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JAN WE ILE R
ME IN L E BE N A L S ME NSCH
FOLG E 4 4 1
Der Sylt-Test
A
uch so eine merkwürdige Alterserscheinung: Ich versuche jetzt,
früheren Eindrücken nachzuspüren, um herauszufinden, was an
bestimmten Dingen früher gut war. Das ist sehr interessant. Bei
Musik zum Beispiel. Man stellt fest, dass frühe Platten von Genesis
eine große Magie besitzen, während Manfred Mann’s Earth Band
schauderhaftes Gedudel ist. Und wahrscheinlich immer schon wahr.
Ebenfalls bei erneuter Betrachtung doch nicht so gut sind Hubba
Bubba und Catweazle. Bei Sylt war ich noch unentschieden. Und
damit stand ich nicht alleine da. Sylt war nämlich schon immer ein höchst ambivalentes
Fleckchen Sand.
Einerseits wartet die Insel-Metropole Westerland mit einem Ortskern auf, der ähnliche
Belastungsstörungen hervorruft wie der von Neumünster. Und das will wirklich etwas
heißen. Andererseits können die syltschen Sandstrände jedem Karibik-Urlauber Tränen der
Missgunst in die Augen treiben. Nirgendwo sonst begegnen sich fremdenverkehrswirksame
Friesenfolklore und Düsseldorfer Neureichenkitsch so wirkmächtig wie hier. Nicht einmal in
Hamburg. Auch das macht Sylt faszinierend. Ich war als Kind öfter dort. Zu meinen stärksten
Eindrücken von damals gehören zwei prägende Begegnungen, und zwar erstens mit einer
Feuerqualle. Und zweitens mit einem nackten Ehepaar aus Braunschweig, welches sich mit
meinen vollständig bekleideten Eltern am Strand unterhielt. Die Erinnerung an die ältlichen
FKK-Anhänger traumatisierte mich dabei stärker als die Qualle. Diese war auch wundersam
exotisch, hatte aber wenigstens was an.
Jedenfalls ist Sylt seit jeher eine Insel der Widersprüche und deshalb wundert es mich
überhaupt nicht, dass in letzter Zeit stark gegenläufige Meldungen über das gekrümmte
Eiland verbreitet wurden. In „Icon“, dem Lifestyle-Organ der WELT, habe ich gelesen, dass das
Nightlife nicht mehr so doll sei auf Sylt. Die FAZ hingegen schrieb von der „Insel der
Superlative.“ Ja was denn nun? Es hilft alles nichts, man muss schon selber hinfahren und
nachsehen. Eben auch um frühe Eindrücke zu vergleichen.
Auf den ersten Blick scheint die Unentschiedenheit des Ortes Bestand zu haben.
Syltbesucher haben entweder sehr viele Goldknöpfchen oder sehr viele Klettverschlüsse am
Körper. Hier die jako-o-isierte Beamtenfamilie, die wochenlang mit dem Fahrrad die Insel
rauf und runterdonnert und jeden Tag Fischbrötchen verzehrt, bis den Kindern Schuppen
wachsen. Dort die Zopfmusterpullifraktion, die im Leben nicht auf ein FAHRRAD steigen
würde und bei Feinkost Meyer einkauft, der ein Wasser führt, dessen Flaschen mit SvarovskiKristallen beklebt sind. Das friedliche Nebeneinander dieser beiden Touristengruppen ist
durch ihre vollkommen unterschiedlichen Urlaubs-Ambitionen dauerhaft gesichert. Die
einen wollen Natur und die anderen Hummer. So kommt man sich nicht in die Quere.
Natürlich muss man bei einem Besuch der Insel Sylt an die Grenzen des Erträglichen
gehen und deshalb war ich mit meiner Familie in der „Sansibar“. Auf dem Parkplatz
ausschließlich Dünentrecker, wie der SUV hier scherzhaft genannt wird. Fast alle sind weiß,
die meisten tragen einen Sansibar-Aufkleber. Man will jetzt unbedingt, dass alles ganz
scheußlich und schlimm wird. Und zuerst klappt das auch, denn im Lokal hängen viele
Bilder, die Udo Lindenberg gemalt hat. Unser Sohn Nick schmeißt als erste Amtshandlung
seine Fanta um. Das ist Tradition bei ihm. Im Profifußball nennt man so etwas
„Begrüßungsfoul“. Daraufhin geschieht, womit ich nicht gerechnet habe: Das Personal in der
„Sansibar“ ist dermaßen freundlich, entgegenkommend und charmant, dass es mir fast die
Laune versaut. Da hegt und pflegt man mühevoll seine Vorurteile, und dann so etwas.
Exzellenter Service. Und verdammt gutes Essen. Um mich zu bestrafen, trinke ich am Ende
einen Hugo.
Am nächsten Tag machen wir eine Wattwanderung. Wir wollen riesige Würmer
ausgraben und suchen nach den charakteristischen Schlammkringeln, aber ich finde
darunter nichts. Da befiehlt die Wattführerin: „Weitergraben. Unter jedem Kringel wohnt ein
Wurm.“ Das stimmt mich wieder heiter. Die Zufriedenheit meiner Kindheit liegt in der
gammeligen Wattluft. Und Sylt besteht den Test. Es ist genau so toll wie vor vierzig Jahren. •
20. SEPTEMBER 2015