55. Geschichte der Ethnologie und Anthropologie an Universitäten

55.
Geschichte der Ethnologie und Anthropologie an Universitäten, in Museen und in der Öffentlichkeit
AG Fachgeschichte (Udo Mischek und Han Vermeulen) in Kooperation
mit Ingrid Kreide-Damani
Mit besonderem Augenmerk auf das übergreifende Thema der Tagung untersucht der Workshop die Entwicklung der Ethnologie und Anthropologie im Kontext von Universitäten, Museen und Öffentlichkeit von ihren Anfängen im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Wissenschaft wird zu keiner Zeit im luftleeren Raum betrieben. Fragen und Aufgaben, die an Wissenschaft gestellt werden, sind immer durch gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen
geprägt, die bestimmte Zeitphasen kennzeichnen. Im Mittelpunkt des Workshops steht die
Frage nach den Wirkungen und Folgen von historischen Krisenzeiten, die mit einem gesellschaftspolitischen Wandel einen Wandel des Faches bewirkten. Willkommen sind Beiträge,
die aus nationaler und internationaler Perspektive Wandlungsprozesse ethnologischen und
anthropologischen Forschens, Lehrens und Publizierens thematisieren, z.B. in wissenschaftsbiographische Zusammenhänge führen, der Entwicklungsgeschichte fachlicher Institutionen wie Universitätsinstituten und Museen nachgehen oder die Entwicklung von Theorien, Ideen und Methoden untersuchen. Neben diesem zentralen Thema können im Workshop auch aktuelle Arbeiten, Projekte oder Projektentwürfe vorgestellt wer-den, die nicht
direkt mit diesem Thema in Verbindung stehen.
Vorträge:
Christoph Seidler, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Wilhelm E. Mühlmann und die deutsche Völkerkunde 1920-1970
W. Mühlmann polarisiert: die einen stehen „wütend“ vor seinen Schriften aus den 1930er
Jahren (Petermann) oder sehen in ihm den „Holocaust-Ideologen“ der deutschen Völkerkunde (Gingrich). Wer ihn hingegen in Schutz zu nehmen trachtet, verweist auf seine einzigartige Verbindung von Ethnologie und Soziologie, mit der er nach 1945 „Großes“ bewirkt habe
(Streck).
In meinem wissenschaftsbiografisch angelegten Projekt „W. Mühlmann und die deutsche
Völkerkunde“ gehe ich folgenden Leitfragen nach: Mit welcher Motivation begann Mühlmann
1924 das Studium der Anthropologie? Was faszinierte ihn an dieser Wissenschaft, welche
Zielsetzungen verfolgte er mit seinem Wechsel zur Völkerkunde zwischen 1928 und 1930?
Welche Vorstellungen hatte er von einer als „Orientierungswissenschaft“ konzipierten, modernisierten Völkerkunde in den frühen 1930er Jahren; wie verstand er seine „politische Ethnologie“ während des 2. Weltkrieges; welches Verhältnis hatte er zum NS-Regime? Und
schließlich: wie verarbeitete er das – aus seiner Sicht enttäuschende – Scheitern des nationalsozialistischen Projekts, was bedeutete diese Erfahrung für sein Wirken und sein Erkenntnisinteresse in der frühen Bundesrepublik?
Richard Kuba, Frobenius-Institut Frankfurt am Main
Auf Messers Schneide. Leo Frobenius und sein Institut für Kulturmorphologie in den
1930 Jahren
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Der wohl bekannteste wie auch umstrittenste deutsche Ethnologe seiner Zeit, Leo Frobenius,
hatte eine ambivalent Haltung gegenüber dem NS-Regime. Wie viele Deutsch-Nationale
hoffte der Kaiserfreund auf eine Restauration nationaler Größe und Weltgeltung und sah sich
zunächst in seinen ehrgeizigen wissenschaftlichen Plänen unterstützt. Dem Frankfurter Institut für Kulturmorphologie mit seinen umfangreichen Sammlungen, zahlreichen Mitarbeitern
und ambitionierten Expeditionsprojekten flossen Mitte der 1930er Jahre erhebliche Finanzmittel zu. Bald schon ließen sich aber grundlegende ideologische Differenzen nicht mehr
verleugnen. In Frobenius Kulturphilosophie war kein Platz für einen biologischen Rassebegriff und nur dank ebenso geschickt wie opportunistisch gewebter Netzwerke innerhalb der
NS-Hierarchie konnte er sein Institut bis zu seinem Tode 1938 aufrecht erhalten. In dem Beitrag wird versucht, die Kompromisse, Anbiederungen und Abgrenzungsstrategien von Frobenius und seiner Frankfurter Kulturmorphologie anhand der vorliegenden Quellen zu beleuchten.
Hélène Ivanoff, Frobenius-Institut Frankfurt am Main
Histoire croiseé der Ethnologie in Deutschland und Frankreich im frühen 20. Jahrhundert
Vorgestellt wird ein aktuelles deutsch-französisches Forschungsprojekt, das im Rahmen des
ANR-DFG Programms der Histoire croiseé der Ethnologie in Deutschland und Frankreich im
frühen 20. Jahrhundert (Akronym: Anthropos) gewidmet ist (Projektleitung Richard Kuba,
Frobenius-Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/Main und Jean-Louis Georget, Centre
Georg Simmel, EHESS, Paris). Innerhalb der Ethnologie gibt es Verbindungslinien zwischen
den jeweiligen nationalen Traditionen, die eine Untersuchung ihrer Verflechtungsgeschichte
(histoire croisée) lohnenswert erscheinen lassen. Das vorliegende Programm will zeigen, wie
sich verschiedene ethnologische Themenfelder in ihrer jeweiligen nationalen Ausprägung
parallel, antagonistisch oder sich gegenseitig beeinflussend im Sinne einer histoire croisée
entwickelten. Dabei soll insbesondere untersucht werden, wie ethnologisches Wissen in
Deutschland, Frankreich und später auch über eine Rückspiegelung in die afrikanischen
Länder verbreitet und dort rezipiert wurde.
Han F. Vermeulen, Halle (Saale)
Forschungsreisen und die Genese der Ethnographie und Ethnologie im 18. Jahrhundert
In der Geschichte der Ethnologie haben Reiseberichte für die frühe Periode einen hohen
Stellenwert. Bevor die Feldforschung mit Boas, Malinowski u. A. gängig wurde, galten Reiseberichte als Primärquellen für die proto-ethnologische Theoriebildung. In der Spätaufklärung wurden „Itineraria“ in Göttingen von Mediziner wie Blumenbach und Philosophen wie
Meiners intensiv benutzt. Auch Rousseau, Voltaire, Ferguson und Herder schöpften Reiseberichte aus: Herder zitierte in seinen Ideen (1784-91) aus 80 Reiseberichte.
In der Frühaufklärung hatten Reiseberichte jedoch einen zweifelhaften Ruf. Der Historiker
Gerhard Friedrich Müller, der 1733-45 ein Forschungsprogramm für die Beschreibung sibirischer Völker durchführte, war Reiseberichte gegenüber sehr kritisch eingestellt: sie seien
„unvollständig“ (Müller 2010: 5) und reichten für seine vergleichenden Ziele nicht aus. Müller
gehörte zu einem neuen Typus Reisender, der in „the second age of discovery“ (Parry 1963,
1971) hervortrat. Als Forschungsreisender war er wissenschaftlich ausgebildet und reiste als
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Mitglied einer Akademie mit einem klaren Auftrag und offiziellen Instruktionen. Das hat die
Entstehung der Völkerkunde eingehend geprägt.
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