ch ä psli - pistole - Grosseltern Magazin

~ Hintergrund ~
NERF
Von EVA WIRTH (Text)
und HOLGER SALACH (Fotos)
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Die
neue
C H Ä P S L I PISTOLE
Was früher die Chäpslipistolen waren, sind
heute die Nerfs. Die Spielzeugwaffen aus
den USA sind bei Enkelkindern hoch im Kurs.
Grund zur Sorge?
M
arco zeigt stolz in eine Schublade. Da liegen sie nebeneinander: drei Spielzeugpistolen. Die
gelbe hat ein elektronisches Zielfernrohr,
die blaue leuchtet im Dunkeln und die
grüne – das hat Marco vergessen. Flink
setzt er sie an und drückt ab. Der Pfeil
schiesst durchs Zimmer, quert den Gang
und landet im Wohnzimmer mit einem
dumpfen Knall auf dem Sofa. Ah, ja, jetzt
weiss es Marco wieder. Die grüne Pistole
kann besonders weit schiessen.
Was der Zehnjährige vorführt, sind nicht
irgendwelche Spielzeugpistolen. Es sind
sogenannte Dartblaster, Spielzeugwaffen
der Marke Nerf, seit einigen Jahren die
absoluten Renner in Spielwarengeschäften. Sie verschiessen durch Luftdruck
Munition aus Schaumstoff. Manche kosten zehn Franken, andere 70. Es gibt
welche für Kinder ab sechs Jahren und
welche extra für Mädchen. Die Mädchenlinie heisst «Rebelle», es sind Gewehre
und Armbrüste in Rosa und Lila.
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Nerfs stammen von Hasbro, einem
Spielzeughersteller aus den USA. In der
Schweiz werden sie seit 2009 verkauft.
Der Zeitpunkt der Einführung war ein
Schuss ins Schwarze. Im Jahr zuvor war
das neue Schweizer Waffengesetz in
Kraft getreten.
Jetzt galt: Echt aussehende Spielzeugwaffen dürfen nur noch mit Bewilligung
verkauft werden. Die Chäpslipistolen
wurden aus den Regalen geräumt und
machten Platz für die Nerfs. ~
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Der Pfeilbogen mit den
pinken Verzierungen
gehört zur Nerf-Linie, die
sich an Mädchen richtet.
Sie heisst «Rebelle».
~ Nerfs sind bunt, sie sehen nicht aus
wie echte Gewehre und Pistolen. Es
braucht also keine Bewilligung, um mit
ihnen Geld zu machen. Und das lässt
sich mit Nerfs gut. Ob bei Franz Carl
Weber, Migros, Manor oder Coop – unisono heisst es: Nerfs verkaufen sich sehr
gut. «Die Nachfrage ist in den letzten
Jahren stetig gestiegen», sagt Migros-Mediensprecherin Martina Bosshard. Für sie
sind Nerfs aber keine Spielzeugwaffen,
sondern Adventure-Spielzeug, also Abenteuer-Spielzeug. Beim Spiel mit Nerfs
gehe es um Bewegung, sportlichen Wettkampf und Geschicklichkeit. «Es ist eine
moderne Variante von Räuber und Poli»,
sagt Martina Bosshard.
Marco sammelt die verschossenen Pfeile auf dem Sofa ein. Dann geht er zum
Schrank und öffnet feierlich einen Flügel.
In einer Ecke steht ein rotes Ungetüm,
fast so gross wie der Junge selbst: eine
Nerf N-Strike Elite Mega Centurion. Mit
Standfuss und einer versprochenen
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Reichweite von 23 Metern. Zu weit fürs
Spiel in der Wohnung. Und irgendwie
auch zu wuchtig. Das findet selbst Marco.
BESSER ALS GAMEN
Auch manche Erwachsene sind grosse
Nerf-Fans. Dimitri aus Zürich zum Beispiel. Er liebt es, mit seiner 12-jährigen
Tochter und seinem 10-jährigen Sohn
durchs Haus und um die Hecken zu jagen. «Unser Spiel ist weder brutal noch
willkürlich, sondern geregelt und fair»,
sagt der Vater. «Wir tragen immer Schutzbrillen, zielen nicht auf den Kopf und halten genügend Abstand zum Gegner.» Für
diese «modernen Raufereien» sucht sich
der 48-Jährige jeweils eine Spielzeugpistole aus der elfteiligen Sammlung seines
Sohnes aus. «Natürlich immer die beste»,
sagt der Vater und lacht.
Andere Erwachsene besitzen selbst eine
Nerf. Sie tauschen sich in Internet-Foren
darüber aus, welches Modell die kürzeste
Ladezeit hat und welches am besten in
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Kinderhände passt. Immer wieder äussern sich Eltern erleichtert. Sie sind froh
um das Spiel, das ihren Nachwuchs vom
Bildschirm wegzulocken vermag. Im
Sinn von: lieber an der frischen Luft mit
Spielzeugwaffen rumspringen als drinnen vor dem Bildschirm hocken.
PARLAMENT LEHNTE VERBOT AB
Ein fadenscheiniges Argument, findet Sara Stalder, Geschäftsleiterin der
Stiftung für Konsumentenschutz. «Das
Freizeitangebot für Kinder ist immens.
Da wird sich doch sicher eine andere attraktive Beschäftigung finden, eine ohne
kriegerischen Beigeschmack.» Für Sara
Stalder sind Nerfs keine Spielsachen,
sondern Waffen. «Und die kommen einfach in zu junge Hände», sagt Stalder.
Ginge es nach ihr, wäre der Verkauf von
Nerfs verboten.
Diese Absicht hatte eine Motion, über die
das Parlament im Dezember 2013 abstimmte. Herstellung, Verkauf und Einfuhr von Kriegsspielzeug wäre bei einem
Ja verboten worden. Man stimmte Nein.
«Im Parlament wird diesbezüglich vorerst nichts mehr gehen», sagt Sara Stalder. «Ausser es kommt in der Schweiz zu
drastischen Vorfällen.»
Von solchen ist bislang nichts bekannt.
Weder das Inselspital in Bern noch das
Universitätsspital Zürich wissen von Patienten, die wegen Verletzungen aufgrund
von Nerfs behandelt werden mussten.
Das entspricht dem Versprechen des
Herstellers: Die weichen und abgerundeten Nerf-Pfeile bergen keine Verletzungsgefahr. Was meint Experte Marco? Der
senkt den Blick und sagt, ein bisschen
weh tue es schon, wenn einen ein Pfeil
am Rücken treffe.
DIE MACHTFRAGE
Feuer frei! Wenn Kinder mit angeschlagenen Waffen um die Häuser jagen, kann
das Spiel brutal anmuten. Aber Olivier
Steiner, Soziologe an der Fachhochschule
Nordwestschweiz, winkt ab. «Der Umgang mit Spielzeugwaffen hat für Kinder eine ganz andere Bedeutung als für
Erwachsene», sagt Steiner. Erwachsene
wüssten um die Folgen von Gewehren
und Pistolen. Sie seien sich bewusst über
deren Zerstörungspotenzial. Kindern
fehle diese Erfahrung. Für sie gehe es
beim «Kriegerlen» nicht um Gewalt, sondern um Sieg und Niederlage, Spannung,
Macht.
«Spielzeugwaffen allein lösen keine negativen Auswirkungen beim Kind aus»,
sagt Steiner. Es müssten mehrere Faktoren nicht stimmen, damit sie zu schädlichen Wirkungen wie Aggressivität
führen können. Unbedenklich ist der ~
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Dimitri ist 48 Jahre alt und
liebt es, mit seinen beiden Kindern durchs Haus und um die
Hecken zu jagen. «Unser Spiel
ist geregelt und fair», sagt er.
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~ Umgang mit Spielzeugwaffen laut
Steiner, wenn das Kind wohlbehütet aufwächst, sich von den Eltern verstanden
fühlt und Freunde hat. Ist das Kind dagegen sozial und persönlich belastet, zieht
es sich immer mehr zurück, und nehmen
die schulische Leistung sowie die Zahl
der Freunde ab, sind dies Alarmzeichen.
Dann sollen Erwachsene den Umgang
mit Spielzeugwaffen besonders genau
beobachten.
«IN JEDEM HAUS GELTEN ANDERE REGELN»
Eine Nerf schenken? Oder besser
ein Holzschwert? Sarah Zanoni,
Erziehungscoach und Autorin des
Buches «Kreativ erziehen», gibt
Tipps, damit der Schuss nicht nach
hinten losgeht.
WIE SCHACHFIGUREN
Auch für Allan Guggenbühl, Jugendpsychologe und Experte für Jugendgewalt,
sind Spielzeugwaffen nicht per se etwas
Schlechtes: «Erwachsene sehen oft ein
Training für Gewalt, den Spielcharakter
verkennen sie.» Er vergleicht Spielzeugwaffen mit Schachfiguren. Beides seien
Symbole. Ein Schachspieler, der auf dem
Brett einen Bauern erledigt, komme nicht
auf die Idee, wirklich einen solchen anzugreifen. Und ein Kind, das mit einer
Spielzeugwaffe einen Kameraden «erschiesst», wolle diesen nicht wirklich töten. «Kinder können Fiktion und Realität
gut unterscheiden. Das unterschätzen
Erwachsene oft», sagt Guggenbühl. Was
für Erwachsene überdies gut zu wissen
ist: Die Faszination für Spielzeugwaffen
ist ein weltweites Grundphänomen. «Sie
lässt sich nicht wegerziehen», sagt Guggenbühl.
Marco schiesst noch ein paarmal durch
die Wohnung. Dann legt er die Nerfs zurück und schliesst die Schublade. Wer
spielt ein Monopoly?
•
«Grosseltern»: Frau Zanoni, ein Enkelkind wünscht sich von
seinen Grosseltern eine Nerf zu Weihnachten. Diese halten
aber nichts von Spielzeugwaffen.
Sarah Zanoni: Dann können und sollen sie ihrem Enkelkind klar
und ruhig sagen, dass sie gegen Spielzeugwaffen sind und etwas anderes schenken wollen.
Was zum Beispiel? Etwas Ähnliches, zum Beispiel ein
Holzschwert?
Besser nicht. Kinder haben genaue Vorstellungen, was sie sich wünschen. Entspricht das Geschenk nicht exakt ihrem Wunsch, in diesem
Fall einer Nerf, sind die Kinder enttäuscht.
Was raten Sie stattdessen?
Wichtig ist, dass die Grosseltern ihre Meinung kommunizieren und
das Kind oder die Eltern nach einem alternativen Wunsch fragen.
Schweigen und eigenmächtig ein anderes Geschenk auswählen, ist
heikel.
Wenn Grosseltern generell keine Spielzeugwaffen bei sich
zuhause dulden wollen, wie bringen sie das den Enkelkindern bei?
Sie sollen erklären, dass in jedem Haus andere Regeln gelten. Am besten nennen sie gleich ein Beispiel, im Sinn von «Bei Papa und Mama
darfst du nie vor dem Fernseher Dessert essen, bei uns schon».
Was erleichtert das Leben mit Spielzeugwaffen?
Spielregeln! Grosseltern und Enkelkinder können zusammen ein
Plakat erstellen, auf dem alle Regeln aufgeführt sind. Mehr als fünf
sollten es aber nicht sein. Sonst wird das Kontrollieren schwierig.
Welche Regeln sind die wichtigsten?
Ich würde sagen «Waffen nicht auf Lebewesen richten oder abfeuern»
und «Spieldauer: maximal eine Stunde pro Tag». Die Regel «Spiel nach
17 Uhr verboten» finde ich auch wertvoll. Sie verhindert, dass die Kinder vor dem Zubettgehen aufgewühlt werden.
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