Stellungnahme zum Antrag der Piraten Partizipation

An die Vorsitzende des Ausschusses
für Familie, Kinder und Jugend des Landtags
Nordrhein-Westfalen
Frau Margret Voßeler MdL
Platz des Landtags 1
40221 Düsseldorf
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STELLUNGNAHME
16/2950
E-Mail: [email protected]
A04
Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend des Landtags
Nordrhein-Westfalen zum Thema „Gesetz zur Änderung des Kinderbildungsgesetzes“
am 17. September 2015
Stellungnahme zum Antrag (Gesetzesentwurf) der Fraktion der Piraten - Drucksache
16/8446
Sehr geehrte Frau Vorsitzende,
die beiden Landesjugendämter Westfalen-Lippe und Rheinland bedanken sich für die Gelegenheit zur Stellungnahme zu der oben angeführten Landtagsdrucksache zum Antrag „Gesetz zur Änderung des Kinderbildungsgesetzes“. Wir bedanken uns auch für die Einladung zur
Teilnahme an der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend am
17. September 2015 und nehmen gerne diese Möglichkeit wahr.
Mit dem im Jahre 2012 verabschiedeten Bundeskinderschutzgesetz wurde das Recht von
Kindern auf Partizipation gestärkt. Voraussetzung für die Erteilung einer Betriebserlaubnis für
eine Einrichtung, in der Kinder oder Jugendliche betreut werden, ist nun, dass „zur Sicherung
der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten Anwendung
finden“ (§ 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII).
Dem entsprechend wurde diese Voraussetzung von der Landesregierung in § 13 a Absatz 6
des Kinderbildungsgesetzes NRW (KiBiz) als Teil der frühkindlichen Bildung aufgenommen.
Die pädagogische Konzeption der Kindertageseinrichtung muss in Folge Ausführungen zur
Sicherungen der Rechte der Kinder enthalten.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter hat im April 2013 ein Empfehlungspapier zur Sicherung der Rechte von Kindern als Qualitätsmerkmal von Kindertageseinrichtungen verabschiedet. Damit kommen die Landesjugendämter ihrem länderübergreifenden
Auftrag zur Beratung bei der Entwicklung und Anwendung von Handlungsleitlinien zu Verfahren der Beteiligung von Kindern an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung sowie
zu Beschwerdeverfahren in persönlichen Angelegenheiten nach.
Die Landesjugendämter Rheinland und Westfalen-Lippe begrüßen das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfes, den Beteiligungsrechten von Kindern in Kindertageseinrichtungen
noch mehr Gewicht zu verleihen. Eine Änderung des KiBiz, wie jetzt mit Antrag Nummer 16/
8446 von der Partei der Piraten vorgeschlagen, halten wir jedoch nicht für nötig.
Obwohl die überwiegende Zahl der Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen motiviert ist, die
Beteiligung von Kindern in ihren Einrichtungen neu zu gestalten, zeigt die Praxis vielfach ein
anderes Bild. Das Thema Partizipation wird in den pädagogischen Konzeptionen aufgegriffen,
aber im Kita-Alltag noch nicht entsprechend umgesetzt und gelebt. Die Möglichkeiten zur
Mitbestimmung von Kindern sind oftmals sehr begrenzt.
Vielerorts bestehen noch Unsicherheiten darüber, wie eine Beteiligungskultur in der Praxis
gelebt werden kann. Nicht selten erleben Kinder, dass Fachkräfte in vergleichbaren Situationen verschieden handeln und ihnen unterschiedlich viel Entscheidungsfreiraum gewährt wird.
Besonders bei jungen Kindern gehen viele Fachkräfte nach wie vor davon aus, dass sie als
Pädagoginnen und Pädagogen am besten wissen, was die Kinder brauchen. Dabei spielt es
eine entscheidende Rolle, dass sich Fachkräfte immer auch in einem Spannungsfeld zwischen
Fürsorge- und Aufsichtspflicht, Elternwille und Kinderrechten befinden.
Dieser Situation entsprechend hat sich gezeigt, dass für die Einführung partizipativer Strukturen und entsprechender Formen der Beschwerdemöglichkeiten für Kinder in Kindertageseinrichtungen ein moderierter Teamprozess und eine intensive Auseinandersetzung mit der bestehenden Konzeption Voraussetzung ist.
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Neben zahlreichen Fachtagungen zum Thema „Partizipation“ hat zum Beispiel das LVRLandesjugendamt Rheinland mit finanzieller Unterstützung des Landes NRW zwanzig Moderatorinnen und Moderatoren für Partizipation in Kindertageseinrichtungen ausgebildet. Diese
sind nun qualifiziert, Kindertageseinrichtungen dabei zu begleiten, die Partizipation von Kindern einzuführen, konzeptionell zu verankern, weiterzuentwickeln und so die Beteiligungskultur in den Einrichtungen nachhaltig zu verbessern. Wie die dem LVR-Landesjugendamt
Rheinland vorgelegten Dokumentationen zeigen, sind die moderierten Teamprozesse und
Konzeptionsentwicklungen sehr erfolgreich.
Vor diesem Hintergrund ist aus Sicht der beiden Landesjugendämter Westfalen-Lippe und
Rheinland die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Vorgabe der Umsetzung der Beteiligungsrechte im § 13 d KiBiz nicht zielführend. Statt der Unterstützung einer Aushandlung und prozesshaften Entwicklung entsprechender Beteiligungs- und Mitbestimmungsstrukturen in den
Einrichtungen sollen – so die Auffassung im vorliegenden Antrag 16/ 8446 - einheitliche Verfahren vorgegeben werden. Über die fachlichen Einwände hinaus, stellt ein solches Vorgehen
auch einen starken Eingriff in die Träger- und Einrichtungsautonomie dar.
Eine verbindlich gelebte Beteiligungskultur und die Etablierung von Beschwerdeverfahren
können nach Auffassung der Landesjugendämter Westfalen-Lippe und Rheinland nur gelingen, wenn die Struktur der Einrichtung einer Entwicklung der Haltung von Fachkräften folgt.
Dabei bilden folgende Schritte die wesentliche Voraussetzung:
•
Ausbildung einer dialogischen Grundhaltung und Reflexion der eigenen Rolle und Verantwortung der Fachkräfte im Hinblick auf Beteiligungsräume im Kita-Alltag.
•
Diskussion im Team über Inhalte und Grenzen der Beteiligungsrechte der Kinder in der
betreffenden Einrichtung. Dabei stehen zunächst grundsätzlich alle Entscheidungen in einer Einrichtung zur Disposition:
o
Themen, die vor allem das einzelne Kind selbst betreffen (hier stellt sich auch die
Frage nach dem Recht auf Selbstbestimmung).
Beispiele: Dürfen die Kinder selbst oder zumindest mitentscheiden, was sie essen,
wie viel sie essen, ob sie drinnen Hausschuhe tragen?
o
Themen, die Fragestellungen des gemeinsamen Zusammenlebens in der Gruppe
und in der Einrichtung betreffen.
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Beispiele: Was gibt es zum Frühstück oder Mittagessen? Wie lautet das Thema des
nächsten Projekts? Unter welchem Motto läuft das Sommerfest? Wie kann ein
Streit zwischen zwei Kindern geschlichtet werden?
Themen, die mit komplexen Planungen und Entscheidungen über grundsätzliche
o
Fragestellungen zu tun haben.
Beispiele: Planung der Gestaltung des Außengeländes der Kita, die Anschaffung
von Spielgeräten, die Umorganisation des Mittagessens in einem Kinderrestaurant.
o
Themen, die Fragestellungen außerhalb der Einrichtungen einschließen.1
Beispiele: Beteiligung an der Entwicklung eines Spielplatzes in der Nachbarschaft,
an einem Ortsplan für Kinder, an einem Verkehrssicherheitskonzept im Umfeld der
Kita.
•
Die Rechte der Kinder sowie ihre Entscheidungsspielräume werden in den alltagsrelevanten Themenbereichen differenziert und verbindlich im Team geklärt.
Es findet ein Dialog mit den Kindern, Eltern und dem Träger über verbindliche Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume statt.
•
Es werden verlässliche Strukturen und Schlüsselprozesse für die Beteiligung und Beschwerdemöglichkeiten von Kindern in der Einrichtung erprobt und ständig weiter entwickelt.
Dazu gehören zum Beispiel verlässliche Gesprächssituationen und Rituale, ein Informationssystem und entwicklungsgerechte Formen der Dokumentation von Entscheidungsprozessen.
Die so gemeinsam erarbeite pädagogische Konzeption sollte insbesondere folgende Ausführungen zur Beteiligung und Mitbestimmung von Kindern enthalten:
1. Rechte der Kinder in der Kindertageseinrichtung,
2. Mitbestimmungsangelegenheiten und –verfahren,
3. Die entwicklungsgerechte Information der Kinder über ihre Rechte,
4. Die Einbindung der Eltern in das Beteiligungskonzept,
5. Entwicklungsgerechte Dokumentation von Entscheidungsprozessen,
6. Sicherung und Information über Beschwerdemöglichkeiten für Kinder,
7. Regelmäßige Evaluation des Beteiligungskonzeptes.
1
Vgl. Hansen, Rüdiger u.a. (2011):“Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt
Demokratiebildung mit Kindern!“ Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 1168, Seite 70. Verlag das Netz, Weimar und Berlin.
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Weitere Überlegungen:
Ebenso wie die Sprachförderung ist insbesondere das frühe, alltägliche und persönliche Erleben einer Beteiligungskultur wichtig, damit Kinder ihre Rechte kennen, ihre Möglichkeiten
immer selbstverständlicher nutzen und ein tiefgreifendes Interesse an aktiver gesellschaftlicher Beteiligung und Verantwortung entwickeln.
Neben den Multiplikatorinnen und Multiplikatoren im Bereich der alltagsintegrierten Sprachförderung stehen nun auch eine Vielzahl an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für Partizipation in Kindertageseinrichtung zur Verfügung.
In der Berücksichtigung des Schwerpunkthemas Partizipation in der Fortbildungsvereinbarung zum Kinderbildungsgesetz NRW sehen die Landesjugendämter Westfalen-Lippe und
Rheinland eine sinnvolle Maßnahme, um über die Förderung von Inhouse-Schulungen die
Prozesse zur Entwicklung von mehr Beteiligungskultur in der Praxis weiter zu unterstützen.
Auch wenn die beiden Landesjugendämter Westfalen-Lippe und Rheinland keine Gesetzesänderung zum KiBiz anstreben, stehen sie jedoch zur Verfügung, wenn – nach einer Beschlussfassung im Landtag NRW – mit allen Beteiligten, insbesondere den Kommunalen Spitzenverbänden, den Vertretern der Freien Wohlfahrtspflege und dem Ministerium für Familie,
Kinder, Jugend, Kultur und Sport, konkrete Änderungsvorschläge für das Kinderbildungsgesetz (KiBiz) erarbeitet werden sollen.
Mit freundlichen Grüßen
Die Direktorin
Der Direktor
des Landschaftsverbandes
des Landschaftsverbandes
Rheinland
Westfalen-Lippe
In Vertretung
In Vertretung
Lorenz Bahr-Hedemann
Birgit Westers
LVR-Dezernent Jugend
LWL- Jugenddezernentin
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