Fall 32: Carl erbt die Keksfabrik seines Vaters Eduard. Carl prüft die Bücher und kommt zu dem Ergebnis, dass er ein gesundes Unternehmen vor sich hat. Deshalb nimmt er die Erbschaft an. Zwei Tage später flattert ein Steuerbescheid herein, in dem aufgrund einer Nachveranlagung eine ganz erstaunliche Summe als Nachzahlung fällig wird, die den Wert der ganzen Keksfabrik weit übersteigt. Was kann Carl tun, um die Erbschaft noch loszuwerden? Lösung zu Fall 32: A. Ausschlagung der Erbschaft Ausschlagen kann Carl die Erbschaft nicht mehr, da er sie bereits angenommen hat, § 1943 HS 1, Alt. 1. B. Anfechtung der Erbschaftsannahme Möglicherweise könnte Carl die Annahme der Erbschaft anfechten. I. Anfechtungserklärung Die Anfechtungserklärung müsste gegenüber dem Nachlassgericht in der Form und der Frist der §§ 1954 ff erfolgen. II. Anfechtungsgrund, § 119 Abs. 2 In Betracht käme ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft, § 119 Abs. 2. 1. Erbschaft als Sache – Trotz des Wortlauts des § 119 Abs. 2, der von der Eigenschaft einer „Sache“ spricht, wird darunter nicht nur ein körperlicher Gegenstand im Sinne des § 90, sondern alles verstanden, was Gegenstand eines Rechtsgeschäfts sein kann. – Mithin gilt auch eine Erbschaft als Sache im Sinne des § 119 Abs. 2, wonach ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Erbschaft zur Anfechtung berechtigen kann. 2. Überschuldung als verkehrswesentliche Eigenschaft – Problematisch ist jedoch, ob es sich bei der Überschuldung des Nachlasses um eine Eigenschaft im Sinne des § 119 Abs. 2 handelt. – Verkehrswesentliche Eigenschaften sind, außer der natürlichen Beschaffenheit der Sache, alle tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die nach der Verkehrsanschauung die Brauchbarkeit und den Wert der Sache beeinflussen (wertbildende Faktoren). – Nach der h.M. ist die Überschuldung des Nachlasses ein wertbildender Faktor (BGHZ 106, 359, 363; Brox/Walker, Rn. 311 m.w.N.; MünchKomm/Leipold, § 1954 Rn. 12ff). – Diese Beurteilung ist insofern problematisch, als der Wert der Sache grundsätzlich keine verkehrswesentliche Eigenschaft im Sinne des § 119 Abs. 2 ist. – Soweit der Irrtum über die Überschuldung des Nachlasses auf der fehlerhaften Beurteilung des Wertes bekannter Nachlassgegenstände beruht, 1 kann dieser Irrtum kein wirksamer Anfechtungsgrund sein. Denn dann wird über den Wert und nicht die wertbildenden Faktoren geirrt. – Zu den wertbildenden Faktoren gehört jedoch die Frage, mit welchen Verbindlichkeiten der Nachlass belastet ist. – Die Vollständigkeit der Schätzungsgrundlage zur Bewertung des Nachlasses ist also von der Bewertung des Nachlasses selbst zu unterscheiden. – Da Carls Einschätzung des Nachlasses nicht auf einer fehlerhaften Einschätzung der ihm bekannten Nachlassgegenstände beruhte, sondern ihm die Steuerforderung nicht bekannt war, ist die Überschuldung in diesem Fall als wertbildender Faktor anzusehen. Carl hat sich also über eine verkehrswesentliche Eigenschaft geirrt und somit liegt ein Anfechtungsgrund gem. § 119 Abs. 2 vor. 3. Kausalität – Die Anfechtung wegen des Fehlens einer verkehrswesentlichen Eigenschaft ist dann berechtigt, wenn die Kenntnis der wahren Sachlage bei objektiv verständiger Würdigung Anlass gewesen wäre, von der Erklärung abzusehen. – Zweifellos hätte Carl bei Kenntnis der fälligen Steuernachzahlung die Erbschaft nicht angenommen. B. Ergebnis Die Anfechtung ist bei Einhaltung der entsprechenden Voraussetzungen mit der Rechtsfolge des § 1957 Abs. 1 wirksam. 2
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