auf eine Zerreißprobe stellte

Wild - Aus aller Welt
BERGPIRSCH IN TIROL
Der Traum, einen Sommergams zu erbeuten,
war bereits aufgegeben. Doch kurz vorm Ende
der Jagd bot sich eine einmalige Chance, die die
Nerven auf eine Zerreißprobe stellte.
Thore Wolf
Das Gepäck steht auf der Treppe des Jagdhauses. Jagd vorbei. Noch einmal schweift der Blick zum Streckenplatz. Langsam perlt ein Tautropfen an der Trophäe hinab und bleibt an
deren Ende hängen. Grün wie die im Tal dahinfließende Isar
spiegeln sich die umliegenden Bäume in ihm, und wie in einer
kleinen Glaskugel schillert neben der Sonne auch die Erinnerung an das Erlebte darin. Um ein Haar wäre es schief gegangen. Fast wäre der Traum geplatzt. Sofort schallen in Gedanken
wieder die Flüche meines Jagdführers auf, ich spüre noch einmal den aufgeregten Herzschlag, der mich für einen Augenblick fast hätte verzweifeln lassen …
„Der Nebel gefällt mir net“, raunt mein Jagdführer Joseph
Neuner. Die Sonne hat es schwer, an diesem Morgen durch die
grauen Schwaden am Himmel zu stoßen. Immer stärker verhüllt dichter Hochnebel die Szenerie. Joseph wird unruhig. Er
weiß, es ist mein letzter Jagdtag in Tirol, und noch hatten wir
keine Chance, ein passendes Stück Rotwild oder gar eine Gams
in Anblick zu bekommen. Leise flucht er vor sich hin. Immer
wieder schiebt er den Hut auf dem Kopf zurecht.
68
WILD UND HUND | 19/2014
www.wi ldu n dhu nd .de
ww w.w ild un d hund .de
WILD UND HUND | 19/2014
Foto: Naturfoto Hofmann
Gams zum
Schluss
69
Wild - Aus aller Welt
„Auf geht‘s, lauf mer a bisserl, vielleicht kriagn mer an
Gams“, sagt der 44-Jährige. Wir beenden den Ansitz und versuchen unser Glück auf der anderen Seite des Hinterautals.
Durch dichte Nadelwälder steigen wir immer höher. Eine
Rehgeiß mit Kitz kreuzt unseren Pirschpfad. Wie Statuen erstarren wir und blicken den beiden, hinter zwei Fichtenstämme gekauert, nach. Um keine Unruhe zu verbreiten, warten
wir etwas länger, bevor wir weiterpirschen. Die Pause ist mir
äußerst willkommen. Schnell entledige ich mich der dicken
Jacke, die ich noch vom Ansitz anbehielt. In diesem Gelände
wird es bei der Steigerei recht schnell sehr warm – auch
ohne Sonne.
Weiter geht es, und ich bin erstaunt, wie leichtfüßig der
stark und groß gebaute Tiroler Berufsjäger Meter um Meter
des steilen Berges hinter sich bringt, als würde er im Flachland wandern. Immer wieder glasen wir die steilen Hänge
vor und neben uns ab, bevor wir weiter aufwärts steigen.
Doch kein Haar lässt sich sehen. Kein Stück Rotwild, keine
Gams. „Noch vor einer Woch‘ stand die Wand voll mit Gamswild“, sagt Joseph. „Aber das verfluchte Wetter!“
Auch zwei Stunden später sind die höheren Berglagen
noch immer in dichten Nebel gehüllt. Es ist verhältnismäßig
kühl an diesem Augusttag. „Das wird sich heut so schnell
nicht ändern“, ist sich der Bergjäger sicher. So oft wir auch
innehalten und die Gegend mit den Gläsern absuchen, wir
sehen kein Wild. Weiter geht es über Schotterwege und Geröllfelder. Beim Anblick der um uns liegenden Urwälder aus
Nadelbäumen und der bürstendichten weitläufigen Lat-
Um in diese Schussposition zu gelangen, mussten einige
Äste und kleine Stämme der Handsäge weichen.
70
WILD UND HUND | 19/2014
www.wi ldu n dhu nd .de
Fotos: Thore Wolf
Kurz vorm Ende der Frühpirsch tauchte ein passender Bock zwischen den
Latschenfeldern auf.
schenfelder frage ich mich, wie man
hier überhaupt ein Stück Wild ausfindig machen soll.
„Bei dem Nebel brauch mer gar
net weiter auffi gehn. Pack mer‘s“, beschließt Joseph. Etwas betrübt treten
wir nach etwa zwei Stunden den
Rückmarsch zum Auto an. Das war‘s
dann wohl. Ich versuche, mir den
Traum von meiner ersten Gams vorerst aus dem Kopf zu schlagen. Joseph ist nicht weniger missmutig.
Man merkt ihm die Enttäuschung
förmlich an. Am Pick-up angekommen, feuert er schroff und deprimiert
seinen Bergstecken auf die Ladefläche. Kurz bevor wir einsteigen wollen, traue ich meinen Augen nicht.
Etwa 700 Meter weit entfernt entdecke
ich einen dunklen Punkt im Oberhang. Gamswild? Noch bevor ich meinen Begleiter darauf aufmerksam machen kann, hat auch er schon das
Doppelglas vor Augen. „Deifi nochmal!“, murmelt er vor sich hin und
streicht über seinen Schnäuzer.
„Komm, bevor‘s wegzogn is, des könnt
villeicht passen!“, muntert mich der
urige Tiroler auf.
Wir lassen den Wagen stehen und
marschieren in schnellen Schritten
ww w.w ild un d hund .de
den Weg weiter, bis wir eine bessere
Position haben, um den vermeint­
lichen Bock anzusprechen. Die braune Sommerdecke und die relativ hohen, gut gehakelten Krucken lassen
keinen Zweifel. Der Bock passt. „Des
könnt a Einser sein“, flüstert der Berufsjäger, „aber an Zweier hätt mer
auch noch frei.“
Aber wie kommen wir ran? Oberhalb des Gams erhebt sich eine Steilwand, unterhalb ein großes Latschenfeld, das bis zum Fahrweg reicht. Würden wir das Stück hangparallel über
das Geröllfeld angehen, würde es uns
mit großer Sicherheit ausmachen.
„I hab a Idee! Bleib!“ Eiligen Schrittes
eilt Joseph zurück zum Auto. Was um
Himmels Willen hat er nur vor? Nach
wenigen Minuten ist der Jager wieder
zurück. „Wir gehen durch die Latschen“, beschließt er. Geduckt pirschen wir unterhalb des Latschenfeldes den Hauptweg entlang. Immer
wieder machen wir Halt, um Ausschau nach dem Bock zu halten.
An das hundertfache „Servus“ der
vorbeiradelnden Touristen haben wir
uns inzwischen schon mühsam gewöhnt. Doch jedesmal zaubert es ei-
Wild - Aus aller Welt
nen leicht säuerlichen Blick in Josephs
Gesicht.
Das Hinterautal, in dem die Isar ihren Ursprung hat, ist ein beliebtes Ausflugsziel. Auf einer Länge von rund 15
Kilometern sind die Wege für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrt. Die ungezähmte Landschaft mit ihren zahlreichen Bächen und Flüssen lädt unzählige Wanderer und Mountainbiker geradezu ein. Zu Tausenden bevölkern sie
an guten Sommertagen das wildromantische Tal zwischen Scharnitz und Ross-
loch im Karwendel. Das relativ milde
Wetter heute hat sie wohl schon in aller
Frühe in die Natur gelockt.
Joseph streckt sich über die Weg­
böschung und glast den Steilhang ab.
Vorsichtig kriechen wir in die dichten
Latschen. Wenn das nur gut geht, denke ich. Aber der stämmige Tiroler Jäger
hat vorgesorgt. Im Nu zaubert er eine
Klappsäge aus seinem Rucksack. „Die
hob i grad aus‘m Auto g‘holt“, verrät er
mir grinsend und beginnt, Ast für Ast
der vor uns liegenden Latschen abzusägen, damit wir besser vorankom-
Fotos: Thore Wolf
Berufsjäger Joseph Neuner glast
immer wieder die umliegenden
Berghänge ab (o.). Die
ausladenden Wälder und
Latschenfelder im Hinterautal
bieten zahlreiche Einstände.
72
WILD UND HUND | 19/2014
www.wi ldu n dhu nd .de
men. Wie Maulwürfe schaffen wir uns langsam durch die
knorrigen Stämme, halten immer wieder inne und beobachten den Gams, der sich sicher wähnt und vetraut im Oberhang äst.
Nach einer ganzen Weile haben wir eine Stelle erreicht,
die freies Blick- und Schussfeld bietet. Auf einem Felsblock
lege ich die Waffe auf, der Bock hat sich inzwischen niedergetan. Nur die schwarzen Krucken und einen Teil des Äsers
kann ich durchs Glas erkennen. „Wenn er in die Rinne zieht,
schiast!“, zischt Joseph. Eine gefühlte Ewigkeit liege ich im
Anschlag, blicke im Wechsel durch das Zielfernrohr und mit
bloßem Auge zum begehrten Stück. Die Gedanken kreisen:
„Hoffentlich klappt es, hoffentlich zieht der Bock tatsächlich
ww w.w ild un d hund .de
in unsere Richtung.“ Der Traum der ersten Gams scheint zum
Greifen nah. Plötzlich erhebt sich der Bock und zieht ein
Stück talwärts durch die Latschen.
Tatsächlich, er hält auf die nur etwa zwei Meter breite unbestockte Rinne zu. Joseph misst die Entfernung mit seinem
Swarovski-Glas: „120 Meter“, höre ich ihn leise sagen. Mein
Puls rast. Durchatmen. Der rote Punkt des Absehens
tanzt auf und ab. Ich fühle mich wie ein Jungjäger,
der sein erstes Stück erlegen will. Wieder
durchatmen. Jetzt ruhig bleiben. Der Bock
tritt aus, steht breit, und die Kugel verlässt den Lauf. Noch im Knall sehe
ich, dass es etwa einen halben Meter oberhalb des Bockes staubt.
WILD UND HUND | 19/2014
73
Wild - Aus aller Welt
Ein sechsjähriger Gamsbock ist zur Strecke gekommen.
Es bleibt keine Zeit zum Grübeln.
Im großen Bogen zieht der Bock wieder Richtung Rinne. Allerdings ein ganzes Stück weiter entfernt als zuvor.
„Jetzt packst ihn aber!“, ermuntert
mich der Berufsjäger schnaufend, er
fiebert förmlich mit. „230 Meter“ – diese Worte beruhigen nicht gerade. Wie
soll ich auf 230, wenn ich schon bei
120 …? Keine Zeit zum Nachdenken.
Wieder steht der Gams breit. Für einen
Moment ist jede Anspannung verflo-
74
WILD UND HUND | 19/2014
gen, ich fühle nur noch innere Stille,
ruhig fährt der Zielpunkt knapp hinter
das Blatt. Im Schussknall der .300 WSM
geht der Bock zu Boden. „Waidmannsheil – Warum net gleich so!“, ruft mir
Joseph freudig lachend zu.
Mir fehlen die Worte. In meinem
Kopf findet gerade ein Kampf zwischen riesiger Freude und ebenso großem Ärger über mich selbst statt. Letztlich überwiegt das Glücksgefühl über
die erfolgreiche Jagd. Auch Joseph
kann seine Freude nicht verbergen.
Ebenso kräftig, wie er zuvor geflucht
hatte, lacht er und freut sich mit mir:
„Des wor jo a Krimi!“
„In der Tat“, denke ich mir noch
jetzt, während ich den Tautropfen an
der Kruckenspitze betrachte. Als er zu
Boden fällt, nimmt ein wunderschönes Jagderlebnis, das mich fast hätte
verzweifeln lassen, sein glückliches
Ende.
Fotos: Thore Wolf
Der Gams macht sofort kehrt und verschwindet. „Verdammt, des wor‘s, jetzt
isser weg“ – Joseph springt auf, reißt
zornig den Hut vom Kopf. Eine Unmenge unchristlicher Flüche folgen. Aber
der Blick durchs Glas zeigt: Der Bock
ist noch da. Er steht in den Latschen.
Joseph hat sich im Nu wieder beruhigt,
meine Aufregung ist stattdessen größer
geworden. Selbstzweifel und riesiger
Ärger martern mich. Wie konnte das
passieren? Auf 120 Schritt Entfernung
ein scheibenbreit stehendes Stück zu
fehlen?
e
Im klaren Wasser der Isar wird das
erlegte Stück ausgespült.
www.wi ldu n dhu nd .de