Gedenken an Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt Staatsakt in der Hauptkirche St. Michaelis in Hamburg am 23. November 2015 Gedenken an Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt Am 10. November 2015 verstarb Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt. Am selben Tag hat Bundespräsident Joachim Gauck einen Staatsakt für ihn angeordnet. Auf Wunsch des Verstorbenen fanden die Trauerfeier lichkeiten am 23. November 2015 in der Hauptkirche St. Michaelis in Hamburg statt. Helmut Schmidt hat die Musikstücke, Lesungen und Gebete selbst ausgewählt. Programm des Staatsakts Staatlicher Teil Johann Pachelbel, Kanon D-Dur Ansprache von Olaf Scholz Erster Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg Kirchlicher Teil Johann Pachelbel, Gigue D-Dur Ansprache von Dr. Henry Kissinger Ehemaliger Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika Johann Sebastian Bach, Praeludium E-Moll, BWV 533 Begrüßung und Lesung – Hauptpastor Alexander Röder Johann Sebastian Bach, „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“, BWV 226 Predigt – Hauptpastor Alexander Röder Johann Sebastian Bach, Brandenburgisches Konzert Nr. 5 D-Dur, BWV 1050, 1. Satz: Allegro Ansprache von Dr. Angela Merkel Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland Johann Sebastian Bach, Abendlied von Matthias Claudius Ouvertüre (Orchestersuite) Nr. 3 D-Dur, BWV 1068, 2. Satz: Air Abschiedsworte und Gebete – Hauptpastor Alexander Röder Nationalhymne Volkslied „Mien Jehann“ von Klaus Groth, vorgetragen von Jochen Wiegand Ende des Staatsakts Segen – Hauptpastor Alexander Röder Großes militärisches Ehrengeleit Das Stabsmusikkorps spielt den Trauerchoral „Jesu meine Zuversicht“ und Musikalische Gestaltung die Nationalhymne. Acht Offiziere des Wachbataillons nehmen den Sarg Philharmonisches Staatsorchester Hamburg unter Leitung von auf und tragen ihn an der Ehrenformation der Bundeswehr vorbei zum Generalmusikdirektor und Chefdirigent Kent Nagano Sargwagen. Der Trauerkondukt fährt zum Hamburger Friedhof Ohlsdorf. Seite 10 Ansprache von Olaf Scholz Seite 24 Ansprache von Dr. Henry Kissinger Seite 32 Ansprache von Dr. Angela Merkel Seite 42 Volkslied „Mien Jehann“ von Klaus Groth vorgetragen von Jochen Wiegand 7 Helmut Schmidt geboren am 23. Dezember 1918 in Hamburg 1953 bis 1962 und 1965 bis 1987 Mitglied des Deutschen Bundestages 1961 bis 1965 Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg 1967 bis 1969 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion 1969 bis 1972 Bundesminister der Verteidigung 1972 Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen 1972 bis 1974 Bundesminister der Finanzen 1974 bis 1982 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland 1983 bis 2015 Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“ und Autor verschiedener Publikationen gestorben am 10. November 2015 in Hamburg 9 Ansprache von Olaf Scholz Hamburg trauert. Und nicht nur Hamburg – Deutschland, Europa, ja die ganze Welt beklagt den Verlust eines großen Politikers und Bürgers. Es ist noch kaum vorstellbar, dass wir künftig gesellschaftliche und politische Debatten ohne ihn führen müssen. Ansprache von Olaf Scholz Liebe Familie Schmidt, liebe Familie Loah, Erster Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien sehr geehrter Herr Bundespräsident, und Hansestadt Hamburg sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Exzellenzen, sehr geehrte Trauergäste, wir nehmen heute Abschied von Helmut Schmidt. Wohl selten in Deutschland sind einem Politiker so viel Respekt und Vertrauen entgegengebracht worden. Selten hat jemand in solch gelassener Selbstverständlichkeit die öffentlichen Belange, die res publica, verkörpert wie er: ein Staatsmann im eigentlichen Sinn des Wortes. Als in den Nachrichtensendungen zu seinem Tod die politischen Würdigungen zitiert wurden, hieß es dort auch, dass er ein „erleuchteter Europäer“ gewesen sei. 11 Ansprache von Olaf Scholz Ansprache von Olaf Scholz Ich bin mir sicher: Das war ein Übersetzungsfehler und es hieß im Original „enlightened“ – also: aufgeklärt. Das war Helmut Schmidt ohne Zweifel. Aber es ist schon bemerkenswert, dass eine Redaktion auch den „erleuchteten Europäer“ durchaus im Bereich des Möglichen gesehen hat. Dabei hat Helmut Schmidt wiederholt betont, dass er den Tod für endgültig halte. Ich will das nicht ausdeuten, für uns Nachbleibende trifft das jedenfalls nicht zu. Er ist von uns gegangen, aber vieles von ihm bleibt bei uns. Das gilt, liebe Susanne Schmidt, liebe Ruth Loah, natürlich gerade für diejenigen, die ihm besonders nahe gewesen sind. Wir fühlen mit Ihnen. Viele, gerade in dieser Stadt, erinnern sich an den beherzten Hamburger Polizeisenator, der 1962 mit Klugheit und Augenmaß eine größere Katastrophe verhindert hat. Als die Dämme brachen, organisierte er die notwendige Hilfe – selbst wenn er den gesetzlichen Rahmen etwas dehnen musste. Viele Geschichten werden darüber erzählt. Am bedeutsamsten aber ist, mit welcher Klarheit Schmidt hier Kants kategorischen Imperativ zur Richtschnur einer verlässlichen Politik in unübersichtlichen Zeiten gemacht hat. Fünfzehn Jahre später, unter dem Terror der RAF, sollte diese politische Grundhaltung erneut auf die Probe gestellt werden. Dass sich der deutsche Staat nicht hat erpressen lassen, hat ihn gegen den Terror gewappnet. Es hat aber auch den Träger „Handle nur dieser Entscheidungen in Stunden tiefer Verzweiflung nach derjenigen gestürzt. Verantwortung muss man bereitwillig tragen, bisweilen auch ertragen. Wir alle verlieren einen wichtigen Wegbegleiter. Gemeinsam mit Helmut Schmidt haben wir erlebt, wie aus lebensklugem politischem Pragmatismus scheinbar unbegrenzte moralische Autorität erwachsen kann. Gegründet auf dieses Fundament hinterlässt er uns ein Erbe, das wir annehmen wollen. Wir haben vieles von ihm gelernt. Das bleibt. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Der Rigorismus dieser nur scheinbar so formalen Und so mischt sich an diesem Tag in unsere Trauer auch die Dankbarkeit für das, was Helmut Schmidt uns mit auf den Weg gegeben hat. Feststellung ist wesentlich dafür, wie Helmut Schmidt von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen wurde. Von Helmut Schmidt haben wir gelernt, was es heißt, in einer demokratischen und offenen Gesellschaft politische Verantwortung zu übernehmen. Er hat vorgelebt, wie anständige und vernünftige Politik aussieht. Seine Geradlinigkeit hat Vertrauen erzeugt und ihn zum Vorbild für viele gemacht. 12 13 Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Ansprache von Olaf Scholz Ansprache von Olaf Scholz Unsere freiheitlich demokratische Verfassung fußt auf der Überzeugung, dass jeder Einzelne Verantwortung für sich und für die Gemeinschaft übernimmt und übernehmen kann. Daraus entsteht die offene Gesellschaft, die Helmut Schmidt so am Herzen lag. Karl Poppers auch der bisweilen eher romantisch idealistischen Sozialdemokratie erschlossen. Der Reformismus Eduard Bernsteins fand so nicht nur eine weitere philosophische Grundlage, sondern zugleich auch seine politische und praktische Realisierung im Regierungshandeln der sozialliberalen Koalition. Wir erleben heute, wie attraktiv diese Offenheit ist. Wir spüren aber auch, dass sie erbitterte Feinde hat. Wir haben das vor zehn Tagen bei den Terroranschlägen von Paris erleben müssen. Wir werden die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit unserer offenen Gesellschaft gegen diese feigen Angriffe verteidigen. Die Werte der Aufklärung und des Humanismus sind nicht kulturabhängig. Sie besitzen universelle Gültigkeit. Wir verteidigen sie, indem wir sie so leben und verkörpern, wie Helmut Schmidt es zeitlebens getan hat. Freiheit und Sicherheit kann man nicht aufwiegen. Sie bedingen einander. „Politik ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken.“ Ein politisches Angebot zu formulieren, das Sicherheit im Wandel der Moderne vermittelt, ohne die Freiheit des Wandels dadurch in Frage zu stellen, gehört zu den großen Lebensleistungen Helmut Schmidts. Von Bundeskanzler Helmut Schmidt haben wir gelernt, wie eine soziale und demokratische Politik mit klugen und pragmatischen Reformen helfen kann, das Leben vieler zu verbessern. „Politik ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken“, hat er geschrieben und damit die nüchtern pragmatische Philosophie 14 Hier zeigt sich, dass Helmut Schmidt zeitlebens ein Intellektueller gewesen ist, der viel Energie in die redliche Begründung seiner politischen Initiativen investierte. Aber er war ein Intellektueller, dem das kluge Kommentieren der Zeitläufte nie genug war. Für ihn war die Theorie untrennbar mit der Praxis ihrer Umsetzung verbunden. Erst dann konnte sie Gültigkeit beanspruchen. Daraus entsteht ein Politikstil der vielen kleinen Schritte, der bis heute Regierungen ganz unterschiedlicher politischer Couleur prägt. Die Vorstellung, dass sich unsere Gesellschaft auf diese Weise nachhaltig verbessern lässt, ist zutiefst demokratisch und einer dynamischen Moderne mehr als angemessen. Auf Grundlage solch stetiger Politik hat sich der Sozialstaat zu jener „größten Kulturleistung entwickelt, die die Europäer im Lauf dieses schrecklichen 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben“, wie Helmut Schmidt oft betont hat. Wir müssen ihn in seiner Substanz bewahren und als Grundlage unseres wirtschaftlichen Erfolges und unseres sozialen Zusammenhalts mit unseren europäischen Partnern weiterentwickeln. Auch das hat uns der große Sozialdemokrat Helmut Schmidt aufgegeben. 15 Ansprache von Olaf Scholz Ansprache von Olaf Scholz Überhaupt: Europa! Von Helmut Schmidt haben wir gelernt, dass Deutschland seine Rolle in der Welt nur als Teil Europas finden kann. Wir stehen in einer ernsten Bewährungsprobe. Lieber Jean-Claude Juncker, lieber Martin Schulz, wir müssen das humanistische Erbe und die wirtschaftliche Kraft Europas gemeinsam sichern. Die Mahnung zur Zusammenarbeit zwischen den europäischen Völkern und Regierungen hat einen sehr ernsten Kern: Nur so ließe sich verhindern, dass sich – und ich sage es in dieser Härte mit den Worten Helmut Schmidts – die „große Scheiße des Krieges“ wiederhole. Hier sprach auch der junge Wehrmachtssoldat, der selbst erleben musste, welche Verwüstungen der Krieg auf unserem Kontinent angerichtet hat. Kurt Schumachers Ruf „Nie wieder Krieg!“ war ein Grund dafür, dass er Sozialdemokrat wurde. Über Jahrhunderte hinweg haben sich unsere Nachbarn insbesondere vor der Ballung politischer und wirtschaftlicher Macht in der Mitte Europas gefürchtet. Das große Glück, für das wir heute die Verantwortung tragen, liegt darin, dass sich das geändert hat. Nur inmitten der europäischen Union sind die Wiedervereinigung und das Wiedererstarken Deutschlands möglich gewesen. Nur als Teil einer europäischen Union werden die Nationalstaaten unseres Kontinents globale Relevanz behalten. Vielfach hat Helmut Schmidt auf die Wege verwiesen, die wir beschreiten müssen, um Europa zu sichern. Sein stets klares Plädoyer für die Rettung Griechenlands war dafür nur ein Beispiel. Seiner SPD hat er auf dem Parteitag im Jahr 2011 aufgegeben, dass sie sich um das in der Menschheitsgeschichte einzigartige Projekt der Europäischen Union kümmern müsse. Die EU sei weniger als ein Bundesstaat, müsse aber mehr sein als ein Staatenbund. Sie lebe von Standfestigkeit und Selbstbewusstsein. Mehr denn je. Dafür brauchen wir, lieber Giscard d’Estaing, lieber Jean-Marc Ayrault, den Schulterschluss mit den Freunden in Frankreich, die Helmut Schmidt immer besonders nahestanden und denen wir uns in diesen Tagen so besonders verbunden fühlen. Wir brauchen die transatlantische Freundschaft, lieber Henry Kissinger, als eine wesentliche Triebfeder. Internationale Zusammenarbeit ist Helmut Schmidt auch deshalb immer ein Herzensanliegen gewesen. Der Euro, der Prozess der G7/G8, die weitere Vertiefung der europäischen Gemeinschaft – all dies geht auch auf seine Initiativen zurück. Wir brauchen den fortdauernden Dialog und die noch lange höchst komplizierte Zusammenarbeit mit Russland und natürlich auch mit China. Heute erleben wir eine Europäische Union, die vielfach herausgefordert ist – durch die Finanzkrise, durch den Zustrom der Flüchtlinge und leider immer wieder auch durch den Terror. Die Nachricht vom Tode Helmut Schmidts erreichte mich auf einer Delegationsreise in Beijing. Die dortigen Reaktionen haben uns noch einmal beeindruckend die Bedeutung des Weltpolitikers 16 17 Ansprache von Olaf Scholz Ansprache von Olaf Scholz Helmut Schmidt vor Augen geführt: Der chinesische Präsident und der Premier kondolierten ausdrücklich persönlich „in eigenem Namen“. Und das Staatsfernsehen sendete einen Nachruf auf einen „alten Freund des chinesischen Volkes“. Die Welt rückt zusammen, wenn sie Verbindendes erlebt. Gerade an Tagen wie diesem. Von Helmut Schmidt haben wir gelernt, wie nahe sich Politik und Publizistik in ihrer Verantwortung für die öffentlichen Belange sind. Schon als Politiker hat er sich darum bemüht, die Geschichte seiner Politik nicht nur zu erzählen, sondern auch aufzuschreiben. Wohl kaum ein aktiver Politiker hat so viele und so relevante Bücher geschrieben. Und er hat sich die Zeit genommen, die eine schon damals ziemlich atemlose Mediendemokratie nicht immer bereitwillig hergibt, um Politik einzuordnen und verständlich zu machen. Er hat damit die Orientierung gegeben, die heute oftmals im Strom der vermeintlich immer neuen Nachrichten verloren geht. Er hat Perspektive und Richtung gezeigt. Nach dem Abschied aus dem Kanzleramt wechselte Schmidt vollends in die Rolle des politischen Publizisten und prägte aus dem Pressehaus der „Zeit“ heraus über Jahrzehnte nicht nur diese bedeutende Wochenzeitung. Die Rolle des öffentlichen Intellektuellen füllte er mit ebensolcher Stringenz aus wie vorher seine politischen Ämter. Und die Verantwortungsethik seiner aktiven Zeit prägte ihn auch nach diesem vermeintlichen Seitenwechsel. 18 Trotz aller spöttisch koketten Distanz zu den viel zitierten „Wegelagerern“ ist er am Ende selbst zum großen Journalisten und Leitartikler geworden. Von Helmut Schmidt haben wir auch immer wieder aufs Neue gelernt, wie wichtig Heimat ist. Für ihn hieß diese Heimat Hamburg. Als Politiker und Publizist hat Helmut Schmidt Deutschland, Europa und die Welt geprägt. Zu Hause war er aber hier in der Freien und Hansestadt – kulturell, intellektuell und persönlich. Natürlich konnte und wollte er seine Heimatstadt nicht verleugnen. Zu deutlich hörte man seine Herkunft, wenn er im Bundestag das Wort ergriff. Die hamburgische Schnoddrigkeit, aus der man die Jugend in Barmbek heraushören konnte, gehörte ebenso zu ihm wie die natürliche Eleganz des freiheitsliebenden hanseatischen Bürgers, der auch über den spitzen Stein stolpern konnte. Und dann bleiben da die Bilder von den Besuchen der Großen und Mächtigen dieser Welt in seinem Reihenhaus in Langenhorn. Sie haben manchen Gast herausgefordert, der an mehr Pomp gewöhnt war. Vor allem aber zeigen sie auf erstaunlich beiläufige Weise, wie selbstverständlich „normal“ Politik eben auch sein kann. Die kluge und unprätentiöse Herzlichkeit, die gerade auch von Helmut Schmidts lebenslanger Gefährtin und Ehefrau Loki ausging, war berührend und nahm viele nicht nur für die beiden ein, sondern auch für die Stadt, in der sie lebten. 19 Ansprache von Olaf Scholz Ansprache von Olaf Scholz Helmut Schmidt hat sich an seiner Heimatstadt gerieben, wenn sie es sich wieder einmal zu gemütlich gemacht hat in ihrer Schönheit und ihrem Wohlstand. Dann präsentierte er mit Nachdruck drängende Fragen, mit denen sich Politik und Bürgerschaft der Stadt auseinandersetzen mussten. Und zwar schon deshalb, weil man davon ausgehen konnte, dass Helmut Schmidt zumindest immer auch Recht hat. Das letzte Buch, das Helmut Schmidt zu Lebzeiten veröffentlicht hat, handelt aber geradezu zärtlich und liebevoll von Hamburg. Es zeigt seine tiefe emotionale Verbundenheit zu einer Heimat, die immer mehr gewesen ist als ein bloß zufälliger Geburts- und Wohnort. Hier hätte er auch Städtebauer oder Hafenkapitän werden können. Ich bin froh, dass wir in den vergangenen Jahren ein andauerndes intensives Gespräch führen konnten. Vor wenigen Wochen noch bin ich mit Helmut Schmidt im Hafen unterwegs gewesen. Interessiert und informiert wie immer wollte er viel darüber wissen, wie das moderne Hamburg als fester Teil Europas aussehen wird und welche Verantwortung die Stadt zu übernehmen bereit ist. Er regte an, das reiche Erbe der Hanse und der in ihr gelebten Zusammenarbeit der Städte auch für die europäische Einigung nutzbar zu machen. Kurz zuvor hatte er sich auf den Weg nach Lübeck gemacht und dort überraschend und unangemeldet das neue Hansemuseum besucht. Er sieht die alten Hansestädte wie seine Heimatstadt heute ganz besonders in der Pflicht. Eine Perspektive, die nähere Betrachtung verdient. 20 Ich hoffe jedenfalls, dass wir seinen Erwartungen weiterhin gerecht werden und Helmut Schmidts Schöne auch in Zukunft aufgeweckt bleiben wird. Das politische Vermächtnis dieses reichen politischen und bis zum Schluss öffentlichen Lebens lässt sich nicht in wenigen Worten umreißen. Helmut Schmidt wird einer der zentralen Fixpunkte der Politik bleiben. Er hat Spuren hinterlassen, von denen wir manche erst noch entdecken werden. Heute sind wir Hamburgerinnen und Hamburger gleichermaßen traurig und dankbar. Traurig, weil wir uns von einem einzigartigen und unsere Stadt prägenden Ehrenbürger verabschieden müssen. Und dankbar, weil wir zumindest einen Teil dieser Wegstrecke gemeinsam mit ihm gehen durften. Wer die Schlangen vor den Kondolenzbüchern in der Rathausdiele gesehen hat, wer die vielen persönlichen Geschichten hört, die jetzt allerorten erzählt werden, der spürt, wie bedeutsam Helmut Schmidt im Leben vieler gewesen ist – selbst wenn sie ihm nie persönlich begegnet sind. Es mag pathetisch klingen und ist doch wahr: Wir haben einen Giganten verloren. Politisch. Menschlich. Diese Lücke wird bleiben. Und wir werden sie spüren. 21 Ansprache von Olaf Scholz Aber wir werden sie füllen mit den vielen Erinnerungen, die uns bleiben und trösten. Mit den Erinnerungen an die außergewöhnliche Partnerschaft zwischen Helmut und Loki Schmidt. An die Ratschläge und Anstöße. An die Mahnungen und die Seufzer. Und an manche Zigarette selbst am unpassenden Ort. Unsere traditionsreiche Stadt ist auch reich an großen Söhnen und Töchtern, die von hier die Welt geprägt haben. Heute verneigen wir uns in tiefer Trauer und unendlicher Dankbarkeit vor dem Größten von ihnen. 22 Ansprache von Dr. Henry Kissinger Im Jahre 2012 dankte ich Helmut für einen Artikel, den er mir geschickt hatte. Ein Schlüsselsatz in meinem Brief lautete: „Unsere lange Freundschaft ist ein Pfeiler in meinem Leben.“ Sechs Jahrzehnte lang haben wir beide über dieselben Probleme nachgedacht – in unserer Regierungszeit und in späteren Jahren, als wir uns noch öfter rund um die Welt trafen, um unsere Gedanken auszutauschen. Wir haben uns zu Hause besucht, wir haben Reden aufeinander gehalten. Helmut war der Laudator, als meine Heimatstadt Fürth mich ehrte. Bei seinem 90. Geburtstag erwähnte ich, dass ich als kleiner Junge nie zu erträumen gewagt hätte, eines Tages mit einem deutschen Kanzler Geburtstag zu feiern. Ansprache von Dr. Henry Kissinger Ehemaliger Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika Im Laufe der Zeit kamen andere Freunde dazu: der Premier von Singapur Lee Kuan Yew und der frühere Außenminister George Shultz. Es fiele mir schwer, Ihnen heute hier im Michel das Wesen dieser tiefen Freundschaft zu beschreiben. Auch nach sechzig Jahren waren Helmut und ich nicht zum vertrauten „Du“ übergegangen. Helmut ist nie weitergegangen, als in seiner nüchternen Art zu konstatieren: „Wir vier können uns aufeinander verlassen, weil keiner von uns dem anderen je etwas sagen würde, was nicht die absolute Wahrheit ist.“ Unsere lange Freundschaft ist ein Pfeiler in meinem Leben. Das war das Besondere an Helmut Schmidt. Er hat seinen Beruf als den eines praktizierenden Politikers angegeben. Nur: Sein Verständnis von Politik ging weit über das tägliche politische Handwerk hinaus. Er war breiter gebildet als die meisten Spitzenpolitiker 24 25 Ansprache von Dr. Henry Kissinger Ansprache von Dr. Henry Kissinger der Nachkriegszeit. Am Klavier war er so virtuos, dass er mit der London Symphony ein Mozart-Konzert geben konnte. Sein Weg in die Politik war fast dem Zufall geschuldet. Seine erste Liebe waren Architektur und Stadtplanung. Hätte er am Ende des Krieges die Geldmittel für ein so aufwändiges Studium gehabt, hätte er seine außergewöhnlichen Energien und Talente dem Wiederaufbau der deutschen Städte gewidmet. Helmut lebte in einer Übergangszeit: • Helmut hatte diese beiden Eigenschaften nie für sich selbst reklamiert. Aber er hat sie verkörpert. In einer großen Rede vor der Universität Tübingen im Jahre 2007 führte er die Leitlinien auf – Vernunft, Recht, Frieden, Glauben – die sein eigenes Sein und Tun bestimmten: „Für mich bleibt das eigene Gewissen die oberste Instanz . . . Über das Gewissen gibt es mancherlei theologische und philosophische Meinungen . . . Kant hat das Gewissen als ‚das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen‘ bezeichnet.“ Es war die Verpflichtung gegenüber dem eigenen Gewissen, die Helmut so nüchtern und ernst im persönlichen Umgang erscheinen ließ. Small Talk würde ihn von dieser Pflicht ablenken. Machtvoll war sein Drang, das Wissen zu erwerben, das ihn dazu befähigen würde, die schicksalhaften Herausforderungen seiner Generation zu meistern. • • „Für mich bleibt das eigene Gewissen die oberste Instanz.“ All dieses analytische Wissen war eingebunden in seine spirituelle Beziehung zur Musik, insbesondere zu Bach und Mozart. Seine innere Konzentration, wie er mir einst erzählte, war so ausgeprägt, dass er mit fortschreitender Gehörschädigung nur auf das Notenblatt blicken musste, um die Musik hören zu können. Helmut sah sich in der Pflicht, sein Land aus dem Gestern in eine Welt zu führen, die Deutschland nie gekannt hatte. Die wichtigsten Qualitäten eines Staatsmanns sind Vision und Mut – Vision, um der Stagnation entgegenzuwirken; Mut, um das Staatsschiff durch unbekannte Gewässer zu steuern. 26 Diese Eigenschaften verliehen Helmuts Freundschaften eine besondere Kraft. Freundschaft für Helmut war eine Partnerschaft im Streben nach Wahrheit und Weisheit. Mit seinen Freunden pflegte er eine unaufhörliche Konversation. Jede Zusammenkunft begann, 27 Ansprache von Dr. Henry Kissinger Ansprache von Dr. Henry Kissinger wo die vorherige geendet hatte. So formal sie auch zu sein schienen, waren seine Freundschaften geprägt von tiefer Zuneigung. Das Gefühlvolle war die andere Seite des Understatements. Wer sich auf Helmut einließ, wurde sozusagen in einen Orden rekrutiert, Aus diesem Pflichtgefühl wurde Helmut eine treibende Kraft hinter der Europäischen Sicherheitskonferenz 1975 und in der Förderung der EU, zusammen mit seinem Freund Giscard d’Estaing. welcher die Suche nach dem Wesentlichen mit Demut paarte. Ich zitiere ihn: „Wir haben alle mehr als einmal gegen unser Gewissen gehandelt. Wir müssen also alle mit einem schlechten Gewissen leben. Diese allzu menschliche Schwäche gilt selbstverständlich auch für Politiker.“ Ein Wort gebührt Helmuts besonderem Verhältnis zu Amerika. Helmut gehörte jener Nachkriegsgeneration an, die auf Amerika blickte, weil sie in seinen besonderen Führungsqualitäten die beste und anfänglich die einzige Hoffnung für die freien Völker sah. Er legte daher an Amerika einen strengen Maßstab an und fand amerikanische Mängel schwerer zu akzeptieren als die Defizite von Gesellschaften, an die er weniger hohe Erwartungen stellte. Und dennoch geriet Helmut nicht oft in die Klemme zwischen dem politisch Gebotenen und der sittlichen Pflicht. Denn Helmuts Überzeugungen bestimmten sein Handeln im „Politik ohne Amt. „Politik ohne Gewissen tendiert zum Kriminellen“, Gewissen tendiert hat er gesagt. Sodann: „Ich sehe Politik als pragmatisches Handeln im Dienste moralischer Ziele.“ zum Kriminellen, ich sehe Politik als pragmatisches Handeln im Im Jahre 1977 entsandte Helmut deutsche Spezialkräfte nach Mogadischu. Sie sollten in einem hochriskanten Einsatz deutsche Geiseln befreien. Einige Wochen später vertraute er mir die Qual an, die er durchleiden musste, Dienste moralischer bevor der Erfolg der Mission feststand. Und er fügte hinzu: Wenn ihn das Leben der 86 Geiseln und der KomZiele.“ mandos seine Seele so tief aufwühlen, wie könne er dann eine Nato-Strategie implementieren, die auf der atomaren Abschreckung beruhte? Und doch – als die Zeit kam, gehorchte Helmut seiner intellektuellen Pflicht, wie er sie sah, Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren – und zwar gegen den wachsenden Widerstand seiner Partei. 28 Nach seiner Regierungszeit schien das Schicksal Helmut nicht gnädig zu sein. Politische Führer agieren im Schatten der Vergänglichkeit. Sie alle quält die Zukunft ihres Vermächtnisses. Staatsmänner handeln, als ob ihre Entscheidungen für immer gelten. Doch ihre Zeit im Amt ist gemeinhin kürzer als der Rhythmus der Geschichte. Doch im Laufe der Jahrzehnte verkörperte Helmut die tiefere Bedeutung von Vermächtnis. Für ihn hing sein Lebenswerk nicht vom Amt, sondern von seinem Gewissen ab. Er bereiste die Welt und schrieb praktisch ein Buch pro Jahr. Er erklärte uns die Weltläufte, erinnerte uns stets an unsere Pflicht. Am Ende seines Lebens versinnbildlicht er unsere vornehmsten Werte. Er war eine Art Weltgewissen. Erlauben Sie mir, Helmut noch einmal zu zitieren, und zwar zur moralischen Verpflichtung der Deutschen: 29 Ansprache von Dr. Henry Kissinger „Mir liegt eine doppelte Einsicht am Herzen: erstens: . . . Es wäre ein gefährlicher Irrtum, unsere real existierende Demokratie zum reinen Ideal zu erheben. Das ist sie nicht. Aber zweitens: Gleichwohl haben wir Deutschen – unserer katastrophalen Geschichte wegen – allen Grund, mit Zähigkeit an der Demokratie festzuhalten, sie immer wieder zu erneuern und immer wieder ihren Feinden tapfer entgegenzutreten.“ Zu Helmuts 90. Geburtstag sprach ich die Hoffnung aus, dass er mich überleben möge, weil eine Welt ohne ihn eine sehr leere wäre. Ich habe mich geirrt. Helmut wird bei uns bleiben: perfektionistisch, launisch, stets auf der Suche, fordernd, inspirierend, immer zuverlässig. So wird er uns für den Rest unseres Lebens begleiten – mit seiner Hingabe und seinem Streben. So hat er uns geehrt – uns, die wir die Zeitgenossen eines großen und guten Menschen sein durften. 30 Ansprache von Dr. Angela Merkel Sehr geehrte Präsidenten und Ministerpräsidenten, sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und den Parlamenten, Ansprache von Dr. Angela Merkel Bundeskanzlerin der Exzellenzen, sehr geehrter, lieber Henry Kissinger, liebe Trauergemeinde, Bundesrepublik Deutschland vor allem: liebe Frau Schmidt und liebe Frau Loah, wir verabschieden uns heute von Ihrem Vater und Ihrem Lebensgefährten. Wir verabschieden uns von dem Staatsmann, Politiker und Publizisten Helmut Schmidt. Es ist ein Abschied, der uns bei einem Menschen seines Alters eigentlich nicht völlig unerwartet treffen sollte, der trotzdem außerordentlich schwerfällt, der irgendwie unwirklich erscheint. Denn Helmut Schmidt war auch im hohen Alter unglaublich präsent. Zu drängenden Fragen unserer Zeit äußerte er sich klar, streitbar und prägnant bis fast zuletzt. Helmut Schmidt wird fehlen – zuallererst natürlich seiner Familie. Ihnen, liebe Frau Schmidt, und Ihnen, liebe Frau Loah, gilt in diesen Stunden unser ganzes Mitgefühl. Helmut Schmidt wird seinen Freunden und engsten Weggefährten fehlen – wie sehr, das können wir nach den beeindruckenden Worten von Ihnen, lieber Henry Kissinger, ermessen, wie auch einfach durch Ihre Präsenz hier. Wir trauern mit Ihnen. 33 Ansprache von Dr. Angela Merkel Ansprache von Dr. Angela Merkel Helmut Schmidt wird uns allen fehlen, den vielen Bürgerinnen und Bürgern, die seine Amtszeit als Bundeskanzler bewusst miterlebt haben – ob in der Bundesrepublik oder wie ich in der DDR –, genauso wie auch den vielen Jüngeren, die seinen politischen Lebensweg nur Mutter, lebten in Hamburg – in der Stadt, in der ich 1954 geboren worden war. Durch den Mauerbau im August 1961 waren wir voneinander abgeschnitten. Und das spürten wir ganz besonders schlimm während der Sturmflut. Wir fühlten uns ohnmächtig, voller Sorge noch aus dem Rückblick kennen. Uns alle bewegt sein Tod. Tausende haben sich in die Kondolenzbücher eingetragen – oft nach langem Warten; einfach weil es ihnen wichtig war, einen letzten Gruß zu hinterlassen. um unsere Familie in Hamburg. Im Radio konnten wir die Ereignisse verfolgen. Wir nahmen jede Nachricht auf. Helmut Schmidt war eine Instanz. Er hat sich in den vergangenen Jahrzehnten über alle Partei und Generationsgrenzen hinweg als scharfsinniger Beobachter und Kommentator größten Respekt erworben. Helmut Schmidt war eine Instanz. Er hat sich in den vergangenen Jahrzehnten über alle Partei- und Generationsgrenzen hinweg als scharfsinniger Beobachter und Kommentator größten Respekt erworben. Helmut Schmidts Tod reißt eine Lücke in die politische und publizistische Landschaft. Seine Interviews und Artikel, seine Bücher und Kommentare, seine Statements und sogar seine Randbemerkungen waren eine Klasse für sich. Sie hatten ihre eigene, meinungsstarke Note. Sein hohes Ansehen hat seinen guten Grund. Mir kommt dazu ein Wort in den Sinn: Verantwortung. Helmut Schmidt war bereit und fähig, jede Situation und jede Aufgabe, die ein Amt mit sich brachte, anzunehmen und sich ihnen zu stellen, seien sie auch noch so schwierig. Meine erste persönliche Erinnerung, an die sich diese Beschreibung knüpft, ist die von Helmut Schmidt als Senator der Polizeibehörde während der fürchterlichen Sturmflut im Februar 1962. Ich war damals sieben Jahre alt und lebte mit meiner Familie in Templin in der DDR. Meine Großmutter und meine Tante, die Schwester meiner 34 Helmut Schmidt koordinierte die Rettungsmaßnahmen. Seit diesen Tagen ist er tief in mein Gedächtnis eingegraben. Wir haben ihm vertraut. Wir haben vertraut, dass er die Lage unter Kontrolle und in den Griff bekommen würde. So war es dann auch, nachdem er sich dazu entschlossen hatte – obwohl verfassungsrechtlich nicht dazu befugt –, militärische Hilfe von der Bundeswehr und anderen NATO-Streitkräften anzufordern, um so die zivilen Helfer bei der Bekämpfung der Flut zu unterstützen. Damit gelang es ihm, eine noch schlimmere Katastrophe als ohnehin schon zu verhindern und Menschenleben zu retten. Damit lebte er vor, dass außergewöhnliche Situationen außergewöhnliche Maßnahmen erfordern. Und er lebte vor, was es bedeutet, in einer solchen Situation Verantwortung zu übernehmen. Wenn Helmut Schmidt überzeugt war, das Richtige zu tun, dann tat er es. Er war wirklich nicht immer einfach oder gar freundlich im Umgang; seine Gegner können davon auch ein Lied singen. Aber, und das zählt, er war bereit, selbst den höchsten Preis zu zahlen. Denn die Gefahr des Scheiterns bei dem, was er tat, war stets einkalkuliert – zuletzt selbst der Verlust seiner Kanzlerschaft. 35 Ansprache von Dr. Angela Merkel Ansprache von Dr. Angela Merkel Gegen teils erhebliche Widerstände auch in der eigenen Partei und in der Bevölkerung hatte sich Bundeskanzler Helmut Schmidt für den NATO-Doppelbeschluss eingesetzt. Dieser sah die Aufstellung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa vor. Damit einher ging ein Verhandlungsangebot an die Sowjetunion, beiderseits auf diese Waffensysteme zu verzichten. Erst seinem Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers, Helmut Kohl, sollte es gelingen, den NATO-Doppelbeschluss durchzusetzen. Doch letztlich waren es der Mut, für eigene Überzeugungen einzustehen, und die Er war standhaft. Bereitschaft, Konsequenzen in Kauf zu nehmen, die Er war sich der Helmut Schmidt Achtung und Respekt bis heute eintrugen. Bedeutung seines Handelns für andere bewusst. Er sah es als seine Pflicht an, seine politische Gestaltungskraft auf das Gemeinwohl auszurichten. Er war standhaft. Er war sich der Bedeutung seines Handelns für andere bewusst. Er sah es als seine Pflicht an, seine politische Gestaltungskraft auf das Gemeinwohl auszurichten. Bei allem Willen zur Tat – er war davon überzeugt, dass eine Entscheidung nur dann reif zu fällen war, wenn sie vorher durchdacht und mit Vernunft durchdrungen war. Denken und Handeln gehörten für ihn untrennbar zusammen. Zu seinem nüchternen Pragmatismus gesellte sich seine Resistenz gegenüber ideologischer Einengung. Wer kennt sie nicht, die vielzitierte Empfehlung Helmut Schmidts: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Er selbst hat die Aussage später wie folgt eingeordnet: „Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“ Helmut Schmidt kannte die Sehnsucht nach Idealen, nach großen Entwürfen für eine gerechtere Gesellschaft. Doch er wehrte sich gegen jede Form blinder 36 Ideologie – sicherlich vor allem aufgrund seiner Erfahrungen im Nationalsozialismus. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Helmut Schmidt und ich gemeinsam am 20. Juli 2008 am feierlichen Gelöbnis der Bundeswehr teilnahmen, das damals erstmals vor dem Reichstag in Berlin stattfand. Helmut Schmidt war bei diesem Gelöbnis der Hauptredner und sprach zu den jungen „Ihr könnt euch Rekruten über seine eigene Zeit als Soldat. Er beendete darauf verlassen: seine Rede mit den Worten: „Ihr könnt euch darauf verlassen: Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen. Dieser Staat wird euch Denn die Würde und das Recht des einzelnen Menschen nicht missbrauchen. sind das oberste Gebot.“ Helmut Schmidt brannte für die Demokratie und die ihr Denn die Würde und zugrunde liegenden Werte. Gleiches gilt für die europäi- das Recht des einzelnen sche Idee. Er verstand früher als viele andere, dass die Menschen sind Welt offener wird, dass dies neue Aufgaben mit sich brindas oberste Gebot.“ gen und eine stärkere globale Zusammenarbeit erfordern wird. Seine Kanzlerschaft fiel in eine Zeit, als Deutschland geteilt war, als sich die Großmächte in Ost und West unversöhnlich gegenüberstanden und die Weltwirtschaft infolge stark gestiegener Ölpreise eine schwere Rezession erfuhr. Die Lehre aus dieser ersten Ölkrise war, die Abhängigkeit von Erdölimporten aus den OPEC-Staaten zu verringern und die Energieerzeugung auf eine breitere Grundlage zu stellen. Dass Helmut Schmidt dabei stark auf die Atomenergie setzte, lag in der Logik der Zeit. 37 Ansprache von Dr. Angela Merkel Ansprache von Dr. Angela Merkel Damals wuchs auch seine Freundschaft mit Valéry Giscard d’Estaing, der in Frankreich im selben Jahr die politische Führung übernahm wie Helmut Schmidt in Deutschland. Gemeinsam bildeten sie in Europa ein starkes Band deutsch-französischer Zusammenarbeit, das sich hohen politischen Belastungen gewachsen zeigte. Gemeinsam mit Präsident Giscard d’Estaing entwickelte Helmut Schmidt Strategien zur Überwindung der Wirtschaftskrise und der Inflation. Ihrer Initiative verdanken wir die Einführung des Europäischen Währungssystems, das dazu diente, die Wechselkursschwankungen zwischen den Mitgliedstaaten zu reduzieren. Das war ein mutiger Schritt. Im Rückblick zeigt sich, dass das EWS eine wesentliche Voraussetzung für einen funktionierenden gemeinsamen Markt war. Später sollte daraus die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion hervorgehen. Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing verstetigten die Treffen der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. Bis dahin hatte der Austausch eher sporadisch stattgefunden. Das neue Format sollte sich als wichtiger Motor der europäischen Integration erweisen. Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing waren es auch, die die Idee entwickelten, die Staats- und Regierungschefs der größten Industrienationen zu informellen Gesprächen zu versammeln. 1975 – vor 40 Jahren – fand der erste Gipfel statt. Heute kommen wir mit größter Selbstverständlichkeit regelmäßig im Kreis der G7 und inzwischen auch der G20 zusammen. Ohne diese Treffen stünden wir auf der Suche nach Antworten auf globale Fragen – etwa der Finanzmarktregulierung, der internationalen Sicherheit oder des Klimaschutzes – ziemlich verloren da. So hat sich also 38 Helmut Schmidt mit seinem strategischen Weitblick auch als ein Gründervater unserer Gipfeldiplomatie erwiesen. Weise Vorausschau indes nützt nur wenig, wenn eine Gegenseite auf Unmenschlichkeit und Hass setzt. Die wohl größte Bewährungsprobe für den Bundeskanzler Helmut Schmidt war der Terrorismus der sogenannten „Rote Armee Fraktion“. Im Herbst 1977 erreichte er einen fürchterlichen Höhepunkt. Um elf RAF-Mitglieder freizupressen, wurde am 5. September Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt. Bei der Aktion wurden sein Fahrer und drei Polizeibeamte ermordet. Die Bundesregierung mit Helmut Schmidt an der Spitze entschied sich, die Forderungen der Terroristen nicht zu erfüllen und keine RAF-Mitglieder aus der Haft zu entlassen. Sie blieb auch bei dieser Haltung, als palästinensische Terroristen ein Flugzeug der Lufthansa nach Mogadischu entführten und dieselbe Forderung stellten. Die Erpresser ermordeten den Piloten Jürgen Schumann und drohten damit, die gesamte Besatzung und alle Passagiere umzubringen. Helmut Schmidt ordnete am 18. Oktober an, die Geiseln durch die GSG neun zu befreien. Alle 86 Geiseln wurden gerettet. Hanns Martin Schleyer jedoch wurde von seinen Entführern ermordet. Helmut Schmidt hat mehrfach ausführlich über diese Tage im Herbst 1977 gesprochen. Vor gut zwei Jahren resümierte er: „Im Laufe des Lebens haben mich drei Erlebnisse bis in die Grundfesten meiner Existenz erschüttert. Zum einen der Tod meiner Frau. Zum anderen – viele Jahrzehnte vorher – mein Besuch in Auschwitz. Und drittens die monatelange Kette von mörderischen Ereignissen, die 39 Ansprache von Dr. Angela Merkel Ansprache von Dr. Angela Merkel mit Hanns Martin Schleyers Namen verbunden bleibt.“ Helmut Schmidt war davon überzeugt, dass seine Entscheidung richtig war, dass sich ein Staat nicht erpressen lassen dürfe. Aber er wusste auch, dass er Mitverantwortung für den Tod Hanns Martin Schleyers auf sich nehmen musste. Wir stehen an diesem Tag, an dem wir von Helmut Schmidt Abschied nehmen, wieder unter dem Eindruck grausamer Attentate. Unsere Gedanken wandern immer wieder nach Paris, zu den Opfern der Anschläge vor zehn Tagen, zu ihren Angehörigen und allen, die ihnen nahestanden. Die Motive sind heute andere, die Umstände auch. Aber Terror bleibt Terror. Menschenverachtende Mordtaten lassen sich durch nichts rechtfertigen. Was hätte Helmut Schmidt zu den Anschlägen gesagt? Diese Frage liegt nahe; und doch verbietet sie sich. Wir müssen selbst die gebotene Antwort geben. Wir müssen selbst zeigen, dass wir verstanden haben, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Entschlossenes Handeln ist und bleibt gefragt, ebenso der internationale Schulterschluss und die klare Botschaft: Freiheit ist stärker als Terror und Hass, Menschlichkeit ist stärker als Unmenschlichkeit. klarem Verstand brillierte, geschliffen formulierte und mit seinen gepflegten Leidenschaften trotzdem nahbar wirkte. Seine Urteile waren fest und sie waren sorgfältig durchdacht. Helmut Schmidt konnte andere überzeugen. Auch für diejenigen, die anderen Ansichten anhingen, war es ein Gewinn, mit ihm zu diskutieren, weil er die richtigen Fragen stellte und weil er mit prägnanten Antworten den Nagel auf den Kopf zu treffen verstand. Die Größe seiner Kanzlerschaft lag in seiner klugen und konsequenten Regierungsführung. Die Leistungen dieses Bundeskanzlers zeigten sich in den Krisen, die er zu bewältigen hatte. Helmut Schmidt bestand diese Bewährungsproben. Sie schärften seine Urteilskraft und brachten all seine Fähigkeiten zur Entfaltung. Helmut Schmidts Tod ist für uns alle eine herbe Zäsur. Ich verneige mich in tiefem Respekt vor diesem großen Staatsmann, vor einem großen Deutschen und Europäer. Ich verneige mich vor dem Politiker, dem Bundeskanzler, dem unabhängigen Geist und Publizisten. Ich verneige mich vor einer herausragenden Persönlichkeit. Lieber Helmut Schmidt, Sie werden uns fehlen. Helmut Schmidt hatte etwas zu sagen. Wir haben seine Stimme im Ohr. Sein Denken bleibt in Erinnerung. Die Spuren, die er hinterlässt, sind tief. Aus der Achtung für den Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde der Respekt für den Publizisten, wurde die Verehrung eines Jahrhundertzeugen und Elder Statesman, wurde schließlich die Zuneigung zu einem Mann, der bis ins hohe Alter mit 40 41 „Mien Jehann“ von Klaus Groth vorgetragen von Jochen Wiegand „Mien Jehann“ Mein Johann Ick wull, wi weern noch kleen, Jehann, Dor weer de Welt so groot! Wi seeten op den Steen, Jehann, Weest noch? bi Navers Soot. An’n Heben seil de stille Maan, Wi segen, wo he leep, Un snacken, wo de Heben hoch Un wo de Soot wull deep. Ich wollte, wir wären noch klein, Johann, da war die Welt so groß! Wir saßen auf dem Stein, Johann, weißt du noch? Bei Nachbars Brunnen. Am Himmel stand der stille Mond, wir sahen, wo er lief, fragten uns, wie hoch der Himmel und wie tief der Brunnen wohl ist. Weest noch, wo still dat weer, Jehann? Dor röhr keen Blatt an’n Boom. So is dat nu nich mehr, Jehann, As höchstens noch in’n Droom. Ach nee, wenn dor de Schäper sung, Alleen in’t wiede Feld: Ni wohr, Jehann? dat weer een Ton! De eenzig op de Welt. Weißt du noch, wie still es war, Johann? Da rührte sich kein Blatt am Baum. So ist das nun nicht mehr, Johann, höchstens noch im Traum. Oh nein, wenn da der Schäfer sang, allein ins weite Feld: Nicht wahr, Johann? Das war ein Ton! Der einzige auf der Welt. Mitünner inne Schummertied Dor ward mi so to Moot Denn löppt mi’t langs de Rügg so hitt, As dormols bi den Soot. Denn dreih ick mi so hastig üm, As weer ik nich alleen: Doch allens, wat ick finn, Jehann, Dat is – ik stahn un ween. Ab und zu in der Dämmerung da wird mir so zumute, da läuft es mir heiß den Rücken runter, wie damals an dem Brunnen. Dann dreh’ ich mich ganz hastig um, als wäre ich nicht allein: aber alles, was ich finde, Johann, das ist – ich steh’ und wein’. 43 Impressum Herausgeber Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 11044 Berlin www.bundesregierung.de Stand Januar 2016 Druck MKL Druck GmbH & Co. KG, 48346 Ostbevern Gestaltung Scholz & Friends Berlin GmbH, 10178 Berlin Bildnachweis Titel: picture-alliance/dpa/Grimm S. 8: Bundesregierung/Bauer S. 10, 23, 24, 31, 42, 46–49: Bundesregierung/Bergmann S. 32, 44–45: Bundesregierung/Kugler Diese Broschüre ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Sie wird kostenlos abgegeben und ist nicht zum Verkauf bestimmt.
© Copyright 2024 ExpyDoc