~ Hintergrund ~ NERF Von EVA WIRTH (Text) und HOLGER SALACH (Fotos) 31 Die neue C H Ä P S L I PISTOLE Was früher die Chäpslipistolen waren, sind heute die Nerfs. Die Spielzeugwaffen aus den USA sind bei Enkelkindern hoch im Kurs. Grund zur Sorge? M arco zeigt stolz in eine Schublade. Da liegen sie nebeneinander: drei Spielzeugpistolen. Die gelbe hat ein elektronisches Zielfernrohr, die blaue leuchtet im Dunkeln und die grüne – das hat Marco vergessen. Flink setzt er sie an und drückt ab. Der Pfeil schiesst durchs Zimmer, quert den Gang und landet im Wohnzimmer mit einem dumpfen Knall auf dem Sofa. Ah, ja, jetzt weiss es Marco wieder. Die grüne Pistole kann besonders weit schiessen. Was der Zehnjährige vorführt, sind nicht irgendwelche Spielzeugpistolen. Es sind sogenannte Dartblaster, Spielzeugwaffen der Marke Nerf, seit einigen Jahren die absoluten Renner in Spielwarengeschäften. Sie verschiessen durch Luftdruck Munition aus Schaumstoff. Manche kosten zehn Franken, andere 70. Es gibt welche für Kinder ab sechs Jahren und welche extra für Mädchen. Die Mädchenlinie heisst «Rebelle», es sind Gewehre und Armbrüste in Rosa und Lila. # 03 ~ 2014 Nerfs stammen von Hasbro, einem Spielzeughersteller aus den USA. In der Schweiz werden sie seit 2009 verkauft. Der Zeitpunkt der Einführung war ein Schuss ins Schwarze. Im Jahr zuvor war das neue Schweizer Waffengesetz in Kraft getreten. Jetzt galt: Echt aussehende Spielzeugwaffen dürfen nur noch mit Bewilligung verkauft werden. Die Chäpslipistolen wurden aus den Regalen geräumt und machten Platz für die Nerfs. ~ ~ Hintergrund ~ NERF 32 Der Pfeilbogen mit den pinken Verzierungen gehört zur Nerf-Linie, die sich an Mädchen richtet. Sie heisst «Rebelle». ~ Nerfs sind bunt, sie sehen nicht aus wie echte Gewehre und Pistolen. Es braucht also keine Bewilligung, um mit ihnen Geld zu machen. Und das lässt sich mit Nerfs gut. Ob bei Franz Carl Weber, Migros, Manor oder Coop – unisono heisst es: Nerfs verkaufen sich sehr gut. «Die Nachfrage ist in den letzten Jahren stetig gestiegen», sagt Migros-Mediensprecherin Martina Bosshard. Für sie sind Nerfs aber keine Spielzeugwaffen, sondern Adventure-Spielzeug, also Abenteuer-Spielzeug. Beim Spiel mit Nerfs gehe es um Bewegung, sportlichen Wettkampf und Geschicklichkeit. «Es ist eine moderne Variante von Räuber und Poli», sagt Martina Bosshard. Marco sammelt die verschossenen Pfeile auf dem Sofa ein. Dann geht er zum Schrank und öffnet feierlich einen Flügel. In einer Ecke steht ein rotes Ungetüm, fast so gross wie der Junge selbst: eine Nerf N-Strike Elite Mega Centurion. Mit Standfuss und einer versprochenen # 03 ~ 2014 Reichweite von 23 Metern. Zu weit fürs Spiel in der Wohnung. Und irgendwie auch zu wuchtig. Das findet selbst Marco. BESSER ALS GAMEN Auch manche Erwachsene sind grosse Nerf-Fans. Dimitri aus Zürich zum Beispiel. Er liebt es, mit seiner 12-jährigen Tochter und seinem 10-jährigen Sohn durchs Haus und um die Hecken zu jagen. «Unser Spiel ist weder brutal noch willkürlich, sondern geregelt und fair», sagt der Vater. «Wir tragen immer Schutzbrillen, zielen nicht auf den Kopf und halten genügend Abstand zum Gegner.» Für diese «modernen Raufereien» sucht sich der 48-Jährige jeweils eine Spielzeugpistole aus der elfteiligen Sammlung seines Sohnes aus. «Natürlich immer die beste», sagt der Vater und lacht. Andere Erwachsene besitzen selbst eine Nerf. Sie tauschen sich in Internet-Foren darüber aus, welches Modell die kürzeste Ladezeit hat und welches am besten in ~ Hintergrund ~ NERF 33 Kinderhände passt. Immer wieder äussern sich Eltern erleichtert. Sie sind froh um das Spiel, das ihren Nachwuchs vom Bildschirm wegzulocken vermag. Im Sinn von: lieber an der frischen Luft mit Spielzeugwaffen rumspringen als drinnen vor dem Bildschirm hocken. PARLAMENT LEHNTE VERBOT AB Ein fadenscheiniges Argument, findet Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz. «Das Freizeitangebot für Kinder ist immens. Da wird sich doch sicher eine andere attraktive Beschäftigung finden, eine ohne kriegerischen Beigeschmack.» Für Sara Stalder sind Nerfs keine Spielsachen, sondern Waffen. «Und die kommen einfach in zu junge Hände», sagt Stalder. Ginge es nach ihr, wäre der Verkauf von Nerfs verboten. Diese Absicht hatte eine Motion, über die das Parlament im Dezember 2013 abstimmte. Herstellung, Verkauf und Einfuhr von Kriegsspielzeug wäre bei einem Ja verboten worden. Man stimmte Nein. «Im Parlament wird diesbezüglich vorerst nichts mehr gehen», sagt Sara Stalder. «Ausser es kommt in der Schweiz zu drastischen Vorfällen.» Von solchen ist bislang nichts bekannt. Weder das Inselspital in Bern noch das Universitätsspital Zürich wissen von Patienten, die wegen Verletzungen aufgrund von Nerfs behandelt werden mussten. Das entspricht dem Versprechen des Herstellers: Die weichen und abgerundeten Nerf-Pfeile bergen keine Verletzungsgefahr. Was meint Experte Marco? Der senkt den Blick und sagt, ein bisschen weh tue es schon, wenn einen ein Pfeil am Rücken treffe. DIE MACHTFRAGE Feuer frei! Wenn Kinder mit angeschlagenen Waffen um die Häuser jagen, kann das Spiel brutal anmuten. Aber Olivier Steiner, Soziologe an der Fachhochschule Nordwestschweiz, winkt ab. «Der Umgang mit Spielzeugwaffen hat für Kinder eine ganz andere Bedeutung als für Erwachsene», sagt Steiner. Erwachsene wüssten um die Folgen von Gewehren und Pistolen. Sie seien sich bewusst über deren Zerstörungspotenzial. Kindern fehle diese Erfahrung. Für sie gehe es beim «Kriegerlen» nicht um Gewalt, sondern um Sieg und Niederlage, Spannung, Macht. «Spielzeugwaffen allein lösen keine negativen Auswirkungen beim Kind aus», sagt Steiner. Es müssten mehrere Faktoren nicht stimmen, damit sie zu schädlichen Wirkungen wie Aggressivität führen können. Unbedenklich ist der ~ # 03 ~ 2014 Dimitri ist 48 Jahre alt und liebt es, mit seinen beiden Kindern durchs Haus und um die Hecken zu jagen. «Unser Spiel ist geregelt und fair», sagt er. ~ Hintergrund ~ NERF 34 ~ Umgang mit Spielzeugwaffen laut Steiner, wenn das Kind wohlbehütet aufwächst, sich von den Eltern verstanden fühlt und Freunde hat. Ist das Kind dagegen sozial und persönlich belastet, zieht es sich immer mehr zurück, und nehmen die schulische Leistung sowie die Zahl der Freunde ab, sind dies Alarmzeichen. Dann sollen Erwachsene den Umgang mit Spielzeugwaffen besonders genau beobachten. «IN JEDEM HAUS GELTEN ANDERE REGELN» Eine Nerf schenken? Oder besser ein Holzschwert? Sarah Zanoni, Erziehungscoach und Autorin des Buches «Kreativ erziehen», gibt Tipps, damit der Schuss nicht nach hinten losgeht. WIE SCHACHFIGUREN Auch für Allan Guggenbühl, Jugendpsychologe und Experte für Jugendgewalt, sind Spielzeugwaffen nicht per se etwas Schlechtes: «Erwachsene sehen oft ein Training für Gewalt, den Spielcharakter verkennen sie.» Er vergleicht Spielzeugwaffen mit Schachfiguren. Beides seien Symbole. Ein Schachspieler, der auf dem Brett einen Bauern erledigt, komme nicht auf die Idee, wirklich einen solchen anzugreifen. Und ein Kind, das mit einer Spielzeugwaffe einen Kameraden «erschiesst», wolle diesen nicht wirklich töten. «Kinder können Fiktion und Realität gut unterscheiden. Das unterschätzen Erwachsene oft», sagt Guggenbühl. Was für Erwachsene überdies gut zu wissen ist: Die Faszination für Spielzeugwaffen ist ein weltweites Grundphänomen. «Sie lässt sich nicht wegerziehen», sagt Guggenbühl. Marco schiesst noch ein paarmal durch die Wohnung. Dann legt er die Nerfs zurück und schliesst die Schublade. Wer spielt ein Monopoly? • «Grosseltern»: Frau Zanoni, ein Enkelkind wünscht sich von seinen Grosseltern eine Nerf zu Weihnachten. Diese halten aber nichts von Spielzeugwaffen. Sarah Zanoni: Dann können und sollen sie ihrem Enkelkind klar und ruhig sagen, dass sie gegen Spielzeugwaffen sind und etwas anderes schenken wollen. Was zum Beispiel? Etwas Ähnliches, zum Beispiel ein Holzschwert? Besser nicht. Kinder haben genaue Vorstellungen, was sie sich wünschen. Entspricht das Geschenk nicht exakt ihrem Wunsch, in diesem Fall einer Nerf, sind die Kinder enttäuscht. Was raten Sie stattdessen? Wichtig ist, dass die Grosseltern ihre Meinung kommunizieren und das Kind oder die Eltern nach einem alternativen Wunsch fragen. Schweigen und eigenmächtig ein anderes Geschenk auswählen, ist heikel. Wenn Grosseltern generell keine Spielzeugwaffen bei sich zuhause dulden wollen, wie bringen sie das den Enkelkindern bei? Sie sollen erklären, dass in jedem Haus andere Regeln gelten. Am besten nennen sie gleich ein Beispiel, im Sinn von «Bei Papa und Mama darfst du nie vor dem Fernseher Dessert essen, bei uns schon». Was erleichtert das Leben mit Spielzeugwaffen? Spielregeln! Grosseltern und Enkelkinder können zusammen ein Plakat erstellen, auf dem alle Regeln aufgeführt sind. Mehr als fünf sollten es aber nicht sein. Sonst wird das Kontrollieren schwierig. Welche Regeln sind die wichtigsten? Ich würde sagen «Waffen nicht auf Lebewesen richten oder abfeuern» und «Spieldauer: maximal eine Stunde pro Tag». Die Regel «Spiel nach 17 Uhr verboten» finde ich auch wertvoll. Sie verhindert, dass die Kinder vor dem Zubettgehen aufgewühlt werden. # 03 ~ 2014
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