1973 formierten sich beim HC Lugano Fangruppen, die eine neu Art der Unterstützung in die Stadien brachten. Nach italienischem Vorbild wurde die Mannschaft mit Choreografien, Gesängen und Feuerwerk nach vorne getrieben. Im Interview erzählen Ugo Morselli (*1953) und Mauro «Mamo» Medolago (*1955), wie sie vor bald 40 Jahren die UltraWelt in die Schweiz brachten. «Wir wollten die farbigsten Fans der Schweiz sein» Interview: Saro Pepe / Bilder: StAAG/RBA 40 Welche Erinnerungen habt ihr an die ersten HockeySpiele, die ihr besucht habt? Mauro Medolago: Ich bin eher spät zum Eishockey gekommen. Als ich ein Junge war, gab es im Fussball das «Grande Lugano» der er-Jahre, das regelmässig mit Basel und Zürich um den Titel spielte. Die Faszination für das Hockey kam mit der ersten Aufstiegssaison des HC Lugano /. Ugo Morselli: Als ich in den er-Jahren noch in Zürich wohnte, ging ich öfters auf die Eisbahn Dolder an die Spiele des Grasshopper Clubs. kam ich ins Tessin und habe Mamo Medolago und seine Jungs kennen gelernt. Zusammen mit ihnen erlebte ich mein erstes Heimspiel des HC Lugano, ein Derby gegen Ambri, das wir : gewannen. Seit diesem Spiel habe ich – wie Mamo auch – insgesamt vielleicht zehn Heimspiele verpasst. Höchstens! Wie begann die Geschichte des organisierten Fantums in der Curva Nord? Medolago: Im Tessin waren die Ambri-Fans immer in der Mehrzahl, selbst in der Region Lugano. Das Verhältnis war etwa zu zugunsten von Ambri. Nun gab es in der alten Resega über den Stehplätzen eine grosse Uhr, unter welcher sich nach dem Aufstieg langsam jene Fans versammelten, die ein bisschen lauter und wilder waren. Mir kam die Idee, dass wir uns – auch wenn wir wenige sind – besser organisieren müssen, um etwas zu bewirken. Wenn Fans nahe beieinander stehen und singen, so ist das, wie wenn verstreut in der ganzen Curva Nord johlen. Wie seid ihr vorgegangen? Medolago: Uns war bewusst, dass wir viel mehr Leute brauchten. Also gründeten wir einen ersten Fanclub, die Black White Panthers. Den Leuten, die beitraten, erklärten wir, dass wir etwas völlig Neues aufbauen wollen, dass wir die farbigsten und fröhlichsten Fans der Schweiz werden wollten. Gab es Vorbilder? Medolago: Ja, in Italien war in dieser Hinsicht schon einiges im Tun. Wir orientierten uns speziell an den Basketball-Fans. Ihr «Indoor-Tifo» liess sich besser an das Hockey adaptieren, als der Stil der Fussball-Ultras von Milan. Wir gingen in dieser Zeit oft nach Varese zum Basketball. Die dortigen Fans waren es, die uns die ersten Adressen von Schal-Herstellern und Lieferanten von Tifo-Material gaben. Morselli: Von da an ging es sehr schnell. Eine Reihe neuer Fanclubs entstand fast gleichzeitig, weil die Leute fasziniert waren vom neuen Stil. Es gab den Fanclub Sbroja, die Ultras Fighters und die Forever Ultras Supporters. Insgesamt waren bald sicher Leute in den grossen Fanclubs organisiert. Das war die Hälfte der Kurve! Die andere Hälfte kam, um Freunde zu treffen oder weil es in war. Die Plätze in der Curva Nord waren in den er-Jahren bei allen Spielen besetzt. Man kam bei Türöffnung, Stunden vor Spielbeginn, und rannte ins Stadion, um sich seinen Platz zu sichern. Wie sah euer Support aus? Morselli: Wir hatten Trommeln, sicher fünfzehn Stück. Und wir hatten Konfetti. Viel Konfetti. Diese wurden zu Spielbeginn und bei Toren eingesetzt. Das gab es damals nicht in der Schweiz. Also sind viele nach Lugano zum Hockey gekommen, nicht nur wegen dem Spiel, sondern auch um das Spektakel auf den Rängen zu sehen. Medolago: Ich selber stand am Megafon und trieb die Masse an. Die Lieder adaptierten wir von populären Songs oder übernahmen sie von anderen Fans. Unser grösster Hit auf den Rängen war «Grande Lugano» zur Melodie von «Guantanamera». Die besten Songs vereinten wir auf Audio-Kassetten, die wir im Stadion verkauften. Diese hiessen «Dai Lugano» und Herausgeber war ein gewisser Flavio Maspoli (der skandalumwitterte Mitbegründer der Lega dei Ticinesi und spätere Nationalrat, Anm. d. Red). DIE ERSTEN ULTRAS Habt ihr auch Pyrotechnik verwendet? Medolago: Ja, sicher. Das war in geschlossenen Hallen bisweilen problematisch, aber auf offenen Eisfeldern ging das bestens. Rauchbomben waren beliebt, auch Leuchtpistolen und Fackeln. Die alte Resega war bis wie auch das Eisfeld in Ambri zum Glück nicht überdacht. Natürlich gab es schnell Probleme für den Klub, weil sie ständig Strafen zahlen mussten. Da wir das nicht gut fanden, mässigten wir uns ein bisschen. Kann man sagen, dass ihr es wart, die den Ultra-Gedanken in die Schweiz gebracht habt? Medolago: Ja, wir waren die ersten Ultras der Schweiz. Aber wir waren Ultras der er-Jahre. Das hat wenig gemeinsam mit dem, was man heute als Ultra bezeichnet. Der grösste Unterschied der heutigen Fans zu uns damals ist, dass sie heute immer incazzati (wütend) sind. Morselli: Wir gingen mit Freude ans Spiel, wir wollten Spass haben. Wir gingen nicht, um uns zu prügeln. Es gab keine Gewalt in den Stadien? Medolago: Doch, die gab es schon. Aber es ging immer ein Ereignis voraus, zum Beispiel ein Fehlentscheid. Heute scheint es mir, braucht es oft keinen Auslöser, keinen Anlass mehr – die Gewalt wird richtig gehend gesucht. Wenn heute zwei Fanlager per Zufall aufeinandertreffen, gibt es zwingend eine Schlägerei. Das war in den ern noch anders. Ausserdem warfen wir damals Eier aufeinander, nicht Fackeln. haben uns nach zwei, drei Jahren alle kopiert. Aber auch wir hatten unsere Form des «Tifo» ja bei anderen abgeschaut. Morselli: Wir waren schon der Referenzpunkt für viele in der Schweiz. Die Zeitungen schrieben über uns, sogar der «Blick». Wie hat der Klub auf diese neue Art von Fans reagiert? Medolago: Die Klubleitung war glücklich, aber auch verängstigt. Es freute sie, dass alle über Lugano redeten, auch wenn sie nur von den Fans sprachen. Weil sportlich kam im Hockey das «Grande Lugano» lange nach den grossen Zeiten der Curva Nord. Gab es Fangruppen, mit denen ihr euch gut verstanden habt? Medolago: Es gab ziemlich lange eine enge Fanfreundschaft zum SC Bern. Das ging solange gut, bis Bern in den erJahren zum grossen TitelRivalen von Lugano wurde. Der grösste Unterschied der Es kam die neue Fangene- heutigen Fans zu uns ration, die Erinnerungen an damals ist, dass sie heute die jahrelange Freundschaft immer wütend sind. gingen verloren. Heute gibt Mauro «Mamo» Medolago es auf beiden Seiten keine Fans mehr, die sich an die gute gemeinsame Zeit erinnern und was passiert: Schlägereien, Schlägereien, Schlägereien … Gab es ähnliche Fanclubs wie eure bei anderen Vereinen? Medolago: Am besten fand ich die Zuger. Einmal kamen sie nach Lugano, zogen alle weisse Handschuhe an und hielten Taschenlampen in die Luft. Das sah wirklich gut aus. Zuger und ZSCler hatten oft auch Wunderkerzen dabei. Natürlich Auf der anderen Seite der Sympathieskala stand wohl seit je Ambri? Morselli: Diese Rivalität begann, als Lugano erstmals in die Nationalliga A aufstieg. Vorher gab es im Tessiner Hockey nur Ambri. Lugano blieb bis in der NLA. Ein Jahr später stieg auch Ambri ab und die Rivalität ging eine Klasse tiefer weiter. Bis man gemeinsam wieder aufstieg. # Ugo Morselli Mauro Medolago 41 Medolago: Erinnerst du dich an die Geschichten, die zu unserem Abstieg führten? Ambri besiegte uns in der zweitletzten Runde im Derby. Zu diesem Zeitpunkt stand Chauxde-Fonds bereits als Meister fest und schenkte dem SC Bern einen Sieg, womit dieser sich aus der Abstiegszone retten konnten. Für das letzte Spiel kam Chaux-de-Fonds nach Lugano und wir hörten nicht auf, Münzen auf das Eis zu werfen, zum Zeichen ihrer Bestechlichkeit. Das Spiel musste unzählige Male unterbrochen werden. Es kam soweit, dass um Mitternacht der Bürgermeister veranlasste, dass das Licht im Stadion gelöscht wurde. Morselli: Das war der Vater von Clay Regazzoni. Nach diesem Vorfall bekamen wir eine Stadionsperre und mussten das Entscheidungsspiel gegen Langnau in Chur austragen. Wir reisten mit Fans an, verloren und stiegen ab. Wegen Ambri! Wegen Ambri? Morselli: Natürlich wegen Ambri! Sie hätten uns ja auch einen Sieg schenken können! 42 Was sind deine schönsten Derby-Erinnerungen? Morselli: Als das Eisfeld in Ambri noch nicht gedeckt war, gab es ein Spiel, vor welchem es ziemlich viel geschneit hatte. Das Eis wurde freigelegt, aber auf den Rängen kam es während des Spiels zu einer unglaublich intensiven Schneeballschlacht. Dann gab es die berühmte Geschichte, als sie die Lugano-Fans in Ambri im Januar bei minus Grad mit einem Wasserschlauch abspritzten! Waren die Derbys in den er-Jahren von Ausschreitungen begleitet? Medolago: Schau, am Schluss eines Hockey-Spiels bist du als Fan sehr, sehr müde. Du stehst drei, vielleicht vier Stunden in einer engen Masse, du singst, du schreist. Am Ende willst du nur noch ein Bier trinken und nach Hause fahren. Du hast keine Kraft mehr für eine grosse Hauerei. Natürlich gab es vereinzelt Vorfälle, aber sie waren meist harmlos. Wie war euer Verhältnis zu Zürich? Medolago: Wir hassten den ZSC. Wir hassten ihn wirklich. Eine durch und durch unsympathische Mannschaft mit unsympathischen Fans. Zürcher sind ja für die Schweiz in etwa das, was Luganesi im Tessin sind. Morselli: Die Rivalität bestand allerdings schon im Fussball in den er-Jahren … DIe erSTEN ULtRAs Medolago: Ein wichtiger Faktor war auch hier der sportliche: Der ZSC war immer unser Konkurrent um den Aufstieg in die NLA, und meist setzte sich der ZSC durch. Aber die Zürcher Fans waren krass: Sie kamen immer, wenn wir in der Nähe spielten, sei dies in Dübendorf, Rapperswil oder Wetzikon. Morselli: Ende der er-Jahre gab es ein Spiel in Dübendorf. Wir kamen aus dem Stadion und unser Bus war voll mit Eiern verschmiert. Schon kamen etwa ZSC-Fans um die Ecke, und wir versteckten uns im Bus. Unser Fahrer aber stieg aus, nahm die Schneeketten und schwang sie den Zürchern um die Ohren, bis die Polizei kam. Ein Held! Medolago: Im Hallenstadion gab es keine einzige Partie, bei der es nicht zu Problemen kam. Die Schwierigkeit in Zürich war immer, dass man keine organisierte Gruppe erkennen konnte, die man umgehen konnte. Man kam aus der Halle und – puff – bekam man von einem Umstehenden eins reingehauen. Deshalb versteckten wir sofort bei Spielschluss immer unsere Schals und schlichen uns davon. Beim Bahnhof Oerlikon wurde es dann doch oft noch sehr gefährlich. Auch bei Lugano gab es später Hooligans. Medolago: Natürlich waren unsere Fans nicht besser, nur waren wir stets weniger. In Lugano waren es die Ragazzi della Nord, die als erste gewaltorientiert auftraten. Das war die zweite Generation von Ultras beim HC Lugano. Junge, die auch auf Auswärtsfahrten durch viel Vandalismus negativ auffielen. Das missfiel dir? Medolago: Ja, ich hatte und habe meine Probleme mit ihnen, und sie mit mir. Sie bedrohten mich sogar, weil ich mich öffentlich gegen sie gestellt und sie kritisiert habe. Sie sagten zu mir: «Du darfst dich nicht negativ äussern, weil du ein Ex-Capo bist.» Sie sagen Feuer und Fahnen: Die Curva Nord 1982. heute: «Die ‹Mentalità Ultrà› muss immer gegen alles verteidigt werden.» Aber das ist doch mafiös! Deshalb sehe ich mich rückblickend nicht mehr als Ultra, sondern als «SuperTifoso». Wo liegt der Unterschied? Medolago: Ich versteckte mich nicht, ich trug die volle Verantwortung. Wenn es Probleme mit dem Klub oder mit der Polizei gab, ging ich hin und stellte mich den Vorwürfen. Ich redete mit allen, auch mit den Medien. Es gab keine «silenzio stampa». Ich stand hin und sagte: Ja, ich bin der Capo, was wollt ihr wissen? Warst du mit deiner Art beliebt bei den Fans? Medolago: In der Kurve versuchte ich, möglichst allen zuzuhören. Ich wollte, dass alle mich mochten, und ich versuchte, alle ernst und wichtig zu nehmen. Dadurch waren die Fans mir gegenüber sehr loyal. Heute hingegen hört man auch mal durch das Mikrofon in der Kurve, wie der Capo seine Jungs beschimpft: «Ihr seid zu leise, singt endlich lauter!» Das verstehe ich nicht. Wie kann man nur pausenlos aggressiv sein? «Bodycheck» – Die Stimme der Fans 1981 starteten die Fans des HC Lugano ihr Fanzine «Bodycheck». Zu Beginn wurde das Heft fotokopiert und mit Schreibmaschine und Rubbel-Buchstaben produziert, in einer Auflage von 500 Stück. Während der Hockeysaison erschien das Heft monatlich. «Die Idee dahinter war, den Fans eine eigene Stimme zu geben», so Chefredaktor Ugo Morselli, der auch Teilzeit als Journalist tätig war. Gefüllt war es mit Sport- und mit Fanthemen. Später wurde das Heft professionell gedruckt, steigerte die Auflage auf 1500 Exemplare und hatte Abonnenten in der ganzen Schweiz. Es wurden auch regelmässig exklusive Fanfotos veröffentlicht. «Bodycheck» erschien bis 1991, mit der 61. Ausgabe war Schluss. Als Erinnerung gab es im selben Jahr noch ein Buch mit den besten Artikeln aus zehn Jahren. 43
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