Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart KONZEPTE UND GESCHICHTE Wulf Schiefenhövel, Starnberg-Seewiesen Quo vadis, Humanethologie? Jeder wissenschaftlichen Disziplin steht es gut an, sich von Zeit zu Zeit einer Standortbestimmung zu unterziehen: Entwicklungen kritisch zu betrachten, sie in den zeitlichen Kontext zu stellen, vor allem aber, den Blick nach vorne zu richten. Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht die in den 1960er Jahren von Irenäus Eibl-Eibesfeldt begründete Humanethologie. Anfangs als Erweiterung der damals populären vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie) viel beachtet, wird sie nach der Hinwendung der Biologie zu molekularbiologischen und genetischen Fragestellungen im akademischen Milieu wie in der Öffentlichkeit nur noch wenig wahrgenommen. Sachliche Gründe hierfür gibt es nicht, wie die Aktivitäten einiger kleinerer, interdisziplinärer Arbeitsgruppen zeigen, die Teil eines lebendigen Netzwerkes sind. Vor allem aber sind es die für die Gestaltung des Zusammenlebens und für unsere Selbstwahrnehmung wichtigen Erkenntnisse, die die Humanethologie zu einem unverzichtbaren Bestandteil einer Wissenschaft vom Menschen macht. Der vorliegende Beitrag beruht auf der dritten Günter Tembrock Lecture, die 2013 auf Einladung der Humboldt-Universität zu Berlin und der Günter Tembrock Stiftung gehalten wurde. Q uo vadis? Diese Frage in unserem Sprachgebrauch stammt aus der Bibel, den Apokryphen des Neuen Testaments. Danach begegnet Petrus auf dem Rückweg von Rom Jesus mit dem Kreuz auf der Schulter fragt ihn: Domine, quo vadis? Jesus sagt: Venio ad Romam iterum crucifigi. Ich bin über diese Antwort von Jesus gestolpert, weil venire eigentlich kommen heißt, es kann auch gelangen heißen. Also vielleicht soll es heißen: Ich gelange nach Rom. Warum da nicht vado steht, weiß ich nicht und crucifigi muss Kirchenlatein sein, offenbar eine passivische Bildung. Das Interessante ist, dass die Frage quo vadis? in vielen Kulturen ein normaler Gruß ist. Good morning, bon jour, selamat pagi (Bahasa Indonesia) und ähnliches gibt es dort gar nicht. Man fragt denjenigen, dem man begegnet: „Wo gehst du hin, wo kommst du her?“ Ich finde interessant, dass diese sprachliche Floskel in unserer europäischen Tradition die biblische Anlehnung und einen skeptischen Unterton hat. Quo vadis? – wenn man das fragt, dann ist man fatalistisch: Wo kann es denn überhaupt noch hingegen? Ich möchte die Frage ins Gegenteil wenden: Die Humanethologie hat wichtige Aufgaben und eine gute Zukunft. Begriffliches zu Ethologie – Verhaltensbiologie – evolutionäre Anthropologie Es ist etwas schwierig mit dem Terminus Ethologie. Ethos mit Epsilon und in der gelehnten Form mit Etha (vgl. Ethos, Ethik) Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 Abb. 1. Günter Tembrock zu Ehren wird seit 2011 alljährlich eine Tembrock Lecture gehalten, zu der international führende Forscher über neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Verhaltensforschung berichten. [Photo Andreas Wessel] ist ursprünglich Heimat, Sitte, das Verhalten, das man in einer bestimmten Heimat zeigt, die Normen, die man dort einhält. Die frühen Ethologen haben passenderweise diesen griechischen Begriff benutzt, um ihre Wissenschaft zu beschreiben. Denn sie untersucht ja das speziestypische, übliche Verhalten von Tieren in einem entsprechenden Habitat. Die vergleichende Verhaltensforschung nutzt diesen Forschungszugang [1], in der Humanethologie wird er auf den Menschen gerichtet 179 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 179 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Konzepte und Geschichte Abb. 2. Irenaeus Eibl-Eibesfeld, der Begründer der Humanethologie, bei seinen Feldforschungen bei den Eipo (West-Neuguinea), 1978. [Photo CC-BY-SA.3.0] [2]. Das Schicksal beider Disziplinen ist derzeit an den Universitäten und Forschungsinstituten ähnlich: Der Trend geht weg vom Organismischen, Ganzheitlichen „zur siebten Sohle“, ganz tief, ganz heiß, ganz eng. Man weiß dann kaum noch, was „oben“ passiert, wie sich das Tier, der Mensch denn tatsächlich verhalten. Konrad Lorenz (1903 – 1989) und andere Ethologen der austro-deutschen Tradition, auch Günter Tembrock (1918 – 2011, Abb. 1), haben das aber immer zum Kern ihrer Herangehensweise gemacht [3 – 5]. In der evolutionären Psychologie, jüngere Schwester der Humanethologie, wird dagegen sehr häufig mit Fragebögen gearbeitet. „Real Life“ ist aber besser, wenn auch viel mühsamer. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, der Begründer des Fachs Humanethologie, hat, eine Anregung seines Kollegen Hans Hass (1919 – 2013) aufgreifend, die Methode der distanzierten Dokumentation des Verhaltens mittels 16 mm-Filmkamera und Spiegelobjektiv eingesetzt (Abb. 2) und das weltweit umfangreichste Inventar sozialer Interaktionen erstellt. Dieses Humanethologische Filmarchiv befindet sich seit 2014 in der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und wird hoffentlich bald in das „World Memory“ der UNESCO aufgenommen [6]. Der Vorteil der durch ausführliche Notizen gestützten filmischen Dokumente ist die dauerhafte Verfügbarkeit für die wissenschaftliche Analyse, die nun in Frankfurt auf internationaler Ebene ermöglicht werden wird. Die Wahrnehmung der Humanethologie wird nicht eben leichter gemacht durch weitere konkurrierende Bezeichnungen und Konzepte: „Verhaltensforschung“, „Verhaltensbiologie“, „Psychobiologie“, „Biopsychologie“, „evolutionäre Anthropologie“ (vgl. das Flaggschiff der Max-Planck-Gesellschaft, das MPI für evolutionäre Anthropologie, EVA, in Leipzig), die zu Beginn angelsächsische „Sociobiology“ und die ähnlich erfolgreiche, aus den USA stammende, soziobiologisch ausgerichtete „Evolutionary Psychology“, beide mit teils mathematisch orientierter Methodik zur Überprüfung von Prädiktionen, insbesondere der „ultimaten“ Auswirkung bestimmten Verhaltens auf den reproduktiven Erfolg. Allerdings wird letztere Überprüfung tatsächlich selten umgesetzt, vor allem, wenn es um die Anzahl der Nachkommen in der F2- und noch späteren Generation geht. Einige der führenden Protagonisten der Soziobiologie und 180 evolutionären Psychologie gehen davon aus, dass es praktisch gar keine nicht-adaptiven Weisen des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens und Verhaltens gibt, dass z. B. selbst die Schizophrenie und die tiefe Depression noch als Anpassung erklärt werden können. Meiner Meinung nach muss man immer in Betracht ziehen, dass es im Reich des Lebendigen natürlich auch echte primäre Pathologien gibt, wie den Suizid bei schwerst-depressiven Patienten. Anderen Pathologien liegen evolutionär-medizinisch gut verstandene Mechanismen zugrunde, wie unser Hunger nach leicht verfügbarer Energie, der unter den Bedingungen des modernen Schlaraffenlands in den Supermärkten zur weltweiten Adipositas-Epidemie, zum Diabetes Typ 2 und weiteren Erkrankungen führt. Selbstkritisch betrachtet ist die Suche nach und Beschreibung von Anpassungsleistungen, der „Adaptionismus“, eine Art Geburtskrankheit unserer Zunft. Balance zu halten und zu akzeptieren, dass es ontogenetische Unfälle in Körper und Geist und phylogenetisch gesehen nicht-ideale, suboptimale Lösungen gibt, ist vernünftig. Vielleicht fällt es uns in Europa etwas leichter, eine ausgewogene Position in diesen Fragen zu beziehen. In den Niederlanden z. B. gibt es ein fruchtbares Nebenund Miteinander von Soziobiologie und Ethologie (vgl. die Curricula der Universitäten Groningen und Utrecht). Mit Blick auf das stammesgeschichtliche Gewordensein unserer Spezies geht es der Humanethologie wie anderen Humanwissenschaften um die conditio humana (vgl. [7]): Was und wer sind wir Menschen eigentlich wirklich? Kulturrelativismus und einige seiner Irrwege Es gibt einige dramatische Beispiele dafür, dass nicht-empirisch ausgerichtete Forschung, die zudem negiert, dass Kulturen auch von biopsychisch vermittelten Universalien geformt werden, gewaltig in die Irre führen kann. Das berühmteste Beispiel ist Margaret Mead (1901 – 1978), die 1925 in den amerikanischen Teil Samoas reiste [8]. Es war die Zeit des sich etablierenden Kulturrelativismus, der vor allem von Franz Boas (1858 – 1942), Meads aus Deutschland stammendem Hochschullehrer und ein in verschiedenen akademischen Disziplinen sowie auf Expeditionen erfolgreicher Wissenschaftler, sowie von Ruth Benedict (1887 – 1948) und anderen vertreten wurde. Ich finde es hochinteressant, dass auf der westlichen Seite des großen Teiches, eine solches Paradigma entstand, das bald Züge einer Ideologie annahm. Man wollte nichts wissen von den darwinschen Evolutionsprinzipien, denn dann hätte man akzeptieren müssen, dass auch in uns Menschen bestimmte Programme und Handlungstendenzen wirksam sind. Im Osten, in der Sowjetunion, wollte man das ebenfalls nicht wahrhaben. Die Ethologie wurde dort regelrecht unterdrückt und in ein Samisdat-Dasein gezwungen. Es sollte der „Homo sovieticus novus“ entstehen. Alles ließe sich durch Schaffen einer bestimmten Umwelt beeinflussen. Dazu müsse man, so die Idee, möglichst früh bei kleinen Kindern eine Art Nürnberger Trichter auf den Kopf setzen, die neue Lehre hineingießen, und heraus komme ein neuer, moderner Mensch, der frei sei von seinen biologischen Zwängen. Beide Großmächte hatten also eine ähnliche Idee. Im Osten waren das ein verengter Pawlow sowie bis zu seiner Entlarvung Lyssenko, Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 180 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Schiefenhövel: Quo vadis, Humanethologie? im Westen Skinner und die kulturrelativistischen Kulturanthropologen Boas, Benedict und Mead. Eine ihrer Leitideen besagt, dass Kulturen je spezifische Ausformungen menschlichen Lebens repräsentieren und dass „the rhythm of culture and not the rhythm of physiology“ (so Mead 1958 [9]) bestimmend sei für uns. Mead hat in Samoa in einem amerikanischen Haushalt gelebt, also nicht im Dorf unter den Einheimischen wie es gute Tradition der Ethnographen ist. Sie hat auch nicht richtig Samoanisch gelernt und auf Spaziergängen mit jungen Frauen am Strand und bei anderen Gelegenheiten Erkundigungen eingezogen über deren Sexualität, ihr Gefühlsleben und ihre Rolle in der Gesellschaft. Im besten Fall ist sie Opfer ihres Wunschdenkens geworden, dass die Biologie eben nicht bedeutend sei für das Individuum. Im schlimmsten Fall hat sie Betrug begangen an der Ethnologie und der Bevölkerung Samoas. Sie schrieb ihrem Lehrer Boas, dass sie gefunden habe, wonach er suche und dass sie ihre Eindrücke in einem Buch (Coming of Age in Samoa, 1928 [8]) publizieren werde – ohne Daten! Es ist sehr erstaunlich, dass Boas, ein eigentlich an Fakten orientierter Wissenschaftler, das akzeptiert hat. Die Macht der Biologie auch über den Menschen zu verneinen, war ihm und der Gruppe aber wichtiger als gute Forschung. Mead sagte, sie wolle keine Aufzeichnungen vorlegen, weil sonst jemand ihre Daten missbrauchen könnte. Über das eherne Gesetz der Wissenschaften: „Daten auf den Tisch!“ hat sie sich nonchalant hinweggesetzt, und niemand in der Ethnologie und den anderen Wissenschaften vom Menschen hat damals protestiert. Und das, obwohl der Ethnologe Bronislaw Malinowski (1884 – 1942), der sich ebenfalls im Pazifik aufgehalten hatte, bereits 1922 eine auf tatsächliche Beobachtungen und auf in Kilivila, der Sprache der Trobriander, erhobene Informationen gestützte, großartige Analyse des kula-Tauschsystems vorgelegt hatte [10]. Auch er war, wie wir alle, Kind seiner Zeit, hat auf der Hauptinsel Kiriwina meist vergleichsweise luxuriös im Haus einer reichen Händlerfamilie gelebt und glaubte, ähnlich wie Margret Mead, in der Südsee ein sexuelles Paradies gefunden zu haben (The Sexual Life of Savages, 1929 [11]). Auch er wurde später in manchen seiner Behauptungen (z. B. dass die Trobriander den Zusammenhang zwischen Coitus und Schwangerschaft nicht wüssten) korrigiert. In Meads Fall haben Wissenschaft und Publikum das Samoa-Buch und weitere ihrer Publikationen enthusiastisch aufgenommen und tun es bis heute. Sie machte eine sensationelle Kariere, unter anderem war sie jahrzehntelang Präsidentin der American Association of Anthropology. Ihr Samoa-Buch hat Generationen von Ethnologen, Psychologen, Geschichtsforschern, Soziologen und alle „am Menschen“ Interessierte geprägt. Als Vorkämpferin der Befreiung vom Joch der Biologie wurde sie bejubelt. Es hat ziemlich lange gedauert, bis der ausgewiesene Samoa-Spezialist Derek Freeman (1916 – 2001) die Mead’schen Behauptungen unter die Lupe genommen hat [12]: Ihre Interpretationen der Kultur und vor allem des Verhaltens der Samoanerinnen und Samoaner ließen sich nicht halten. Bei Erscheinen der ersten veröffentlichten Kritik Freemans war sie gerade gestorben. Er hatte aber während ihres Lebens permanent mit ihr korrespondiert und auf Samoa sechs Jahre Feldforschung Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 durchgeführt, Daten erhoben, konnte Samoanisch und erwarb das erforderliche reiche Hintergrundwissen über die Kultur seiner Gastgeber, bevor er ihr Leben, ihre Traditionen und ihr tatsächliches Verhalten beschrieb. Kijken, luisteren, opschrijven, hat Jan von Baal (1909 – 1992), der Nestor der holländischen Ethnologie, seinen Studenten immer wieder gesagt: schauen, hören und aufschreiben. Das kann man nicht, wenn man im Haus eines Kolonialoffiziers wohnt, da muss man im Dorf leben, die Sprache oder zumindest eine dort gesprochene Handelssprache können, nach Möglichkeit alle Vorkommnisse dokumentieren und danach Erklärungen dazu einholen. Ein Großteil der Aussagen, die Mead zum Verhalten der Menschen machte, zur Bindung zwischen Mutter und Kind, zur Sexualität und anderen zentralen Bereichen des Lebens, sind falsch. Es ist ein großes Rätsel, wie sie, bis heute, einen solchen Einfluss in der Welt haben konnte. Gebildete Menschen, scheint es, suchen nach Alternativen zum Leben in der westlichen Kultur, zu den Zwängen des gesellschaftlichen Comments, wollen viel lieber glauben, dass der Homo sapiens Halbgott und nicht Tier sei. Es war Meads erklärtes Ziel, das sie auch ihrer Freundin Ruth Benedict in Briefen dargestellt hat, ihrem Lehrer Boas und der Welt zu zeigen: Es gibt eine alternative Gesellschaft – wir im Westen liegen falsch. Margaret Meads Fall zeigt: Wer ein eingängiges Paradigma aufstellt, das den Zeitgeist einfängt (vgl. [13]), hat nach wie vor Chancen, ein Millionenpublikum hinter sich zu versammeln, auch wenn die Aussagen auf tönernen Füßen stehen. Ein weiter großer Skandal war Benjamin Whorfs Arbeit über die „Zeitlosigkeit“ der Hopi. Whorf (1897 – 1941) arbeitete als Ingenieur und interessierte sich für Linguistik. Er war mit Edward Sapir (einem frühen Partner Magret Meads) in Kontakt, beschäftigte sich mit amerindischen Sprachen und „lernte“, wohlgemerkt in New York, von einem Hopi dessen Sprache. Ab Mitte der 1940er Jahre erschienen dann Publikationen, in denen Whorf behauptete, die Hopi hätten keine Begriffe für Zeit, sie lebten also in permanenter Zeitlosigkeit [14]. Man kann sich vorstellen, wie das im New York der damaligen Zeit des beginnenden Turbokapitalismus aufgenommen wurde; etwa: „Bravo, Mr. Whorf, fantastic, time is money, that’s what we think in the United States. You are describing a totally different society, excellent. That is what we need”. Diese Sicht der Hopi-Kultur wurde zu einem Eckstein der Sapir-Whorf-Hypothese, die bis heute ungemein einflussreich ist und im Kern besagt, dass jede Kultur einen eigenen Mikrokosmos darstellt, in dem je eigene durch linguistische Prozesse vermittelte mentale und emotionale Repräsentationen eine Konzeptualisierung der Welt erzeugen, die von Kulturfremden gar nicht oder kaum nachvollzogen werden kann. Es bedurfte eines in die USA ausgewanderten deutschen Lateinlehrers, Ekkehart Malotki, der 25 Jahre lang immer wieder mit den Hopi gearbeitet, ihre Sprache von Grund auf gelernt und ein massives Corpus an authentischen Texten vorgelegt und damit Whorfs Thesen komplett widerlegt hat [15]. Bernard Comrie, seit vielen Jahren Chef des linguistischen Departments des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, hat eine Rezension geschrieben [16], in der er sagt 181 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 181 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Konzepte und Geschichte groß. Auf die Leinwand unserer neoromantischen Wunsch(Übersetzung W. S.): „Wie konnte es passieren, dass Whorf jahrvorstellungen projizieren wir das Bild vom guten Wilden, der zehntelang der Säulenheilige des Kulturrelativismus war, der überhaupt nichts weiß von den Dingen, die uns umtreiben. Ist Idee, dass Sprache das Denken prädestiniert, und kein Mensch es nicht viel wahrscheinlicher, wie Darwin es gedacht hat, dass hat ihm die Frage gestellt: Stimmt das überhaupt?“ – schon uns sogar ein Band mit den Tieren eint, und dass wir als Menverblüffend. Fachleute, die Bescheid wissen, haben inzwischen schen einer Spezies in verschiedenen Kulturen ganz ähnlich die Hopi-Wende vollzogen. Trotzdem ist die Sapir-Whorf-Hypowahrnehmen, fühlen, denken und handeln? these nach wie vor ein Kernstück in vielen Wissenschaften vom Menschen – schade. In letzter Zeit gibt es einen ähnlichen Fall: Daniel Everett, Kulturenvergleich – den Universalien der Menschheit Missionar und Entwicklungshelfer, kommt aus einer südameriauf der Spur kanischen Gesellschaft zurück und behauptet, die Pirahã hätten Besonders in seinem bahnbrechenden Buch The Expression eine ganz andere Kognition als alle anderen Menschen, seien of Emotions in Man and Animals (Abb. 3) [21], traute sich Darsprachlich komplett unvergleichbar, sie könnten nicht zählen, win, eine Brücke vom Tier zum Menschen zu schlagen und Tiesie hätten keine Wörter für und keine Wahrnehmung von Farren psychologische Reaktionen zuzubilligen, dass sie nämlich ben, sie lebten quasi als Gefangene ihrer völlig traditionalen auf der Basis ganz ähnlicher Gehirne und einer ähnlichen KonKultur [17, 18]. Interessanterweise sind die Beispielsätze in stitution des Nervensystems in vielerlei Hinsicht ähnliche Empseinem Buch gespickt mit spanischen Vokabeln – so isoliert und findungen haben wie Menschen und sie auch körpersprachlich traditionell wie behauptet können die Pirahã also nicht sein. ähnlich ausdrücken. Noch 1980 wurde nach einem Treffen einiLinguisten haben seine Thesen auch recht bald entkräftet: „The ger Ethologen provokant formuliert, das Naturschutzgesetz sei linguistic evidence presented in Current Anthropology 2005 not dazu da, Menschen vor der Verrohung zu schützen (vgl. Horst only fails to support claims of Pirahã exceptionality but actually Stern zum Dissens in der Frage, ob Legebatterien artgerechtes suggests the opposite: that Piraha fits straightforwardly into the Verhalten zuließen und den Tieren zuzumuten sei [22]). Tieknown typology of human languages“ [19]. ren dagegen bestimmte Bedürfnisse wie Platz, Auslauf, ScharPirahã, so das Urteil der Fachleute, passt genau in das Spekren etc. zuzubilligen, sei unzulässige Anthropomorphisierung. trum der Nachbarsprachen. Everett wollte Chomskys These Darwin hätte das nicht so gesehen. Die von ihm begründete von einer Universalgrammatik falsifizieren. Also wieder ein Fall komparative Herangehensweise, für Eibl-Eibesfeldt [1], Günter einer „exzeptionell anderen“ Kultur, die man mit keiner anderen Tembrock [5], Gerhard Medicus [23] und andere evolutionsbio vergleichen kann. Ich warte darauf, dass eine tüchtige Ethnolologisch inspirierte Autoren typisch, hat in den letzten Jahren gin oder Linguistin oder auch ein männliches Pendant, zu den Tier und Mensch wieder näher aneinander gerückt. Sie ist ein Pirahã geht, zwei Jahre dort verbringt und ein vernünftiges Corwichtiger Baustein für die Humanethologie. Insbesondere trifft pus an Daten nach Hause bringt. Dann wird man sehen. Everett das wegen der phylogenetischen Nähe für die Einbeziehung war eine Riesensensation in der Presse, sein Buch Don’t sleep, der Primatologie zu, wie sie etwa von William McGrew in there are Snakes war 2008 sofort ein Bestseller. Cambridge zusammen mit anderen Autorinnen und Autoren Die Tasaday, eine angeblich im Paläolithikum steckengeblievertreten wird [24 – 26]. Sie geht von der grundsätzlichen Kulturbene Gruppe von „friedlichen Höhlenmenschen“ auf Mindanao fähigkeit unserer Cousinen und Cousins aus und hat inzwischen [20] bewirkten vor vielen Jahren einen ähnlichen Hype: Nun eine beeindruckende Fülle von tradigenetisch weitergegebenen hatte man endlich ein Modell der frühen menschlichen Existenz Verhaltensweisen nachgewiesen. und den Beweis, dass unsere Vorfahren sanft und pazifistisch Artenvergleichende Forschung ist für das Verständnis der waren. Allerdings waren die angetroffenen Individuen wohl conditio humana auch deswegen unabdingbar, weil man vor von einem philippinischen Politiker instrumentalisierte Perallem so erkennen kann, worin denn die tatsächlichen Untersonen, die vielleicht einer eigenen Sprachgruppe angehörten, schiede zwischen Tier und Mensch bestehen. Die Humanethojedoch mehr oder weniger engen Kontakt zu den gar nicht ferlogie hat zusätzlich die kulturenvergleichende Forschung in ihr nen Dörfern hatten. Sie hatten weder nähere Kenntnisse über methodisches Repertoire aufgenommen. Sie führt zur Frage, die Pflanzen in der Umgebung ihrer „Höhle“, noch konnten sie brauchbare Steinbeile herstellen. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass sie tatsächlich, wie behauptet, eine eigenständig lebende Gruppe, ein Überbleibsel aus der Prähistorie waren. Warum fallen wir permanent in diese Gruben hinein? Anscheinend ist, wie erwähnt, unsere Abb. 3. Aus dem wegweisenden Buch The Expression of Emotions in Man and Animals (1872) von Charles Sehnsucht nach einer alternaDarwin. Abbildung desselben Hundes, einmal in feindseliger, einmal in demütiger und zuneigungsvoller tiven Gesellschaft ungeheuer Stimmung – ein berühmt gewordenes Beispiel für Darwins „Prinzip der Antithese“. 182 Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 182 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Schiefenhövel: Quo vadis, Humanethologie? wie viele Universalien hat denn die Menschheit in den unterschiedlichsten Ecken ihrer Existenz? Nach wie vor ist hierzu das Buch Human Universals von Donald Brown ein beeindruckendes Grundlagenwerk [27]. Dem „Universale“, einem in Philosophie und Humanwissenschaften kontrovers diskutierten Topos, kann man sich pragmatisch nähern: Dinge, Institutionen, Weisen des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens und Verhaltens, die man bei Angehörigen aller Kulturen findet, gehören dazu. Es muss nicht unbedingt bei jedem Menschen Eifersucht da sein oder Territorialität und Wut, Aggression, wenn das eigene Kind oder Partnerin/Partner angegriffen werden. Aber im Prinzip sind Menschen eben im Stande, diese universalen Reaktionen zu zeigen. Bekanntermaßen gehören auch komplexe Denk- und Verhaltensmuster, wie sie zum Beispiel Teil jeder Religion sind, zu den überall aufgefundenen Charakteristika der menschlichen Kultur, ebenso wie Musik, Tanz, Spiel, Lyrik, visuelle Darstellungen, Architektur und andere Äußerungen des kunstbegabten Homo sapiens (vgl. [28]). Wir sind, unbeschadet einiger Unterschiede, die es unter anderem möglich machen, Populationen genetisch zu unterscheiden, eine Spezies mit einer Grundausstattung an Gehirnanatomie nebst Neurobiologie und Neurochemie. Die Frage ist: Welche Macht hat die jeweilige Kultur über diesen Teil unseres Körpers? Natürlich wird kein Humanethologe jemals leugnen, dass es gewisse Unterschiede des Denkens und Verhaltens in den Kulturen gibt. Nur, ob sie wirklich die basalen, essentiellen Anteile von uns betreffen, oder eher Überformungen von Grundmustern darstellen, das ist die Frage. Emotionen und ihr Ausdruck Emotionen, vor allem die zentralen wie die großen Sechs (Freude, Trauer, Ärger, Wut, Ekel, Überraschung): Sind die in den Kulturen ganz gleich oder leicht unterschiedlich, d. h. werden sie neurobiologisch, psychisch unterschiedlich erlebt, oder nur unterschiedlich beschrieben und bewertet? Das auszudiskutieren, dafür ist die Forschung da. Wir sind noch längst nicht am Ende mit unseren Erkenntnissen über die so ungeheuer komplexen Leistungen unseres Gehirns. Seitens der Evolutionsbiologie und der Neurobiologie besteht jedoch kein Zweifel: Der basale Bestand an hormoneller Steuerung, an Ausstattung mit Transmittersubtanzen, an mentaler, kognitiver Ausstattung, an Verhaltensweisen ist in allen Populationen identisch. Dass die romantische Liebe bei den islamischen Minangkabau im Süden Sumatras eher als Unglück (in einer solchen streng-religiösen und zudem patriarchalischen Gesellschaft kann das vor allem für Frauen ja auch tatsächlich, wie früher bei uns, ein großes Problem für ihre Ehe und ihre Stellung in der Gesellschaft darstellen), denn als beglückend empfunden wird [29], ist kein Beleg dafür, dass es diese spezielle Form der Zuneigung zu einem anderen Menschen nicht auch dort gibt. Im Gegenteil, man ist sich in dieser zwar matrilinealen, aber keineswegs matriarchal organisierten traditionellen islamischen Gesellschaft offenbar der Macht der romantischen Liebe besonders bewusst, die die Fesseln der kontrollierten Sexualität von Frauen zu sprengen im Stande ist. In wohl der weit überwiegenden Mehrzahl aller Kulturen Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 wird die Wucht der besonderen emotionalen Verfassung des Verliebtseins als etwas Besonderes, als etwas zumindest in der Phantasie Wünschenswertes, Zauberhaftes erlebt [30], auch wenn sie die Betroffenen wegen der damit verbundenen gesellschaftlichen Verstrickungen ins Unglück stürzen kann. Es handelt sich eben um einen Zustand, der nicht primär durch die jeweilige Kultur bestimmt, sondern ganz essentiell von der Gehirnchemie einschließlich Hormonen wie Testosteron, Östrogen und Oxytocin gesteuert wird. Daher sprechen die erotischen Gedichte und Märchen in der ganzen Welt von derselben „Sache“, wenn sie davon erzählen, wie sich A unsterblich in B verliebt hat und ohne den Anderen gar nicht sein konnte und wollte. In diesem Punkt unterscheiden wir uns sicherlich fundamental von den Tieren, auch von unserem engsten Verwandten. Liebesverhältnissen ähnliche Bindungen (consortships, vgl. [31]) haben z. B. bei Schimpansen den Vorteil, dass die Weibchen nicht vom Alpha-Männchen sexuell dominiert werden, also „female choice“ ausüben können, und dass niedrigerrangige Männchen auch Zugang zu fertilen, meist jüngeren und als Mutter unerfahreneren Weibchen erhalten. Solche Liebesallianzen abseits der Gruppe, in der Intimität, die (bis auf ein paar wenige Swinger) auch so typisch für den Sexualakt des Homo sapiens ist, gehen also auch Pan troglodytes-Frau und Mann ein, und man kann ruhig davon ausgehen, dass sie dann besondere Empfindungen füreinander haben. Doch der Gefühlssturm der romantischen Liebe, eines fast psychiatrisch relevanten Zustandes in Gehirn und Körper, der bisweilen die verbale Gestalt erotischer Lyrik annimmt, ist Mitgliedern unserer Art vorbehalten. Soziale Hautpflege Ein Verhaltensbereich, der enge Bezüge zwischen Mensch und Tier offenbart und gewisse Querverbindungen zur Sexualität hat, ist die soziale Hautpflege (grooming), das Lausen. Jeder Zoobesucher kennt das und fragt sich vielleicht: „Warum verbringen die Affen so viel Zeit damit, sich gegenseitig im Fell rumzuwühlen? Lohnt sich das?“ – Ja, es lohnt sich, sonst wäre das Verhalten nicht da. Immerhin machen Menschen das auch, und nicht zu knapp. Robin Dunbar, geschätzter Kollege aus dem Vereinigten Königreich, hat die Hypothese aufgestellt, dass die Sprache entstanden ist, weil die Homo sapiens-Gruppen zu groß wurden, so dass man nicht mehr jeden lausen konnte [32]. Deshalb sei, kompensatorisch, die Sprache entstanden, als linguistisches Lausen. Eine interessante Idee, doch sie stimmt meiner Ansicht nach nicht. Erstens laust auch in kleinen Gesellschaften, etwa in der erweiterten Familie, der Sippe, auch nicht jeder jeden. Zweitens hautpflegen sich Menschen einander ja unbeschadet ihrer Sprachfähigkeit ganz ungebremst weiter. Das ist zwar in England mit seinem schlechten Wetter vermutlich nur vor allem zur Sommerzeit in den Schwimmbädern öffentlich zu beobachten, jedoch in den traditionalen Gesellschaften der Tropen alltägliche Aktivität [33]. Auf der häuslichen Couch oder im Badezimmer überlebt auch im weitgehend läusefreien Zentraleuropa das Allogrooming. Vor allem Frauen haben eine Tendenz, sich der Haut ihrer Partner zu bemächtigen und Mitesser und andere störende Unreinheiten zu entfernen. Die Haut183 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 183 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Konzepte und Geschichte Abb. 4. Lausekette bei den Eipo. Soziale Hautpflege ist zugleich soziale Kontaktpflege. Die Hautpflege dient primär der Beseitigung von Parasiten und wird von dem Rezipienten wie dem Ausführenden gleichermaßen als wohltuend empfunden. Sie ist eine Universalie, die wir Menschen mit vielen sozialen Tieren teilen. pflege ist also mitnichten verschwunden aus dem Ethogramm des modernen Menschen. Möglicherweise brauchen wir die soziale Hautpflege dringend für unser Wohlbefinden, immerhin reagieren wir (meist) mit wohligem Schauer auf diese Art des Berührtwerdens, auch beim Friseur, bei der Massage, bei der Pediküre – Folge der Ausschüttung von Beta-Endorphinen, die erstaunlicherweise sogar beim Aktiven, dem „Groomer“ erhöht sind. Insofern könnte man begrüßen, dass die Kopfläuse (Pediculus capitis) langsam wieder Einzug in unsere Kindergärten halten und die Sprösslinge aufmerksam mit dem Läusekamm behandelt werden. Die Natur ist sparsam: Wenn einmal eine verhaltenssteuernde Substanz wie Beta-Endorphin erfunden ist, wird sie für einen Fächer von funktional verwandten Lebenssituationen genutzt. Einheimische in Melanesien wie die austronesischen Trobriander in der Solomon-See östlich Neuguineas oder die Eipo der indonesischen Provinz Papua im Hochland Westneuguineas, vermutlich auch Menschen in anderen Regionen der Welt, stecken die erbeuteten Nissen und Läuse gern in den Mund. Genauso wie unsere Verwandten im Zoo. Man fragt sich: Warum? – Proteinzufuhr? Die Bösewichter sind so winzig, dass dies kaum eine Rolle spielen kann. Möglicherweise wird auf diese Weise das Immunsystems mit Parasiten gefüttert, die so die Bildung von Antikörpern anregen [34]. Die Forschung hat sich dieses Themas noch nicht wirklich angenommen, das ja auch weitere Facetten hat. Menschen (man hat sogar schon junge, vermutlich erfolgreiche Herren des Bankenviertels mit gelockerter Krawatte in den BMW steigen und die offenbar archaische Handlung der oralen Beseitigung von Nasenpopeln ausführen sehen) machen solche Sachen, obwohl sie ganz und gar nicht der Etikette entsprechen. Interessanterweise reagieren Angehörige traditionaler Gesellschaften z. T. mit verlegener Scheu, wenn man sie beim Lausen photographiert oder darauf anspricht. Möglicherweise liegt eine intuitive Ablehnung animalischen Verhaltens aus dem Spektrum der Körperpflege vor; wie ja in unserer Spezies generell eine starke Tendenz vorhanden ist, sich von der biologischen Natur abzusetzen. 184 Bisweilen bilden sich regelrechte Lauseketten, d. h. die beteiligten Personen hocken hintereinander im Kreis. Bei den Eipo durften sich nur Angehörige desselben Geschlechts lausen, Männer und Buben hier, Mädchen und Frauen dort (Abb. 4). Darin drücken sich die für Papua-Gesellschaften ausgeprägte Trennung der Geschlechter und die Vermeidung möglicherweise sexuell getönter Handlungen aus. Besonders streng sind die Tabus, die körperliche Berührungen und Begegnungen von Schwester und Bruder regeln. Auf den Trobriand-Inseln hingegen war es durchaus üblich, dass Frauen Männer lausten, auch bei Kindern und Jugendlichen bestand in dieser Hinsicht keine Geschlechtertrennung. Auf den Trobriand-Inseln werden mit spitzen Stäbchen kleine, fast nicht sichtbare Milben aus der Haut entfernt, die zu Exanthem und Ekzem führen können. Die Krätze (Scabies) verursachende Milbe (Sarcoptes scabiei), die in Neuguinea oft von den Schweinen auf den Menschen übertragen wird, lässt sich durch derartige soziale Hautpflege zwar kaum bekämpfen, dennoch ist die biopsychische Verankerung dieses Verhaltenskomplexes aus spezifischer Motivation beim Akteur und spezifischen Empfindungen beim Rezipienten offensichtlich. Dorothea Strecke hat in ihrer Arbeit zeigen können, dass simple Rückenmassage bei Patienten einer Intensivstation (die daher permanent an ein EKG-Gerät angeschlossen waren) zu signifikantem Abfall in Herzfrequenz und periodisch gemessenem Blutdruck, systolisch und diastolisch, führte [35]. Diese funktionalen Kreisläufe mit integrierten FeedbackMechanismen, in der Stammesgeschichte lange vor den Primaten entstanden, stellen hochkomplexe Verhaltenssteuerungen dar, bei denen klarerweise auch ontogenetisch gemachte Erfahrungen in die Bewertung einfließen und etwa die Entscheidung beeinflussen, ob man einen Akt der sozialen Körperpflege zulässt oder nicht. Mensch und Tier sind vielleicht nirgends so ähnlich wie in der Hautpflege [36], die dem Frieden zwischen den beteiligten Individuen dient und ein Netz interpersonaler Bande in der Gruppe herstellt. Wer wen laust, ist ethologisch besonders interessant; beim Menschen sind es vor allem die Kinder, die in den Genuss dieser speziellen Aufmerksamkeit kommen, Frauen „lausen“ (bzw. entfernen Komedonen oder andere Hautunreinheiten) wohl Männer häufiger als Männer Frauen, gerade auch in sexueller Partnerschaft. Die soziale Hautpflege ist also keineswegs verschwunden aus dem Verhaltensrepertoire des Menschen. In den Industriegesellschaften gilt allerdings ein neues Hygieneideal: Parasiten auf der Haut, im Bett und in der Kleidung sind, so meinen wir, inakzeptable Zeichen schlechten Lebensstandards – und das trifft ja grundsätzlich auch zu. Verhaltenstendenzen, die uns (oft unbewusst) dazu bringen, stammesgeschichtlich fixierte Handlungsoptionen zu wählen, etwa zum Friseur zu gehen, wenn wir gestresst sind oder die Haut unserer Kinder, unseres Partners, unserer Partnerin mit besonderer Aufmerksamkeit zu bedenken, sind für die evolutionäre Betrachtung besonders interessant. Robin Dunbar hat also aus diesem Blickwinkel betrachtet nicht recht, wenn er annimmt, dass die menschliche Sprache als Ersatz für das vermeintlich ausgefallene Verhaltensrepertoire von Lausen & Co. entstanden sei. Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 184 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Schiefenhövel: Quo vadis, Humanethologie? Menschliche Mimik: Universalität par excellence Mundwinkel nach oben: Lächeln In seinem Bemühen, dem Ausdruck der Emotionen auf die Spur zu kommen, führte Darwin in Vorbereitung seines oben erwähnten Klassikers The Expression of Emotions in Man and Animals eine Art Fragebogenerhebung durch – vielleicht die erste dieser Art in der vergleichenden Psychologie und Ethnologie. Er sandte Briefe an Missionare, Kolonialbeamte und andere Personen, die in verschiedenen Teilen des damals fast weltumspannenden British Empire Dienst taten, und fragte sie danach, wie die Einheimischen an den betreffenden Orten bestimmte Gefühle, auch nonverbales „Ja“ und „Nein“, auszudrücken pflegten. Bei der Auswertung dieser Daten wurde dem Begründer der Evolutionslehre klar, dass es in der Tat universale mimische Zeichen gibt. Das Lächeln gehört dazu. Man stelle sich einmal vor, eine neue kulturelle Tradition würde verfügen, dass man lächeln müsse, indem man die Mundwinkel nach unten ziehe. Das würde nicht funktionieren. Die Verbindung der entsprechenden vorwiegend limbischen Erregungsmuster mit der neuromuskulären Einheit, die das Lächeln erzeugt, ist „hard wired“. Dem niederländischen Ethologen Jan van Hooff verdanken wir die Erkenntnis, dass das menschliche Lächeln aus dem Furchtgrinsen der Primaten entstanden ist [37]. Bei Schimpansen findet man ein mimisches Signal, das sie einem Interaktionspartner gegenüber zeigen, wenn die Situation angespannt, potentiell gefährlich ist: Sie aktivieren den Musculus zygomaticus und ziehen so die Mundwinkel nach oben und außen. Der Mund bleibt zu, damit wird klar signalisiert, dass keine Beißintention besteht (Abb. 5 a). So wird die Botschaft klar: „Ich bin nett und friedlich, bitte tu mir nichts!“ Vermutlich hatte der letzte gemeinsame Vorfahre der Schimpansenlinie und unserer Linie vor 5 bis 7 Millionen Jahren ein solches Verhalten. Dass aus dem Furchtgrinsen unser typisches und so bezauberndes menschliches Lächeln geworden ist, bei dem (in der Jugend a b d c e Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 zumindest) strahlend weiße Zähne gezeigt werden, ist eine aufregende Sache. Sie macht auch klar, dass wir eine zutiefst soziale Spezies sind, die mit Artgenossinnen und –genossen, auch fremden Individuen, freundlich-zugewandt interagieren kann. Mundwinkel nach unten: Trauer Die Abbildung 5 c zeigt unsere Tochter Lana, ein Jahr alt, die mit einem gleichalten Orang-Utan-Kind spielte. Wir wohnten damals im Zoo von Jakarta im Haus Ulla von Mengdens, der „Mutter“ dieser Menschenaffen aus Borneo und Sumatra, die sich der kleinen Orang-Kinder annahm, die man bei Wilderern aufgefunden hatte und für die man keine adäquate Versorgung fand. Die beiden entfernt verwandten Kleinen, Menschenaffe und Mensch, verstanden sich normalerweise recht gut. In dieser Situation hatte das Menschenkind jedoch die Intention des Orang-Kindes missverstanden: Der geöffnete Mund war kein Beißmund, sondern ein Spielgesicht (Abb. 5 b), und der beängstigend feste Griff des arborealen Tieres um Lanas Handgelenk sollte sie bewegen, mit ihm die Balustrade der Terrasse emporzuklettern. Lana reagierte mit Weinen und Angst: Der Musculus depressor anguli oris zieht die Mundwinkel nach unten, das typische Zeichen der Trauer, und über der Nasenwurzel bildet sich das von Lersch „Notfalte“ genannte Zeichen. Es entsteht, wenn die Augenbrauen durch den Musculus corrugator supercilii nach innen und der mittlere Teil des Stirnmuskels (M. frontalis) in Gegenbewegung nach oben gezogen werden. Trauer wird mittels nach unten gezogener Mundwinkel (vgl. „Depression“), Freude mit der antithetischen mimischen Bewegung nach oben signalisiert. Dieses Gegensatzpaar folgt dem von Darwin beschriebenen Prinzip der Antithese (Abb. 3) [21]; in dem von ihm gewählten Fall Dominanz bzw. Submission beim Hund signalisierend. Irenäus Eibl-Eibesfeldt [1], Paul Ekman mit Wallace Friesen [38] und andere Autoren haben die Universalität dieser und anderer Ausdrucksweisen für basale Emotionen transkulturell nachgewiesen. Besonders überzeugend war Eibl-Eibesfeldts Dokumentation des Verhaltens taub- Abb. 5. Die Mimik beruht auf fest verankerten neuromuskulären und neurophysiologischen Verschaltungen, mit der wir unsere Gefühle nonverbal ausdrücken und kommunizieren. Zwischenartlich kann dies zu Missverständnissen führen. – a. Furchtgrinsen eines Schimpansen: Der Mund ist offen, die Canini sind deutlich zu sehen. Aus diesem mimischen Signal entstand das menschliche Lächeln. – b. Spielgesicht: Der Mund ist geöffnet und die Lippen verbergen weitgehend die Zähne. Aus diesem Signal entstand das menschliche Lachen. – c. Die einjährige Lana mit einem gleichaltrigen Orang-Kind: Das Spielgesicht des Orang-Utan zusammen mit dem festen Handgriff wurde offensichtlich als bedrohlich empfunden, wie das entsetzte Gesicht zeigt. – d, e. Taubblind geborene Kinder, die uns angeborenermaßen ihre Gefühle über ihre Mimik mitteilen. [Abb. a, b: ‚Chevalier-Skolnikoff, c: W. Schiefenhövel, d, e: I. Eibl-Eibesfeldt] 185 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 185 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Konzepte und Geschichte blind geborener Kinder [39, 40], die also die mimischen Zeichen der anderen weder sehen (und nachmachen), noch mittels sprachlicher Erklärung über deren kommunikative Funktion informiert werden konnten (Abb. 5 d, e). Die armen, in permanenter Nacht und Stille lebenden Kinder weinen und lächeln genauso wie ihre sehenden und hörenden Altersgenossen. Einen stärkeren Beweis für die biologische Basis dieser Verhaltensweisen kann es nicht geben. Bereits Darwin hatte erkannt, dass blinde Kinder eine wichtige Studiengruppe sein würden, mit deren Hilfe man erkennen konnte, ob die spezifischen menschlichen mimischen Zeichen ein Produkt der Imitation von Gesehenem oder genuin biologisch gegründete Fähigkeiten seien [21]. Er hatte sich daher an den Leiter einer Blindenschule in London gewandt mit der Bitte um Auskunft. Darwin versäumt nicht zu bemerken, dass dieser Gentleman ein angesehener Pfarrer sei, und dass man daher seiner Auskunft vertrauen könne, dass nämlich blinde Kinder bezüglich des Ausdrucks ihrer Emotionen keinen Unterschied zu sehenden Kindern aufwiesen. Spielgesicht Das von dem kleinen Menschenmädchen missverstandene Spielgesicht des Orang-Kindes ist ein weiterer Beleg für die phylogenetische Kontinuität der biopsychischen Ausstattung von Tier (in diesem Fall Menschenaffe) und Mensch. Auch Haustiere fordern ihre Besitzer durch mehr oder weniger zärtliches Zubeißen mit den Lippen auf, sich ihnen zuzuwenden. Primatenkinder, sogar ältere Individuen dieser Arten, zeigen mit derselben Mimik ihre Bereitschaft zu entspanntem, wenn auch meist leicht agonistisch gefärbtem Spiel. Die Lippen sind charakteristisch gerundet, d. h. sie verbergen die Zähne, insbesondere die gefährlichen Eckzähne (Canini). So wird ganz klar: Der Mund ist nicht zum Zubeißen oder zu seiner Vorstufe, dem aggressiven Drohen, geöffnet, sondern in der Absicht, Spielkameraden zum spielerischen Balgen aufzufordern. Jan van Hooff hat überzeugend gezeigt, dass das menschliche Lachen aus just diesem mimischen Signal der Tiere hervorgegangen ist [37]. Es ist also eine ritualisierte Form der Aufforderung zur stark gebremst-aggressiven, eben spielerischen Auseinandersetzung mit Interaktionspartnern. Dass wir oft über andere lachen – einen einzelnen oder eine Gruppe – und uns auf ihre Kosten belustigen, lässt die tierische, also stammesgeschichtliche Herkunft des kontrolliert agonistischen Verhaltens gut erkennen. Es ist bedauerlich, dass im allgemeinen Sprachgebrauch, auch bei Profis der Sprache wie Journalisten, „Lächeln“ (blöderweise medial derzeit oft als „Grinsen“ apostrophiert) und „Lachen“ in einen semantischen Topf geworfen werden. Wenn man einmal verstanden hat, welche wunderliche, tief in unserer Stammesgeschichte wurzelnde Herkunft diese beiden mimischen Zeichen haben, wird man hoffentlich nicht mehr Opfer dieser Sprachverwirrung werden. Evolutionäre Medizin: Frühe Kindheit Auch das phylogenetisch-biologische Gewordensein unseres Körpers ist im Blickfeld unseres Faches, sind doch evolutionäre Medizin und evolutionäre Psychiatrie Schwestern der Human 186 ethologie. Getreu des Lorenz’schen Dictums: „Wenn was kaputt ist an einer Maschine, kann man deren Funktion leichter erkennen“ lassen Erkrankungen (z. B. die epidemieartige Zunahme von Adipositas, Diabetes, Allergien, Autoimmunerkrankungen und Bluthochdruck mit seinen cardiovasculären Folgen) erkennen, wie bestimmte Entgleisungen als „mismatch“ zwischen unserer plio-pleistozänen Ausstattung und der modernen Lebenswirklichkeit zustandekamen. Arbeiten zur natürlichen Geburt und der frühen Kindheit stehen im Zentrum der evolutionären Medizin wie der Humanethologie, vor allem seit klar geworden ist, dass wir auf dem Gebiet große Defizite haben und mit unserer Weise der Sozialisation Schäden an Leib und Seele verursachen [41], die sich auch mit dem eingesetzten gewaltigen Aufwand an Personal und Mitteln nicht oder nur schwer beheben lassen: durch verschiedene Formen von emotionaler Vernachlässigung und Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt, traumatisierte Kinder, Schreikinder, Kinder mit frühen Symptomen digitaler und anderer Sucht, ADHS, Autismus und anderen Persönlichkeitsstörungen. Gerade für die frühe Sozialisation sind die kulturenvergleichenden Arbeiten von besonderem Belang. In den traditionalen Kulturen sind Kind-zentriertes Stillen und andere Formen des Eingehens auf die Bedürfnisse des Kindes selbstverständlich. Bisweilen stillen Mütter sogar im Laufschritt, wenn sie aus dem Garten nach Hause eilen und der Säugling die Brust haben möchte (Abb. 6 a). Kleinkinder haben etwa während 60% der Tagesstunden Körperkontakt zu ihrer Mutter und anderen Personen aus ihrem engen Familienkreis. In der Nacht erhöht sich dieser Wert auf nahezu 100%, weil die Babys in Körperkontakt mit ihren Müttern schlafen. Renate Siegmund und ich haben auf den Trobriand-Inseln chronobiologische Messungen gemacht [42]. Die Mitglieder einer Familie erhielten kleine wie eine Armbanduhr zu tragende Aktometer, die alle Bewegungen der betreffenden nicht-dominanten Hand und des Armes über mehrere Tage aufzeichneten. Abbildung 6 b zeigt oben jeweils den Vater, der nachts fast reglos durchschläft, während Mutter und Baby genau übereinstimmende Aktivitätssignale aufweisen: Der Säugling wird nachts wach, die Mutter reagiert mit Lageänderung, Arrangieren der Position des Kindes und Stillen, so dass die beiden Kurven sich nahezu decken. Eine chronobiologische Symbiose, die hohe Qualität der Bindung zwischen den beiden bezeugend. Während der Tagesstunden verbringen Säuglinge etwa 15% der gesamten Zeit an der Brust, dies sind Phasen der tatsächlichen Nahrungsaufnahme sowie Phasen des nicht-nutritiven Trostsaugens [43]. In den westlichen Gesellschaften denken die meisten Menschen, Kinderaufziehen sei eine investive Einbahnstraße: Vom Still„geschäft“ bis zum Säubern, Wickeln, Herumtragen, Trösten und Beschäftigen müsse man einseitig Zeit und Energie aufbringen, die in das Baby gesteckt werden. Dieses Bild ist korrekturbedürftig, denn es berücksichtigt nicht, dass vom Kleinkind protektive, günstige Wirkungen auf die Mutter ausgehen. Wenn nach evolutionärem Muster gestillt und Co-Sleep praktiziert wird, ist die Mutter vor der postpartalen Dysphorie besser geschützt [44] als Mütter, die die bei uns immer noch weitgehend üblichen Formen der distanzierten Säuglingsfürsorge Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 186 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Schiefenhövel: Quo vadis, Humanethologie? a b befolgen: – nur wenige Monate eher Uhr- als Kind-zentriertes Bruststillen, – Baby in eigenem Bett oder sogar in eigenem Zimmer, – generell wenig Eingehen auf die kindlichen Signale aus Furcht vor via konditioniertem Reflex erzeugter Instrumentalisierung der Mutter und der Familie durch kindliches Weinen und andere Signale des Unmuts. Unser Leitbild ist das schön geschmückte Kinderbettchen im eigenen Kinderzimmer, in dem z. B. ein nettes Mobile von der Decke baumelt, auf das sich die Blicke des Babys richten sollen. Jedoch ist nichts ängstigender, als in Dunkelheit allein gelassen zu werden. Keine Primatenmutter macht so etwas, doch bei uns ist es die Norm. Damit man im Wohn- oder Elternschlafzimmer mitbekommt, wenn das Baby weint, hat man ein Babyphon in der Steckdose, das die Vokalisationen des Säuglings überträgt. Wir versuchen, die spezifischen Anforderungen, die ein Säugling an unsere physische und psychische Präsenz stellt, durch technische Tricks zu erfüllen. Das wird in der Regel eine schlechte Lösung sein. Nur in Körperkontakt ist Geborgenheit möglich, wenn Ängste und anderes Unwohlsein das Baby plagen. Doch der Mensch hat statt beruhigend wiegender Arme die Wiege, statt der Mutterbrust Saugflasche und Gummischnuller und statt des Tragens am sich fortbewegenden Körper von Mutter, Vater und anderen primären Bezugspersonen den Kinderwagen erfunden. Statt des Singens und Erzählens kommen in der letzten Zeit die digitalen Formen der Kinderbeschäftigung hinzu (vgl. [45]). Die humanethologische Forschung zeigt an eindrucksvollen Beispielen, wie sozial und pädagogisch kompetent sich Mütter und andere Bezugspersonen in traditionalen Gesellschaften Kindern gegenüber verhalten. In einem Film von Irenäus EiblEibesfeldt sieht man zwei Halbgeschwister, die sich streiten. Der ältere Bruder hat etwas zu essen, die kleinere Schwester will etwas davon haben. Der Bub dreht sich weg. Eine der Mütter kommt ins Spiel, lässt sich das Stück Nahrung geben und bricht es in zwei Hälften. Wahrscheinlich würde ein Großteil der europäischen Zuschauer vermuten: „Na klar, jetzt gibt sie dem einen Kind was und dem anderen auch“. Genau das macht sie aber nicht. Sie gibt beide Portionen dem Vorbesitzer zurück, respektiert also die überall auf der Welt gültige Besitznorm. Jetzt Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 Abb. 6. Die Mutter-Kind-Beziehung in traditionalen Gesellschaften lässt sich als eine Art Symbiose kennzeichnen. – a. Kind-zentriertes statt Uhr-zentriertes Stillen. Über rund 60% der Tageszeit ist das Kind in Körperkontakt mit der Mutter oder einer anderen Bezugsperson. – b. Beim gemeinsamen Schlaf zeigen Mutter und Kind hochgradig übereinstimmende Aktivitätssignale (mother BL/Infant BW), die Aktivitätssignale des Vaters (Father GW) weichen davon deutlich ab. Aus [42] hat der Bub zwei Teile und kann abgeben. Beide essen friedlich, eine wunderbare Lösung. In pädagogischen Lehrbüchern liest man, dass Kleinkinder nicht in der Lage sind zu teilen, weil sie zu egoistisch seien [46]. Haben die Autoren und Autorinnen noch nie erlebt, welche ungeheure Freude Babys haben, Essen mit einem anderen Menschen zu teilen? Man muss sich wundern: Der ethologische Blick der guten Beobachtung scheint oft zu fehlen. Trauer, Umgang mit dem Tod Trauer bei Verlust eines geliebten Menschen ist ein weiteres Universale. Man liest bei Herodot (Historien 5,3 – 10 [47]), dass eine Gruppe der Thraker, der Vorfahren der Rumänen, bei der Geburt eines Kindes wegen der auf es zukommenden betrüblichen Ereignisse geweint und beim Tod eines Menschen gelacht haben soll. Eine sehr zweifelhafte Schilderung, vermutlich einer der typischen Versuche, den Angehörigen einer in Luxus lebenden Hochkultur den Spiegel einer kraftvoll-heroischen Gesellschaft vor Augen zu halten. Die biopsychische Reaktion auf den unwiederbringlichen Verlust eines geliebten Menschen ist universale Trauer (Abb. 7). Dieser Schmerz ist schlimmer als körperlicher Schmerz. Wir weinen aus einem egoistischen Motiv, weil wir den Kontakt zu einen „significant other“ wie es in der englisch-sprachigen Literatur treffend heißt, verloren haben. Die exquisite Fähigkeit so intensiv zu trauern verrät uns, dass wir animal sociale sind. Wir weinen nicht wegen des ungewissen Schicksals der toten Seele, wir weinen, weil wir verlassen worden sind. In Neuguinea und – wie ich aus den Gesprächen mit Psychotherapeuten weiß – auch bei uns hat die Trauer häufig eine aggressive Note. Man will den Tod des geliebten Menschen nicht akzeptieren. In Neuguinea werden dann oft Anschuldigungen gemacht wegen angeblichen Todeszaubers, und es werden „Hexen“ und „Hexer“ getötet oder in den Selbstmord getrieben – nach wie vor, trotz eines intensiv gelebten Christentums. In unseren Ländern schleppen Hinterbliebene eine meist versteckte Trauer-Aggression, Kombination zweier elementarer archaischer Motive, mit sich herum und können sie dann oft nur in psychotherapeutischen Sitzungen verarbeiten. 187 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 187 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Konzepte und Geschichte Religion, die universale Suche nach Erklärungen Eine bereits von Lukrez entwickelte Hauptthese zur Entstehung der Religion bezieht sich auf die Angst vor dem Tod (vgl. [48]). Nach meinen Erfahrungen in Neuguinea seit 1965 sterben fast alle Menschen dort ruhig, gefasst und lehnen sich nicht gegen ihr Schicksal auf. Obwohl nach ihren traditionellen religiösen Vorstellungen ihre Seele keine schöne Zukunft vor sich hat. Für den Christenmenschen gibt es eine beruhigende Perspektive – er wird irgendwann zur rechen Seite Gottes sitzen, wenn er auf Erden kein allzu großer Sünder war. Trotzdem ist das Sterben bei Christen in unseren Ländern oft mit viel Angst besetzt. Ein Paradox. Die Seele der Eipo hat ein kaltes, unkörperliches Dasein, sie sehnt sich nach Umarmung durch einen geliebten Menschen, danach, ein Kind im Arm zu halten, an einem Fest teilzunehmen, gutes Essen und Gesellschaft zu genießen, mit anderen zu scherzen und zu lachen. Keine so schöne Vorstellung für das Weiterleben des Ichs. Trotzdem sind die Menschen ruhig im Angesicht ihres Todes. Ich glaube, es ist die normative Kraft des Faktischen, die das bewirkt: Sterben ist überall. Pflanzen sterben, Tiere sterben, Menschen sterben. Auf dieser Erfahrungsbasis lässt sich wohl auch der eigene Tod leichter akzeptieren. Ich glaube daher nicht, dass die Religion ihre primäre Wurzel in der Angst vor dem Tod hat. Eher schon in der Vorstellung, dass etwas der Person weiterlebt – offenbar ist es für den Homo sapiens unmöglich anzunehmen, dass der Tod das endgültige Ende aller personalen Existenz ist; das ist er in keiner der bekannten Kulturen. Der eigentliche oder zumindest ebenso bedeutsame Urgrund der Religiosität scheint mir die bei uns Menschen so stark ausgeprägte Suche nach Kausalität zu sein. Wir Menschen brauchen Erklärungen, machen uns ständig Gedanken darüber, warum alles so ist, wie es ist, formulieren Theorien über die Beziehungen der Erscheinungsformen des Unbelebten, des Belebten und des Übernatürlichen. Dazu ein Beispiel: Im Jahre 1976 erschütterten zwei schwere Erdbeben das Gebiet der Eipo; beängstigende Ereignisse auch für uns Europäer. Entsprechend den Vorstellungen ihrer damals noch animistischen Religion glaubten die Eipo, es gebe einen Riesen, der schlafe unten in der Erde. Wenn der Memnye, der „Tabu-Riese“ sich im Schlaf bewege, gebe es ein Erdbeben. Den Erkenntnissen der Wegener‘schen Plattentektonik entspricht das zwar nicht, aber es ist eine ähnlich beruhigende Erklärung für das Schreckliche, Staunenswerte und Rätselhafte. Das menschliche Gehirn, das Organ für die Suche nach Ordnung im Chaos der Welt, sucht verzweifelt nach Sinn und Kausalität. Wenn man im Fall eines Erdbebens die Erklärung hat, der Riese schläft normalerweise, der ist nur ein bisschen aufgewacht, dann wird er schon wieder einschlafen, kann man damit leben. Das Kausalitätsbedürfnis des menschlichen Gehirns ist meiner Ansicht nach das primum movens der Religiosität. Sie ruht sicher auch auf anderem evolutionspsychologischen Fundament; der gruppenselektionistische Vorteil einer in einer bestimmten Religion zusammengeschweißten Gruppe gehört auf jeden Fall dazu. Der Mensch projiziert, wie bereits die antiken Religionskritiker erkannten, seine Ängste, Wünsche und Vorstellungen gänzlich anthropomorph auf die Folie der Gottesvorstellungen: den testosterongesteuerten Zeus, die rachsüchtige Hera, allmächtige Götterfiguren des Hinduismus, den rächenden alttestamentarischen, nur seine Kinder beschützenden, also tribalen Gott, den gütigen, seinen Sohn zum Opfer machenden Gott des neuen Testaments, den sozialrevolutionären, unbequemen Jesus. Auch die tricksenden, menschlich-übermenschlichen Schöpfergeister und die ungezählten Natur- und Seelengeister der Religionen der Papua und anderer traditionaler Kulturen legen beredtes Zeugnis des Bedürfnisses ab, der Welt als Supermenschen gedachte, Wunder bewirkende, erklärende Beweger und Instanzen zugrunde zu legen. Ganz wie Ludwig Feuerbach es trotz Publikationsverbots und anderer Bekämpfung a b erstaunlich klar und kühn geschrieben hat [49]: „Die religiösen Glaubensinhalte vermitteln also eine Botschaft, sie geben Aufschluss über das ‚Wesen‘ des Menschen“ – eben nicht über Gott. (Zu den verschiedenen Aspekten der nun evolutionsbiologisch inspirierten Suche nach den Wurzeln der Religiosität vgl. [50]). Die klassischen europäischen Religionen verlieren mit dem Verlust der Glaubwürdigkeit ihrer Erklärungsangebote, ihres Wahrheitsanspruchs, dem Festhalten an von vielen als unrealistisch angesehenen Dogmen, wegen besonders luxuriöser Lebensführung sowie vor allem im Fall der katholischen Kirche wegen der schrecklichen Fälle sexueller Gewalt gegen Jungen Gläubige in erstaunAbb. 7. Der tiefe Schmerz beim Verlust eines geliebten Menschen ist universal. Der Umgang mit lichem Tempo. Die neuen Bundesländer der Trauer und das Abschiednehmen von den Toten ist in den Gesellschaften aber sehr unterschiedlich. – a. Trauernder Eipo. – b. Baumbestattung, Teil einer langandauernden Zeremonie. sowie Tschechien sind schon weitgehend 188 Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 188 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Schiefenhövel: Quo vadis, Humanethologie? atheistisch. Offenbar haben 45 Jahre Marxismus und real existierender Sozialismus ausgereicht, die latent auch früher schon vorhandene Skepsis gegenüber der protestantischen und katholischen Kirche zu bekräftigen. Interessanterweise geht die Entwicklung in den anderen ehemals von der Sowjetunion mit ihrer Staats„religion“ des marxistischen Materialismus beherrschten Staaten diametral entgegengesetzt vor sich: Von Russland bis Rumänien sprießen prächtige orthodoxe Kirchen in die Höhe, alte werden aufwendig renoviert. In Bukarest machen nach wie vor viele Menschen das Kreuzzeichen, wenn sie an einem Gotteshaus vorbei gehen, und in Polen ist der ohnehin stark in der Bevölkerung verwurzelte Katholizismus deutlich erstarkt nach der politischen Wende. In westeuropäischen Ländern fällt es dagegen den Menschen zunehmend schwer, an einen personalen Gott, das Weiterleben nach dem Tode oder die Auferstehung zu glauben. Nach Infratest Dimap glauben 67% der Westdeutschen und nur 25% der Ostdeutschen an „einen Gott“, 29% der Westdeutschen und 73% der Ostdeutschen sind nicht in dieser Weise gläubig [51]. Doch an die wahrsagerische Kraft des Horoskops (in Deutschland 19% [52]) oder andere esoterische Weissagungen, Versprechen oder Welterklärungen glauben erstaunlich viele. In Leutstetten bei Starnberg gibt es eine „heilige“ Quelle. Täglich kommen Autos z. T. mit Anhängern dort an und füllen Behälter mit dem Wasser. Das Gesundheitsamt hat eine Analyse in Auftrag gegeben: Das Wasser ist verseucht mit Coli-Keimen. All das tut dem Run auf die von den „heiligen drei Bethen behütete“ Quelle (www. Muetterblitz.de) keinen Abbruch. Homo sapiens folgt nach wie vor einem paläolithischen Impuls der Daseinsbewältigung. Die Aufklärung hat nicht wirklich stattgefunden. In der katholischen Kirche ist der Exorzismus immer noch eine offiziell anerkannte Form der Krankenbehandlung. Das Böse aus dem Körper zu vertreiben oder auf taschenspielerische Art daraus hervorzuzaubern (Extraktionszauber) ist ein weltweit verbreitetes Prinzip; es wird eine augen- und sinnfällige Therapie durchgeführt. Dem Homo symbolicus sind fast alle Analogien recht, wenn er in Not ist. Hauptsache man kann sich irgendwie Rettung versprechen. Der von der Humanethologie genutzte transkulturelle und evolutionäre Zugang zu den semantischen Zuschreibungen, die unser Gehirn permanent vollzieht, kann helfen, die wenigen typischen Grundvorstellungen zu beschreiben und zu erklären, mit denen unser Gehirn die Welt zu verstehen und zu kontrollieren versucht. Es sind eben nicht unzählig viele Topoi, die in den Religionen der Welt entwickelt wurden, sondern ein begrenzter Satz an universalen gedanklichen Mustern, die überall auftauchen. Erstaunlich nur, dass das seit ein paar Jahrhunderten stets präziser gewordene wissenschaftliche Weltbild in den Köpfen so vieler Menschen in unseren modernen Zivilisationen noch so wenig Verankerung gefunden hat. Die Beharrungskraft evolvierter magischer Vorstellungsmodi in unserem Gehirn ist ganz erstaunlich. Interessant aus der Perspektive der Humanethologie ist auch, dass viele lokale kriegerische Auseinandersetzungen seit dem Zweiten Weltkrieg entlang der Religionsgrenzen geführt werden. Der Bürgerkrieg in Nordirland wurde von Soziologen und Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 Politikwissenschaftlern als ein sozioökonomisch ausgelöster Konflikt dargestellt: zwischen reichen Engländern und armen Iren. Das ist meiner Meinung nach eine völlig unzureichende Beschreibung. Die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionen (und seien sie eigentlich Schwestern wie die Shia und die Sunna) und die damit auf Engste verquickte ethnische Identität sind der eigentliche Motor der Feindschaft, des tiefsten Hasses, wie wir ihn jetzt ja auch im Nahen Osten und in vielen anderen Ländern sehen. Die Identität stiftende Religion, ganz gleich welcher Art und Provenienz, schweißt wie wohl keine zweite vergleichbare vom Menschen erlebte und gestaltete Institution ihre Anhänger zu einer ungemein widerstandsfähigen und im Fall des Falles schlagkräftigen Einheit zusammen. Das Alte Testament und der inhaltlich daraus hervorgegangene Islam sind Musterbeispiele für die ethnozentrische Ausrichtung: Immer wieder wird die Ermahnung ausgesprochen, die Religion des Stammes zur Not bis auf den letzten Blutstropfen gegen die Ungläubigen zu verteidigen. Der Krieg der Religionen, den wir mittlerweile trotz beschwichtigender Versicherungen seitens Politik und Theologie ja im Grunde genommen schon haben, von Fanatikern selbst auf unserem Boden geschürt, bezieht aus den tribalen Überlebensstrategien unserer fernen Vorfahren seine vulkanische, schwer zu kontrollierende Kraft. Und es sieht nicht so aus, als würde das zumindest partiell wissenschaftlich begründete Modell des rationalen und toleranten Umgangs zwischen Gruppen, Völkern und Staaten bei den Fundamentalisten jeglicher Couleur irgendeinen Widerhall finden. Dennoch: Religiosität ist adaptiv. Jenen unserer Vorfahren, die solche Vorstellungen hatten, ging es wohl besser, sie waren nicht so sehr von unerklärlichen Vorgängen geängstigt wie ihre weniger gläubigen Zeitgenossen, lebten stressfreier mit den eingängigen Erklärungsmodellen, die ihnen die jeweilige Religion zur Verfügung stellte, ob ein Erdbeben erzeugender Riese in der Erde oder der die Wogen des Meers auftürmende erzürnte Poseidon. So ist es, das muss man als Ungläubiger neidvoll anerkennen, noch heute: Menschen, die glauben, leben, statistisch gesehen, länger, haben ein glücklicheres Leben und mehr Kinder [53]. Als rationale, opportunistische Entscheidung kann man eine sekundäre Hinwendung zur Religion wohl kaum vollziehen. Wer zu wenig der adaptiven Basisreligiosität, Spiritualität, wie man heute lieber sagt, in sich trägt, wird den Wandel vom Atheisten zum Gläubigen wohl nur unter besonderen Bedingungen durchmachen können – etwa in der finalen Verunsicherung angesichts des Todes. So geschieht es ja auch des Öfteren. Die Künste Eine weitere Facette universaler menschlicher Lebensäußerungen sind die Künste [28, 54]. Warum wollen wir schön sein und verändern unser biologisch gegebenes Äußeres auf vielfältige Weise (Abb. 8), durch Haartracht, Kleidung, Schmuck, Bemalung, Piercing? Warum sieht man in allen Kulturen, dass Alltagsgegenstände und Behausungen durch Formgebung, Farben, Schnitzen und andere Verzierung von einem reinen Gebrauchsobjekt in ein Kunstwerk verwandelt werden? Ellen Dissanayake hat das „artification“ genannt [55]. Etwas schöner, 189 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 189 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Konzepte und Geschichte auffälliger machen, als es von Natur aus ist, ist offenbar ein ganz starkes biopsychisch verankertes Motiv bei uns Menschen. Singen, instrumentale Musik sind, wie die Autorin vermutet, aus der für uns Menschen typischen Ritualisierung normalen Verhaltens in spezielle Kommunikationspakete entstanden, wie sie zum Beispiel in der vokalen und verbalen Interaktion („Motherese“) mit Säuglingen zu beobachten ist: höhere Stimmlage, langsames, betontes Sprechen, Wiederholungen. Dieser Kommunikationsmodus könnte ein Baustein unserer typischen Kunstsinnigkeit und Kunstfertigkeit sein. Melodisch ansprechend, rhythmisch sicher und kraftvoll singen können, einen emotional aufrührenden oder witzigen Text dazu erfinden und aufregend tanzen sind sehr wahrscheinlich Eigenschaften, die seit der Frühzeit von den anderen, insbesondere möglichen Sexualpartnern, als attraktiv empfunden werden (vgl. [56 – 62]). Abb. 8. Artifikation: Sein naturgegebenes Äußeres zu verändern, wie auch Dinge des Alltags zu verschönern und ihnen einen persönlichen Stempel zu geben, ist ein universell verbreitetes menschliches Bedürfnis. Physisch schön zu sein, wegen körperlicher Vorzüge bewundert zu werden, ist fest verankert in unserem Repertoire an dringenden Wünschen – so sehr, dass die Ikonen der modernen Glitzerwelt als Projektionen dieses Wunsches bis zur Anbetung verehrt und in der Schönheitsindustrie unfassbar hohe Summen verdient werden. In den USA betragen die geschätzten Ausgaben für kosmetische Eingriffe etwa 10 Milliarden Euro, in Deutschland zwischen 800 Millionen und 1,8 Milliarden [63]; dazu kommen die Einnahmen der Kosmetikindustrie, in Deutschland ca. 7,2 Milliarden [64]. In der paläolithischen Höhle war neben Intelligenz, sozialem Geschick, Kreativität und Vitalität physische Attraktivität sicherlich ähnlich wichtig wie heute. Durch Symmetrie von Gesicht und Körper, schöne Haut und Haare, geschmeidige Bewegungen und ähnliche Eigenschaften signalisierten Frau und Mann Gesundheit, Fitness und Fertilität. Jemand, der dazu noch einen Schmuck trug, zog wohl die Augen der anderen in besonderem Maße auf sich und wurde dadurch vermutlich begehrenswerter. Denn einen wertvollen Schmuck aus oft schwer zu beschaffenden Rohmaterialien selbst herstellen zu können oder gute soziale Kontakte zu haben, über die der Schmuck bezogen werden konnte, bezeugte Geschick, Geschmack und/oder hohen eigenen Rang oder Ver190 bindungen zu Personen mit Zugang zu seltenen Ressourcen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Schmuck, wie Marian Vanhaeren zeigen kann, schon vor 100 000 Jahren hergestellt und getragen wurde und im Europa des Aurignacien eine erstaunliche Vielfalt erreichte [65]. Mittlerweile wurde in der KrapinaHöhle in der Tschechischen Republik sogar ein noch älterer Schmuck, wahrscheinlich ebenfalls eine Halskette, gefunden, die aus den Krallen eines Adlers hergestellt war; nicht nur von einem Vogel (den man vielleicht verendet gefunden hatte), sondern von mehreren Individuen dieser eindrucksvollen Tiere [66]. Symbolik par excellence, und das bei den Neandertalern, denen man bis vor kurzem nur eine ziemlich krude Intelligenz zugetraut hatte ... mittlerweile mutieren sie langsam zu den Intellektuellen der Eiszeit – Homo symbolicus überall und schon ganz früh. Auch wer besondere Fähigkeiten hatte, etwa die Maler (oder vielleicht Malerinnen?) der atemberaubenden Bilder in den Grotten von Chauvet und Lascaux, jene, die Venusfigurinen und andere Darstellungen aus Stein, Elfenbein und ähnlichem Material formen konnten, oder jene, die ums Feuer sitzende Gruppe mit gekonntem Tanz, einem erotisch aufgeladenem Lied (vgl. [30]), einem Märchen oder einer Mythe (vgl. [67]) bezaubern konnten, wurden, das kann man im Schluss von heute auf damals getrost annehmen, bewundert und begehrt und hatten, statistisch gesehen, vermutlich besonders gute Chancen, mit einem präferierten Partner, einer präferierten Partnerin Kinder zu bekommen und erfolgreich großzuziehen. Warum die für uns so typische Kunstfertigkeit auf verschiedenen Gebieten und die Liebe zur Kunst Teil der conditio humana ist, lässt sich also aus diesem evolutionären Ansatz recht plausibel erklären. Dazu kommt die identitätsstiftende, gruppenbindende Funktion vieler der Aktivitäten, die das Künstlerische im Menschen ausmachen: Zusammen singen, tanzen, rhetorisch ansprechende Reden hören, sich von Werken der visuellen Kunst in den Bann nehmen lassen, insbesondere wenn die Bilder und Bauten in sakrale Zeremonien und Traditionen eingepasst sind, führt im Allgemeinen zu einer Festigung der Bande innerhalb der Gruppe. So kann also auch ein gruppenselektionistischer Effekt angenommen werden, der für das Funktionieren der gemeinsam agierenden Personen ein entscheidender Vorteil in der Konkurrenz gegen andere sein kann (vgl. [2]). Abschließende Bemerkungen In der derzeitigen Forschungslandschaft befindet sich die Humanethologie wie ihre tierische Schwester, die Ethologie, und ebenso wie die Anthropologie nicht gerade im Aufwind der herrschenden Strömungen, die von Zeitgeist und Forschungspolitik erzeugt werden. Organismische Forschung hat es schwer im Konkurrenzkampf gegen hochauflösende teure Disziplinen wie Molekularbiologie und Neurowissenschaften. Der Blick auf die Oberfläche, die Ganzheit von Individuen und Spezies darf zwar nicht verlorengehen, dessen ist man sich in der akademischen Welt partiell gewiss – doch eine Umkehr des Trends ist vorerst nicht in Sicht. Das von Konrad Lorenz immer wieder angemahnte (von ihm selbst allerdings nicht immer beherzigte) Studium des „Viechs“ in seinem Habitat ist ein Kennzeichen auch Naturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 190 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Schiefenhövel: Quo vadis, Humanethologie? der Humanethologie. Die von Irenäus Eibl-Eibesfeldt unter Mitarbeit des Teams der damaligen Forschungsstelle für Humanethologie in der Max-Planck-Gesellschaft zusammengetragenen Filmdokumente und ethnographisch-sozialanthropologischen Daten aus fünf modellhaften Kulturen und einigen weiteren Gesellschaften [6] sind ein Paradebeispiel für diesen ganzheitlichen Zugang: Natürliches Verhalten wurde in natürlicher Umgebung festgehalten. Damit ist ein Gegengewicht geschaffen zu den vor allem in der psychologischen und evolutionspsychologischen Forschung vorherrschenden Fragebogenerhebungen. Die internationale Gesellschaft für Humanethologie (ISHE) fördert diesen wissenschaftstheoretisch bedeutsamen Zugang ebenfalls: Die jedes Jahr ausgelobten Preise werden vor allem an jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben, die „real life“-Studien durchführen [68]. Im Kanon der Universitäten ist die Humanethologie zwar nicht gut vertreten, aber es gibt erfreuliche Ausnahmen: Seit 25 Jahren wird die im Curriculum der Universität Innsbruck verankerte, von Gerhard Medicus initiierte und von ihm und mir (früher auch in Kooperation mit Margret Schleidt) gehaltene „Einführung in die Humanethologie“ gelesen. Viele Diplom-, Master- und Doktorarbeiten sind aus dieser Veranstaltung hervorgegangen. An der Universität Wien wurde auf Initiative von Karl Grammer die Humanethologie zu einem in die Anthropologie eingegliederten Lehrfach. An der Universität Osnabrück werden unter Leitung von Heidi Keller kulturenvergleichend-humanethologische Feldstudien durchgeführt, an der LMU München wird die Humanethologie durch Johanna Forster vertreten, die auch an der Universität Graz eine Vorlesung mit humanethologischen Schwerpunkten hält, sowie – im Rahmen der Musikwissenschaft – durch Gerhard Apfelauer; sie spielt an der LMU auch in den Forschungsarbeiten an den Abteilungen von Gisela Gruppe und Thomas Cremer eine Rolle. In der Gruppe Humanethologie des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Seewiesen ist das „Eth-Arts Team“ (Gerhard Apfelauer, Johanna Forster, Christian Lehmann, Wulf Schiefenhövel und Christa Sütterlin) als Teil der Arbeitsgemeinschaft Humanethologie in der Gesellschaft für Anthropologie (GfA) aktiv, führt internationale Tagungen zum Thema Ethologie der Künste durch und hat kürzlich einen Band dazu herausgegeben [28]. Die Reichsuniversität Groningen bildet seit knapp 20 Jahren Studierende der biologischen Verhaltenswissenschaften auch in Humanethologie aus; der Kurs findet zunehmend Interesse, so dass 2015 die Teilnehmerzahl bei über 80 lag. Im weiteren europäischen und außereuropäischen Ausland ist die Humanethologie Teil des universitären Curriculums u. a. in Italien an der Universität Bologna, im Vereinigten Königreich (Oxford, Cambridge, Stirling/ Schottland), in der Tschechischen Republik an der Karls Universität Prag, in Rumänien (Bukarest, Cluj-Napoca/Klausenburg), in den USA (Clemson University, Clemson/SC, University of Michigan, Ann Arbor/MI, Wayne State University, Detroit/MI, University of Wisconsin, Madison/WI, University of Maine, Orono/ME), in Kanada (York University, Toronto) und in Brasilien (University of Sao Paolo, Federal University of Pará, Belém). In Belém fand im August 2014 der 22. Internationale ISHE-Kongress statt. Das 5. Internationale Summer Institute der ISHE wird im Mai 2015 von griechischen Kolleginnen und Kollegen in Athen ausgerichtet. Themen wie die ausgeprägte soziale Natur und Familiarität des Menschen, die Kulturen übergreifenden Universalien, Sexualität und Liebe, aber auch die so verstörende Neigung mancher Menschen, Kindern sexuelle Gewalt anzutun, die natürliche Geburt, die frühe Sozialisation, Aggression und Aggressionskontrolle, der körpersprachliche, insbesondere der mimische Ausdruck der Emotionen, die vor allem in Sprache und Kunst zum Vorschein kommende Symbolträchtigkeit unseres Denkens, das besonders in Situationen tiefer seelischer Ergriffenheit sich Bahn brechende Bedürfnis, psychische Erschütterung mitNaturwissenschaftliche Rundschau | 68. Jahrgang, Heft 4, 2015 Abb. 9. Humanethologie lehrt den Blick auf uns selbst. Improvisierte Vorführung von humanethologischen Filmen, die in den 1960er und -70er Jahren aufgenommen worden sind. Gebannt und fasziniert entdecken die Zuschauer sich und ihre Geschichte; Eipomek, 2013. [Photos, soweit nicht genannt: W. Schiefenhövel] tels packender Metaphorik und nicht in Prosa auszudrücken, der primär nicht-arbiträre Charakter der Semantik der Sprachen, unsere Anfälligkeit für Ideologien, unser Geschick mittels sozialer und politischer Strategien schwierig zu erreichende Ziele zu verfolgen, und das nach wie vor stark wirksame zentripetale Identifikationsgeschehen in ethnischen und religiösen Gruppen sowie die wegen der Tendenz zur Maximierung im Jetzt begrenzte Fähigkeit für kluge zukünftige Planungen (vgl. [69]): All dies sind wissenschaftliche und gesellschaftliche Felder, zu denen die kulturvergleichende Humanethologie auch weiterhin bedeutende Beträge leisten wird. Gerhard Medicus hat in seinem Buch Was uns Menschen verbindet. Human ethologische Angebote zur Verständigung zwischen Leib- und Seelenwissenschaften [23] die Erklärungskraft des evolutionären Forschungsansatzes auch und gerade für die psychischen und geistigen Elemente unserer menschlichen Existenz beispielhaft genutzt und baut in sorgfältiger Vermeidung des Evolutionsbiologen oft angekreideten „biologischen Reduktionismus“ eine Brücke über die geisteswissenschaftlich-naturwissenschaftliche Kluft zu Disziplinen wie Psychologie und Philosophie. Die Anthropologie als Wissenschaft vom ganzen Menschen ist im Zuge ihres Auseinanderdriftens in vielen Ländern leider zerrissen; es haben sich feindlich gegenüberstehende Lager gebildet. Die z. B. in vielen ethnologischen Instituten Deutschlands verbreitete postmodern-dekonstruktivistische Herangehensweise lehnt eine evolutionbiologisch-humanethologische Sicht des Menschen mit stammesgeschichtlich gewordenen Eigenschaften oft rundweg oder weitgehend ab und rückt sie in die Nähe gefährlicher politischer Ideologie, wie es schon in den 70er Jahren praktiziert wurde [70]. In der Humanethologie besteht allgemeiner Konsens, dass Homo sapiens als das lernfähigste Wesen, das die Evolution hervorgebracht hat, selbstverständlich auch von seiner Umwelt, von der jeweiligen Kultur beeinflusst wird. Die hochinteressanten Weisen der Interaktion zwischen Genen (und bis zu einem gewissen Grad auch den epigenetischen, nach einigen Generationen wieder aus dem Genom verschwindenden Mechanismen) und Umwelt, zwi191 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 191 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Konzepte und Geschichte schen nature und nurture wird uns bis ans Ende unserer Tage begleiten. Aufgabe der Wissenschaft ist, auf der Grundlage guter, durch neue Forschungsergebnisse bestätigter oder falsifizierter Empirie ein immer besseres Verständnis dessen zu erreichen, was wir Menschen wirklich sind, wie wir wahrnehmen, fühlen, denken und uns verhalten (vgl. Abb. 8). Bedeutsam für die Zukunft des Faches ist die bereits erwähnte Übernahme des einzigartigen humanethologischen Filmarchivs durch die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt. Damit erhalten die dortigen hochkarätigen Arbeiten zur Rolle der Kultur in der frühen Ausbreitung der Menschen (vgl. das in enger Zusammenarbeit mit Archäologen und Paläoanthropologen der Universität Tübingen durchgeführte und von der Akademie der Wissenschaften Heidelberg geförderte internationale ROCEEH Programm, www.roceeh.net) eine bedeutende Erweiterung. Es ist geplant, der weltweit beachteten Abteilung für Paläoanthropologie am Senckenberg eine neue Abteilung für Humanethologie hinzuzufügen. Wenn sich das realisieren ließe (die Chancen stehen nicht schlecht), wäre der Humanethologie, die über viele Jahrzehnte eine stabile Basis in der Max-Planck-Gesellschaft hatte, eine neue in der deutschen Forschungslandschaft bestens verankerte und international agierende Plattform gegeben. 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Jahrgang, Heft 4, 2015 Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 192 04.05.15 16:04 Nur zum persönlichen Gebrauch © Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart Schiefenhövel: Quo vadis, Humanethologie? and aesthetic preferences as mate choice criteria. Bulletin of the Psychology of the Arts 2, 20 (2001). – [58] S. Mithen: The singing Neanderthals. Weidenfeld & Nicholson. London 2005. – [59] C. Lehmann: Der genetische Notenschlüssel. Warum die Musik zum Menschen gehört. Helbig. München 2010. – [60] C. Lehmann: An Anthropological Checklist for Music Analysis. In: [28]. – [61] G. Apfelauer: Singen und Sprechen. Musikwissenschaftlichlinguistische Unterschiede zwischen beiden menschlichen Lautäußerungsformen. Utz Verlag. München 2011. – [62] G. Apfelauer: Aesthetics: Universal Quality of Musics Worldwide and a Biological Need. 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Wulf Schiefenhövel (geb.1943 im Siegen) studierte von 1963 bis 1969 Humanmedizin in München und Erlangen und hielt sich 1965 zum ersten Mal in Neuguinea auf, wo er Feldstudien zur Ethnomedizin durchführte, die ihn zu einem Mitbegründer der Ethnomedizin in Deutschland machten. 1974 – 1980 Forschungen im Rahmen des DFG-Projekts Mensch, Kultur und Umwelt im zentralen Hochland von West-Neuguinea und Der Autor bei einem Interview mit einer Eipo-Frau, 2009. seither regelmäßige Feldaufenthalte dort. Seit 1977 Mitarbeiter in der Abteilung Humanethologie von I. Eibl-Eibesfeldt, 2002 Leiter der AG Humanethologie am Max-Planck-Institut für Ornithologie (dem früheren MPI für Verhaltensphysiologie) in Andechs. Habilitation an der LMU in München, seit 1991 dort Professor. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher und Mitbegründer der Zeitschrift Curare – Zeitschrift für Medizinethnologie. Max-Planck-Institut für Ornithololgie, Eberhard-Gwinner-Straße, 82319 Seewiesen Kein Nachdruck, keine Veröffentlichung im Internet oder einem Intranet ohne Zustimmung des Verlags! 179_HB_Schiefenhoevel.indd 193 04.05.15 16:05
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