menschlich aktuell Fotos: Margit Wild Mensch bleibt Welch ein Einstand: Janet Radloff hievt die bunten Kaffeetassen aufs Tablett, stellt Zucker dazu und setzt sich mit strahlendem Lächeln in den Schatten: „Hallo, August, wie geht’s Dir heute? Tag, Roland, mein Lieber.“ Die Runde, durchaus an Stärkeres als heißen Kaffee gewöhnt, begrüßt die 39-Jährige mit großem Hallo und kleinen Umarmungen. Es ist Janet Radloffs erster Tag als Bundesfreiwillige in der Obdachlosenhilfe Rostock (Mecklenburg-Vorpommern). Eine Unbekannte ist die dreifache Mutter mit dem blonden Pferdeschwanz hier freilich nicht. Die gelernte Verkäuferin, die 12 Jahre in einem Callcenter gearbeitet hat, kommt aus der Nachbarschaft. Sie kennt die Einrichtung und ihre Bewohner, die – entgegen dem Klischee – hier nicht nur für ein paar Nächte ein Dach über dem Kopf bekommen, sondern für Monate, Jahre oder den Rest ihres Lebens ein Zuhause. „Wir wollen Menschen in die Gesellschaft zurückholen, bei denen keine anderen Hilfen helfen“, bringt Gisela 10 echt 4_2015 („Gisi“) Stange das Ziel der Obdachlosenhilfe auf den Punkt. Die Sozialbetreuerin ist seit der Gründung des Vereins 1995 (siehe Kasten „Perspektiven zeigen“, S. 12) mit an Bord. In 20 Jahren griff der Verein zahllosen Menschen in Not unter die Arme. Viele von ihnen hatten ein jahrelanges Leben auf der Straße hinter sich, kein Geld, kaum soziale Bindungen. Manche waren schwer alkoholkrank, galten als austherapiert oder kamen aus dem Gefängnis. In den Einrichtungen der Obdachlosenhilfe – neben dem Haus in Rostock-Toitenwinkel mit WG- und Pensionszimmern, Café und Werkstatt gibt es altersgerechte Wohnungen, ein Pflegeheim für suchtkranke Obdachlose im nahen Lambrechtshagen, einen eigenen Pflegedienst und einen Straßensozialdienst – bekommen sie Halt und neuen Mut. Das Motto des Vereins: „So viel Selbstständigkeit wie möglich, so viel Hilfe wie nötig.“ Die rund 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern sich mit Herz und Professionalität um die rund 140 Be- Mensch Bei der Obdachlosenhilfe Rostock greifen Bundesfreiwillige Menschen ohne Bleibe unter die Arme. Dafür brauchen sie flinke Hände, ein großes Herz und manchmal drei offene Ohren. wohnerinnen und Bewohner. Kein leichter Job, denn „Rückschläge, Leid, manchmal der Tod gehören zum Alltag“, sagt Sascha Lübs, Diplom-Sozialarbeiter und im Verein zuständig für Arbeit und Beschäftigung. Kollegin Gisi Stange ergänzt: „Wenn ich nach Jahren ehemalige Bewohner auf der Straße treffe, freue ich mich, dass sie noch leben. Das ist schon ein Erfolg.“ Auch wenn die Obdachlosenhilfe es schafft, jährlich rund 20 Menschen eigenen Wohnraum zu vermitteln, der Weg aus dem Kreislauf von Arbeits-, Obdach- und Hoffnungslosigkeit ist lang und keine Einbahnstraße. Bewohner und Mitarbeiter sind deshalb froh, dass sie mit den sechs Bundesfreiwilligen zupackende Wegbegleiter haben. Janet Radloff, die bislang im „Café Albert“ für die Wohnungslosen vor allem Frühstücksbrote schmierte, Kaffee kochte und Gemüse schnippelte, kümmert sich jetzt um die „Oldie-Häuser“. In den 21 maßgeschneiderten EinRaum-Reihenhäuschen mit kleinem Vorgarten und Terrasse bekommen ältere Obdachlose ein Zuhause und Hilfe im Alltag. Janet Radloff wird mit ihnen einkaufen und Eis essen gehen, ihre Bettwäsche waschen, einige zum Essen ins Café begleiten, anderen das Essen ins Haus bringen. „Wer schwer trinkt, isst wenig. Aber regelmäßiges Essen ist wichtig“, sagt Radloff, deren Herzlichkeit scheinbar mühelos Brücken zu den Bewohnern schlägt. Für sie ist der BFD eine Möglichkeit, für Menschen da zu sein und selbst unter Leute zu kommen. Dass es leichtere Jobs gibt 4_2015 echt 11 menschlich Perspektiven zeigen Die Lage war dramatisch. 1995, vor genau 20 Jahren, gab es in der Hansestadt Rostock 468 registrierte Obdach- und Wohnungslose, aber nur eine einzige Einrichtung für 58 Männer. Bea Busch, damals 26 Jahre jung, wollte sich damit nicht abfinden. Mit Freunden und Unterstützern gründete sie den Verein Obdachlosenhilfe Rostock e.V. und holte Vertreter der lokalen Wirtschaft und Politik an einen Tisch. Bereits ein Jahr später konnte der Verein die ehemalige Kita „Max und Moritz“ in Rostock-Toitenwinkel zum Obdachlosenhaus umbauen und betreiben. Damals kümmerten sich 7 Mitarbeiter um 35 Obdachlose. Heute beherbergt der Verein, dessen Geschäftsführerin Bea Busch ist, rund 140 Menschen, die von über 70 Mitarbeitern – darunter sechs Bundesfreiwillige – betreut werden. Neben dem Haus in Toitenwinkel mit Café, Werkstatt und Garten entstanden altersgerechte Wohnungen, ein eigener Pflegedienst, ein Straßensozialdienst, das Pflegeheim „Kleine Freiheit“ für pflegebedürftige suchtkranke Obdachlose, zwei Möbelbörsen für sozial Schwache und vielfältige Projekte. Längst geht es nicht nur darum, Menschen ohne Bleibe ein Dach über dem Kopf zu bieten, sondern Perspektiven zu zeigen. Kernstück der Vereinsarbeit ist deshalb die professionelle soziale Betreuung durch engagierte Fachleute, wobei die BFDlerinnen und BFDler eine wertvolle Hilfe sind. Obdachlosenhilfe Rostock e.V. Albert-Schweitzer-Straße 26 18147 Rostock-Toitenwinkel Tel. (0381) 69 73 82 www.obdachlosenhilfe-rostock.de 12 echt 4_2015 als Obdachlose zu pflegen, die manchmal verbittert, oft verschlossen und fast immer vom jahrelangen Leben am Rand der Gesellschaft gezeichnet sind, lächelt sie mit einer schlichten Wahrheit weg: „Mensch bleibt Mensch.“ Dass Menschen ohne Wohnung neben professioneller Hilfe vor allem offene Ohren brauchen, erfährt Katja Evert täglich. Seit November 2014 ist die 37-jährige gelernte Kinderpflegerin als Freiwillige für die Obdachlosenhilfe im Einsatz. Im Café Albert, das die Bewohner selbst zur öffentlichen Tagesstätte umbauten, kocht sie warme Mahlzeiten, bringt je nach Schicht Frühstück oder Abendbrot an die Tische, hört so manches Schicksal und hilft manchmal mit wenigen Worten aus kleinen und großen Tiefs. „Das ist erstaunlich: Manche BFDler haben einen besonderen Draht zu den Bewohnern, eine Art drittes Ohr“, sagt Sozialarbeiter Sascha Lübs. Vielleicht ist dies weniger verblüffend, wenn man Sascha Lübs richtig versteht: „Unter unseren BFDlern sind auch Bewohner oder Ex-Bewohner.“ Im Klartext: Sie kennen Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung. Lübs erklärt: „Mit unserem Programm ‚For you‘ möchten wir Wohnungs- und Langzeitarbeitslose motivieren, je nach Fähigkeit mitzuarbeiten. Wer es schafft, 40 oder 60 Stunden im Monat in den Einrichtungen des Vereins zu arbeiten und bei der Arbeit nicht zu trinken, bekommt nicht nur Taschengeld, sondern vielleicht auch Aussicht auf einen Minijob oder eine BFD-Stelle bei uns.“ Mit der geregelten Arbeit schieben die Bewohner nicht selten ihr altes Leben aufs Abstellgleis, gewinnen im täglichen Kampf mit sich selbst neuen Mut und Selbstvertrauen. Auch der Verein gewinnt: kompetente und engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Sie bleiben uns oft über Jahre verbunden, selbst wenn sie nicht mehr bei uns wohnen und arbeiten“, sagt Sascha Lübs. Für diesen Zusammenhalt wird in Rostock-Toitenwinkel viel getan. Alle Mitarbeiter, auch die BFDler, bekommen täglich eine Mahlzeit und kostenlose Getränke, eine medizinische Fußpflege steht den Bewohnern ebenfalls zur Verfügung. Einmal im Monat treffen sich Mitarbeiter, Nachbarn, derzeitige und ehemalige Bewohner zum „Tischlein-deck-dich“. Es wird gemeinsam Gemüse geschnitten, gekocht, geklönt; mehrgängige Themen-Menüs (zu Themen wie „Spanien“ oder „Der Pate“) kommen auf den Tisch. Marcel Kolwe hat dann alle Hände voll zu tun. Der 26-jährige, der eine Lehre als Fahrzeug-Lackierer begonnen hatte und nach seinem Freiwilligendienst bei der Bundeswehr anheuern will, kümmert sich um Küche und Club, aber auch um kleinere Reparaturen und die hauseigene Werkstatt. Er lerne viel „über den Umgang mit Menschen, Lebensmitteln und technischen Geräten – in dieser Reihenfolge“, lächelt Kolwe. Besonders die BFD-Seminare „Soziale Bildung“ und „Leben mit Unterschieden“ hätten ihm Augen und Ohren geöffnet. Bei den „Tischlein-deck-dich“-Abenden ist Kolwe meist dabei, manchmal auch in seiner Freizeit. Auch Andreas Hartwich kreuzt bei den gemeinsamen Kochabenden gerne auf. Drei Jahre wohnte der einst Obdachlose hier, inzwischen hat er eine eigene Wohnung in der Nachbarschaft. Möbel für seine vier Wände fand er unter anderem bei Jaqueline Bortei. Die 46-jährige gelernte Krankenschwester kümmert sich als BFDlerin um das „Möbelstübchen“ der Obdachlosenhilfe. Hier, im Rostocker Kurt-Schumacher-Ring, stapeln sich gut erhaltene gebrauchte Betten, Schränke und Anbauwände, Geschirr, Spielzeug und Kleidung vom Regenmantel bis zum Babystrampler. Alles stammt aus Spenden oder Haushaltsauflösungen und steht für Menschen mit wenig Geld zur Verfügung. „Hemden kosten 50 Cent, ein Paar Schuhe 1,50 Euro“, sagt Jaqueline Bortei, die nicht nur die Preise macht und hinter dem Verkaufstresen steht, sondern auch beim Zusammenbau der Möbel hilft, Wäsche sortiert, Geschirr poliert und liebevoll dekoriert. Vor allem aber hört Bortei, die vor dem Freiwilligendienst fünf Jahre ehrenamtlich für den Verein arbeitete, ihren Kunden zu. Manche von ihnen kommen aus der Nachbarschaft, andere waren obdachlos und richten sich ihre neue Bleibe bei Jaqueline Bortei komplett ein. Mit den eigenen Möbeln holen sie sich auch ein Stück Selbstständigkeit und Freiheit. Damit niemandem die Freiheit auf die Füße fällt, hilft Marco Micheel mit seinen Kollegen beim Transport. Der 36-jährige gelernte Tischler und Verkäufer schleppt als BFDler Möbel und Haushaltsgeräte („immer eine Bewäh- rungsprobe: eine Waschmaschine für den fünften Stock“) in Wohnungen, kümmert sich aber auch um das Abholen und Abbauen von Möbeln, die der Obdachlosenhilfe gespendet werden. Nicht selten müssen er und seine Mitarbeiter dann eine ganze Wohnung entrümpeln. Der günstige und bequeme Service steht nicht nur Obdachlosen, sondern für jedermann zur Verfügung. Bis Berlin und Lübeck war Marco Micheel mit seinem Transporter schon unterwegs, das Einräumen einer Wohnung und die Gespräche mit den künftigen Bewohnern sind stets besondere Erlebnisse für ihn. „Man lernt das vertraute ‚du‘, das hier überall üblich ist, zu schätzen.“ Sozialarbeiter Sascha Lübs schätzt an seinen Freiwilligen vor allem ihre hohe Motivation und Verlässlichkeit. „In der Arbeit mit unseren Bewohnern beweisen sie täglich, dass der Mensch tatsächlich Mensch bleibt.“ Erst recht, wenn er in Not ist. Lars Herde Schweigende Statistik Die Zahl der in Deutschland lebenden Obdachlosen ist in keiner Bundesstatistik erfasst, es gibt lediglich Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). Sie rechnet, dass rund 24.000 Menschen obdachlos sind, also ohne jede Unterkunft auf der Straße leben – Tendenz steigend. Die Zahl der Wohnungslosen – also Menschen, die keine eigene Wohnung haben, aber in anderen Unterkünften unterkommen – könnte laut Prognose der BAG W im Jahr 2016 bei 380.000 Menschen liegen. Rund zehn Prozent der Wohnungslosen sind minderjährig, von den Erwachsenen sind rund 25 Prozent Frauen. Etwa 150.000 Menschen werden momentan von den Diensten der frei-gemeinnützigen Wohnungslosenhilfe betreut. Bundearbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Boyenstraße 42, 10115 Berlin, Tel. (030) 2 84 45 37 0; www.bagw.de 4_2015 echt 13
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