Helmut Schmidt - Bundesregierung

Gedenken an Bundeskanzler a. D.
Helmut Schmidt
Staatsakt in der Hauptkirche St. Michaelis
in Hamburg am 23. November 2015
Gedenken an Bundeskanzler a. D.
Helmut Schmidt
Am 10. November 2015 verstarb Bundeskanzler a. D.
Helmut Schmidt. Am selben Tag hat Bundespräsident
Joachim Gauck einen Staatsakt für ihn angeordnet.
Auf Wunsch des Verstorbenen fanden die Trauerfeier­
lichkeiten am 23. November 2015 in der Hauptkirche
St. Michaelis in Hamburg statt. Helmut Schmidt
hat die Musikstücke, Lesungen und Gebete selbst
ausgewählt.
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Programm des
Staatsakts
Staatlicher Teil
Johann Pachelbel, Kanon D-Dur
Ansprache von Olaf Scholz
Erster Bürgermeister und Präsident des Senats
der Freien und Hansestadt Hamburg
Kirchlicher Teil
Johann Pachelbel, Gigue D-Dur
Ansprache von Dr. Henry Kissinger
Ehemaliger Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika
Johann Sebastian Bach, Praeludium E-Moll, BWV 533
Begrüßung und Lesung – Hauptpastor Alexander Röder
Johann Sebastian Bach, „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“, BWV 226
Predigt – Hauptpastor Alexander Röder
Johann Sebastian Bach,
Brandenburgisches Konzert Nr. 5 D-Dur, BWV 1050, 1. Satz: Allegro
Ansprache von Dr. Angela Merkel
Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland
Johann Sebastian Bach,
Abendlied von Matthias Claudius
Ouvertüre (Orchestersuite) Nr. 3 D-Dur, BWV 1068, 2. Satz: Air
Abschiedsworte und Gebete – Hauptpastor Alexander Röder
Nationalhymne
Volkslied „Mien Jehann“ von Klaus Groth, vorgetragen von Jochen Wiegand
Ende des Staatsakts
Segen – Hauptpastor Alexander Röder
Großes militärisches Ehrengeleit
Das Stabsmusikkorps spielt den Trauerchoral „Jesu meine Zuversicht“ und
Musikalische Gestaltung
die Nationalhymne. Acht Offiziere des Wachbataillons nehmen den Sarg
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg unter Leitung von
auf und tragen ihn an der Ehrenformation der Bundeswehr vorbei zum
Generalmusikdirektor und Chefdirigent Kent Nagano
Sargwagen. Der Trauerkondukt fährt zum Hamburger Friedhof Ohlsdorf.
Seite 10
Ansprache von Olaf Scholz
Seite 24
Ansprache von Dr. Henry Kissinger
Seite 32
Ansprache von Dr. Angela Merkel
Seite 42
Volkslied „Mien Jehann“ von Klaus Groth
vorgetragen von Jochen Wiegand
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Helmut Schmidt
geboren am 23. Dezember 1918 in Hamburg
1953 bis 1962 und
1965 bis 1987
Mitglied des Deutschen Bundestages
1961 bis 1965
Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg
1967 bis 1969
Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion
1969 bis 1972
Bundesminister der Verteidigung
1972
Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen
1972 bis 1974
Bundesminister der Finanzen
1974 bis 1982
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland
1983 bis 2015
Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“ und
Autor verschiedener Publikationen
gestorben am 10. November 2015 in Hamburg
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Ansprache von Olaf Scholz
Hamburg trauert.
Und nicht nur Hamburg – Deutschland, Europa, ja die ganze Welt
beklagt den Verlust eines großen Politikers und Bürgers. Es ist noch
kaum vorstellbar, dass wir künftig gesellschaftliche und politische
Debatten ohne ihn führen müssen.
Ansprache von
Olaf Scholz
Liebe Familie Schmidt,
liebe Familie Loah,
Erster Bürgermeister und
Präsident des Senats der Freien
sehr geehrter Herr Bundespräsident,
und Hansestadt Hamburg
sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Exzellenzen,
sehr geehrte Trauergäste,
wir nehmen heute Abschied von Helmut Schmidt.
Wohl selten in Deutschland sind einem Politiker so viel Respekt und
Vertrauen entgegengebracht worden. Selten hat jemand in solch gelassener Selbstverständlichkeit die öffentlichen Belange, die res publica,
verkörpert wie er: ein Staatsmann im eigentlichen Sinn des Wortes.
Als in den Nachrichtensendungen zu seinem Tod die politischen
Würdigungen zitiert wurden, hieß es dort auch, dass er ein
„erleuchteter Europäer“ gewesen sei.
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Ansprache von Olaf Scholz
Ansprache von Olaf Scholz
Ich bin mir sicher: Das war ein Übersetzungsfehler und es hieß im
Original „enlightened“ – also: aufgeklärt. Das war Helmut Schmidt
ohne Zweifel. Aber es ist schon bemerkenswert, dass eine Redaktion
auch den „erleuchteten Europäer“ durchaus im Bereich des Möglichen gesehen hat.
Dabei hat Helmut Schmidt wiederholt betont, dass er den Tod für
endgültig halte. Ich will das nicht ausdeuten, für uns Nachbleibende
trifft das jedenfalls nicht zu. Er ist von uns gegangen, aber vieles von
ihm bleibt bei uns.
Das gilt, liebe Susanne Schmidt, liebe Ruth Loah, natürlich gerade
für diejenigen, die ihm besonders nahe gewesen sind. Wir fühlen
mit Ihnen.
Viele, gerade in dieser Stadt, erinnern sich an den beherzten Hamburger Polizeisenator, der 1962 mit Klugheit und Augenmaß eine größere
Katastrophe verhindert hat. Als die Dämme brachen, organisierte
er die notwendige Hilfe – selbst wenn er den gesetzlichen Rahmen
etwas dehnen musste. Viele Geschichten werden darüber erzählt.
Am bedeutsamsten aber ist, mit welcher Klarheit Schmidt hier
Kants kategorischen Imperativ zur Richtschnur einer verlässlichen
Politik in unübersichtlichen Zeiten gemacht hat.
Fünfzehn Jahre später, unter dem Terror der RAF, sollte diese politische Grundhaltung erneut auf die Probe gestellt werden. Dass sich
der deutsche Staat nicht hat erpressen lassen, hat ihn gegen den Terror gewappnet. Es hat aber auch den Träger
„Handle nur
dieser Entscheidungen in Stunden tiefer Verzweiflung
nach derjenigen
gestürzt. Verantwortung muss man bereitwillig tragen,
bisweilen auch ertragen.
Wir alle verlieren einen wichtigen Wegbegleiter. Gemeinsam mit
Helmut Schmidt haben wir erlebt, wie aus lebensklugem politischem Pragmatismus scheinbar unbegrenzte moralische Autorität
erwachsen kann. Gegründet auf dieses Fundament hinterlässt er
uns ein Erbe, das wir annehmen wollen. Wir haben vieles von ihm
gelernt. Das bleibt.
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz
werde.“ Der Rigorismus dieser nur scheinbar so formalen
Und so mischt sich an diesem Tag in unsere Trauer auch die Dankbarkeit für das, was Helmut Schmidt uns mit auf den Weg gegeben hat.
Feststellung ist wesentlich dafür, wie Helmut Schmidt
von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen
wurde.
Von Helmut Schmidt haben wir gelernt, was es heißt, in einer
demokratischen und offenen Gesellschaft politische Verantwortung zu übernehmen.
Er hat vorgelebt, wie anständige und vernünftige Politik
aussieht. Seine Geradlinigkeit hat Vertrauen erzeugt und ihn zum
Vorbild für viele gemacht.
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Maxime, durch
die du zugleich
wollen kannst,
dass sie ein
allgemeines
Gesetz werde.“
Ansprache von Olaf Scholz
Ansprache von Olaf Scholz
Unsere freiheitlich demokratische Verfassung fußt auf der Überzeugung, dass jeder Einzelne Verantwortung für sich und für die
Gemeinschaft übernimmt und übernehmen kann. Daraus entsteht
die offene Gesellschaft, die Helmut Schmidt so am Herzen lag.
Karl Poppers auch der bisweilen eher romantisch idealistischen
Sozialdemokratie erschlossen. Der Reformismus Eduard Bernsteins
fand so nicht nur eine weitere philosophische Grundlage, sondern
zugleich auch seine politische und praktische Realisierung im
Regierungshandeln der sozialliberalen Koalition.
Wir erleben heute, wie attraktiv diese Offenheit ist. Wir spüren aber
auch, dass sie erbitterte Feinde hat. Wir haben das vor zehn Tagen
bei den Terroranschlägen von Paris erleben müssen.
Wir werden die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit
unserer offenen Gesellschaft gegen diese feigen Angriffe verteidigen.
Die Werte der Aufklärung und des Humanismus sind nicht kulturabhängig. Sie besitzen universelle Gültigkeit.
Wir verteidigen sie, indem wir sie so leben und verkörpern, wie
Helmut Schmidt es zeitlebens getan hat. Freiheit und Sicherheit
kann man nicht aufwiegen. Sie bedingen einander.
„Politik ist
pragmatisches
Handeln zu
sittlichen Zwecken.“
Ein politisches Angebot zu formulieren, das Sicherheit
im Wandel der Moderne vermittelt, ohne die Freiheit des
Wandels dadurch in Frage zu stellen, gehört zu den großen Lebensleistungen Helmut Schmidts.
Von Bundeskanzler Helmut Schmidt haben wir gelernt,
wie eine soziale und demokratische Politik mit klugen und
pragmatischen Reformen helfen kann, das Leben vieler zu verbessern.
„Politik ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken“, hat er
geschrieben und damit die nüchtern pragmatische Philosophie
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Hier zeigt sich, dass Helmut Schmidt zeitlebens ein Intellektueller gewesen ist, der viel Energie in die redliche Begründung seiner
politischen Initiativen investierte. Aber er war ein Intellektueller,
dem das kluge Kommentieren der Zeitläufte nie genug war. Für
ihn war die Theorie untrennbar mit der Praxis ihrer Umsetzung
verbunden. Erst dann konnte sie Gültigkeit beanspruchen.
Daraus entsteht ein Politikstil der vielen kleinen Schritte, der bis
heute Regierungen ganz unterschiedlicher politischer Couleur prägt.
Die Vorstellung, dass sich unsere Gesellschaft auf diese Weise nachhaltig verbessern lässt, ist zutiefst demokratisch und einer dynamischen Moderne mehr als angemessen.
Auf Grundlage solch stetiger Politik hat sich der Sozialstaat zu jener
„größten Kulturleistung entwickelt, die die Europäer im Lauf dieses
schrecklichen 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben“, wie
Helmut Schmidt oft betont hat.
Wir müssen ihn in seiner Substanz bewahren und als Grundlage
unseres wirtschaftlichen Erfolges und unseres sozialen Zusammenhalts mit unseren europäischen Partnern weiterentwickeln. Auch
das hat uns der große Sozialdemokrat Helmut Schmidt aufgegeben.
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Ansprache von Olaf Scholz
Ansprache von Olaf Scholz
Überhaupt: Europa! Von Helmut Schmidt haben wir gelernt, dass
Deutschland seine Rolle in der Welt nur als Teil Europas finden kann.
Wir stehen in einer ernsten Bewährungsprobe. Lieber Jean-Claude
Juncker, lieber Martin Schulz, wir müssen das humanistische Erbe
und die wirtschaftliche Kraft Europas gemeinsam sichern.
Die Mahnung zur Zusammenarbeit zwischen den europäischen
Völkern und Regierungen hat einen sehr ernsten Kern: Nur so ließe
sich verhindern, dass sich – und ich sage es in dieser Härte mit den
Worten Helmut Schmidts – die „große Scheiße des Krieges“ wiederhole. Hier sprach auch der junge Wehrmachtssoldat, der selbst erleben musste, welche Verwüstungen der Krieg auf unserem Kontinent angerichtet hat. Kurt Schumachers Ruf „Nie wieder Krieg!“
war ein Grund dafür, dass er Sozialdemokrat wurde.
Über Jahrhunderte hinweg haben sich unsere Nachbarn insbesondere vor der Ballung politischer und wirtschaftlicher Macht in der
Mitte Europas gefürchtet. Das große Glück, für das wir heute die
Verantwortung tragen, liegt darin, dass sich das geändert hat. Nur
inmitten der europäischen Union sind die Wiedervereinigung und
das Wiedererstarken Deutschlands möglich gewesen. Nur als Teil
einer europäischen Union werden die Nationalstaaten unseres
Kontinents globale Relevanz behalten.
Vielfach hat Helmut Schmidt auf die Wege verwiesen, die wir beschreiten müssen, um Europa zu sichern. Sein stets klares Plädoyer
für die Rettung Griechenlands war dafür nur ein Beispiel.
Seiner SPD hat er auf dem Parteitag im Jahr 2011 aufgegeben, dass
sie sich um das in der Menschheitsgeschichte einzigartige Projekt
der Europäischen Union kümmern müsse. Die EU sei weniger als
ein Bundesstaat, müsse aber mehr sein als ein Staatenbund. Sie lebe
von Standfestigkeit und Selbstbewusstsein. Mehr denn je.
Dafür brauchen wir, lieber Giscard d’Estaing, lieber Jean-Marc
Ayrault, den Schulterschluss mit den Freunden in Frankreich, die
Helmut Schmidt immer besonders nahestanden und denen wir
uns in diesen Tagen so besonders verbunden fühlen.
Wir brauchen die transatlantische Freundschaft, lieber Henry
Kissinger, als eine wesentliche Triebfeder.
Internationale Zusammenarbeit ist Helmut Schmidt auch deshalb
immer ein Herzensanliegen gewesen. Der Euro, der Prozess der
G7/G8, die weitere Vertiefung der europäischen Gemeinschaft – all
dies geht auch auf seine Initiativen zurück.
Wir brauchen den fortdauernden Dialog und die noch lange höchst
komplizierte Zusammenarbeit mit Russland und natürlich auch
mit China.
Heute erleben wir eine Europäische Union, die vielfach herausgefordert ist – durch die Finanzkrise, durch den Zustrom der Flüchtlinge und leider immer wieder auch durch den Terror.
Die Nachricht vom Tode Helmut Schmidts erreichte mich auf einer
Delegationsreise in Beijing. Die dortigen Reaktionen haben uns
noch einmal beeindruckend die Bedeutung des Weltpolitikers
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Ansprache von Olaf Scholz
Ansprache von Olaf Scholz
Helmut Schmidt vor Augen geführt: Der chinesische Präsident und
der Premier kondolierten ausdrücklich persönlich „in eigenem
Namen“. Und das Staatsfernsehen sendete einen Nachruf auf einen
„alten Freund des chinesischen Volkes“. Die Welt rückt zusammen,
wenn sie Verbindendes erlebt. Gerade an Tagen wie diesem.
Von Helmut Schmidt haben wir gelernt, wie nahe sich Politik und
Publizistik in ihrer Verantwortung für die öffentlichen Belange
sind.
Schon als Politiker hat er sich darum bemüht, die Geschichte seiner
Politik nicht nur zu erzählen, sondern auch aufzuschreiben. Wohl
kaum ein aktiver Politiker hat so viele und so relevante Bücher
geschrieben.
Und er hat sich die Zeit genommen, die eine schon damals ziemlich
atemlose Mediendemokratie nicht immer bereitwillig hergibt, um
Politik einzuordnen und verständlich zu machen. Er hat damit die
Orientierung gegeben, die heute oftmals im Strom der vermeintlich
immer neuen Nachrichten verloren geht. Er hat Perspektive und
Richtung gezeigt.
Nach dem Abschied aus dem Kanzleramt wechselte Schmidt vollends in die Rolle des politischen Publizisten und prägte aus dem
Pressehaus der „Zeit“ heraus über Jahrzehnte nicht nur diese bedeutende Wochenzeitung. Die Rolle des öffentlichen Intellektuellen
füllte er mit ebensolcher Stringenz aus wie vorher seine politischen
Ämter. Und die Verantwortungsethik seiner aktiven Zeit prägte ihn
auch nach diesem vermeintlichen Seitenwechsel.
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Trotz aller spöttisch koketten Distanz zu den viel zitierten „Wegelagerern“ ist er am Ende selbst zum großen Journalisten und Leitartikler geworden.
Von Helmut Schmidt haben wir auch immer wieder aufs Neue
gelernt, wie wichtig Heimat ist. Für ihn hieß diese Heimat Hamburg.
Als Politiker und Publizist hat Helmut Schmidt Deutschland, Europa
und die Welt geprägt. Zu Hause war er aber hier in der Freien und
Hansestadt – kulturell, intellektuell und persönlich.
Natürlich konnte und wollte er seine Heimatstadt nicht verleugnen.
Zu deutlich hörte man seine Herkunft, wenn er im Bundestag das
Wort ergriff.
Die hamburgische Schnoddrigkeit, aus der man die Jugend in
Barmbek heraushören konnte, gehörte ebenso zu ihm wie die
natürliche Eleganz des freiheitsliebenden hanseatischen Bürgers,
der auch über den spitzen Stein stolpern konnte.
Und dann bleiben da die Bilder von den Besuchen der Großen und
Mächtigen dieser Welt in seinem Reihenhaus in Langenhorn. Sie
haben manchen Gast herausgefordert, der an mehr Pomp
gewöhnt war. Vor allem aber zeigen sie auf erstaunlich beiläufige
Weise, wie selbstverständlich „normal“ Politik eben auch sein kann.
Die kluge und unprätentiöse Herzlichkeit, die gerade auch von
Helmut Schmidts lebenslanger Gefährtin und Ehefrau Loki ausging,
war berührend und nahm viele nicht nur für die beiden ein, sondern
auch für die Stadt, in der sie lebten.
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Ansprache von Olaf Scholz
Ansprache von Olaf Scholz
Helmut Schmidt hat sich an seiner Heimatstadt gerieben, wenn sie es
sich wieder einmal zu gemütlich gemacht hat in ihrer Schönheit und
ihrem Wohlstand. Dann präsentierte er mit Nachdruck drängende
Fragen, mit denen sich Politik und Bürgerschaft der Stadt auseinandersetzen mussten. Und zwar schon deshalb, weil man davon ausgehen konnte, dass Helmut Schmidt zumindest immer auch Recht hat.
Das letzte Buch, das Helmut Schmidt zu Lebzeiten veröffentlicht
hat, handelt aber geradezu zärtlich und liebevoll von Hamburg. Es
zeigt seine tiefe emotionale Verbundenheit zu einer Heimat, die immer mehr gewesen ist als ein bloß zufälliger Geburts- und Wohnort.
Hier hätte er auch Städtebauer oder Hafenkapitän werden können.
Ich bin froh, dass wir in den vergangenen Jahren ein andauerndes
intensives Gespräch führen konnten. Vor wenigen Wochen noch
bin ich mit Helmut Schmidt im Hafen unterwegs gewesen. Interessiert und informiert wie immer wollte er viel darüber wissen, wie
das moderne Hamburg als fester Teil Europas aussehen wird und
welche Verantwortung die Stadt zu übernehmen bereit ist.
Er regte an, das reiche Erbe der Hanse und der in ihr gelebten
Zusammenarbeit der Städte auch für die europäische Einigung
nutzbar zu machen. Kurz zuvor hatte er sich auf den Weg nach
Lübeck gemacht und dort überraschend und unangemeldet das
neue Hansemuseum besucht.
Er sieht die alten Hansestädte wie seine Heimatstadt heute ganz
besonders in der Pflicht. Eine Perspektive, die nähere Betrachtung
verdient.
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Ich hoffe jedenfalls, dass wir seinen Erwartungen weiterhin gerecht
werden und Helmut Schmidts Schöne auch in Zukunft aufgeweckt
bleiben wird.
Das politische Vermächtnis dieses reichen politischen und bis zum
Schluss öffentlichen Lebens lässt sich nicht in wenigen Worten
umreißen. Helmut Schmidt wird einer der zentralen Fixpunkte der
Politik bleiben. Er hat Spuren hinterlassen, von denen wir manche
erst noch entdecken werden.
Heute sind wir Hamburgerinnen und Hamburger gleichermaßen
traurig und dankbar.
Traurig, weil wir uns von einem einzigartigen und unsere Stadt
prägenden Ehrenbürger verabschieden müssen.
Und dankbar, weil wir zumindest einen Teil dieser Wegstrecke
gemeinsam mit ihm gehen durften.
Wer die Schlangen vor den Kondolenzbüchern in der Rathausdiele
gesehen hat, wer die vielen persönlichen Geschichten hört, die
jetzt allerorten erzählt werden, der spürt, wie bedeutsam Helmut
Schmidt im Leben vieler gewesen ist – selbst wenn sie ihm nie
persönlich begegnet sind.
Es mag pathetisch klingen und ist doch wahr: Wir haben einen
Giganten verloren. Politisch. Menschlich. Diese Lücke wird bleiben.
Und wir werden sie spüren.
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Ansprache von Olaf Scholz
Aber wir werden sie füllen mit den vielen Erinnerungen, die uns
bleiben und trösten. Mit den Erinnerungen an die außergewöhnliche Partnerschaft zwischen Helmut und Loki Schmidt. An die
Ratschläge und Anstöße. An die Mahnungen und die Seufzer. Und
an manche Zigarette selbst am unpassenden Ort.
Unsere traditionsreiche Stadt ist auch reich an großen Söhnen und
Töchtern, die von hier die Welt geprägt haben. Heute verneigen wir
uns in tiefer Trauer und unendlicher Dankbarkeit vor dem Größten
von ihnen.
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Ansprache von Dr. Henry Kissinger
Im Jahre 2012 dankte ich Helmut für einen Artikel, den er mir
geschickt hatte. Ein Schlüsselsatz in meinem Brief lautete: „Unsere
lange Freundschaft ist ein Pfeiler in meinem Leben.“
Sechs Jahrzehnte lang haben wir beide über dieselben Probleme
nachgedacht – in unserer Regierungszeit und in späteren Jahren, als
wir uns noch öfter rund um die Welt trafen, um unsere Gedanken
auszutauschen. Wir haben uns zu Hause besucht, wir haben Reden
aufeinander gehalten. Helmut war der Laudator, als meine Heimatstadt Fürth mich ehrte. Bei seinem 90. Geburtstag erwähnte ich,
dass ich als kleiner Junge nie zu erträumen gewagt hätte, eines Tages
mit einem deutschen Kanzler Geburtstag zu feiern.
Ansprache von
Dr. Henry Kissinger
Ehemaliger Außenminister der
Vereinigten Staaten von Amerika
Im Laufe der Zeit kamen andere Freunde dazu: der Premier von
Singapur Lee Kuan Yew und der frühere Außenminister George Shultz.
Es fiele mir schwer, Ihnen heute hier im Michel das
Wesen dieser tiefen Freundschaft zu beschreiben. Auch
nach sechzig Jahren waren Helmut und ich nicht zum
vertrauten „Du“ übergegangen. Helmut ist nie weitergegangen, als in seiner nüchternen Art zu konstatieren:
„Wir vier können uns aufeinander verlassen, weil keiner
von uns dem anderen je etwas sagen würde, was nicht die
absolute Wahrheit ist.“
Unsere lange
Freundschaft ist
ein Pfeiler in
meinem Leben.
Das war das Besondere an Helmut Schmidt. Er hat seinen Beruf
als den eines praktizierenden Politikers angegeben. Nur: Sein
Verständnis von Politik ging weit über das tägliche politische Handwerk hinaus. Er war breiter gebildet als die meisten Spitzenpolitiker
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25
Ansprache von Dr. Henry Kissinger
Ansprache von Dr. Henry Kissinger
der Nachkriegszeit. Am Klavier war er so virtuos, dass er mit der
London Symphony ein Mozart-Konzert geben konnte.
Sein Weg in die Politik war fast dem Zufall geschuldet. Seine erste
Liebe waren Architektur und Stadtplanung. Hätte er am Ende des
Krieges die Geldmittel für ein so aufwändiges Studium gehabt, hätte
er seine außergewöhnlichen Energien und Talente dem Wiederaufbau der deutschen Städte gewidmet.
Helmut lebte in einer Übergangszeit:
• Helmut hatte diese beiden Eigenschaften nie für sich selbst
reklamiert. Aber er hat sie verkörpert. In einer großen Rede vor der
Universität Tübingen im Jahre 2007 führte er die Leitlinien auf –
Vernunft, Recht, Frieden, Glauben – die sein eigenes Sein und Tun
bestimmten:
„Für mich bleibt das eigene Gewissen die oberste Instanz . . . Über das
Gewissen gibt es mancherlei theologische und philosophische
Meinungen . . . Kant hat das Gewissen als ‚das Bewusstsein eines
inneren Gerichtshofes im Menschen‘ bezeichnet.“
Es war die Verpflichtung gegenüber dem eigenen Gewissen, die Helmut so nüchtern und ernst im persönlichen Umgang erscheinen ließ. Small Talk würde ihn von
dieser Pflicht ablenken. Machtvoll war sein Drang, das
Wissen zu erwerben, das ihn dazu befähigen würde, die
schicksalhaften Herausforderungen seiner Generation
zu meistern.
• • „Für mich
bleibt das eigene
Gewissen die
oberste Instanz.“
All dieses analytische Wissen war eingebunden in seine spirituelle
Beziehung zur Musik, insbesondere zu Bach und Mozart. Seine
innere Konzentration, wie er mir einst erzählte, war so ausgeprägt,
dass er mit fortschreitender Gehörschädigung nur auf das Notenblatt blicken musste, um die Musik hören zu können.
Helmut sah sich in der Pflicht, sein Land aus dem Gestern in eine
Welt zu führen, die Deutschland nie gekannt hatte. Die wichtigsten
Qualitäten eines Staatsmanns sind Vision und Mut – Vision, um der
Stagnation entgegenzuwirken; Mut, um das Staatsschiff durch
unbekannte Gewässer zu steuern.
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Diese Eigenschaften verliehen Helmuts Freundschaften eine
besondere Kraft. Freundschaft für Helmut war eine Partnerschaft im
Streben nach Wahrheit und Weisheit. Mit seinen Freunden pflegte er
eine unaufhörliche Konversation. Jede Zusammenkunft begann,
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Ansprache von Dr. Henry Kissinger
Ansprache von Dr. Henry Kissinger
wo die vorherige geendet hatte. So formal sie auch zu sein schienen,
waren seine Freundschaften geprägt von tiefer Zuneigung. Das
Gefühlvolle war die andere Seite des Understatements. Wer sich
auf Helmut einließ, wurde sozusagen in einen Orden rekrutiert,
Aus diesem Pflichtgefühl wurde Helmut eine treibende Kraft hinter
der Europäischen Sicherheitskonferenz 1975 und in der Förderung
der EU, zusammen mit seinem Freund Giscard d’Estaing.
welcher die Suche nach dem Wesentlichen mit Demut paarte. Ich
zitiere ihn: „Wir haben alle mehr als einmal gegen unser Gewissen
gehandelt. Wir müssen also alle mit einem schlechten Gewissen
leben. Diese allzu menschliche Schwäche gilt selbstverständlich
auch für Politiker.“
Ein Wort gebührt Helmuts besonderem Verhältnis zu Amerika.
Helmut gehörte jener Nachkriegsgeneration an, die auf Amerika
blickte, weil sie in seinen besonderen Führungsqualitäten die beste
und anfänglich die einzige Hoffnung für die freien Völker sah. Er
legte daher an Amerika einen strengen Maßstab an und fand amerikanische Mängel schwerer zu akzeptieren als die Defizite von
Gesellschaften, an die er weniger hohe Erwartungen stellte.
Und dennoch geriet Helmut nicht oft in die Klemme zwischen dem
politisch Gebotenen und der sittlichen Pflicht. Denn
Helmuts Überzeugungen bestimmten sein Handeln im
„Politik ohne
Amt. „Politik ohne Gewissen tendiert zum Kriminellen“,
Gewissen tendiert
hat er gesagt. Sodann: „Ich sehe Politik als pragmatisches
Handeln im Dienste moralischer Ziele.“
zum Kriminellen,
ich sehe Politik
als pragmatisches
Handeln im
Im Jahre 1977 entsandte Helmut deutsche Spezialkräfte
nach Mogadischu. Sie sollten in einem hochriskanten
Einsatz deutsche Geiseln befreien. Einige Wochen später
vertraute er mir die Qual an, die er durchleiden musste,
Dienste moralischer bevor der Erfolg der Mission feststand. Und er fügte
hinzu: Wenn ihn das Leben der 86 Geiseln und der KomZiele.“
mandos seine Seele so tief aufwühlen, wie könne er dann
eine Nato-Strategie implementieren, die auf der atomaren Abschreckung beruhte? Und doch – als die Zeit kam, gehorchte
Helmut seiner intellektuellen Pflicht, wie er sie sah, Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren – und zwar gegen den
wachsenden Widerstand seiner Partei.
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Nach seiner Regierungszeit schien das Schicksal Helmut nicht
gnädig zu sein. Politische Führer agieren im Schatten der Vergänglichkeit. Sie alle quält die Zukunft ihres Vermächtnisses. Staatsmänner handeln, als ob ihre Entscheidungen für immer gelten.
Doch ihre Zeit im Amt ist gemeinhin kürzer als der Rhythmus der
Geschichte. Doch im Laufe der Jahrzehnte verkörperte Helmut die
tiefere Bedeutung von Vermächtnis. Für ihn hing sein Lebenswerk
nicht vom Amt, sondern von seinem Gewissen ab.
Er bereiste die Welt und schrieb praktisch ein Buch pro Jahr. Er
erklärte uns die Weltläufte, erinnerte uns stets an unsere Pflicht.
Am Ende seines Lebens versinnbildlicht er unsere vornehmsten
Werte. Er war eine Art Weltgewissen.
Erlauben Sie mir, Helmut noch einmal zu zitieren, und zwar zur
moralischen Verpflichtung der Deutschen:
29
Ansprache von Dr. Henry Kissinger
„Mir liegt eine doppelte Einsicht am Herzen: erstens: . . . Es wäre
ein gefährlicher Irrtum, unsere real existierende Demokratie zum
reinen Ideal zu erheben. Das ist sie nicht. Aber zweitens: Gleichwohl
haben wir Deutschen – unserer katastrophalen Geschichte wegen –
allen Grund, mit Zähigkeit an der Demokratie festzuhalten, sie
immer wieder zu erneuern und immer wieder ihren Feinden tapfer
entgegenzutreten.“
Zu Helmuts 90. Geburtstag sprach ich die Hoffnung aus, dass er mich
überleben möge, weil eine Welt ohne ihn eine sehr leere wäre. Ich
habe mich geirrt. Helmut wird bei uns bleiben: perfektionistisch,
launisch, stets auf der Suche, fordernd, inspirierend, immer zuverlässig. So wird er uns für den Rest unseres Lebens begleiten – mit
seiner Hingabe und seinem Streben. So hat er uns geehrt – uns, die
wir die Zeitgenossen eines großen und guten Menschen sein durften.
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Ansprache von Dr. Angela Merkel
Sehr geehrte Präsidenten und Ministerpräsidenten,
sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und den Parlamenten,
Ansprache von
Dr. Angela Merkel
Bundeskanzlerin der
Exzellenzen,
sehr geehrter, lieber Henry Kissinger,
liebe Trauergemeinde,
Bundesrepublik Deutschland
vor allem: liebe Frau Schmidt und liebe Frau Loah,
wir verabschieden uns heute von Ihrem Vater und Ihrem Lebensgefährten. Wir verabschieden uns von dem Staatsmann, Politiker
und Publizisten Helmut Schmidt. Es ist ein Abschied, der uns bei
einem Menschen seines Alters eigentlich nicht völlig unerwartet
treffen sollte, der trotzdem außerordentlich schwerfällt, der irgendwie unwirklich erscheint. Denn Helmut Schmidt war auch im
hohen Alter unglaublich präsent. Zu drängenden Fragen unserer
Zeit äußerte er sich klar, streitbar und prägnant bis fast zuletzt.
Helmut Schmidt wird fehlen – zuallererst natürlich seiner Familie.
Ihnen, liebe Frau Schmidt, und Ihnen, liebe Frau Loah, gilt in diesen
Stunden unser ganzes Mitgefühl. Helmut Schmidt wird seinen Freunden und engsten Weggefährten fehlen – wie sehr, das können wir nach
den beeindruckenden Worten von Ihnen, lieber Henry Kissinger, ermessen, wie auch einfach durch Ihre Präsenz hier. Wir trauern mit Ihnen.
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Ansprache von Dr. Angela Merkel
Ansprache von Dr. Angela Merkel
Helmut Schmidt wird uns allen fehlen, den vielen Bürgerinnen und
Bürgern, die seine Amtszeit als Bundeskanzler bewusst miterlebt
haben – ob in der Bundesrepublik oder wie ich in der DDR –, genauso
wie auch den vielen Jüngeren, die seinen politischen Lebensweg nur
Mutter, lebten in Hamburg – in der Stadt, in der ich 1954 geboren
worden war. Durch den Mauerbau im August 1961 waren wir voneinander abgeschnitten. Und das spürten wir ganz besonders schlimm
während der Sturmflut. Wir fühlten uns ohnmächtig, voller Sorge
noch aus dem Rückblick kennen. Uns alle bewegt sein
Tod. Tausende haben sich in die Kondolenzbücher eingetragen – oft nach langem Warten; einfach weil es ihnen
wichtig war, einen letzten Gruß zu hinterlassen.
um unsere Familie in Hamburg. Im Radio konnten wir die Ereignisse
verfolgen. Wir nahmen jede Nachricht auf.
Helmut Schmidt
war eine Instanz.
Er hat sich in den
vergangenen
Jahrzehnten über
alle Partei­ und
Generationsgrenzen
hinweg als
scharfsinniger
Beobachter und
Kommentator größten
Respekt erworben.
Helmut Schmidt war eine Instanz. Er hat sich in den
vergangenen Jahrzehnten über alle Partei- und Generationsgrenzen hinweg als scharfsinniger Beobachter
und Kommentator größten Respekt erworben. Helmut
Schmidts Tod reißt eine Lücke in die politische und
publizistische Landschaft. Seine Interviews und Artikel,
seine Bücher und Kommentare, seine Statements und
sogar seine Randbemerkungen waren eine Klasse für
sich. Sie hatten ihre eigene, meinungsstarke Note.
Sein hohes Ansehen hat seinen guten Grund. Mir kommt
dazu ein Wort in den Sinn: Verantwortung. Helmut
Schmidt war bereit und fähig, jede Situation und jede
Aufgabe, die ein Amt mit sich brachte, anzunehmen und
sich ihnen zu stellen, seien sie auch noch so schwierig.
Meine erste persönliche Erinnerung, an die sich diese Beschreibung
knüpft, ist die von Helmut Schmidt als Senator der Polizeibehörde
während der fürchterlichen Sturmflut im Februar 1962. Ich war
damals sieben Jahre alt und lebte mit meiner Familie in Templin in der
DDR. Meine Großmutter und meine Tante, die Schwester meiner
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Helmut Schmidt koordinierte die Rettungsmaßnahmen. Seit diesen
Tagen ist er tief in mein Gedächtnis eingegraben. Wir haben ihm
vertraut. Wir haben vertraut, dass er die Lage unter Kontrolle und
in den Griff bekommen würde. So war es dann auch, nachdem er
sich dazu entschlossen hatte – obwohl verfassungsrechtlich nicht
dazu befugt –, militärische Hilfe von der Bundeswehr und anderen
NATO-Streitkräften anzufordern, um so die zivilen Helfer bei der
Bekämpfung der Flut zu unterstützen. Damit gelang es ihm, eine
noch schlimmere Katastrophe als ohnehin schon zu verhindern
und Menschenleben zu retten. Damit lebte er vor, dass außergewöhnliche Situationen außergewöhnliche Maßnahmen erfordern.
Und er lebte vor, was es bedeutet, in einer solchen Situation Verantwortung zu übernehmen.
Wenn Helmut Schmidt überzeugt war, das Richtige zu tun, dann tat
er es. Er war wirklich nicht immer einfach oder gar freundlich im
Umgang; seine Gegner können davon auch ein Lied singen. Aber,
und das zählt, er war bereit, selbst den höchsten Preis zu zahlen.
Denn die Gefahr des Scheiterns bei dem, was er tat, war stets einkalkuliert – zuletzt selbst der Verlust seiner Kanzlerschaft.
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Ansprache von Dr. Angela Merkel
Ansprache von Dr. Angela Merkel
Gegen teils erhebliche Widerstände auch in der eigenen Partei und
in der Bevölkerung hatte sich Bundeskanzler Helmut Schmidt für
den NATO-Doppelbeschluss eingesetzt. Dieser sah die Aufstellung
von Mittelstreckenraketen in Westeuropa vor. Damit einher ging
ein Verhandlungsangebot an die Sowjetunion, beiderseits auf diese
Waffensysteme zu verzichten. Erst seinem Nachfolger im Amt des
Bundeskanzlers, Helmut Kohl, sollte es gelingen, den NATO-Doppelbeschluss durchzusetzen. Doch letztlich waren es der
Mut, für eigene Überzeugungen einzustehen, und die
Er war standhaft.
Bereitschaft, Konsequenzen in Kauf zu nehmen, die
Er war sich der
Helmut Schmidt Achtung und Respekt bis heute eintrugen.
Bedeutung seines
Handelns für andere
bewusst. Er sah es
als seine Pflicht an,
seine politische
Gestaltungskraft
auf das Gemeinwohl
auszurichten.
Er war standhaft. Er war sich der Bedeutung seines Handelns für andere bewusst. Er sah es als seine Pflicht an,
seine politische Gestaltungskraft auf das Gemeinwohl
auszurichten. Bei allem Willen zur Tat – er war davon
überzeugt, dass eine Entscheidung nur dann reif zu
fällen war, wenn sie vorher durchdacht und mit Vernunft
durchdrungen war. Denken und Handeln gehörten für
ihn untrennbar zusammen.
Zu seinem nüchternen Pragmatismus gesellte sich seine
Resistenz gegenüber ideologischer Einengung. Wer
kennt sie nicht, die vielzitierte Empfehlung Helmut
Schmidts: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Er selbst hat
die Aussage später wie folgt eingeordnet: „Es war eine pampige
Antwort auf eine dusselige Frage.“ Helmut Schmidt kannte die
Sehnsucht nach Idealen, nach großen Entwürfen für eine gerechtere Gesellschaft. Doch er wehrte sich gegen jede Form blinder
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Ideologie – sicherlich vor allem aufgrund seiner Erfahrungen im
Nationalsozialismus.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Helmut Schmidt und
ich gemeinsam am 20. Juli 2008 am feierlichen Gelöbnis der
Bundeswehr teilnahmen, das damals erstmals vor dem Reichstag
in Berlin stattfand. Helmut Schmidt war bei diesem
Gelöbnis der Hauptredner und sprach zu den jungen
„Ihr könnt euch
Rekruten über seine eigene Zeit als Soldat. Er beendete
darauf verlassen:
seine Rede mit den Worten: „Ihr könnt euch darauf verlassen: Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen.
Dieser Staat wird euch
Denn die Würde und das Recht des einzelnen Menschen
nicht missbrauchen.
sind das oberste Gebot.“
Helmut Schmidt brannte für die Demokratie und die ihr
Denn die Würde und
zugrunde liegenden Werte. Gleiches gilt für die europäi- das Recht des einzelnen
sche Idee. Er verstand früher als viele andere, dass die
Menschen sind
Welt offener wird, dass dies neue Aufgaben mit sich brindas oberste Gebot.“
gen und eine stärkere globale Zusammenarbeit erfordern wird. Seine Kanzlerschaft fiel in eine Zeit, als
Deutschland geteilt war, als sich die Großmächte in Ost und West
unversöhnlich gegenüberstanden und die Weltwirtschaft infolge
stark gestiegener Ölpreise eine schwere Rezession erfuhr. Die Lehre
aus dieser ersten Ölkrise war, die Abhängigkeit von Erdölimporten
aus den OPEC-Staaten zu verringern und die Energieerzeugung auf
eine breitere Grundlage zu stellen. Dass Helmut Schmidt dabei stark
auf die Atomenergie setzte, lag in der Logik der Zeit.
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Ansprache von Dr. Angela Merkel
Ansprache von Dr. Angela Merkel
Damals wuchs auch seine Freundschaft mit Valéry Giscard
d’Estaing, der in Frankreich im selben Jahr die politische Führung
übernahm wie Helmut Schmidt in Deutschland. Gemeinsam bildeten sie in Europa ein starkes Band deutsch-französischer Zusammenarbeit, das sich hohen politischen Belastungen gewachsen zeigte.
Gemeinsam mit Präsident Giscard d’Estaing entwickelte Helmut
Schmidt Strategien zur Überwindung der Wirtschaftskrise und der
Inflation. Ihrer Initiative verdanken wir die Einführung des Europäischen Währungssystems, das dazu diente, die Wechselkursschwankungen zwischen den Mitgliedstaaten zu reduzieren. Das war ein
mutiger Schritt. Im Rückblick zeigt sich, dass das EWS eine wesentliche Voraussetzung für einen funktionierenden gemeinsamen
Markt war. Später sollte daraus die Europäische Wirtschafts- und
Währungsunion hervorgehen.
Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing verstetigten die Treffen der
Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. Bis dahin hatte
der Austausch eher sporadisch stattgefunden. Das neue Format
sollte sich als wichtiger Motor der europäischen Integration erweisen. Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing waren es auch, die
die Idee entwickelten, die Staats- und Regierungschefs der größten Industrienationen zu informellen Gesprächen zu versammeln.
1975 – vor 40 Jahren – fand der erste Gipfel statt. Heute kommen
wir mit größter Selbstverständlichkeit regelmäßig im Kreis der G7
und inzwischen auch der G20 zusammen. Ohne diese Treffen
stünden wir auf der Suche nach Antworten auf globale Fragen –
etwa der Finanzmarktregulierung, der internationalen Sicherheit
oder des Klimaschutzes – ziemlich verloren da. So hat sich also
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Helmut Schmidt mit seinem strategischen Weitblick auch als ein
Gründervater unserer Gipfeldiplomatie erwiesen.
Weise Vorausschau indes nützt nur wenig, wenn eine Gegenseite
auf Unmenschlichkeit und Hass setzt. Die wohl größte Bewährungsprobe für den Bundeskanzler Helmut Schmidt war der Terrorismus der sogenannten „Rote Armee Fraktion“. Im Herbst 1977
erreichte er einen fürchterlichen Höhepunkt. Um elf RAF-Mitglieder freizupressen, wurde am 5. September Arbeitgeberpräsident
Hanns Martin Schleyer entführt. Bei der Aktion wurden sein Fahrer
und drei Polizeibeamte ermordet.
Die Bundesregierung mit Helmut Schmidt an der Spitze entschied
sich, die Forderungen der Terroristen nicht zu erfüllen und keine
RAF-Mitglieder aus der Haft zu entlassen. Sie blieb auch bei dieser
Haltung, als palästinensische Terroristen ein Flugzeug der Lufthansa
nach Mogadischu entführten und dieselbe Forderung stellten. Die
Erpresser ermordeten den Piloten Jürgen Schumann und drohten
damit, die gesamte Besatzung und alle Passagiere umzubringen.
Helmut Schmidt ordnete am 18. Oktober an, die Geiseln durch die
GSG neun zu befreien. Alle 86 Geiseln wurden gerettet. Hanns Martin
Schleyer jedoch wurde von seinen Entführern ermordet.
Helmut Schmidt hat mehrfach ausführlich über diese Tage im
Herbst 1977 gesprochen. Vor gut zwei Jahren resümierte er: „Im
Laufe des Lebens haben mich drei Erlebnisse bis in die Grundfesten
meiner Existenz erschüttert. Zum einen der Tod meiner Frau. Zum
anderen – viele Jahrzehnte vorher – mein Besuch in Auschwitz. Und
drittens die monatelange Kette von mörderischen Ereignissen, die
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Ansprache von Dr. Angela Merkel
Ansprache von Dr. Angela Merkel
mit Hanns Martin Schleyers Namen verbunden bleibt.“ Helmut
Schmidt war davon überzeugt, dass seine Entscheidung richtig war,
dass sich ein Staat nicht erpressen lassen dürfe. Aber er wusste auch,
dass er Mitverantwortung für den Tod Hanns Martin Schleyers auf
sich nehmen musste.
Wir stehen an diesem Tag, an dem wir von Helmut Schmidt
Abschied nehmen, wieder unter dem Eindruck grausamer Attentate.
Unsere Gedanken wandern immer wieder nach Paris, zu den Opfern
der Anschläge vor zehn Tagen, zu ihren Angehörigen und allen, die
ihnen nahestanden. Die Motive sind heute andere, die Umstände
auch. Aber Terror bleibt Terror. Menschenverachtende Mordtaten
lassen sich durch nichts rechtfertigen.
Was hätte Helmut Schmidt zu den Anschlägen gesagt? Diese Frage
liegt nahe; und doch verbietet sie sich. Wir müssen selbst die gebotene Antwort geben. Wir müssen selbst zeigen, dass wir verstanden haben, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen.
Entschlossenes Handeln ist und bleibt gefragt, ebenso der internationale Schulterschluss und die klare Botschaft: Freiheit ist
stärker als Terror und Hass, Menschlichkeit ist stärker als
Unmenschlichkeit.
klarem Verstand brillierte, geschliffen formulierte und mit seinen
gepflegten Leidenschaften trotzdem nahbar wirkte.
Seine Urteile waren fest und sie waren sorgfältig durchdacht.
Helmut Schmidt konnte andere überzeugen. Auch für diejenigen,
die anderen Ansichten anhingen, war es ein Gewinn, mit ihm zu
diskutieren, weil er die richtigen Fragen stellte und weil er mit prägnanten Antworten den Nagel auf den Kopf zu treffen verstand. Die
Größe seiner Kanzlerschaft lag in seiner klugen und konsequenten
Regierungsführung. Die Leistungen dieses Bundeskanzlers zeigten
sich in den Krisen, die er zu bewältigen hatte. Helmut Schmidt
bestand diese Bewährungsproben. Sie schärften seine Urteilskraft
und brachten all seine Fähigkeiten zur Entfaltung. Helmut Schmidts
Tod ist für uns alle eine herbe Zäsur.
Ich verneige mich in tiefem Respekt vor diesem großen Staatsmann, vor einem großen Deutschen und Europäer. Ich verneige
mich vor dem Politiker, dem Bundeskanzler, dem unabhängigen
Geist und Publizisten. Ich verneige mich vor einer herausragenden
Persönlichkeit.
Lieber Helmut Schmidt, Sie werden uns fehlen.
Helmut Schmidt hatte etwas zu sagen. Wir haben seine Stimme im
Ohr. Sein Denken bleibt in Erinnerung. Die Spuren, die er hinterlässt, sind tief. Aus der Achtung für den Bundeskanzler Helmut
Schmidt wurde der Respekt für den Publizisten, wurde die Verehrung eines Jahrhundertzeugen und Elder Statesman, wurde schließlich die Zuneigung zu einem Mann, der bis ins hohe Alter mit
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„Mien Jehann“
von Klaus Groth
vorgetragen von
Jochen Wiegand
„Mien Jehann“
Mein Johann
Ick wull, wi weern noch kleen, Jehann,
Dor weer de Welt so groot!
Wi seeten op den Steen, Jehann,
Weest noch? bi Navers Soot.
An’n Heben seil de stille Maan,
Wi segen, wo he leep,
Un snacken, wo de Heben hoch
Un wo de Soot wull deep.
Ich wollte, wir wären noch klein, Johann,
da war die Welt so groß!
Wir saßen auf dem Stein, Johann,
weißt du noch? Bei Nachbars Brunnen.
Am Himmel stand der stille Mond,
wir sahen, wo er lief,
fragten uns, wie hoch der Himmel
und wie tief der Brunnen wohl ist.
Weest noch, wo still dat weer, Jehann?
Dor röhr keen Blatt an’n Boom.
So is dat nu nich mehr, Jehann,
As höchstens noch in’n Droom.
Ach nee, wenn dor de Schäper sung,
Alleen in’t wiede Feld:
Ni wohr, Jehann? dat weer een Ton!
De eenzig op de Welt.
Weißt du noch, wie still es war, Johann?
Da rührte sich kein Blatt am Baum.
So ist das nun nicht mehr, Johann,
höchstens noch im Traum.
Oh nein, wenn da der Schäfer sang,
allein ins weite Feld:
Nicht wahr, Johann? Das war ein Ton!
Der einzige auf der Welt.
Mitünner inne Schummertied
Dor ward mi so to Moot
Denn löppt mi’t langs de Rügg so hitt,
As dormols bi den Soot.
Denn dreih ick mi so hastig üm,
As weer ik nich alleen:
Doch allens, wat ick finn, Jehann,
Dat is – ik stahn un ween.
Ab und zu in der Dämmerung
da wird mir so zumute,
da läuft es mir heiß den Rücken runter,
wie damals an dem Brunnen.
Dann dreh’ ich mich ganz hastig um,
als wäre ich nicht allein:
aber alles, was ich finde, Johann,
das ist – ich steh’ und wein’.
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Impressum
Herausgeber
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
11044 Berlin
www.bundesregierung.de
Stand
Januar 2016
Druck
MKL Druck GmbH & Co. KG, 48346 Ostbevern
Gestaltung
Scholz & Friends Berlin GmbH, 10178 Berlin
Bildnachweis
Titel: picture-alliance/dpa/Grimm
S. 8: Bundesregierung/Bauer
S. 10, 23, 24, 31, 42, 46–49: Bundesregierung/Bergmann
S. 32, 44–45: Bundesregierung/Kugler
Diese Broschüre ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der
Bundesregierung. Sie wird kostenlos abgegeben und ist
nicht zum Verkauf bestimmt.