Die Jenaer Frühromantik Eine kleine Gruppe von jungen Akademikern, die sich zwischen 1796 und 1801/02 um die Brüder August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel und deren Frauen Caroline und Dorothea bildet. August Wilhelm Schlegel (Literaturkritiker, Literaturhistoriker, Übersetzer) Friedrich Schlegel (Altphilologe, Literaturkritiker, Schriftsteller) Caroline Schlegel, später Schelling Dorothea Veit, später Schlegel Friedrich von Hardenberg, Autorname: Novalis (Bergbauingenieur, Schriftsteller) Friedrich Schleiermacher (Theologe) Johann Gottlieb Fichte (Philosoph) Friedrich Wilhelm Schelling (Philosoph) Ludwig Tieck (Schriftsteller) Gemeinsame Zeitschrift: Athenaeum 1798-1800 Revolutionierung der Literaturtheorie und der Art, über Literatur und Philosophie mit professionellem Anspruch zu publizieren - Primat des je einzelnen Kunstwerks und seiner individuellen Beschaffenheit vor allen Gattungsregeln: Literaturtheorie aus der Sicht des Lesers und Kritikers - Roman als Universalform in entwicklungsoffener, alles Textsorten integrierender Perspektive: „progressive Universalpoesie“ - Verschmelzung von künstlerisch-literarischem (= ästhetischem) und philosopisch-wissenschaftlichem (= begrifflichem) Anspruch: Einführung des geselligen Konversationstons in die Schriftsprache theoretischer Abhandlungen (neue Gattung des frühromantischen „Fragments“) romantisch ist das programmatische Sammelwort dieser inhaltlichen wie stilistischen Revolutionierung der Literaturtheorie/ des Publizierens über Literatur, Intellektualisierung einer zuvor anti-intellektuellen Stimmungsvokabel frühromantische Konzepte: - Romantische Ironie: die Selbstrelativierung jeder Aussage als Hinweis, dass jede bestimmte Formulierung eine unzureichende Festlegung ist, die das eigentlich Gemeinte verfehlt - Neue Mythologie: die Vorstellung, dass die moderne Literatur trotz der pluralistischen Individualismen gemeinschaftsstiftende Werke hervorbringt, die eine kollektiv gültige Weltanschauung artikulieren (wie man es von der antiken Literatur in ihrer Anbindung an die Mythologie denkt) (Idee; Verwirklichungsversuche bei Novalis, Friedrich Hölderlin) - Romantische Liebe: Auszeichnung einer einzigen Liebesbeziehung als wechselseitige vollständige und definitive Erfüllung aller Lebenswünsche (Friedrich Schlegel, Lucinde, 1799; Novalis) „Hochromantik“ oder Mittlere Romantik 1) Zentrum Heidelberg „Wiederentdeckung“ (auch Konstruktion) der volkstümlichen „altdeutschen“ Dichtung zur kulturellen Nationalbildung der Deutschen (gelegentlich anti-französisch) Volkslieder: Clemens Brentano/ Achim von Arnim: Des Knaben Wunderhorn (1805-1808) Sagen: Joseph Görres: Teutsche Volksbücher 1806-1808 Märchen: Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen 1812 Konflikt um die „Reinheit der Volkspoesie“: A: Idee/ Ideologie der reinen Natur- oder Volkspoesie als Gegensatz zur Kunstpoesie (Jacob Grimm) B: eigene künstlerische Konstruktion des Volkstümlichen (Clemens Brentano; große Teile der romantischen Dichtung, auch Wilhelm Grimms Märchenstil; Goethes und Schillers Balladen) Punktuelle Konfliktstellung Romantik- Klassizismus A: Arnim, Brentano, Görres: Zeitung für Einsiedler 1808 B: Johann Heinrich Voss (Homerübersetzer) als programmatischer Klassizist Goethe wird von beiden in Anspruch genommen 2) Zentrum Berlin Moderne Prosaerzählungen, die das Wunderbare der volkstümlichen Märchen, Legenden und Sagen zur Darstellung der menschlichen Psychologie und ihrer unerklärten Phänomene verwenden Erzählungen/ Kunstmärchen Ludwig Tieck, Volksmährchen, 1797 Friedrich de la Motte Fouqué, Undine, 1811 E.T.A. Hoffmann, Fantasiestücke, 1814 Nachtstücke, 1816/17 Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte, 1814 Heinrich von Kleist, Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik, 1810 Volksmärchen: Prosaerzählung mittlerer Länge, ohne nachweisbare individuelle Autorschaft und mit traditionellen, konventionellen Motiven des Wunderbaren, die in der Märchenwelt als selbstverständlich gelten Kunstmärchen: Prosaerzählung mittlerer Länge, nachweisbare individuelle Autorschaft, mit sowohl traditionellen, konventionellen als auch originellen Motiven des Wunderbaren, die in der Märchenwelt zumeist nicht als selbstverständlich gelten, sondern in ihrem Status ambivalent bleiben (statt als tatsächliches Wunderbares auch als Einbildung, Wahnvorstellung gelten können); auf der Gattungsgrenze zwischen Märchen und realistischer Novelle Einschränkung 1: neben Prosa- gibt es Märchen auch als Verserzählungen und Theaterstücke Einschränkung 2: der Begriff Volksmärchen ist dadurch problematisch, dass ein konkreter Volksmärchentext immer nur als Aufzeichnung eines individuellen Erzählers/ Schriftstellers vorliegt Programmatische, politisch antifranzösische Publizistik der Hochromantik: Heinrich von Kleist, Adam Müller: Phöbus 1808 Berliner Abendblätter 1810/11 Friedrich Schlegel: Europa 1803-05 Deutsches Museum 1812/13 Spätromantik - Zentrum Wien, politischer Ort der feudalen, katholischen Restauration nach Napoleons Niederlage (Wiener Kongress 1814/15) „katholische Romantik“ Friedrich Schlegel: Concordia 1820-23 - Zentrum München Joseph Görres, Friedrich Wilhelm Schelling Deutungsmuster für den Verlauf der Romantik: „von revolutionärer Öffnung zu restaurativer Schließung“ Hat in der Rezeptionsgeschichte das Bild der Romantik bis zur Wiederentdeckung der progressiven Impulse der frühen und mittleren Romantik in der 2. Hälfte des 20. Jh. einseitig geprägt (Einfluss Heinrich Heines) Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts 1826 Das Marmorbild 1818 Kunstvolkslied Wilhelm Müller Die Winterreise Die schöne Müllerin (1821/24, vertont von Franz Schubert) musikalische Gattung Kunstlied, populärste Form der Romantik in weiter Spannweite von Populärund Hochkultur „Der Lindenbaum“: „Am Brunnen vor dem Tore…“ „Wanderschaft“: „Das Wandern ist des Müllers Lust…“ Eichendorff: „Der frohe Wandersmann“: „Wem mmnmnm Gott will rechte Gunst erweisen…“ Roman als Leitgattung der Romantik Die Frühromantiker entdecken und wählen den in der traditionellen Regelpoetik als nicht theoriefähig, d.h. als künstlerisch anspruchslos geltenden Roman als Leitgattung ihrer literarischen Projekte (Friedrich Schlegel: „Ein Roman ist ein romantisches Buch“, Brief über den Roman, 1800). Die zuvor als minderwertig angesehene Formlosigkeit des Porsaromans wird positiv als Universalismus, d.h. als potenzielle Aufnahme aller literarischen Formen umgedeutet. Die Frühromantiker vollziehen damit als erste explizit und auf der Theorieebene nach, was sich in der literarischen Praxis über das 18. Jh. entwickelt hatte: Der Prosaroman war zur dynamischsten Gattung geworden und hatte die traditionelle Formen des klassizistischen Kanons (Versepos) verdrängt. Das hing mit der allgemeinen Popularisierung der Lesekultur zusammen. Die frühromantische Romantheorie und –praxis ist der Versuch, den Roman als anpruchsvollste literarische Kunstform zu etablieren und in diesem Anspruch von der Masse der Unterhaltungsromane (Bsp. August Lafontaine) abzugrenzen. Eigene Kanonbildung der Romanliteratur: Cervantes: Don Quixote 1605/15 (Ü Tieck 17991801, nach Bertuch 1775) Denis Diderot: Jacques le fataliste et son maître 1773-75 Laurence Sterne: Tristram Shandy 1759-67 (statt des zuvor beliebten A sentimental Journey) Jean-Jacques Rousseau: Les confessions 1782-88 (statt der zuvor beliebten Nouvelle Héloïse) Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre 1795/96 Eigene Romanproduktion der Romantiker: Ludwig Tieck: Geschichte des Herrn William Lovell 1795/96 (Nähe zum populären Schauerromen und empfindsamen Briefroman) Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte 1798 (Künstlerroman) Friedrich Hölderin: Hyperion , oder der Eremit aus Griechenland 1797/99 (philosophischer Briefroman) Friedrich Schlegel: Lucinde 1799 (Darstellung der romantischen Liebe, Friedrich Schleiermacher Vertraute Briefe über die Lucinde 1800) Dorothea Schlegel: Florentin 1801 (hg. von Friedrich Schlegel, Künstlerroman, Abenteuer/ Wanderschaft) Clemens Brentano: Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria 1801 (ironisches Spiel mit der Romanform) Friedrich von Hardenberg, Novalis: Heinrich von Ofterdingen Fragm. 1802 (Künstlerroman, „Korrektur“ des Wilhelm Meister) Die Lehrlinge zu Sais Fragm. 1802 (philosophischer Initiationsroman) Ernst August Klingemann: Nachtwachen von Bonaventura 1804 (Nähe zum Schauerroman, nihilistische Satire) E. T. A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus eines Kapuziners 1815/16 (Nähe zum Schauerroman) Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulatublättern 1819/21 (ironisierter Entwicklungs- Bildungsroman als Gesellschaftssatire, ironisierter Künstlerroman) Prosa-Erzählungen Sammelbegriff für ‚kürzere‘ Erzähltexte, Abgrenzung gegenüber dem Roman Spezifische Formen: Novelle (Neuigkeit, Goethe: „eine unerhörte Begebenheit“, Tieck: „Wendepunkt“, Handlungsstruktur einem Drama ähnlich, angesiedelt in einer realistischen, gegenwärtigen oder historisch und räumlich klar zugeordneten Welt) Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas 1810 Das Erdbeben in Chili 1810 Kunstmärchen (von einem individuellen Autor verfasste Erzählung, die von traditionellen Motiven des Wunderbaren bestimmt ist) Ludwig Tieck: Volksmährchen 1797 (Der blonde Eckbert, Ritter Blaubart; aber auch das MärchenTheaterstück Der gestiefelte Kater) Friedrich de la Motte Fouqué: Undine 1811 „ Zauberoper“ Musik E.T.A. Hoffmann, Bühnenbild Karl Friedrich Schinkel, UA Berlin 1816 Der Aberglauben an „Elementargeister“ (hier: Wassergeist) dient zur Artikulation der aus männlicher Sicht unverständlichen, faszinierendbefremdenden weiblichen Psyche Johann Wolfgang Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten 1795 verbindet einen Novellenzyklus mit einem abschließenden Märchen; (Vorbild der Novellensammlung mir Rahmenhandlung: Giovanni Boccaccio: Il Decamerone, 1349-1353; übernommen von Tieck, seine Volksmährchen gehen in die Rahmenerzählung Phantasus, 1812-16 ein) Kennzeichnend für die Romantik: Vermischung von novellistischem und märchenhaften Erzählen; Kontrast von Realismus und Wunderbaren, Wunderbares als Ausdruck psychischer Phänomene, ästhetischer und zugleich intellektueller Reiz des Wunderbaren Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte 1814 (Verlust des eigenen Schattens als Allegorie des Realitätsverlusts eines jungen Mannes) E.T.A. Hoffmann: Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (in: Fantasiestücke, 1814) Spannung zwischen fantasielosen Realisten und den Fantasiebegabten Der Sandmann (in: Nachtstücke 1816), das Märchenhafte als eine durch ein Kindheitstrauma bedingte psychopathologische Projektion deutbar Lyrik Insofern „Romantik“ populär als Stimmungsqualität verstanden wird, gibt die Lyrik als prägnanteste Stimmungs-Dichtung das populärste Klischee romantischer Literatur: Kunstvolkslied (s.o.) kunstvolle Simulation volkstümlicher Einfachheit Joseph von Eichendorff Mondnacht 1837, vertont von Robert Schumann 1840, Darstellung der Transzendenz und Unsterblichkeit der Seele in einer synkretistischen Verbindung mythischer, christlicher und natürlicher Anschauung Der Einsiedler 1837, vertont von Robert Schumann 1850, Übertragung des Gotteslobs, des Kirchenlied- und Gebetscharakters auf die personifizierte stimmungsvolle Natur; implizite, von jeder bestimmten konfessionellen Gottesvorstellung abstrahierte Religiosität; Umarbeitung des expliziten Gotteslob-Lieds aus Grimmelshausens Simplizissimus (1669) Balladen Clemens Brentano, „Zu Bacharach am Rheine…“, Erfindung einer Lore Lay-Sage zum Rhein-Felsen Loreley (im Roman Godwi) Johann Wolfgang Goethe, Erlkönig (1782/1800) populärer Aberglauben (‚Elementargeist‘) im Kontrast zu rationaler Erklärung, wie in den Erzählungen (s.o.) artikuliert das Wunderbare psychopatholgische Phänomene Eingliederung von Gedichten in Prosaerzählungen und –romane zur Verdichtung des Stimmungsausdrucks oder Kommentierung, Vorausdeutung oder Zusammenfassung der Handlung Johann Wolfgang Goethe, „Kennst du das Land? wo die Zitronen blühn“ (in: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795/96; selbständig Mignon, 1815) (kaum ein Roman, eine Erzählung der Romantik ohne Einschub von Gedichten) Neben diesen populären Formen auch Wiederaufnahme älterer, formal kunstvoller Formen aus dem spätmittelalterlichen/ frühneuzeitlichen Dichtungen der romanischen Sprachen: Sonett, Stanzen … (August Wilhelm und Friedrich Schlegel) und eine innovative Vermischung von Prosa- und Versformen, Novalis, Hymnen an die Nacht 1800 Drama Frühromantische Komödie Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater. Ein Kindermärchen in drei Akten (1797) Die verkehrte Welt. Ein historisches Schauspiel in fünf Aufzügen (1798/99) Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack (1799) Theater- und Aufklärungssatiren, Selbstreflexion des Theaters als Kunst und Kunstbetrieb (Inszenierung des Publikums, der Bühnentechnik, des Personals), Parabase (=Aus-der-Rolle-Fallen), Spiel im Spiel und Mischung der Theaterformen als zentrale Stilmittel (Märchenspiel, bürgerlichempfindsames Drama, mythologisches Drama, Schäferspiel, commedia dell’arte …) Geschichtsdrama (Geschichts- und zugleich Legendenbezug) Ludwig Tieck: Leben und Tod der heiligen Genoveva (1799) Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie (1801) Populärer Legendenstoff (französische ‚Nationalheilige‘, seit 1920), mittelalterliche Ritterwelt, Religiosität im Spannungsfeld von Glauben und Aberglauben, Distanz zur Religion durch Psychologisierung – zugleich theatrale Wiederbelebung kollektiver (Aber-)Glaubensmomente: Gottesurteil, Wunder, Verklärung, lyrische Retardierungen der Handlung in metrisch vielfältigen Monologen Die erste literarisch-künstlerisch angemessene Shakespeare-Übersetzung durch August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck; Etablierung antiklassizistischer Theaterformen Romantik als Renaissance des Mittelalters neues Interesse am Mittelalter als einem ästhetischen und weltanschaulichen Ideal, Projektionsfläche eigener, aktueller Sehnsüchte: Gesellschaft als homogene, paternalistisch regierte Glaubensgemeinschaft (vorreformatorisch), spirituelle Überhöhung der realen Lebenswelt, Einfachheit, Klarheit und Konstanz der Rollen und Strukturen, Naturnähe funktionale Kontrastanalogie zum Antike-Bild des Klassizismus Novalis, Die Christenheit oder Europa 1799 Imaginäres Mittelalter als Schauplatz vieler Romane und Erzählungen, Freiraum der Imagination (Novalis, Heinrich von Ofterdingen: „eine tiefsinnige und romantische Zeit […], die unter schlichtem Kleide eine höhere Gestalt verbirgt. Wer wandelt nicht gern im Zwielichte, wenn die Nacht am Lichte und das Licht an der Nacht in höheren Schatten und Formen zerbricht.“ I, Kap. 2) Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen Neubewertung der Gotik als Ausdruck der menschlichen Spiritualität und Erhabenheit (Straßburger Münster; zuvor Goethe, Von deutscher Baukunst, 1772, Geniekult, falsche nationale Vereinnahmung der Gotik) Sulpiz Boisserée, Ansichten, Risse und einzelne Theile des Domes von Köln, 1821 – Anstoß zur Fertigstellung des unvollendeten Kölner Doms (1880 – antifranzösisches Manifest) Beginn der Mittelalterphilologie, Gründung der Germanistik, „deutsche Mythologie“ Ludwig Tieck, Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter, 1803 Nibelungenlied: Ausg. 1782 stößt auf kein Interesse (Fr. d. Gr. „keinen Schuß Pulver werth“), Ausg. 1807 von der Hagen, 1826 wissenschaftlichtextkritische Ausgabe von Karl Lachmann dramatisiert: Friedrich de la Motte Fouqué, Der Held des Nordens, 1808-1810, Aufrichtung einer nordischen gegen die antike griechische Mythologie, Siegfried/Sigurd als germanischer Achill (Fouqué-Rezension von Jean Paul) Hildebrandslied: Ausg. 1729 in unbeachteter Sammelpublikation, wissenschaftlich-textkritische Ausg. 1812 durch Jacob und Wilhelm Grimm Germaine de Staël, De l’Allemagne (Über Deutschland) 1813 Teil I, Kap. I: Vom Erscheinungsbild Deutschlands „Die gotischen Baudenkmäler sind die einzig bemerkenswerten in Deutschland. Sie rufen die Jahrhunderte des Rittertums wach. In fast allen Städten bewahren die öffentlichen Museen Reste aus dieser Zeit. Es ist so, als hätten die Bewohner des Nordens, die Bezwinger der Welt, bei ihrem Auszug aus Germanien verschiedenste Erinnerungsstücke dagelassen, wodurch das ganze Land wie der seit langem verlassene Aufenthaltsort eines großen Volkes wirkt. In den meisten Zeughäusern der deutschen Städte gibt es Ritterfiguren aus bemaltem Holz, die Rüstung tragen; Helm, Schild, Beinschienen, Sporen: alles nach alter Sitte, und man geht unter diesen aufrechten Toten umher, deren erhobene Arme immer bereit scheinen, ihre Gegner zu schlagen, die ihrerseits ihre Lanzen bereit halten. Dieses starre Bild einer ehemals lebhaften Geste bedrückt. […] Die moderne Architektur in Deutschland bietet nichts, was der Erwähnung wert wäre.“ Kunstreligion Übertragung der religiösen Haltung (Andacht, Verehrung) auf die Situation der Kunstbetrachtung Sakralisierung der Kunst – Profanierung des Religiösen Entstehung aus der Verehrung der christlichen (Renaissance-)Malerei (Raffael, Michelangelo, Dürer), Übertragung vom besonderen Inhalt der Kunstwerke (Maria) auf die Kunst als solche, Künstler als göttliches Medium Wilhelm Heinrich Wackenroder/ Ludwig Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796/97) Rollenrede eines frommen Mönchs als „Kunstandacht“, Kunstenthusiasmus als Bruch mit der Kunstkritik der Aufklärung August Wilhelm und Caroline Schlegel: Die Gemälde (1799) Ästhetisierung des Katholizismus, Gedichte zum Ausdruck der Bildwirkung („Verwandlung von Gemälden in Gedichte“) Ablösung der Religion von der Konfession Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), psychologisches Verständnis der Religion als „Sinn fürs Unendliche“ Bibel als Muster für die Relevanz der eigenen Schriftstellerei (Gemeinschaftsstiftung durch geistige Perspektiven, Novalis: „Mittlertum überhaupt“: jede literarische Figur potenziell in der Jesus-Rolle) Projekte von Friedrich Schlegel, Novalis, Inspiration durch Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) Interpretation des AT und des NT als überwundene historische Gestalten der Religion, Perspektive auf ein „Neues Evangelium“ Europäischer Kanon; Nationalisierung Im Zuge der Romantik zwei sachlich zusammenhängende, potenziell gegenläufige Tendenzen: a) Etablierung eines kulturhistorischen europäischen Kanons, Beginn der historisch vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft b) Nationalisierung, Stiftung eines deutschen kulturellen Selbstbewusstseins a) Bildung eines europäischen Literaturkanons August Wilhelm Schlegel, Über dramatische Kunst und Litteratur (1808/ 1809-11) Friedrich Schlegel, Geschichte der alten und neuen Litteratur (1812/ 1815) Beginn der modernen, um historisches Verstehen bemühten Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung, „der vollständigste Begriff der Literatur ist ihre Geschichte“ „alt“ = antik = klassisch „neu“ = seit dem Mittelalter bis heute = modern = romantisch: geprägt von der christlichen Spiritualität, die im Gegensatz zur Antike das sinnlich erfahrbare Natürliche übersteigt (Subjektivität, Innerlichkeit, Fantasie statt Objektivität, Äußerlichkeit, Naturnachahmung) Als literaturhistorischer Begriff bedeutet „romantisch“ hier: die christlich geprägte Literatur des Mittelalters und deren Folgen bis zur Gegenwart; Kanonbildung: Dante Alighieri, La divina commedia (Die göttliche Komödie, 1307-1321) Francesco Petrarca, Canzoniere (Liederbuch, Liebesgedichte, 1336-1369) Giovanni Boccaccio, Il Decamerone (Zehntagewerk, Novellensammlung, 1349-1353) Miguel de Cervantes Saavedra, Don Quixote (1605/1615) Pedro Calderón de la Barca, christlich-barocker Theaterdichter, 1600-1681 William Shakespeare (1564-1616) b) Nationalisierung, Stiftung eines deutschen kulturellen Selbstbewusstseins Mangeldiagnose der deutschen kulturellen Rückständigkeit im Vergleich zu Frankreich, England, Italien, Spanien, kein Nationalstaat, kein kulturelles Zentrum, keine Vorstellung von Nationalkultur, Dominanz der französischen Hofund Wissenschaftskultur in der Oberschicht, in der Literatur Übernahme v.a. englischer und französischer Muster Goethe, Literarischer Sansculottismus, 1795 Suche nach und programmatische Verkündigung einer deutsch-nationalen Identität - neues Interesse an der deutschen Literatur, Kunst und Architektur des Mittelalters (s.o.: Romantik als Renaissance des Mittelalters), Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ehrengedächtnis unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers, in: Herzensergießungen… s.o. Kunstreligion; Stichworte zum deutschen Nationalcharakter: „ernsthaft, gerade, kräftig, treu“ - Verschärfung zur antifranzösischen Propaganda im Kontext der Befreiungskriege gegen Napoleon, Nationalismus im Spannungsfeld von antifeudalem Republikanismus und antifranzösischen, deutschem Chauvinismus, politische Lyrik (Ernst Moritz Arndt, Theodor Körner, Friedrich Rückert) Bsp. Ernst Moritz Arndt, Vaterlandslied, 1812 Fr. Rückert, Grammatische Deutschheit, 1819 - Gründung der Germanistik als Institution der nationalkulturellen Identitätsstiftung, nach dem Scheitern der republikanischen Staatsbildung Kompensationkonzept der „Kulturnation“ (Jacob Grimm, Vorwort zum Deutschen Wörterbuch, 1854) Verhältnis Aufklärung – Klassik – Romantik Als Epochenbegriffe liegen die drei auf zwei verschiedenen Betrachtungsebenen: Aufklärung und Romantik: europäische Ebene Klassik: nationalkulturelle Ebene Klassik als Epochenbegriff: die Zeit, in der die für die nationale Literatur musterbildenden Werke entstehen (klassisch = musterhaft) In Deutschland: die Gleichzeitigkeit von fortdauernder Aufklärung (Spätaufklärung) und einsetzender Romantik in den Jahrzehnten um 1800 ist die für die deutsche Literatur musterbildende, d.h. klassische Epoche Die deutsche Klassik ist die Verbindung von Aufklärung und Romantik Klassizismus als Stilbegriff: die Orientierung an einer normativ abstrahierten Antike (klassizistisch = antikisierenden Normen folgend) Deutsche Klassik hat einzelne klassizistische Spuren, die aber nicht insgesamt stilprägend werden; im europäischen Vergleich erscheint sie hauptsächlich durch das Romantische charakterisiert Goethe, Faust I (1790, 1808) romantisch: Legendenstoff aus dem Spätmittelalter („in einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer“), populäre christliche Aberglaubensmotive, neu verwendet zum Ausdruck moderner Psychologie, Knittelvers „Gretchentragödie“: Elemente des bürgerlichen Trauerspiels der Aufklärung Faust II (1832): polarisierende Gegenüberstellung von Romantik und Klassizismus „Walpurgisnacht“ – „klassische Walpurgisnacht“ Faust als mittelalterlicher Ritter – Helena als antike Mythengestalt, 3. Akt „Klassischromantische Phantasmagorie“, 1828) Klassizistische Formen: Tragödie (5 Akte, wenige Figuren, tendenziell Orts-, Handlungs-, Zeiteinheit) Elegie, Epigramm (Gedicht in Distichen = Verspaar aus Hexameter und Pentameter) Verserzählung, Epos Hymne, Ode Prinzip der Stilreinheit Romantische Formen: Sonett, Stanzen, u.a. (Strophenformen aus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen romanischen Dichtung) Volksliedstrophe Shakespeare-Drama Prosaroman Märchen Prinzip der Stilmischung Epochenbegriffe als Intentionen: Aufklärung: Einsicht und Klarheit schaffen Klassik: Muster bilden Romantik: Infinitisierung (Aufhebung klarer Konturen, Überstieg der Wahrnehmung durch Phantasie, Anstoß eines unendlichen Reflexionsprozesses) Die deutsche Literatur in den Jahrzehnten um 1800 ist ein Spannungsgefüge der drei Intentionen, häufig verbunden, seltener entgegengesetzt Entgegensetzung: Lagerbildung der Berliner Spätaufklärer (Friedrich Nicolai) gegen die Jenaer Frühromantik – vorkantische Popularphilosophie gegen die literarische Kant-Rezeption; Polemik der Jenaer Frühromantiker gegen Wieland als popularphilosophischen Unterhaltungsschriftsteller – Frühromantik dadurch keine Gegenaufklärung; richtiger: Gegensatz zwischen publizistischem Establishment und akademischer Avantgardebewegung; Spott über ein borniertes Kunst- und Theaterverständnis der Aufklärung in Tiecks Gestiefeltem Kater Verbindungen: Goethe, Iphigenie auf Tauris (1786): formal eine klassizistische Tragödie, ethische Botschaft der Aufklärungsphilosophie, Infinitisierung der alten zu einer neuen mythischen Figur friedfertig erlösender Weiblichkeit Frühromantische Fragmente: Fortsetzung, auch Radikalisierung, manchmal Ironisierung des kritischen Diskurses der Aufklärung Friedrich Hölderlin: Sonnenuntergang (zw. 179698) klassizistische Form (Odenstrophe) und Motivik (Sonnengott Apoll), romantische Seelenlandschaft (vgl. Eichendorff, Mondnacht) Grenzfall Heinrich Heine Heinrich Heine (1797-1856): der erste Historiograph der Romantik, kritischer Rückblick auf eine vergangene Epoche; als Dichter ambivalent zwischen Fortsetzung und Ironisierung der Romantik; doppelte Wirkung: als Kritiker der Romantik prägt er das negative Romantikbild der linken, insbesondere der marxistischen Milieus; mit einigen Gedichten prägt er zugleich das populäre Klischeebild von Romantik Historiograph der Romantik: Die Romantische Schule (1835), kritische Entgegnung auf das positive Romantik-Bild in Germaine de Staël, De l’Allemagne (Über Deutschland, 1813); kritischer Rückblick auf die „Goethesche Kunstperiode“ als beharrlich aristokratisch, auf die Romantiker als reaktionäre christliche Frömmler, deren weltanschaulich-politische Rückwärtsgewandtheit Heine dem demokratisch-progressiven Frankreich kontrastiert; polemische Porträts der wichtigsten Autoren und Werke; Manifest des „Jungen Deutschland“ als Bruch mit der Romantik Ironisch-romantischer Dichter: Die Harzreise (1826) romantische Stimmungslyrik in Kontrast zu ironischer Prosa; Evokation und Zerstörung des sagen- und märchenhaft Wunderbaren Buch der Lieder (1827) eine der populärsten LyrikSammlungen, Volksliedstrophen, Muster romantischer Subjektivität, mitunter selbstironisch; Heimkehr II: „Ich wie nicht, was soll es bedeuten…“: populäres Romantik-Klischee Neue Gedichte (1844), Seraphine X, „Ein Fräulein stand am Meer“, Verspottung der romantischen Seelenlandschaft Neoromantik, Modell Romantik Vom Epochenbegriff ‚Romantik‘ leiten sich weitere Begriffsverwendungen ab, die die Rezeption- und Wirkung dieser Epoche bezeichnen: Neoromantik/ Neuromantik: die Wiederaufnahme der Themen, Motive und Perspektiven der Romantik in der Literatur zur Zeit der Jahrhundertwende 1900; Gegenwendung gegen die technische Moderne, künstlerisch gegen den Naturalismus; eingebunden in eine Vielzahl programmatischer Bewegungen (Symbolismus, Décadence, Ästhetizismus); Phänomen vor allem der Lyrik (Stefan George, Hugo von Hofmannsthal: Weltgeheimnis 1894, Rainer Maria Rilke, Herbsttag 1906). Positive Gesamtdarstellung der Epoche Romantik: Ricarda Huch: Die Romantik 1899-1908 Wiederkehrende neuromantische Strömungen im Verlauf des 20. Jh.s; Wiederaufnahme, Fortsetzung, zugleich Auseinandersetzung mit der Romantik (Peter Rühmkorf, Hochseil 1975) In der erzählenden Literatur: Botho Strauß, Der junge Mann 1984 (Anknüpfungen an das märchenhaft Fantastische der romantischen Erzählliteratur; Kunstreligion, emphatischer Kunstbegriff gegen den modernen Kunstbetrieb und seine Professionalität; Reflexion auf Romantik als nationalkulturell-deutsche Identität; Balance aus deren Erneuerungssehnsucht und Verspottung; Spott über die Öko-Bewegung als Neuromantik) Modell Romantik ‚Romantik‘ als systematischer Begriff; Definition als eine bestimmte Weltanschauung – oder Darstellungs- und Redeweise in Literatur, den anderen Künsten, aber auch im Alltag Ideengeschichtlich: Streit um die „politische Romantik“ (Begriffsprägung durch Carl Schmitt, 1919): These, dass die Epoche der Romantik eine „gefühlsmäßig-ästhetizistische“ Einstellung zu nationalpolitischen Fragen und damit einen gefährlichen politischen Irrationalismus etabliert habe; während und nach dem Nationalsozialismus als These weiterverfolgt, dass die völkische Ideologie der Nationalsozialisten in der Epoche der Romantik wurzele (bis heute popularisiert: Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre 2007) Neuere Forschungsansätze: Romantik als Redeund Darstellungsweise, die trotz des Wissens um die Zufälligkeiten, unaufhebbaren Differenzen, Verständigungsgrenzen und Partikularismen eine Gesamtsinn stiftenden Einheitsperspektive sucht – reflektierte, mitunter selbstironisch bewusste Aufrechterhaltung einer fantasiegestützten Gesamtsinnperspektive trotz der modernen Sachlichkeit, Differenz- und Kontingenzserfahrungen
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