Alles, außer gewöhnlich

Reportage
Alles, außer gewöhnlich
Fantasy-Fans kennen es auswendig: Die Musik beginnt, die Türme wachsen aus dem Boden,
die Kamera schwenkt von Westeros nach Essos. Und dazu das Intro. Wenn Sylvie Amend
die Musik von »Game of Thrones« hört, möchte sie am liebsten schneidern. Einige der Kleidungsstücke, die sie entwirft, sind an die Figuren der Erfolgsserie angelehnt. Andere an Wesen aus anderen Universen der Fantasy-Welt. In Amends neuer Gewandschneiderei in Reichelsheim gibt es Elfenkostüme, Ritterrüstungen oder Steampunk-Outfits. Eigentlich nichts,
was es nicht gitbt – außer vielleicht Kleidung, die gewöhnlich ist. Sogar die älteste Kundin,
eine 95-Jährige, ist in der Scheune fündig geworden.
Der Gang durch die »Gewandschneiderei
von Avalon«, die vor Kurzem von Gießens
Innenstadt nach Reichelsheim umgezogen
ist, ist nicht nur für Fantasy- und MittelalterFans ein Erlebnis. Schon beim Betreten der
elf Meter hohen Scheune merkt man, dass
hier etwas Magisches verborgen liegt:
Ziegelklinker und Nebel bilden im Eingangsbereich den Übergang nach Avalon,
man läuft über Dielenböden, echte Bäume
haben eine tragende Funktion, die Kleiderstangen sind aus alten Hölzern, ein Birkenwäldchen versetzt den Kunden in die Welt
eines Live-Rollenspiels.
Eine bestimmte Zielgruppe hat der Laden
dabei jedoch nicht. Inhaberin und Gewandschneiderin Sylvie Amend möchte »Menschen helfen, so auszusehen, wie sie das
gerne möchten. Unsere Besucher und Kunden sind Menschen, die sich entdecken und
sich selbst leben wollen.«
Avalon lädt zum Stöbern ein, auch wenn
man in der Szene nicht so bewandert ist.
Tatsächlich gibt es Kleidung, Schmuck oder
Schuhe, die man problemlos im Alltag tragen kann, ohne schief angeschaut zu werden. Außerdem gibt es das nötige Zubehör,
um Kleidung und Accessoires selbst herzustellen: darunter über 800 verschiedene
Borten und Unmengen an Stoff – von Tüllspitze über Kaschmir und Satin bis zu Blü-
tendamast. »Hier haben wir die größte Auswahl in Deutschland«, sagt Amend stolz.
Die Existenz des Geschäftes habe sich in
ganz Europa herumgesprochen: »Wir haben
unter anderem Kunden in der Schweiz, Ös-
terreich und Luxemburg«, berichtet die Inhaberin. Einige Schweizer seien über den
neuen Sitz der Gewandschneiderei besonders glücklich. Sie kommen nämlich mit
dem Flugzeug – der Reichelsheimer Flug-
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Fotos: Nici Merz
reportage
In der Reichelsheimer
Gewandschneiderei
gibt es Elfenkostüme,
Ritterrüstungen, aber
auch Hochzeitskleider. platz befindet sich ganz in der Nähe. »Wir
haben viele Kunden, die unsere speziellen
und individuellen Anfertigungen zu schätzen wissen«, sagt Amend.
Der Anteil der eigenproduzierten Waren sei
hoch: 80 Prozent der Kleidung, 60 Prozent
der Lederwaren und 50 Prozent des
Schmucks stelle die Gewandschneiderei
selbst her.
Die Scheune beschäftigt sich auf 600 Quadratmetern mit vier Bereichen: Steampunk,
LARP (Live Action Role Playing = Live-Rollenspiel), Mittelalter und den Themenbereich der »außergewöhnlichen Hochzeit«.
Vor allem der Steampunk – ein Stil, bei dem
futuristische Technik mit Mitteln und Materialien des viktorianischen Zeitalters verknüpft werden – zeichnet Avalon aus: »Wir
sind einer der wenigen Läden in Deutschland, die Steampunk-Kleidung und -Accessoires anbieten«, sagt Amend. Steampunk
ist auch der Bereich, mit dem sich die
43-Jährige derzeit am liebsten beschäftigt:
»Hier habe ich die Freiheit, alles zu machen, was ich möchte.« Außerdem plant sie,
Mittelalter und Steampunk zu kombinieren.
Typisch für den Stil seien die Schweißerbrillen, Zahnräder und Leder in Antikoptik.
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Wer sich in einen Elbenkrieger verwandeln
möchte, findet in Avalon die passenden
Elbenohren. Natürlich dürfen auch Kurzschwerter und Langbögen nicht fehlen.
Denn Live-Rollenspieler dürfen nur extra
dafür angefertigte Waffen verwenden. »Diese werden mit Spezialschaumstoff hergestellt und mit Latexmilch überzogen«, beschreibt Amend. Außerdem gibt es die komplette Ausstattung in Leder, denn:
»Elbenkrieger tragen kein Metall«, erklärt
Maßschneiderin Jessica Jung und ergänzt:
»Wir sind sehr viele. Es gibt unzählige
LARP-Interessierte.« Viele von ihnen kämen
in die Gewandschneiderei, um sich für
Events wie die Hannover ConQuest oder
das Drachenfest auszustatten.
Alles, was es sonst nicht gibt
Die Abteilung der »außergewöhnlichen
Hochzeit«, auf der das Hauptaugenmerk
der Gewandschneiderei liegt, sollte man bei
der Suche nach einem extravaganten Hochzeits-Outfit nicht auslassen. »Wir machen
alles, was es im klassischen Hochzeitsgeschäft nicht gibt«, erklärt Amend. Hierzu
zählen beispielsweise die Haute-Couture-
Brautkleider aus Paris und Großbritannien
mit gewagten Handarbeiten und Bestickungen aus Swarowski-Steinen. Martina Vogel –
von ihr sind unter anderem die Wollstickereien auf den Borten – hat sich in ein Kleid
von Eternity Bride verliebt: »Das ist ein
Traum aus Tüll. Verspielt, verträumt und
edel.« Es ist eines der Kleider, das kleine
Perlen und Swarowski-Elemente enthält.
Wer es verrückter mag, dem kann ebenfalls
geholfen werden: So findet man in der
Scheune auch Kleidung und Accessoires für
Hochzeiten im Steampunk-, Antike-, oder
Mittelalter-Look. Für eine Hochzeit hat
Amend die älteste Kundin, die bisher den
Weg nach Avalon gefunden hat, eingekleidet. Die 95-Jährige war am Ende mit einer
kompletten Mittelalter-Gewandung für die
Trauung ihrer Enkelin ausgestattet.
Nachts, alleine, in Ruhe – aber mit Musik:
So arbeitet Amend am liebsten. Zurzeit
lauscht sie beim Schneidern den Klängen
von »Garden of Delight«. Apropos Musik:
Vor allem beim Soundtrack zu »Game of
Thrones« fallen Amend Interpretationen zu
Kleidern ein, die in der Serie ge­tragen werden. »Die Kleidungsstücke, die ich entwerfe, erinnern an die Personen aus Game of
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Thrones und spiegeln den Spirit wieder. Ich
füge aber noch die tragbare Note ein und
lasse meine eigenen Inspirationen einfließen.« Wenn die Kunden ihre Inspirationen
dann noch annehmen, bereitet ihr das große Freude.
Die Reise ins neue Zuhause war für alle ein
Abenteuer. Ziel unbekannt. Zwar wollte der
Graf von Laubach, wo 2005 die erste Gewandschneiderei eröffnet worden war, extra
ein altes Schloss für den Laden ausbauen.
Letzendlich wurden dennoch gut zehn Objekte in Hessen begutachtet. Ein ländlicher
Ort im Rhein-Main-Gebiet sollte es sein,
und für ihr Anwesen wünschten sich
Amend und ihr Partner »etwas Lebendiges
mit Ausdruck, Flair, und Ausstrahlung«. Die
Scheune in Reichelsheim erwies sich
schließlich als die »eierlegende Wollmilchsau«. Ende 2013 ging es los mit der Sanierung. »Hier war vorher ein Kuhstall drin –
mit Erde«, sagt Amend. Zudem steht das
gesamte Areal unter Denkmalschutz. Aber
die Stadt Reichelsheim wollte den Traum eines neuen Avalon nicht platzen lassen und
unterstütze die Vorhaben. Nun, nach allen
Aus- und Umbauten, sind Amend und ihr
Team endlich angekommen. »Es geht nicht
besser und nicht anders. Ich bin gespannt
auf die Zukunft.«
Meike Witte
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