, wohin sie mit ihrer neuen Familie in Urlaub fährt. Bei den Elternabenden ist er genauso wenig dabei wie beim Sommerfest im Kindergarten. Er spürt, dass die Mutter ihn nicht an Kiras Leben teilhaben lassen will, weil das eben immer auch ihr Leben ist. Das macht ihn noch wütender, noch verzweifelter. Weil er Kira nach dem Umzug nur noch unregelmäßig sehen durfte, zog er schließlich doch vor Gericht, um sein Umgangsrecht einzuklagen. Die Antwort der Mutter: Antrag auf Entzug des Sorgerechts. Wenn Kira in die Schule kommt, wird die ganze Sache mit dem Umgang nicht ein- facher werden. Der Vater wird sich die Wochenenden teilen müssen mit ihren Freunden, mit den Kindergeburtstagen, den Ballettproben. Außerdem hat sie jetzt auch eine kleine Schwester. Vielleicht will Kira dieses ganze komplizierte Besuchszeremoniell irgendwann gar nicht mehr? Zum Glück gibt es Annette und Jutta. Für Paul Bern ist Annette Habert eine Art rettender Engel, einer mit braunem Kurzhaarschnitt und großen, bunten Halsketten. Die ehemalige Religionslehrerin, 54 Jahre alt, hilft mit ihrem Projekt „Flechtwerk 2 +1“ Eltern, die ihr Kind in einer anderen Stadt besuchen (siehe Interview). Sie hat Paul Bern zugehört und Tipps gegeben, wie er trotz Entfernung Kontakt halten kann zu Kira. Statt Briefe oder Mails zu schreiben, die die Mutter vorlesen muss, schickt Bern seiner Tochter jetzt gemalte Postkarten. Mit Aquarellstiften hält er Szenen aus dem Vater-Tochter-Leben fest. Vor allem aber hat Annette ihn zu Jutta geführt. Jutta hat extra Marshmallows eingekauft. Die 44-Jährige lebt mit Mann und drei Kindern am Rande Bremens, dort wo Stadt und Wald aufeinander treffen. Im Keller ihres Einfamilienhauses haben sie ein Gästezimmer. An diesem Wochenende ist es Pauls und Kiras Zimmer. Sie sind erst zum zweiten Mal hier, aber als sie am Samstagmorgen mit ihren Sachen, einer Tüte vom Bäcker und dem blauen Jutebeutel voller Stofftiere vor der Tür stehen, fühlt es sich schon ein bisschen vertraut an. Natürlich ist es kein zweites Zuhause. Sie sind nur zu Gast. „Aber für mich und Kira“, sagt Paul Bern, „ist das hier ein Jackpot.“ Als wenig später Nieselregen die Straßen dunkel färbt, ist es beiden egal. Heute brauchen sie kein Kindertheater, keinen Indoorspielplatz, um vor dem Regen zu flüchten. Kira ist längst im Zimmer der achtjährigen Katharina, Juttas Tochter, verschwunden. Wo sollen sie schlafen? Bei jedem Besuch muss der Vater eine Unterkunft finden Am Nachmittag, als es aufhellt, gehen Vater und Tochter eine Viertelstunde durch den Wald zum Ponyhof. Wer sie begleiten darf, spürt, wie wertvoll jede gemeinsame Minute für sie ist. „Kira hat eine gute Beziehung zum Vater, das soll auch in Zukunft so bleiben“, hat selbst die Anwältin der Mutter in ihrem Antrag auf alleinige Sorge geschrieben. Abends rösten alle gemeinsam die extra gekauften Marshmallows am Kamin. Das fand Kira schon beim letzten Besuch so toll. Annette und Jutta sind zwei, die helfen. Die Gesetze ändern muss die Politik. Wie sich das deutsche Familienrecht verbessern ließe, hat zum Beispiel Jürgen Rudolph, der Richter von der Mosel, bereits vor mehr als zwanzig Jahren gezeigt. 1992 begann er, intensiv mit allen an einem Sorgerechtsverfahren beteiligten Professionen zusammenzuarbeiten. Das Ausblenden eines Elternteils war verboten, Anwäl- te wurden gebeten, keine Anträge auf Entzug der elterlichen Sorge mehr zu verfassen, Sachverständige sollten zügig Gutachten schreiben, Eltern mussten in die Beratung gehen – auch gegen ihren Willen. Dank einer solchen „Zwangsberatung“ ist Elvira Steffes und dem Vater ihrer Zwillinge gelungen, wovon Paul Bern und Mareike noch Lichtjahre entfernt sind: Sie können heute wieder zusammen Familienfeste feiern. Und das, obwohl die 46-Jährige ihrem Exfreund einst schwor: „Du bekommst die Kinder nie.“ Steffes war 25, als sie schwanger wurde. Im vierten Monat trennte sie sich vom Vater. Was genau passiert ist, darüber möchte sie nicht sprechen. Nur so viel: „Er wollte ein Kind, nicht zwei.“ Und sie wollte den Vater am liebsten auslöschen aus ihrem Leben. Und aus dem ihres Sohnes und ihrer Tochter. „Ich dachte: Der tut mir nicht gut, dann kann er meinen Kindern auch nicht gut tun.“ Doch der Vater klagte, und Jürgen Rudolph drohte: „Wenn Sie nicht kooperieren, muss ich Ihre Erziehungsfähigkeit infrage stellen.“ Sofort nach der Verhandlung gingen beide Eltern zur Beratung – die Mutter anfangs „mit totalem Widerwillen“. Von da an trafen sie sich einmal im Monat, sechs Jahre lang. „Es war kein leichter Prozess, ich habe innerlich gekocht, als er die Kinder zum ersten Mal traf“, erinnert sich Steffes. Da waren die Kinder eineinhalb. „Aber ich habe lernen dürfen, dass es nicht um mich geht, sondern um die Kinder.“ Elvira Steffes sagt wirklich dürfen, nicht müssen. Am Ende seiner Amtszeit hatte Jürgen Rudolph kaum noch strittige Umgangsregelungen. Trotzdem: Ins Familienrecht übernommen wurde vom „Cochemer Modell“ bis heute fast nichts. Zwar gibt es Gerichte, die Nachahmermodelle geschaffen haben. Aber eine verlässliche Grundlage, an die sich alle Beteiligten halten, ist das nicht. Viele Mediatoren und Psychologen sind hierzulande auch heute noch gegen erzwungene Beratungen. „Aber wenn jemand seinen Führerschein verliert, dann muss er doch auch zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung!“ Rudolph kann bei diesem Thema richtig laut werden. „Die Leute gehen für ihren Lappen zum Psychologen. Für ihre Kinder nicht.“ Montagabend. Paul Bern hat Kira pünktlich nach Hause gebracht. Sie hat ihn umarmt, einmal, zweimal, dreimal. Aber aus dem Fenster gewunken hat sie dieses Mal nicht. Um 18.09 Uhr fährt der Zug zurück nach Passau. Mit jedem Kilometer gen Süden drückt die Schwermut, die Paul Bern dann immer befällt, ein bisschen mehr. Immerhin, die Richterin hat ihm das Sorgerecht am Morgen nicht aberkannt. Zuhause wird er wieder die Fotoalben durchblättern, die er jedes Jahr von seiner Tochter macht. Er wird nach schönen Bilderbüchern für Kira suchen, weil ihm das wenigstens das Gefühl gibt, ihr nahe zu sein. Er wird trauern, eine, manchmal auch zwei Wochen, und dann langsam wieder anfangen, sich zu freuen. Und er wird malen. Jede Woche eine Postkarte. SZ: Frau Habert, Sie investieren viel Zeit und Geld, um getrennt lebenden Eltern zu helfen. Warum? Annette Habert: Unsere Gesellschaft hat mit dem Abbruch von Beziehungen noch keinen konstruktiven Umgang gefunden. Flechtwerk möchte zu einer Veränderung beitragen. Konkret ist es der Wunsch eines Jungen, der mich antreibt. Sven, neun Jahre alt, erzählte mir, dass sein Vater ihn immer nur im Sommer besuchen komme, weil er dann im Auto schlafen könne. Das Gefühl, das der Junge haben musste, abends im Bett, wenn er an seinen Vater draußen im Auto dachte, hat mich nicht mehr losgelassen. Ich habe versprochen, ihm zu helfen und angefangen, nach Gastfamilien für den Vater zu suchen. Am Anfang habe ich die Gastgeber noch mit einer Flasche Wein belohnt, aber ich habe schnell gemerkt: Das braucht es gar nicht. Die Menschen, die Sie angesprochen haben, waren sofort bereit, einen Wildfremden bei sich aufzunehmen? Ja, das hat mich auch überrascht. Aber viele hatten Freunde oder Familienmitglieder in einer ähnlichen Situation. Dadurch habe ich erst gemerkt, wie groß die Nachfrage ist. So entstand das Projekt „Mein Papa kommt“. Inzwischen nehmen 650 Gastgeber mehr als 430 besuchende Eltern bei sich auf. Müsste man nicht noch früher ansetzen? Also darauf hinwirken, dass Eltern erst gar nicht so weit auseinanderziehen? Klar ist es für die Kinder das Beste, wenn beide Eltern an einem Ort wohnen bleiben, aber es entspricht eben nicht immer der Realität. Wir leben in einer mobilen Gesellschaft, wir verlieben uns, finden einen neuen Job, ziehen um. Nicht selten gehen Frauen nach einer Trennung auch wieder zurück zu ihren Eltern, um Unterstützung bei der Betreuung der Kinder oder Abstand zum früheren Partner zu bekommen. Wir müssen deshalb Strukturen für getrennt lebende Familien schaffen. Kinder haben nach der Trennung der Eltern zwei Rechte: Das Recht auf Unterhalt und das Recht auf Umgang – und zwar mit beiden Eltern. Unterhalt lässt sich einklagen. Umgang nicht, oder nur auf dem Papier. In Deutschland ist die finanzielle Sicherheit für Kinder nach einer Trennung oft viel eher gegeben als die Bindungssicherheit. Aber Kinder brauchen auch Vertrauen in die Tragfähigkeit von Beziehungen – erst recht nach der Erfahrung der Trennung ihrer Eltern. Ich habe selbst unsere zwei Kinder und ein Pflegekind mehr oder weniger allein großgezogen und dabei gelernt: Fehlende Unterhaltszahlungen kann man irgendwie ausgleichen. Einen fehlenden Vater nicht. Warum kommt es nach Trennungen immer noch viel zu häufig zum Kontaktabbruch mit einem Elternteil? Dafür gibt es viele Gründe, der Umgangsboykott eines Elternteils wird in Deutschland zum Beispiel, anders als in anderen Ländern, kaum bestraft. Aber auch das Finanzielle spielt eine große Rolle. Zieht ein „Es geht um mehr als einen Schlafplatz“ Annette Habert hat das Projekt „Mein Papa kommt“ gegründet. Es vermittelt Gastfamilien an Eltern, die ihr Kind nach einer Trennung in einer anderen Stadt besuchen müssen erzählen.“ Was vielen besuElternteil weg, können sich chenden Eltern fehlt, ist die viele nach Abzug der UnterWertschätzung in der Gesellhaltszahlungen die Fahrtkosschaft. An ihrem Wohnort ten und ein Hotelzimmer für werden sie ohne Kind nicht die Besuchswochenenden mehr als Vater oder Mutter einfach nicht mehr leisten – wahrgenommen, aber am zumindest nicht auf Dauer, Bis vor Kurzem Wohnort des Kindes eben selbst wenn beide Eltern das unterrichtete auch nicht, weil sie dort keiwollen. Wir erleben besudie 54-Jährige ner kennt. Die Gastfamilien chende Eltern, die im Auto noch Religion. geben nicht nur ein Bett, sonschlafen, am Bahnhof oder Jetzt bringt sie dern auch Vertrauen. Sie siauf dem Campingplatz. Die Trennungseltern gnalisieren Vater oder MutBegleitkosten des Umgangs bei, wie sie ter: Für mich bist du vertrauüber große Distanzen werKontakt zum enswürdig, weil du deine Elden weder im Regelsatz von Kind erhalten – ternschaft ernst nimmst. Hartz IV, noch in der Untertrotz Distanz. Wie viele der besuchenden haltsberechnung der DüsselEltern sind Mütter? dorfer Tabelle berücksichtigt. Oft wird der Umgang dann irgend- Etwa zehn Prozent. Wir haben auch die Domain meine-mama-kommt.de gemeldet. wann abgebrochen. Ist das Geld wirklich das Hauptproblem Bei Paul Bern in der obenstehenden der Menschen, die Ihre Hilfe beanspru- Reportage nimmt die Gastfamilie auch seine kleine Tochter Kira mit auf. Ist chen? Das kann man so nicht sagen. Hartz-IV- das die Ausnahme oder eher der NormalEmpfänger kommen genauso zu uns wie fall? Nach und nach sind auch immer mehr KinProfessoren oder Manager. Obwohl sie sich ein Hotel leisten könn- der bei den Gastgebern willkommen. Das ten, übernachten sie doch lieber bei ist sehr schön, denn die Erfahrung von Familie ist das Teilen von Alltagssituationen, Fremden? Oh ja. Es geht ja um mehr als einen Schlaf- nicht von Urlaub und Events. Immer nur platz. Ein Vater hat mir mal gesagt: „Ich Zoo, Schwimmbad und McDonald’s – das kann mir schon ein Hotel leisten, aber es reicht für eine gute Bindung nicht. Es ist ist so traurig, abends allein an der Bar zu deshalb sehr wichtig, das Kind auch ins sitzen und an sein Kind zu denken, wäh- Bett zu bringen, mit ihm zu frühstücken, rend die anderen von ihre Geschäftsreisen Hausaufgaben zu machen. Kann man in einem fremden Haus Alltag erleben? Am Anfang braucht es vielleicht ein bisschen Gewöhnung aneinander, aber die Erfahrung zeigt, dass sich oft Freundschaften entwickeln. Und wenn es mal nicht passt, können beide Seiten auch ablehnen. Sie bieten Elterncoachings an. Was bringen Sie den Eltern bei? Vielen Vätern, die früh von ihren Kindern getrennt wurden, fehlt die Praxis im Umgang mit Kleinkindern. Außerdem wollen wir die Bindungskompetenz des Vaters oder der Mutter stärken. Die Eltern befinden sich ja gerade in einer schwierigen Trennungsphase, erleben also, dass Beziehungen abgebrochen werden, sollen aber ihrem Kind genau das Gegenteil vermitteln. Wenn Kinder nach einer Trennung keine sichere Bindung zu beiden Eltern haben können, tragen wir alle die Folgen. Welche sind das? Viele Kinder können später keine Verbindlichkeiten eingehen, weder im Job, noch in Beziehungen oder Freundschaften. Sie sprechen vom „Scheidungsgen“? Ich mag das Wort nicht, aber ja, Trennungen wiederholen sich tatsächlich oft. Das Gute ist: Man kann beeinflussen, wie man damit umgeht. Kinder können nämlich lernen, dass es auch gut weiter gehen kann, wenn zwei Menschen sich trennen. Brüche gehören zum Leben wie der Tod. Was geben Sie den Eltern für Tipps? Wir erklären zum Beispiel, dass es bei einer Trennung wie bei der Trauer verschiedenen Phasen gibt. Auf das Nichtwahrhabenwollen folgt das Wahrhaben, dann kommen Wut, Depression und Rückzug, dann die Akzeptanz und schließlich der Neuanfang. Wir geben auch praktische Tipps für den Umgang. Wenn die Kinder noch Babys sind, rate ich zum Beispiel: Zieh immer dasselbe an, wenn du dein Kind besuchst oder zumindest immer denselben Schal. Singe am Telefon immer dasselbe Lied. Lass einfach mal einen Socken von dir da als Schlafsack für die Kuschelmaus. Oder bei jüngeren Kindern: Male Postkarten, statt Briefe oder Mails zu schreiben. Lies am Telefon eine Geschichte vor, statt zu fragen, was es heute zum Mittagessen gab. Und ganz wichtig ist natürlich immer: Rede nie schlecht über den anderen Elternteil – auch nicht, wenn du wütend bist. Wann hat Flechtwerk sein Ziel erreicht? Wenn Unterhalt und Umgang als gleichgewichtiges Recht umgesetzt werden. Wenn Kinder mit zwei Elternhäusern Teil der gesellschaftlichen Normalität geworden sind. Wenn Pädagogen keine Scheu mehr haben, mit Kindern über Trennung und Scheidung zu sprechen. Wenn alleinerziehende Mütter entlastet werden. Wenn Kinder sicher sein können, mein Papa oder meine Mama kommt wieder. Bis vor Kurzem habe ich noch als Lehrerin gearbeitet. Ich wünschte, alle könnten einmal die Freude der Kinder erleben, die mir freitags auf dem Flur oft zuriefen: „Weißt du was? Mein Papa kommt!“ interview: ann-kathrin eckardt MockeviciuteJ SZ20150606S2687768
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