mitmachen oder zuschauen?

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12 / 2015
3 - JÄHR
Fotos: Günster-Schöning
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IG
DIE
32 Praxis
Selbst entscheiden:
mitmachen oder
zuschauen?
Partizipation in der Krippe
Partizipation von Kindern ist nicht nur
ein Recht, sondern Herausforderung
und Bildungschance zu gleich. Sie ist
der Nährboden, dass Kinder sich in ihrem eigenen Tempo entwickeln können, sich im sozialen Miteinander
üben und ausprobieren, um sprachfähig zu werden. So kann Selbstwirksamkeit wachsen und gespürt werden.Dies setzt ein kontinuierliches
Reflektieren der pädagogischen Ar-
beit voraus und fordert Fachkräfte jeden Tag aufs Neue heraus. Denn Partizipation in der Krippe ist eine
Bring-Schuld.
Ursula Günster-Schöning
Pädagogische Fachkräfte in der Krippe
müssen für die kindgerechten Partizipationsmöglichkeiten sorgen, da die
Kleinstkinder diese noch nicht verbal
einfordern können. Das bedeutet, dass
schon bei den Allerkleinsten die eigenen Interessen und Meinungen wertgeschätzt und vor allem respektiert
werden sollten. Wenn Krippenkinder
spüren, dass nicht ständig für sie bestimmt wird, was sie zu tun und lassen
haben, sondern ein Verständnis
wächst von „ich darf hier allein entscheiden“, „ich darf es hier selber tun“,
„ich werde gefragt, bevor man etwas
mit mir macht“ und letztendlich „ich
kann … z. B. Lösungen finden“ trägt
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Praxis 33
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Welche Mitbestimmungsrechte werden den
Kindern eingeräumt?
dies zur Entwicklung eines positiven
Selbstbildes bei. So hebt auch Professor Ronald Lutz im Kinderreport des
Deutschen Kinderhilfswerks 2012 hervor, dass Partizipation nicht nur zu einem positiven Selbstbild, sondern
eben auch zu einem positiven Effekt
auf die Resilienzbildung der Kinder
führt. In seiner Studie betont er ebenso, dass durch frühe Beteiligung von
Kindern die Vererbung von Armut
durch die Resilienzerfahrung und die
Entwicklung sozialer Kompetenzen
kompensiert werden kann (vgl. Lutz
2012).
Eigene Lösungsmöglichkeiten
Auch das eigenständige Lösen von
Konflikten kommt schon den aller
Kleinsten in der Krippe zu Gute. Sie
lernen zum einen den Umgang mit
dosiertem Scheitern, üben sich bereits
früh darin eine Problemsituation überhaupt zu erkennen, sie auszuhalten
und kreativ zu nutzen. So entwickeln
sie durch aktives Selbertun eigene
Lösungswege. Dies ist jedoch nur möglich, wenn Erzieherinnen eine partizipative und ressourcenorientierte Bildung, Erziehung und Betreuung
ermöglichen.
Aktive Mitgestaltung ja, aber wo?
Rüdiger Hansen schlägt in diesem Kontext 4 grundlegende Eckpfeiler vor (vgl.
Hansen 2013), wenn es um die Etablie-
rung von Partizipation in der Krippe
geht. Er stützt sich dabei auf die Erfahrungen mit dem Konzept der „Kinderstube der Demokratie“ (vgl. Hansen/
Knauer/Sturzenhecker 2011), in welchem es
vorrangig um strukturell verankerte
Partizipation in Kindertageseinrichtungen geht. Demnach gilt es folgende
Bereiche im Fachkräfte-Team zu diskutieren und Wege zu finden, sie auszugestalten.
Wo sollen Kinder in der Krippe beteißß
ligt sein? Welche Mitbestimmungsrechte werden den Kindern eingeräumt? Wo dürfen sie nicht mitbestimmen?
Wie und welche verlässlichen Beteilißß
gungsgremien sollen eingeführt werden? Wo und wie können Kinder mitentscheiden und ihre Interessen
äußern?
Wie können Beteiligungsverfahren
ßß
angemessen und altersgerecht gestaltet werden? Was brauchen Kinder
dafür, wie können sie unterstützt
werden, um sich Meinungen zu
bilden?
Was gehört zu einer wertschätzenßß
den Interaktion und Kommunikation? Wie werden respektvolle und
dialogische Gespräche geführt?
Wie gerade in der Krippe eine angemessene Mitgestaltung gelingen kann,
um eine positive Entwicklung der Kinder zu ermöglichen, müssen Krippenerzieherinnen im Team besprechen
und aushandeln. Partizipation setzt
voraus, dass die pädagogischen Fachkräfte sich für das interessieren, was
die Kinder (wie) tun, und bereit sind,
ihnen Verantwortung zu übertragen.
Gleichzeitig bedeutet es auch, dass die
päd. Fachkräfte bereit sind, sich zurückzunehmen, Nähe und Distanz zuzulassen und Abläufe zu unterbrechen, wenn Kinder Bedürfnisse und
Wünsche signalisieren oder äußern,
deren Befriedigung das erforderlich
macht.
Diese Entscheidung ist nicht immer
leicht und einfach im Alltag umzusetzen, da Rahmenbedingungen wie Essenanlieferung oder die Nutzungsmöglichkeiten bestimmter Räume ein
spontanes auf Kinderwünsche Reagieren häufig erschwert. Für die pädagogischen Fachkräfte der Krippe ist es
daher wichtig, den Krippenalltag der
Kinder als Prozess zu verstehen, in
welchem sie aus Erfahrung lernen dürfen. Dieser Prozess ist dann auch
gleichsam das Herzstück der Arbeit
und bedarf keiner künstlichen Lernangebote. Der Alltag mit seinen Herausforderungen wie Essen, Spielen, Wickeln, Schlafen und Sich-Ausprobieren
-Dürfen ist dann das zentrale Erfahrungs- und Lernfeld der Kinder.
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„Zeitwohlstand“
Es bedarf der Kompetenz und nötigen
Sensibilität, sich immer wieder zurückzunehmen, sich und die geplanten Aktionen nicht aufdrängen zu wollen
und für „Zeitwohlstand“ zu sorgen.
Zeit ist in der Krippe das kostbarste
Gut. Kleinstkindern Zeit geben, unverplante Zeit bereitwillig zur Verfügung
stellen, damit sie diese nutzen können
zum Verweilen, Beobachten, Ausruhen
und intensivem Spiel. So eröffnen wir
erste Wege hin zu einer partizipativen
Haltung. Basierend auf dieser Grundhaltung lernen Krippenkinder, sich für
oder gegen eine Sache zu entscheiden,
und spüren bewusst durch das eigene
Tun ihre Selbstwirksamkeit.
Eine fehlerfreundliche Lernatmosphäre und Lernkultur sowie die offene
Haltung und das Vertrauen auf individuelle kindliche Lernwege wären eine
gute Grundlage und sogleich auch von
Vorteil, wenn es um das Befriedigen
individueller Bedürfnisse der Kleinkinder und einer gelebten Partizipation in
der Krippe geht.
„Unplanbarkeit“
Erzieherinnen in der Krippe brauchen
daher die Kompetenz, Ungewissheit
und Unplanbarkeit aushalten zu können, denn Kleinkinder reagieren nun
einmal anders als Kindergartenkinder.
Sie haben oft noch nicht die Möglich-
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keit, sich verbal auszudrücken, und
nutzen daher vielmehr paraverbale
oder nonverbale Signale, um sich und
ihre Bedürfnisse mitzuteilen. So sind,
meiner Ansicht nach, die vorrangigen
Mitbestimmungsthemen im Krippenalter jene, die sich auf den eigenen Körper der Kinder beziehen, wie Essen,
Wickeln, Schlafen und Bewegen.
Darf ein Kind selbst entscheiden,
ob und was es essen möchte (z. B. nur
ßß
den Nachtisch)?
wann und mit wem es essen möchte?
ßß
neben wem es am Tisch sitzen
ßß
möchte?
ob es Essen auswählen und probieren
ßß
möchte?
ob es sein Essen aufessen möchte?
ßß
wie/mit welchen Werkzeugen es esßß
sen möchte?
ob es mit dem Essen experimentieren
ßß
/matschen möchte?
wie lange und oft es essen möchte?
ßß
wie viel es essen möchte?
ßß
ob es sich selber aufgeben möchte
ßß
und wie viel?
ob es sich an den Vorbereitungen
ßß
zum Essen beteiligen kann/möchte?
ob es sich beim Abräumen beteiligen
ßß
kann/möchte?
ob und was es trinken möchte?
ßß
wie viel und woraus es trinken
ßß
möchte?
ob, wann und wie lange es schlafen
ßß
möchte?
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ob es sich an den Vorbereitungen für
ßß
das Schlafengehen beteiligen
möchte?
wo und wie (Kleidung/Bettzeug etc.)
ßß
es schlafen möchte?
ob es alleine oder neben jemandem
ßß
schlafen möchte?
ob es „Einschlafhilfe“ (Schnuller/Kußß
scheltiere etc.) benutzen möchte?
ob eine Erzieherin es in den Schlaf
ßß
begleitet?
ob es sich alleine aus- und anziehen
ßß
möchte?
wie es gewickelt werden möchte?
ßß
von wem es gewickelt werden
ßß
möchte?
ob und wie (stehen/liegen) es gewißß
ckelt werden möchte?
wann es trocken werden möchte?
ßß
ob es eine Toilette benutzen möchte
ßß
oder nicht?
ob es die Toilette auch im Spiel entdeßß
cken darf (hineinfassen, Wasser
spüren)?
was es als Wechselkleidung anziehen
ßß
möchte?
ob es Farbe/Schaum/Creme am ganßß
zen Körper anbringen und ausprobieren möchte/darf?
ob es die Farbe/Schaum/Creme auch
ßß
in den Mund nehmen darf?
ob es mit nackten Füßen, Socken oder
ßß
Hausschuhen im Gruppenraum/der
Krippe herumlaufen möchte?
ob es im Sandkasten den Sand auch in
ßß
den Mund nehmen darf?
ob es mit Händen und ggf. auch Geßß
sicht in die Pfütze eintauchen darf?
welche Materialien es frei und unabßß
hängig erkunden möchte?
wann und wo es sich im Gruppenßß
raum bewegen oder ausruhen
möchte?
wann und wie es Körperkontakt zur
ßß
Erzieherin haben möchte?
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Bewegte Entscheidungen
Auch das Thema Bewegung rückt
schnell in den Fokus der Krippenkinder
und kann partizipatorisch betrachtet
werden. Wo möchte ich meinen Körper hinbewegen? Wie möchte ich das
tun? Womit möchte ich das tun? Mit
wem möchte ich das tun? Dies können
Kinder z. B. signalisieren, indem sie an
der Tür stehen und versuchen die Klinke zu erreichen, um den Raum zu verlassen, da sie den Flur oder einen anderen Raum erkunden wollen. Andere
versuchen ihre Schuhe anzuziehen, um
zu signalisieren: „Ich will nach draußen
gehen“. „Sich verstecken“ oder „auf
den Boden legen und steif machen“
können hingegen Signale dafür sein,
dass ein Kind nicht mit allen anderen
nach draußen möchte. Wenn Krippenkinder sich langsam und träumend bewegen, verweilen, beobachten oder
sich ausruhen, sind das häufig Signale
für „Entschleunigung“, für „ich bin
müde“, „erschöpft“ oder „brauche
jetzt einfach eine Auszeit für mich“. In
solchen Situationen brauchen die Kleinen kein Angetrieben-Werden nach
dem Motto: „Schnell, schnell“, oder
ein schnelles „Hochgehobenwerden“,
um weiterzumachen, fertig zu werden,
aufzuräumen oder nach draußen zu
gehen, sondern ein emphatisches Eingehen auf dieses Signal und ein Respektieren des kindlichen Bedürfnisses.
Räume als Wegweiser
Die Raumstruktur spielt dabei neben
der Haltung der Erzieherin eine sehr
entscheidende Rolle, auch in Hinblick
auf die Partizipation von Kleinstkindern. Die Entwicklungsthemen und
Lerninteressen von 0-3-Jährigen Kindern gehen weit auseinander. Findet
da jede/jeder in den Gruppenräumen,
was er braucht? Finden Kinder jeden
Alters spannende Herausforderungen
und gelangen Kinder ohne Hilfe des
Erwachsenen an Materialien und in
benachbarte Funktionsräume? Gibt es
genügend Platz und Raum für Bewegung, Transport und Rückzug? Existiert eine klare Struktur? Ist die Materialauswahl überschaubar, dennoch
reichhaltig und vielfältig? Lädt der
Raum zum Experimentieren und Ver-
weilen ein? Fühlen sich alle wohl? Und
wenn ja, woher wissen wir das? Wie
können wir das erkennen? Gibt es unterschiedliche Rückzugsmöglichkeiten?
usw.
Keine Regel- und Grenzenlosigkeit
Partizipation in der Krippe ist eine
echte Chance für die Jüngsten in unserer Gesellschaft sich kindgerecht
und unter der Begleitung von Erwachsenen in Entscheidungen, welche die
eigenen Wünsche, Bedürfnisse und
Belange betreffen, üben zu können.
Gelingenskriterien für partizipatorisches Handeln in der Krippe sind daher
vor allem die personellen Kompetenzen der pädagogische Fachkräfte, wie
eine wohlwollende Grundhaltung, reflektiertes Handeln, Wissen um und
über die Fertig- und Fähigkeiten der
Kinder und deren Entwicklungsstand,
ein Nachdenken über die eigenen Haltungen und Einstellungen, eine wertschätzende Kommunikation und die
Fähigkeit zu einfühlsamen Dialogen.
Auch die Bereitschaft und Kompetenz
sich zurück zu nehmen und Unplanbarkeit auszuhalten ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Dass bei all
dem die Rahmen- und Schutzbedingungen beachtet werden versteht sich
von selbst. Grundsätzlich geht es darum, das Kind als eigenständiges Individuum zu betrachten, das ein Recht darauf hat, an Entscheidungen, die es
selbst betreffen, beteiligt zu werden.
Die Partizipationsformen und -Themen
in der Krippe können dabei generell
unterschiedlich aussehen, und sind im
Idealfall „zielgruppenorientiert“ und
an das jeweilige Kind mit seinen persönlichen Fähigkeiten, Stärken und an
den jeweiligen Entwicklungsstand angepasst. Das man sich zudem an den
Interessen, Bedürfnissen und an der
Lebenswelt des Kindes orientiert, sollte selbstverständlich sein (vgl. Hansen
2003). So bedeutet Partizipation auch
nicht immer „Abstimmung“. Kleinstkinder müssen nicht zwangsläufig ein
Fotokärtchen für die Auswahl des neuen Projektthemas oder der Raumdekoration oder für die Gute-Nacht-Geschichte auslegen. Aber wie sieht es
aus, wenn er oder sie gerade nicht
nach draußen möchten? Wenn er oder
sie nicht von Erzieherin A gewickelt
werden möchte, sondern lieber von Erzieherin B? Wenn er oder sie das Essen
nicht probieren möchte? Könnten und
dürfen Kleinstkinder hier mitentscheiden?
Ursula Günster-Schöning, Prozess- und Organisationsbegleiterin, Master Coach QRC
und pädagogische Koordinatorin, staatlich
anerkannte Sozialfachwirtin und Erzieherin,
Inhaberin des Fortbildungsinstituts ERFOR.
Kontakt
www.ursula-guenster.de
www.erfor.de
Literatur
Bayerisches Staatsministerium für Arbeit
und Sozialordnung, Familie und Frauen;
Staatsinstitut für Frühpädagogik München
(Hrsg.): Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. Cornelsen,
2005
Booth, Tony/Ainscow, Mel/ Kingston, Denise: Index für Inklusion. Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln. Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.), 2006
Hansen, Rüdiger/Knauer, Raingard/ Sturzenhecker, Benedikt: Partizipation in Kindertageseinrichtungen – So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! Verlag das Netz,
2011
Knauer, Raingard/ Hansen, Rüdiger: Erfolgreich starten. Leitlinien zum Bildungsauftrag in Kindertageseinrichtungen. Ministerium für Bildung und Frauen des Landes
Schleswig Holstein (Hrsg.), 2008
Link: www.schleswig-holstein.de/DE/
Fachinhalte/K/kindertageseinrichtungen/
kindertageseinrichtungen_Bildungsauftrag_LeitlinienBildungsauftrag_BildungKindertageseinrichtungen.html
Lutz, Ronald: Mitbestimmung in Kindertageseinrichtungen und Resilienz. Deutsches
Kinderhilfswerk e.V. (Hrsg.): Kinderreport
Deutschland 2012, 2012
Petrie, Stephanie/Owen, Sue: Authentische
Beziehungen in der Gruppenbetreuung von
Säuglingen und Kleinkindern. Arbor Verlag,
2006