Soll ich meines Brud - Evangelische Kaiser-Wilhelm

28.4.2015, 18 Uhr: Gottesdienst zum International Workers Memorial Day
Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
„Soll ich meines Bruders Hüter sein?“
Predigt mit 1. Mose 4, 3 - 10 - Pfarrer Martin Germer
Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bau, aus der Land- und Forstwirtschaft,
aus der Industrie, aus Gewerkschaften und Berufsgenossenschaften,
aus Behörden und Politik, und alle miteinander: liebe Gemeinde!
Wussten Sie, dass in der Bibel schon auf Seite 4 der erste Mord zu finden ist? Die Geschichte von Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt?
Das liegt nun freilich nicht daran, wie manche behaupten, dass die Bibel so ein blutrünstiges Buch wäre und dass sie nur von Mord und Totschlag handelt. Die Bibel ist
einfach ein sehr ehrliches Buch. Sie weiß, dass es leider längst nicht immer gut läuft
zwischen uns Menschen. Und das wird offen gezeigt, von Anfang an. Aber nicht, um
zu sagen, wie schlimm die Welt ist. Sondern damit wir etwas dagegen tun. Und damit
wir sehen, wie Gott uns dabei helfen will.
Darum erzählt die Bibel gleich nach der Geschichte von Adam und Eva, dass es zwischen ihren ersten beiden Söhnen ganz und gar nicht stimmt. Kain ist der ältere von
den beiden. Aber der vom Schicksal begünstigte ist Abel. Und das kann Kain nicht ertragen. So nehmen die Dinge ihren bösen Lauf. Ich lese aus dem 4. Kapitel des ersten
Mosebuchs:
„Es begab sich aber …, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. 4 Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und
der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, 5 aber Kain und sein Opfer sah er nicht
gnädig an.
Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. 6 Da sprach der HERR zu Kain:
Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? 7 Ist's nicht also? Wenn du
fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert
die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
8 Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich,
als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn
tot.
9 Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll
ich meines Bruders Hüter sein? 10 Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des
Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“
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„Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Das gilt nicht nur
für den totgeschlagenen Abel, sondern ebenso für die unzähligen Opfer von Gewalt
und von Kriegen und Bürgerkriegen in unserer Welt. Auch da gibt es meist eine Vorgeschichte, in der die Emotionen sich hochgeschaukelt haben, bis dann das Gefühl,
benachteiligt zu sein und sich seinen Platz mit Gewalt erkämpfen zu müssen, übermächtig wurde.
„Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Das gilt ebenso
für die Menschen, an die wir in diesem Gottesdienst besonders gedenken. Alle, die
aufgrund mangelnder Sicherheitsvorkehrungen und Schutzmaßnahmen bei der Arbeit
ihr Leben verloren haben durch Unfälle oder durch arbeitsbedingte Erkrankungen.
Weil die Sicherheitsbestimmungen unzulänglich waren, wie es leider in vielen Ländern der Erde immer noch der Fall ist. Weil die Profitinteressen der Unternehmer
dort mehr politisches Gewicht haben als das Schutzbedürfnis der Beschäftigten. Weil
die Armut so groß ist, dass Menschen buchstäblich jede Arbeit annehmen.
„Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Das gilt ebenso
für diejenigen, die trotz guter Schutzregelungen tödlich verunglückt sind bei der Arbeit, für jede und jeden einzelnen von ihnen. Weil fahrlässig damit umgegangen wurde. Oder weil der Arbeitsdruck so hoch war, dass Schutzbestimmungen außer Acht
gelassen wurden.
Das gilt auch für alle, die über ihrer Arbeit krank geworden sind, körperlich oder seelisch, und die daran schließlich gestorben sind. Das gilt für die Opfer anerkannter Berufskrankheiten. Und das gilt erst recht für alle diejenigen, bei denen die wirkliche
Ursache ihrer Erkrankung gar nicht erkannt wurde. Oder die vergeblich um Anerkennung gekämpft haben, wenn sie denn dazu überhaupt noch in der Lage waren. Gott
sagt es sogar besonders für die Opfer, die keiner sieht und von denen man es gar
nicht weiß und wissen möchte: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir.“
Er sagt es zu uns, den Lebenden. Er sagt es zu uns, die wir dafür eventuell mitverantwortlich sein könnten. Für Sicherheits- und Schutzmaßnahmen im eigenen Umfeld,
und dass sie beachtet werden. Aber auch in gewissem Maße für die mangelnden
Schutzmaßnahmen in anderen Ländern der Erde. Weil wir immer die billigsten TShirts kaufen und nicht danach fragen, unter welchen Bedingungen sie genäht wurden. Weil wir gar nicht wissen wollen, in welcher Lauge indische Arbeitskräfte barfuß
herumwaten beim Gerben des Leders, aus dem unsere Schuhe und Taschen gemacht
werden. Weil es uns lästig ist, dass wir uns nicht einfach nur auf eine Fußball-WM
freuen dürfen, sondern uns mit den Arbeitsbedingungen und den Lebensbedingungen auf den Baustellen in Katar auseinandersetzen sollen.
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Aber Kain hat ja vorher schon die Gegenfrage gestellt: „Soll ich meines Bruders Hüter
sein?“ Und das ist nicht nur seine Frage in dieser Geschichte. Das ist eine Menschheitsfrage, von Anfang an. „Soll ich meines Bruders, soll ich meiner Schwester Hüter
sein?“ Das ist auch die Ausgangsfrage für alles Nachdenken über Arbeitsschutz und
Gesundheitsvorsorge.
„Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Bei Kain klingt diese Frage natürlich ziemlich
scheinheilig. Und die Antwort liegt für ihn auf der Hand: Nein, natürlich nicht! Unter
erwachsenen Menschen ist jeder für sich selbst verantwortlich. Das kann ich dem anderen nicht abnehmen. Nicht einmal meinem Bruder. Soll ich ihm reinreden in das,
was er tut? Und fände ich es ok, wenn er mir reinreden würde?
Wer ist für meine Gesundheit verantwortlich? Natürlich erst einmal ich selbst. Und
wer soll aufpassen, dass mir kein Unfall zustößt? Natürlich auch erst einmal ich selbst,
bei der Arbeit genauso wie in meiner Freizeit und auch auf den Wegen von hier nach
da. Es wäre ja ziemlich kindisch, wenn ich hier nicht auf mich selbst Acht haben würde. Und wenn dann doch etwas passieren sollte, dann wäre es auch ziemlich kindisch,
die Schuld und die Verantwortung immer gleich bei anderen zu suchen.
Erst einmal bin ich selbst verantwortlich. Schutzkleidung zu tragen da, wo sie empfohlen oder vorgeschrieben ist und gegebenenfalls auch Gehörschutz oder Atemschutz.
Nicht übermüdet ins Auto zu steigen. Die Ladung ordentlich zu sichern. An gefahrengeneigten Stellen besonders umsichtig zu sein, und im Umgang mit gesundheitsgefährdenden Substanzen erst recht. Wenn ich das unterlasse, obwohl ich es hätte beachten können, liegt die Verantwortung bei mir.
Und trotzdem ist die Antwort, auf die Kain hinauswill, verkehrt. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Na klar! Natürlich bist du auch für deinen Mitmenschen verantwortlich, und nicht nur für den, der unmittelbar zu dir gehört, sondern für jeden Menschenbruder, für jede Menschenschwester. Man nennt das auch Solidarität.
Oder mit dem alten schönen Ausdruck aus der Bibel: Nächstenliebe.
Ja, wir sollen „unseres Bruders Hüter sein“. Weil die Eigenverantwortung manchmal
nicht ausreicht, brauchen wir das, dass andere für uns mitdenken und dass sie uns
manchmal auch erinnern. Wo ist denn dein Helm? Oder: Ist die Beleuchtung an deinem Bildschirm-Arbeitsplatz wirklich ok? Oder: Sei doch nicht so dumm, den ganzen
Tag mit bloßem Oberkörper auf dem Dach zu arbeiten. Auch wenn es cool wirkt. Trag
Schutzkleidung. Verlange wirksame Sonnenschutz-Creme! Und ihr anderen, selbst
wenn ihr meint, das nicht zu brauchen: Hört auf, blöde Sprüche zu machen, wenn
einer Vorsorge trifft. Weil er nicht an Hautkrebs erkranken möchte. Weil ihm seine
Gesundheit wichtig ist, für sich selbst und auch in Verantwortung für seine Familie.
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Ja, wir sollen „unseres Bruders Hüter sein“. Und wir sollen es auch da, wo es seinen
Preis kostet. Denn natürlich kostet Arbeitsschutz Geld und schmälert die Gewinnmarge, jedenfalls vordergründig, oder verlangsamt eventuell die Abläufe. Natürlich ist die
Versuchung groß, auch zum Beispiel für Bauherren, Gesundheitsschutz-Maßnahmen
zu unterlassen an Stellen, wo es eh keiner sieht oder wo mögliche Folgen nicht nachweisbar sind. Natürlich ist die Versuchung groß, Sicherheitsvorkehrungen so niedrig
wie möglich anzusetzen in der Kalkulation, wenn man in der Konkurrenz um einen
Auftrag steht. Und wenn man den Auftrag nicht kriegt und daraufhin Leute entlassen
muss – wem ist damit gedient?
Und trotzdem: Ja, wir sollen „unseres Bruders Hüter sein“. Und weil wir das ganz allein in persönlicher Verantwortung nicht immer so richtig gut hinkriegen, brauchen
wir Regeln, die uns dabei helfen. In der Bibel gibt es darum das Gebot: „Du sollst nicht
töten.“ Und alle die Bestimmungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, mit denen
etliche von Ihnen sich zum Beispiel gestern und heute bei Ihrem Seminar befasst haben, sind nichts anderes als Konkretisierungen dieses grundlegenden Gebotes: „Du
sollst nicht töten.“ Oder positiv ausgedrückt: „Du sollst deines Bruders Hüter sein.“
Ich bin ja kein Fachmann. Aber ich denke, die Tatsache, dass die Zahl der tödlichen
Arbeitsunfälle in unserem Land seit dem Jahr 2000 halbiert werden konnte, zeigt, wie
wichtig es ist, für solche Konkretisierungen zu kämpfen, und dass es sich auch lohnt.
Das ist Menschen wie Ihnen zu verdanken, die sich für Arbeits- und Gesundheitsschutz einsetzen auf allen Ebenen, in Betrieben und Gewerkschaften, in der Politik
und bei Berufsgenossenschaften und Aufsichtsbehörden.
Es ist nicht selten auch weitsichtigen Rechnern zu danken, die sich klar machen, dass
Investitionen in den Arbeitsschutz sich langfristig auszahlen können. Jede Erkrankung
und jeder unfallbedingte Arbeitsausfall und Maschinenstillstand verursacht schließlich auch betriebliche Kosten.
Und es ist denen zu danken, die pfiffige Erfindungen machen. Zum Beispiel UVundurchlässige und trotzdem luftige Kleidung für den Straßenbau. Oder dieser nachleuchtende Bauhelm – vielleicht wird er bald der Renner auf den Baustellen! Damit
zum Beispiel der Kranführer oben in seiner Kabine besser sehen kann, wo die Kollegen sind, deren „Hüter“ er zu sein hat. Ich glaube, ich würde den tragen.
Ja, wir können froh sein, dass es Menschen gibt, die sich das besonders zur Aufgabe
und zur Verpflichtung gemacht haben: „Hüter“ ihrer Brüder und Schwestern, ihrer
Kolleginnen und Kollegen zu sein. Und wir sollten das als Aufgabe und als Verpflichtung für uns selbst ernst nehmen, jeweils in unserem eigenen Zuständigkeits- und
Verantwortungsbereich, und uns daran auch immer wieder bereitwillig erinnern lassen. Selbst da, wo es im ersten Moment nervt.
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Die Fragen fangen da natürlich im Einzelfall oft erst an. Da geht es immer wieder auch
um Abwägungen. Was ist nötig? Was ist sinnvoll? Was ist machbar? Und wo fängt es
an, übertrieben zu werden? Für solches Abwägen und für solche Verhandlungen sollte es aber immer eine gemeinsame Grundlage geben, und die heißt: Ja, wir sollen und
wir wollen unserer Verantwortung als „Hüter“ unserer Mitmenschen und auch unserer Verantwortung für uns selbst nachkommen. So gut es geht.
Oder möchten wir Kain sein? Möchten wir diejenigen sein, zu deren Gewissen Gott
dann sagen muss: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir“?
Damit wir einander nicht zum Kain werden, auch nicht durch Gedankenlosigkeit oder
durch Fahrlässigkeit oder durch Egoismus, der nur nach dem eigenen Vorteil fragt;
damit dies unter uns nach Möglichkeit nicht geschieht, wurde uns diese Menschheitsgeschichte erzählt.
Und die Geschichte geht weiter. Das habe ich vorhin nicht gelesen, sondern habe es
mir für den Schluss aufgehoben. Kain wird am Ende nicht mit dem Tode bestraft, als
Mörder seines Bruders, sondern er darf leben. Ja, Gott versieht ihn sogar mit einem
besonderen Schutzzeichen, um zu zeigen: dir soll nichts geschehen. Vielleicht fast so
wie dieser Helm?
Damit beginnt die Geschichte der göttlichen Vergebung, die sich von da an durch die
ganze Bibel zieht und die für uns Christen in Tod und Auferweckung von Jesus Christus ihre Mitte bekommen hat. Kurz gesagt heißt sie: Ja, wir Menschen werden immer
wieder auch schuldig. Wir werden immer wieder auch unserer Verantwortung nicht
gerecht, „Hüter“ unserer Schwestern und Brüder und auch Hüter unseres eigenen
Lebens zu sein. Zu uns Menschen muss Gott immer wieder auch sagen: „Die Stimme
des Blutes deines Bruders schreit zu mir.“ Und trotzdem dürfen wir leben. Aus Gottes
Vergebung heraus dürfen wir leben.
In diesem Leben aber sollen wir lernen, wie wir es doch besser als bisher werden
können, „Hüter“ unserer Schwestern und Brüder und Hüter unseres eigenen Lebens.
In diesem Leben sollen wir auch darum streiten und ringen, wie wir als Gesellschaft,
in den Betrieben und in der Öffentlichkeit, den Schutz für Gesundheit und Leben verbessern können. Und dazu will Gott uns ermutigen und dazu will er uns helfen.
Amen.
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