Material 23.01.14 - Institut für Germanistische Literaturwissenschaft

Die Jenaer Frühromantik
Eine kleine Gruppe von jungen Akademikern, die
sich zwischen 1796 und 1801/02 um die Brüder
August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel
und deren Frauen Caroline und Dorothea bildet.
August Wilhelm Schlegel
(Literaturkritiker, Literaturhistoriker, Übersetzer)
Friedrich Schlegel
(Altphilologe, Literaturkritiker, Schriftsteller)
Caroline Schlegel, später Schelling
Dorothea Veit, später Schlegel
Friedrich von Hardenberg, Autorname: Novalis
(Bergbauingenieur, Schriftsteller)
Friedrich Schleiermacher (Theologe)
Johann Gottlieb Fichte (Philosoph)
Friedrich Wilhelm Schelling (Philosoph)
Ludwig Tieck (Schriftsteller)
Gemeinsame Zeitschrift: Athenaeum 1798-1800
Revolutionierung der Literaturtheorie und der Art,
über Literatur und Philosophie mit
professionellem Anspruch zu publizieren
- Primat des je einzelnen Kunstwerks und seiner
individuellen Beschaffenheit vor allen
Gattungsregeln: Literaturtheorie aus der Sicht des
Lesers und Kritikers
- Roman als Universalform in entwicklungsoffener,
alles Textsorten integrierender Perspektive:
„progressive Universalpoesie“
- Verschmelzung von künstlerisch-literarischem (=
ästhetischem) und philosopisch-wissenschaftlichem (= begrifflichem) Anspruch: Einführung des
geselligen Konversationstons in die Schriftsprache
theoretischer Abhandlungen (neue Gattung des
frühromantischen „Fragments“)
romantisch ist das programmatische Sammelwort
dieser inhaltlichen wie stilistischen
Revolutionierung der Literaturtheorie/ des
Publizierens über Literatur, Intellektualisierung
einer zuvor anti-intellektuellen Stimmungsvokabel
frühromantische Konzepte:
- Romantische Ironie: die Selbstrelativierung jeder
Aussage als Hinweis, dass jede bestimmte
Formulierung eine unzureichende Festlegung ist,
die das eigentlich Gemeinte verfehlt
- Neue Mythologie: die Vorstellung, dass die
moderne Literatur trotz der pluralistischen
Individualismen gemeinschaftsstiftende Werke
hervorbringt, die eine kollektiv gültige
Weltanschauung artikulieren (wie man es von der
antiken Literatur in ihrer Anbindung an die
Mythologie denkt) (Idee; Verwirklichungsversuche
bei Novalis, Friedrich Hölderlin)
- Romantische Liebe: Auszeichnung einer einzigen
Liebesbeziehung als wechselseitige vollständige
und definitive Erfüllung aller Lebenswünsche
(Friedrich Schlegel, Lucinde, 1799; Novalis)
„Hochromantik“ oder Mittlere Romantik
1) Zentrum Heidelberg
„Wiederentdeckung“ (auch Konstruktion) der
volkstümlichen „altdeutschen“ Dichtung zur
kulturellen Nationalbildung der Deutschen
(gelegentlich anti-französisch)
Volkslieder: Clemens Brentano/ Achim von Arnim:
Des Knaben Wunderhorn (1805-1808)
Sagen: Joseph Görres: Teutsche Volksbücher
1806-1808
Märchen: Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und
Hausmärchen 1812
Konflikt um die „Reinheit der Volkspoesie“:
A: Idee/ Ideologie der reinen Natur- oder
Volkspoesie als Gegensatz zur Kunstpoesie (Jacob
Grimm)
B: eigene künstlerische Konstruktion des
Volkstümlichen (Clemens Brentano; große Teile
der romantischen Dichtung, auch Wilhelm Grimms
Märchenstil; Goethes und Schillers Balladen)
Punktuelle Konfliktstellung Romantik- Klassizismus
A: Arnim, Brentano, Görres: Zeitung für Einsiedler
1808
B: Johann Heinrich Voss (Homerübersetzer) als
programmatischer Klassizist
Goethe wird von beiden in Anspruch genommen
2) Zentrum Berlin
Moderne Prosaerzählungen, die das Wunderbare
der volkstümlichen Märchen, Legenden und Sagen
zur Darstellung der menschlichen Psychologie und
ihrer unerklärten Phänomene verwenden
Erzählungen/ Kunstmärchen
Ludwig Tieck, Volksmährchen, 1797
Friedrich de la Motte Fouqué, Undine, 1811
E.T.A. Hoffmann, Fantasiestücke, 1814
Nachtstücke, 1816/17
Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihl’s
wundersame Geschichte, 1814
Heinrich von Kleist, Die heilige Cäcilie oder die
Gewalt der Musik, 1810
Volksmärchen: Prosaerzählung mittlerer Länge,
ohne nachweisbare individuelle Autorschaft und
mit traditionellen, konventionellen Motiven des
Wunderbaren, die in der Märchenwelt als
selbstverständlich gelten
Kunstmärchen: Prosaerzählung mittlerer Länge,
nachweisbare individuelle Autorschaft, mit sowohl
traditionellen, konventionellen als auch originellen
Motiven des Wunderbaren, die in der
Märchenwelt zumeist nicht als selbstverständlich
gelten, sondern in ihrem Status ambivalent
bleiben (statt als tatsächliches Wunderbares auch
als Einbildung, Wahnvorstellung gelten können);
auf der Gattungsgrenze zwischen Märchen und
realistischer Novelle
Einschränkung 1: neben Prosa- gibt es Märchen
auch als Verserzählungen und Theaterstücke
Einschränkung 2: der Begriff Volksmärchen ist
dadurch problematisch, dass ein konkreter
Volksmärchentext immer nur als Aufzeichnung
eines individuellen Erzählers/ Schriftstellers
vorliegt
Programmatische, politisch antifranzösische
Publizistik der Hochromantik:
Heinrich von Kleist, Adam Müller: Phöbus 1808
Berliner Abendblätter 1810/11
Friedrich Schlegel: Europa 1803-05
Deutsches Museum 1812/13
Spätromantik
- Zentrum Wien, politischer Ort der feudalen,
katholischen Restauration nach Napoleons
Niederlage (Wiener Kongress 1814/15)
„katholische Romantik“
Friedrich Schlegel: Concordia 1820-23
- Zentrum München
Joseph Görres, Friedrich Wilhelm Schelling
Deutungsmuster für den Verlauf der Romantik:
„von revolutionärer Öffnung zu restaurativer
Schließung“
Hat in der Rezeptionsgeschichte das Bild der
Romantik bis zur Wiederentdeckung der
progressiven Impulse der frühen und mittleren
Romantik in der 2. Hälfte des 20. Jh. einseitig
geprägt (Einfluss Heinrich Heines)
Joseph von Eichendorff
Aus dem Leben eines Taugenichts 1826
Das Marmorbild 1818
Kunstvolkslied
Wilhelm Müller
Die Winterreise Die schöne Müllerin (1821/24,
vertont von Franz Schubert)
musikalische Gattung Kunstlied, populärste Form
der Romantik in weiter Spannweite von Populärund Hochkultur
„Der Lindenbaum“: „Am Brunnen vor dem Tore…“
„Wanderschaft“: „Das Wandern ist des Müllers
Lust…“
Eichendorff: „Der frohe Wandersmann“: „Wem
mmnmnm
Gott will rechte Gunst erweisen…“
Roman als Leitgattung der Romantik
Die Frühromantiker entdecken und wählen den in
der traditionellen Regelpoetik als nicht
theoriefähig, d.h. als künstlerisch anspruchslos
geltenden Roman als Leitgattung ihrer
literarischen Projekte (Friedrich Schlegel: „Ein
Roman ist ein romantisches Buch“, Brief über den
Roman, 1800). Die zuvor als minderwertig
angesehene Formlosigkeit des Porsaromans wird
positiv als Universalismus, d.h. als potenzielle
Aufnahme aller literarischen Formen umgedeutet.
Die Frühromantiker vollziehen damit als erste
explizit und auf der Theorieebene nach, was sich
in der literarischen Praxis über das 18. Jh.
entwickelt hatte: Der Prosaroman war zur
dynamischsten Gattung geworden und hatte die
traditionelle Formen des klassizistischen Kanons
(Versepos) verdrängt. Das hing mit der
allgemeinen Popularisierung der Lesekultur
zusammen.
Die frühromantische Romantheorie und –praxis ist
der Versuch, den Roman als anpruchsvollste
literarische Kunstform zu etablieren und in diesem
Anspruch von der Masse der
Unterhaltungsromane (Bsp. August Lafontaine)
abzugrenzen.
Eigene Kanonbildung der Romanliteratur:
Cervantes: Don Quixote 1605/15 (Ü Tieck 17991801, nach Bertuch 1775)
Denis Diderot: Jacques le fataliste et son maître
1773-75
Laurence Sterne: Tristram Shandy 1759-67 (statt
des zuvor beliebten A sentimental Journey)
Jean-Jacques Rousseau: Les confessions 1782-88
(statt der zuvor beliebten Nouvelle Héloïse)
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters
Lehrjahre 1795/96
Eigene Romanproduktion der Romantiker:
Ludwig Tieck:
Geschichte des Herrn William Lovell 1795/96
(Nähe zum populären Schauerromen und
empfindsamen Briefroman)
Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche
Geschichte 1798 (Künstlerroman)
Friedrich Hölderin:
Hyperion , oder der Eremit aus Griechenland
1797/99 (philosophischer Briefroman)
Friedrich Schlegel:
Lucinde 1799 (Darstellung der romantischen Liebe,
Friedrich Schleiermacher Vertraute Briefe über die
Lucinde 1800)
Dorothea Schlegel:
Florentin 1801 (hg. von Friedrich Schlegel,
Künstlerroman, Abenteuer/ Wanderschaft)
Clemens Brentano:
Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein
verwilderter Roman von Maria 1801 (ironisches
Spiel mit der Romanform)
Friedrich von Hardenberg, Novalis:
Heinrich von Ofterdingen Fragm. 1802
(Künstlerroman, „Korrektur“ des Wilhelm Meister)
Die Lehrlinge zu Sais Fragm. 1802 (philosophischer
Initiationsroman)
Ernst August Klingemann:
Nachtwachen von Bonaventura 1804 (Nähe zum
Schauerroman, nihilistische Satire)
E. T. A. Hoffmann:
Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere
des Bruders Medardus eines Kapuziners 1815/16
(Nähe zum Schauerroman)
Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst
fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters
Johannes Kreisler in zufälligen Makulatublättern
1819/21 (ironisierter Entwicklungs-
Bildungsroman als Gesellschaftssatire, ironisierter
Künstlerroman)
Prosa-Erzählungen
Sammelbegriff für ‚kürzere‘ Erzähltexte,
Abgrenzung gegenüber dem Roman
Spezifische Formen:
Novelle (Neuigkeit, Goethe: „eine unerhörte
Begebenheit“, Tieck: „Wendepunkt“,
Handlungsstruktur einem Drama ähnlich,
angesiedelt in einer realistischen, gegenwärtigen
oder historisch und räumlich klar zugeordneten
Welt)
Heinrich von Kleist:
Michael Kohlhaas 1810
Das Erdbeben in Chili 1810
Kunstmärchen (von einem individuellen Autor
verfasste Erzählung, die von traditionellen
Motiven des Wunderbaren bestimmt ist)
Ludwig Tieck: Volksmährchen 1797 (Der blonde
Eckbert, Ritter Blaubart; aber auch das MärchenTheaterstück Der gestiefelte Kater)
Friedrich de la Motte Fouqué: Undine 1811
„ Zauberoper“ Musik E.T.A. Hoffmann, Bühnenbild
Karl Friedrich Schinkel, UA Berlin 1816
Der Aberglauben an „Elementargeister“ (hier:
Wassergeist) dient zur Artikulation der aus
männlicher Sicht unverständlichen, faszinierendbefremdenden weiblichen Psyche
Johann Wolfgang Goethe: Unterhaltungen
deutscher Ausgewanderten 1795 verbindet einen
Novellenzyklus mit einem abschließenden
Märchen; (Vorbild der Novellensammlung mir
Rahmenhandlung: Giovanni Boccaccio: Il
Decamerone, 1349-1353; übernommen von Tieck,
seine Volksmährchen gehen in die
Rahmenerzählung Phantasus, 1812-16 ein)
Kennzeichnend für die Romantik: Vermischung
von novellistischem und märchenhaften Erzählen;
Kontrast von Realismus und Wunderbaren,
Wunderbares als Ausdruck psychischer
Phänomene, ästhetischer und zugleich
intellektueller Reiz des Wunderbaren
Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls
wundersame Geschichte 1814 (Verlust des
eigenen Schattens als Allegorie des
Realitätsverlusts eines jungen Mannes)
E.T.A. Hoffmann:
Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit
(in: Fantasiestücke, 1814) Spannung zwischen
fantasielosen Realisten und den Fantasiebegabten
Der Sandmann (in: Nachtstücke 1816), das
Märchenhafte als eine durch ein Kindheitstrauma
bedingte psychopathologische Projektion deutbar
Lyrik
Insofern „Romantik“ populär als
Stimmungsqualität verstanden wird, gibt die Lyrik
als prägnanteste Stimmungs-Dichtung das
populärste Klischee romantischer Literatur:
Kunstvolkslied (s.o.) kunstvolle Simulation
volkstümlicher Einfachheit
Joseph von Eichendorff
Mondnacht 1837, vertont von Robert Schumann
1840, Darstellung der Transzendenz und
Unsterblichkeit der Seele in einer synkretistischen
Verbindung mythischer, christlicher und
natürlicher Anschauung
Der Einsiedler 1837, vertont von Robert Schumann
1850, Übertragung des Gotteslobs, des
Kirchenlied- und Gebetscharakters auf die
personifizierte stimmungsvolle Natur; implizite,
von jeder bestimmten konfessionellen
Gottesvorstellung abstrahierte Religiosität;
Umarbeitung des expliziten Gotteslob-Lieds aus
Grimmelshausens Simplizissimus (1669)
Balladen
Clemens Brentano, „Zu Bacharach am Rheine…“,
Erfindung einer Lore Lay-Sage zum Rhein-Felsen
Loreley (im Roman Godwi)
Johann Wolfgang Goethe, Erlkönig (1782/1800)
populärer Aberglauben (‚Elementargeist‘) im
Kontrast zu rationaler Erklärung, wie in den
Erzählungen (s.o.) artikuliert das Wunderbare
psychopatholgische Phänomene
Eingliederung von Gedichten in Prosaerzählungen
und –romane zur Verdichtung des
Stimmungsausdrucks oder Kommentierung,
Vorausdeutung oder Zusammenfassung der
Handlung
Johann Wolfgang Goethe, „Kennst du das Land?
wo die Zitronen blühn“ (in: Wilhelm Meisters
Lehrjahre, 1795/96; selbständig Mignon, 1815)
(kaum ein Roman, eine Erzählung der Romantik
ohne Einschub von Gedichten)
Neben diesen populären Formen auch
Wiederaufnahme älterer, formal kunstvoller
Formen aus dem spätmittelalterlichen/
frühneuzeitlichen Dichtungen der romanischen
Sprachen: Sonett, Stanzen … (August Wilhelm und
Friedrich Schlegel)
und eine innovative Vermischung von Prosa- und
Versformen, Novalis, Hymnen an die Nacht 1800
Drama
Frühromantische Komödie
Ludwig Tieck:
Der gestiefelte Kater. Ein Kindermärchen in drei
Akten (1797)
Die verkehrte Welt. Ein historisches Schauspiel in
fünf Aufzügen (1798/99)
Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten
Geschmack (1799)
Theater- und Aufklärungssatiren, Selbstreflexion
des Theaters als Kunst und Kunstbetrieb
(Inszenierung des Publikums, der Bühnentechnik,
des Personals), Parabase (=Aus-der-Rolle-Fallen),
Spiel im Spiel und Mischung der Theaterformen
als zentrale Stilmittel (Märchenspiel, bürgerlichempfindsames Drama, mythologisches Drama,
Schäferspiel, commedia dell’arte …)
Geschichtsdrama (Geschichts- und zugleich
Legendenbezug)
Ludwig Tieck: Leben und Tod der heiligen
Genoveva (1799)
Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans. Eine
romantische Tragödie (1801)
Populärer Legendenstoff (französische
‚Nationalheilige‘, seit 1920), mittelalterliche
Ritterwelt, Religiosität im Spannungsfeld von
Glauben und Aberglauben, Distanz zur Religion
durch Psychologisierung – zugleich theatrale
Wiederbelebung kollektiver (Aber-)Glaubensmomente: Gottesurteil, Wunder, Verklärung,
lyrische Retardierungen der Handlung in metrisch
vielfältigen Monologen
Die erste literarisch-künstlerisch angemessene
Shakespeare-Übersetzung durch August Wilhelm
Schlegel, Ludwig Tieck; Etablierung antiklassizistischer Theaterformen
Romantik als Renaissance des Mittelalters
neues Interesse am Mittelalter als einem
ästhetischen und weltanschaulichen Ideal,
Projektionsfläche eigener, aktueller Sehnsüchte:
Gesellschaft als homogene, paternalistisch
regierte Glaubensgemeinschaft
(vorreformatorisch), spirituelle Überhöhung der
realen Lebenswelt, Einfachheit, Klarheit und
Konstanz der Rollen und Strukturen, Naturnähe
funktionale Kontrastanalogie zum Antike-Bild des
Klassizismus
Novalis, Die Christenheit oder Europa 1799
Imaginäres Mittelalter als Schauplatz vieler
Romane und Erzählungen, Freiraum der
Imagination (Novalis, Heinrich von Ofterdingen:
„eine tiefsinnige und romantische Zeit […], die
unter schlichtem Kleide eine höhere Gestalt
verbirgt. Wer wandelt nicht gern im Zwielichte,
wenn die Nacht am Lichte und das Licht an der
Nacht in höheren Schatten und Formen zerbricht.“
I, Kap. 2)
Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen
Neubewertung der Gotik als Ausdruck der
menschlichen Spiritualität und Erhabenheit
(Straßburger Münster; zuvor Goethe, Von
deutscher Baukunst, 1772, Geniekult, falsche
nationale Vereinnahmung der Gotik)
Sulpiz Boisserée, Ansichten, Risse und einzelne
Theile des Domes von Köln, 1821 – Anstoß zur
Fertigstellung des unvollendeten Kölner Doms
(1880 – antifranzösisches Manifest)
Beginn der Mittelalterphilologie, Gründung der
Germanistik, „deutsche Mythologie“
Ludwig Tieck, Minnelieder aus dem schwäbischen
Zeitalter, 1803
Nibelungenlied: Ausg. 1782 stößt auf kein
Interesse (Fr. d. Gr. „keinen Schuß Pulver werth“),
Ausg. 1807 von der Hagen, 1826 wissenschaftlichtextkritische Ausgabe von Karl Lachmann
dramatisiert: Friedrich de la Motte Fouqué, Der
Held des Nordens, 1808-1810, Aufrichtung einer
nordischen gegen die antike griechische
Mythologie, Siegfried/Sigurd als germanischer
Achill (Fouqué-Rezension von Jean Paul)
Hildebrandslied: Ausg. 1729 in unbeachteter
Sammelpublikation, wissenschaftlich-textkritische
Ausg. 1812 durch Jacob und Wilhelm Grimm
Germaine de Staël, De l’Allemagne (Über
Deutschland) 1813
Teil I, Kap. I: Vom Erscheinungsbild Deutschlands
„Die gotischen Baudenkmäler sind die einzig
bemerkenswerten in Deutschland. Sie rufen die
Jahrhunderte des Rittertums wach. In fast allen
Städten bewahren die öffentlichen Museen Reste
aus dieser Zeit. Es ist so, als hätten die Bewohner
des Nordens, die Bezwinger der Welt, bei ihrem
Auszug aus Germanien verschiedenste
Erinnerungsstücke dagelassen, wodurch das ganze
Land wie der seit langem verlassene
Aufenthaltsort eines großen Volkes wirkt. In den
meisten Zeughäusern der deutschen Städte gibt es
Ritterfiguren aus bemaltem Holz, die Rüstung
tragen; Helm, Schild, Beinschienen, Sporen: alles
nach alter Sitte, und man geht unter diesen
aufrechten Toten umher, deren erhobene Arme
immer bereit scheinen, ihre Gegner zu schlagen,
die ihrerseits ihre Lanzen bereit halten. Dieses
starre Bild einer ehemals lebhaften Geste
bedrückt. […]
Die moderne Architektur in Deutschland bietet
nichts, was der Erwähnung wert wäre.“
Kunstreligion
Übertragung der religiösen Haltung (Andacht,
Verehrung) auf die Situation der Kunstbetrachtung
Sakralisierung der Kunst – Profanierung des
Religiösen
Entstehung aus der Verehrung der christlichen
(Renaissance-)Malerei (Raffael, Michelangelo,
Dürer), Übertragung vom besonderen Inhalt der
Kunstwerke (Maria) auf die Kunst als solche,
Künstler als göttliches Medium
Wilhelm Heinrich Wackenroder/ Ludwig Tieck:
Herzensergießungen eines kunstliebenden
Klosterbruders (1796/97) Rollenrede eines
frommen Mönchs als „Kunstandacht“,
Kunstenthusiasmus als Bruch mit der Kunstkritik
der Aufklärung
August Wilhelm und Caroline Schlegel: Die
Gemälde (1799) Ästhetisierung des Katholizismus,
Gedichte zum Ausdruck der Bildwirkung
(„Verwandlung von Gemälden in Gedichte“)
Ablösung der Religion von der Konfession
Friedrich Schleiermacher: Über die Religion.
Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern
(1799), psychologisches Verständnis der Religion
als „Sinn fürs Unendliche“
Bibel als Muster für die Relevanz der eigenen
Schriftstellerei (Gemeinschaftsstiftung durch
geistige Perspektiven, Novalis: „Mittlertum
überhaupt“: jede literarische Figur potenziell in
der Jesus-Rolle) Projekte von Friedrich Schlegel,
Novalis, Inspiration durch Gotthold Ephraim
Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts
(1780) Interpretation des AT und des NT als
überwundene historische Gestalten der Religion,
Perspektive auf ein „Neues Evangelium“
Europäischer Kanon; Nationalisierung
Im Zuge der Romantik zwei sachlich
zusammenhängende, potenziell gegenläufige
Tendenzen: a) Etablierung eines kulturhistorischen
europäischen Kanons, Beginn der historisch
vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft
b) Nationalisierung, Stiftung eines deutschen
kulturellen Selbstbewusstseins
a) Bildung eines europäischen Literaturkanons
August Wilhelm Schlegel, Über dramatische Kunst
und Litteratur (1808/ 1809-11)
Friedrich Schlegel, Geschichte der alten und neuen
Litteratur (1812/ 1815)
Beginn der modernen, um historisches Verstehen
bemühten Literaturwissenschaft und
Literaturgeschichtsschreibung, „der vollständigste
Begriff der Literatur ist ihre Geschichte“
„alt“ = antik = klassisch
„neu“ = seit dem Mittelalter bis heute = modern =
romantisch: geprägt von der christlichen
Spiritualität, die im Gegensatz zur Antike das
sinnlich erfahrbare Natürliche übersteigt
(Subjektivität, Innerlichkeit, Fantasie statt
Objektivität, Äußerlichkeit, Naturnachahmung)
Als literaturhistorischer Begriff bedeutet
„romantisch“ hier: die christlich geprägte Literatur
des Mittelalters und deren Folgen bis zur
Gegenwart; Kanonbildung:
Dante Alighieri, La divina commedia (Die göttliche
Komödie, 1307-1321)
Francesco Petrarca, Canzoniere (Liederbuch,
Liebesgedichte, 1336-1369)
Giovanni Boccaccio, Il Decamerone
(Zehntagewerk, Novellensammlung, 1349-1353)
Miguel de Cervantes Saavedra, Don Quixote
(1605/1615)
Pedro Calderón de la Barca, christlich-barocker
Theaterdichter, 1600-1681
William Shakespeare (1564-1616)
b) Nationalisierung, Stiftung eines deutschen
kulturellen Selbstbewusstseins
Mangeldiagnose der deutschen kulturellen
Rückständigkeit im Vergleich zu Frankreich,
England, Italien, Spanien, kein Nationalstaat, kein
kulturelles Zentrum, keine Vorstellung von
Nationalkultur, Dominanz der französischen Hofund Wissenschaftskultur in der Oberschicht, in der
Literatur Übernahme v.a. englischer und
französischer Muster
Goethe, Literarischer Sansculottismus, 1795
Suche nach und programmatische Verkündigung
einer deutsch-nationalen Identität
- neues Interesse an der deutschen Literatur,
Kunst und Architektur des Mittelalters (s.o.:
Romantik als Renaissance des Mittelalters),
Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ehrengedächtnis
unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers, in:
Herzensergießungen… s.o. Kunstreligion;
Stichworte zum deutschen Nationalcharakter:
„ernsthaft, gerade, kräftig, treu“
- Verschärfung zur antifranzösischen Propaganda
im Kontext der Befreiungskriege gegen Napoleon,
Nationalismus im Spannungsfeld von
antifeudalem Republikanismus und
antifranzösischen, deutschem Chauvinismus,
politische Lyrik (Ernst Moritz Arndt, Theodor
Körner, Friedrich Rückert)
Bsp. Ernst Moritz Arndt, Vaterlandslied, 1812
Fr. Rückert, Grammatische Deutschheit, 1819
- Gründung der Germanistik als Institution der
nationalkulturellen Identitätsstiftung, nach dem
Scheitern der republikanischen Staatsbildung
Kompensationkonzept der „Kulturnation“ (Jacob
Grimm, Vorwort zum Deutschen Wörterbuch,
1854)
Verhältnis Aufklärung – Klassik – Romantik
Als Epochenbegriffe liegen die drei auf zwei
verschiedenen Betrachtungsebenen:
Aufklärung und Romantik: europäische Ebene
Klassik: nationalkulturelle Ebene
Klassik als Epochenbegriff: die Zeit, in der die für
die nationale Literatur musterbildenden Werke
entstehen (klassisch = musterhaft)
In Deutschland: die Gleichzeitigkeit von
fortdauernder Aufklärung (Spätaufklärung) und
einsetzender Romantik in den Jahrzehnten um
1800 ist die für die deutsche Literatur
musterbildende, d.h. klassische Epoche
Die deutsche Klassik ist die Verbindung von
Aufklärung und Romantik
Klassizismus als Stilbegriff: die Orientierung an
einer normativ abstrahierten Antike (klassizistisch
= antikisierenden Normen folgend)
Deutsche Klassik hat einzelne klassizistische
Spuren, die aber nicht insgesamt stilprägend
werden; im europäischen Vergleich erscheint sie
hauptsächlich durch das Romantische
charakterisiert
Goethe, Faust I (1790, 1808) romantisch:
Legendenstoff aus dem Spätmittelalter („in einem
hochgewölbten, engen gotischen Zimmer“),
populäre christliche Aberglaubensmotive, neu
verwendet zum Ausdruck moderner Psychologie,
Knittelvers
„Gretchentragödie“: Elemente des bürgerlichen
Trauerspiels der Aufklärung
Faust II (1832): polarisierende Gegenüberstellung
von Romantik und Klassizismus
„Walpurgisnacht“ – „klassische Walpurgisnacht“
Faust als mittelalterlicher Ritter – Helena als
antike Mythengestalt, 3. Akt „Klassischromantische Phantasmagorie“, 1828)
Klassizistische Formen:
Tragödie (5 Akte, wenige Figuren, tendenziell
Orts-, Handlungs-, Zeiteinheit)
Elegie, Epigramm (Gedicht in Distichen = Verspaar
aus Hexameter und Pentameter)
Verserzählung, Epos
Hymne, Ode
Prinzip der Stilreinheit
Romantische Formen:
Sonett, Stanzen, u.a. (Strophenformen aus der
mittelalterlichen und frühneuzeitlichen
romanischen Dichtung)
Volksliedstrophe
Shakespeare-Drama
Prosaroman
Märchen
Prinzip der Stilmischung
Epochenbegriffe als Intentionen:
Aufklärung: Einsicht und Klarheit schaffen
Klassik: Muster bilden
Romantik: Infinitisierung (Aufhebung klarer
Konturen, Überstieg der Wahrnehmung durch
Phantasie, Anstoß eines unendlichen
Reflexionsprozesses)
Die deutsche Literatur in den Jahrzehnten um
1800 ist ein Spannungsgefüge der drei
Intentionen, häufig verbunden, seltener
entgegengesetzt
Entgegensetzung: Lagerbildung der Berliner
Spätaufklärer (Friedrich Nicolai) gegen die Jenaer
Frühromantik – vorkantische Popularphilosophie
gegen die literarische Kant-Rezeption; Polemik der
Jenaer Frühromantiker gegen Wieland als
popularphilosophischen
Unterhaltungsschriftsteller – Frühromantik
dadurch keine Gegenaufklärung; richtiger:
Gegensatz zwischen publizistischem Establishment
und akademischer Avantgardebewegung;
Spott über ein borniertes Kunst- und
Theaterverständnis der Aufklärung in Tiecks
Gestiefeltem Kater
Verbindungen:
Goethe, Iphigenie auf Tauris (1786): formal eine
klassizistische Tragödie, ethische Botschaft der
Aufklärungsphilosophie, Infinitisierung der alten
zu einer neuen mythischen Figur friedfertig
erlösender Weiblichkeit
Frühromantische Fragmente: Fortsetzung, auch
Radikalisierung, manchmal Ironisierung des
kritischen Diskurses der Aufklärung
Friedrich Hölderlin: Sonnenuntergang (zw. 179698) klassizistische Form (Odenstrophe) und
Motivik (Sonnengott Apoll), romantische
Seelenlandschaft (vgl. Eichendorff, Mondnacht)
Grenzfall Heinrich Heine
Heinrich Heine (1797-1856): der erste
Historiograph der Romantik, kritischer Rückblick
auf eine vergangene Epoche; als Dichter
ambivalent zwischen Fortsetzung und Ironisierung
der Romantik; doppelte Wirkung: als Kritiker der
Romantik prägt er das negative Romantikbild der
linken, insbesondere der marxistischen Milieus;
mit einigen Gedichten prägt er zugleich das
populäre Klischeebild von Romantik
Historiograph der Romantik: Die Romantische
Schule (1835), kritische Entgegnung auf das
positive Romantik-Bild in Germaine de Staël, De
l’Allemagne (Über Deutschland, 1813); kritischer
Rückblick auf die „Goethesche Kunstperiode“ als
beharrlich aristokratisch, auf die Romantiker als
reaktionäre christliche Frömmler, deren
weltanschaulich-politische Rückwärtsgewandtheit
Heine dem demokratisch-progressiven Frankreich
kontrastiert; polemische Porträts der wichtigsten
Autoren und Werke; Manifest des „Jungen
Deutschland“ als Bruch mit der Romantik
Ironisch-romantischer Dichter:
Die Harzreise (1826) romantische Stimmungslyrik
in Kontrast zu ironischer Prosa; Evokation und
Zerstörung des sagen- und märchenhaft
Wunderbaren
Buch der Lieder (1827) eine der populärsten LyrikSammlungen, Volksliedstrophen, Muster
romantischer Subjektivität, mitunter
selbstironisch; Heimkehr II: „Ich wie nicht, was soll
es bedeuten…“: populäres Romantik-Klischee
Neue Gedichte (1844), Seraphine X, „Ein Fräulein
stand am Meer“, Verspottung der romantischen
Seelenlandschaft
Neoromantik, Modell Romantik
Vom Epochenbegriff ‚Romantik‘ leiten sich weitere
Begriffsverwendungen ab, die die Rezeption- und
Wirkung dieser Epoche bezeichnen:
Neoromantik/ Neuromantik: die
Wiederaufnahme der Themen, Motive und
Perspektiven der Romantik in der Literatur zur Zeit
der Jahrhundertwende 1900; Gegenwendung
gegen die technische Moderne, künstlerisch gegen
den Naturalismus; eingebunden in eine Vielzahl
programmatischer Bewegungen (Symbolismus,
Décadence, Ästhetizismus); Phänomen vor allem
der Lyrik (Stefan George, Hugo von Hofmannsthal:
Weltgeheimnis 1894, Rainer Maria Rilke,
Herbsttag 1906).
Positive Gesamtdarstellung der Epoche Romantik:
Ricarda Huch: Die Romantik 1899-1908
Wiederkehrende neuromantische Strömungen im
Verlauf des 20. Jh.s; Wiederaufnahme,
Fortsetzung, zugleich Auseinandersetzung mit der
Romantik (Peter Rühmkorf, Hochseil 1975)
In der erzählenden Literatur: Botho Strauß, Der
junge Mann 1984 (Anknüpfungen an das
märchenhaft Fantastische der romantischen
Erzählliteratur; Kunstreligion, emphatischer
Kunstbegriff gegen den modernen Kunstbetrieb
und seine Professionalität; Reflexion auf Romantik
als nationalkulturell-deutsche Identität; Balance
aus deren Erneuerungssehnsucht und
Verspottung; Spott über die Öko-Bewegung als
Neuromantik)
Modell Romantik
‚Romantik‘ als systematischer Begriff; Definition
als eine bestimmte Weltanschauung – oder
Darstellungs- und Redeweise in Literatur, den
anderen Künsten, aber auch im Alltag
Ideengeschichtlich: Streit um die „politische
Romantik“ (Begriffsprägung durch Carl Schmitt,
1919): These, dass die Epoche der Romantik eine
„gefühlsmäßig-ästhetizistische“ Einstellung zu
nationalpolitischen Fragen und damit einen
gefährlichen politischen Irrationalismus etabliert
habe; während und nach dem Nationalsozialismus
als These weiterverfolgt, dass die völkische
Ideologie der Nationalsozialisten in der Epoche
der Romantik wurzele (bis heute popularisiert:
Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre
2007)
Neuere Forschungsansätze: Romantik als Redeund Darstellungsweise, die trotz des Wissens um
die Zufälligkeiten, unaufhebbaren Differenzen,
Verständigungsgrenzen und Partikularismen eine
Gesamtsinn stiftenden Einheitsperspektive sucht –
reflektierte, mitunter selbstironisch bewusste
Aufrechterhaltung einer fantasiegestützten
Gesamtsinnperspektive trotz der modernen
Sachlichkeit, Differenz- und
Kontingenzserfahrungen