Phantastische Schule? Konstruktionen von Schule in JK Rowlings

Maxi Steinbrück
Phantastische Schule?
Konstruktionen von Schule in J. K. Rowlings Harry-Potter-Romanen
und Boris Pfeiffers Die Akademie der Abenteuer
Zusammenfassung: Sind die ‚phantastischen Schulen‘ der Kinder- und Jugendliteratur
auch gleichzeitig ‚gute‘ Schulen? Welche Merkmale sind es, die Hogwarts und die Akademie der Abenteuer als solche erscheinen lassen? Der Beitrag beantwortet diese Fragen
aus einer schul- und bildungstheoretischen Perspektive auf die literarischen Schulkonstruktionen und will damit aufzeigen, inwiefern eine solche Analyse das erziehungswissenschaftliche Nachdenken im Allgemeinen und die Diskussion um Kriterien, anhand derer sich die Qualität einer Schule feststellen lässt, im Speziellen anregen und bereichern
kann.
Schlüsselworte: Schulroman, phantastische Kinder- und Jugendliteratur, Literatur und Pädagogik, Harry Potter, Schulqualität
School of the Fantastic? Conceptions of School in J. K. Rowling’s Harry Potter
Novels and Boris Pfeiffer’s Die Akademie der Abenteuer
Abstract: In contemporary childrens’ literature and young adult fiction, few institutions in
recent memory have achieved as much popularity as have fantastic schools. Yet are these wondrous and often magical facilities of growth and learning also ‘good’ schools? What
are the characteristics that make Hogwarts and Adventure Academy appear as such? The
article approaches these questions from a school- and education-theoretical perspective
on literary conceptions of school. In this way, it shall be shown, how such analysis can
stimulate and enrich general pedagogic reflection as well as the specific discussion of criteria for what makes a school a good or bad one.
Keywords: school story, children’s fantasy, literature and pedagogy, Harry Potter, school
quality
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Phantastische Schulen = „gute“ Schulen?
„Jedoch ist Hogwarts nun einmal keine normale Schule. Um es nur gleich zu sagen:
Kein Kind von Sinnen würde sich dort unterbringen lassen.“ (Günther 2006, 352)
Keine normale Schule – aber eine ‚gute‘? Oder weshalb übt Rowlings Schulkonstruktion seit
nunmehr fast 20 Jahren eine derart große Faszination auf Millionen von Harry-Potter-Fans
aus? Waren wirklich alle Kinder und Jugendlichen, die sich bei der Lektüre der Heptalogie
nach Hogwarts träumten, „von Sinnen“?
Die Schuleffektivitätsforschung hat bereits zahlreiche Studien hervorgebracht, die als Essenz die wesentlichen Faktoren ‚guter Schulen‘ beschreiben und die unterschiedliche Wirksamkeit von Schulen zu erklären versuchen (vgl. Ramm 2006, 8). Eine Zusammenstellung
solcher School-Level Factors extrahiert etwa Marzano (2003, 19) und bringt sie in eine
Rangfolge hinsichtlich ihres Einflusses auf die Schülerleistungen: 1. Guaranteed and viable
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curriculum, 2. Challenging goals and effective feedback, 3. Parent und community involvement, 4. Safe and orderly environment, 5. Collegiality and professionalism. Es kann vorweggenommen werden, ohne die Spannung zu verderben, dass die meisten dieser Faktoren in
Hogwarts kaum eine Rolle spielen bzw. sogar offensichtlich negiert werden. Eine Einbeziehung der Eltern und der Gemeinde findet nicht statt, von einer sicheren und geordneten Umgebung kann im Krieg gegen Voldemort keine Rede sein und auch die Kollegialität und Professionalität der Lehrkräfte lässt häufig zu wünschen übrig.
Die Frage danach, ob und inwiefern es sich bei einer realen oder fiktionalen Konstruktion
um eine ‚gute Schule‘ handelt, ist bekanntlich auch maßgeblich von ihrem „intendierte[n] Bildungssinn […] in einem bestimmten gesellschaftspolitischen und historischen Rahmen“
(Moegling et al. 2016, 9) abhängig. So mögen etwa Klafkis (2007, 56ff.) epochaltypische
Schlüsselprobleme der Gegenwart für bestimmte Schulen in ausgewählten westlichen Gesellschaften tatsächlich Geltung beanspruchen – weder in den phantastischen Parallelwelten
noch in den marginalen Vierteln Perus (vgl. Rölker 2014) dürfte jedoch z. B. der „Entwicklung
der Einsicht in die Notwendigkeit, ressourcen- und energiesparende Techniken und umweltverträgliche Produkte und Produktionsweisen zu entwickeln“ (Klafki 2007, 59) als schulisches Bildungsziel besondere Bedeutung zukommen. Dies verdeutlicht zum einen die Notwendigkeit einer Kontextualisierung der Schule(n) (vgl. Freitag/Rölker 2010, 25) und die Beachtung dieser Kontextgebundenheit im Rahmen der Analyse, verweist zum anderen aber
auch auf das besondere Interesse an einer sehr grundlegenden, bildungstheoretischen Verortung der literarischen Schulkonstruktionen, die ein deduktives Vorgehen im Sinne eines
„Abgleiches“ nicht sinnvoll erscheinen lassen.
Seit der Veröffentlichung der Harry-Potter-Romane hat der Schulroman im Genre der
phantastischen Kinder- und Jugendliteratur seine Renaissance erlebt (vgl. Steinbrück 2015).
In seiner bislang vierteiligen Romanserie Die Akademie der Abenteuer (2010-2014) entwirft
z. B. Boris Pfeiffer eine solche Spezialschule für Kinder und Jugendliche mit einer ungewöhnlichen Beziehung zur Geschichte: die ‚Akademie für Hochbegabte des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten‘ – ein Ort, „der den Menschen die vergangene Zeit wirklich zurückbringt und ihre Geschichten erzählt“ (ADA 1, 37)1. Die Vorstellung von Bildung, die Pfeiffer seiner Schulkonstruktion zugrunde legt, ist das Konzept des forschenden Lernens, das
dem Kernelement des humboldtschen Bildungsideals entspricht und sich damit maßgeblich
von dem Bildungskonzept Hogwarts’ unterscheidet.
Vor dem Hintergrund einer schul- und bildungstheoretischen Perspektive geht der Beitrag
daher folgenden Fragen nach: Sind die konstruierten Schulen der phantastischen Kinderund Jugendliteratur auch ‚gute‘ Schulen? Welche Bildungsziele verfolgen sie, was lernen die
Schüler inner- und außerhalb des Unterrichts und welche pädagogischen und didaktischen
Prinzipien liegen dem zugrunde? Wie interagieren Lehrer und Schüler? Welche Rolle spielt
dabei die Schulleitung? Kurzum: Was zeichnet Hogwarts und die Akademie der Abenteuer
aus, was macht die Schulen zu solch faszinierenden Orten für die Protagonisten und damit
auch für ihre Leser?
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Bildungsziele und Fächerkanon
Bleiben wir zunächst bei den identifizierten Schlüsselproblemen Klafkis, auf denen er sein
Bildungskonzept sowie insbesondere sein Verständnis von Allgemeinbildung aufbaut (vgl.
Klafki 2007, 62), so ist auffällig, dass zumindest der Fächerkanon in den beiden phantasti1
Die Zitation der Primärliteratur erfolgt an dieser Stelle und im Folgenden unter Verwendung der Siglen ‚HP‘ für
die Harry-Potter-Romane sowie ‚ADA‘ für Die Akademie der Abenteuer in Kombination mit der jeweiligen Bandnummer.
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schen Schulen diesen Anforderungen auf den ersten Blick nicht standzuhalten vermag. Sowohl in Hogwarts als auch der Akademie der Abenteuer ist dieser fixiert auf spezifische
Themenbereiche und Disziplinen, die erkennen lassen, dass es sich jeweils um Spezialschulen mit besonderen Bildungszielen handelt.
In Hogwarts haben alle Fächer in irgendeiner Weise mit Magie zu tun: Während in Verwandlung und Zauberkunst klassischer Zauberunterricht erteilt wird, lernen die Schüler in
Zaubertränke die richtige Zubereitung von magischen Elixieren aller Art und das Fach Kräuterkunde vermittelt Kenntnisse über magische Pflanzen sowie deren Wirkungen. Verteidigung gegen die dunklen Künste spielt dagegen eine große Rolle für die ideologische Ausrichtung der Schule und die vormilitärische Ausbildung der Schüler. Nach der Machtübernahme der Todesser im siebten Band wird das Fach in sein Gegenteil verkehrt, indem die
Schülern in der Anwendung der dunklen Künste unterrichtet werden (vgl. HP 7, 582). Diese
Umkehrung und der damit verbundene Missbrauch verdeutlicht bereits die Brisanz des Faches innerhalb des Bildungskanons. Ein geringer Stellenwert in der Erzählung und innerhalb
des verpflichtenden Fächerkanons kommt dagegen dem Fach Astronomie zu, das zwar in
derselben oder ähnlichen Weise auch in der Realität unterrichtet werden könnte, wenn es als
Schulfach etabliert wäre (Karg/Mende 2010, 78f.) – durch die Verbindung zum Fach Wahrsagen und die Annahme, mittels Sternbildern ließe sich die Zukunft auf magische Art und
Weise voraussagen (Astrologie), lässt sich jedoch auch bei diesem Unterrichtsfach ein Bezug zur Magie sowie ein Zweck feststellen, der außerhalb der allgemeinen Bildung liegt.
Geschichte der Zauberei ist der einzige allgemeinbildende Unterricht im Pflichtfachkanon,
wenngleich mit ebenso klarem Bezug zur Magie und ausdrücklicher Beschränkung auf ihre
Geschichte, wie schon die Bezeichnung des Faches verrät. Das Bild dieses Unterrichts, das
in den Romanen gezeichnet wird, ist jedoch auch ein äußerst negatives: Es ist „nach allgemeiner Überzeugung das langweiligste Fach, das die Zaubererschaft sich je ausgedacht hatte“ (HP 5, 270). Hogwarts’ Bildungskonzept ist nicht auf allgemeinbildenden Unterricht ausgelegt, sodass es den Schülern nicht gelingt, die Bedeutung und Zusammenhänge des Faches zu erkennen. Als würde dies den Stellenwert allgemeiner Bildung nicht genug schmälern, wird dieses Fach zu allem Unglück auch noch von der personifizierten didaktischen Inkompetenz, Prof. Cuthbert Binns, unterrichtet. Binns ist eines Abends im hohen Alter vor
dem Kaminfeuer im Lehrerzimmer eingeschlafen und am nächsten Morgen zum Unterricht
aufgestanden, wobei er seinen Körper im Kaminsessel einfach zurückgelassen hat (HP 1,
147). Seither hat sich sein Tagesablauf nicht im Mindesten geändert – das Aufregendste,
was jemals in seinem Unterricht passiert ist, war, dass er einmal das Klassenzimmer durch
die Tafel betreten hatte (HP 2, 155). Er leiert Namen und Jahreszahlen mit einer dumpf
dröhnenden Prosodie ähnlich einem Staubsauger herunter, während die Schüler alles in ihre
Hefte kritzeln und nach einigen Minuten in einen Wachschlaf verfallen, aus dem sie nur gelegentlich aufmerken, um sich einen Namen oder ein Datum zu notieren (HP 1, 147; HP 2,
155f.). Durch diese überzeichnete Form des Frontalunterrichts mittels durchgängiger monotoner Lehrervorträge im einzigen allgemeinbildenden Pflichtfach Hogwarts’ wird die Frage
nach dem Sinn und der Aufgabe des Geschichtsunterrichts aufgeworfen, die in dieser Form
auch im wirklichen Leben existiert. Man könnte an Binns’ Unterricht, der sich auf die faktische Geschichte als Aneinanderreihung von Ereignissen konzentriert, die zwar als bedeutsam erachtet werden, deren Konstruktcharakter aber nicht hinterfragt wird, geradezu eine
Didaktik der Geschichte durchdiskutieren (Karg/Mende 2010, 82).
Noch viel besser würde sich hierfür jedoch Boris Pfeiffers Romanreihe Die Akademie der
Abenteuer eignen, in der sämtliche Fächer einen starken Bezug zur Geschichte aufweisen.
Werkmeister Zachus unterrichtet die Schüler im Fach Historische Werkzeuge und Experi-
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mente, bei Meister Spitznagel lernen sie alles über Antike Kochkunstkunde und für sportlichen Ausgleich sorgen Meisterin Abel und Meister Hardy in Antike olympische Disziplinen.
Es geht aber auch noch deutlich exotischer: Auf dem Stundenplan stehen neben relativ gewöhnlich anmutenden Fächern wie Mathematische Fragen, Ausgestorbene Sprachen oder
Musikinstrumentenkunde auch Fächer wie Buchmalerei und Handschriftenillumination,
Höchst seltene Anschwemmungsartefakte und Verschluss- und Öffnungstechniken ägyptischer Pyramiden. Bereits hieran wird deutlich, dass die Lehrlinge der Akademie keineswegs
nur historisches Spezialwissen anhäufen. Vielmehr wird die Schule einem allgemeinbildenden Anspruch gerade über die Auseinandersetzung mit der Geschichte gerecht und beantwortet damit das sog. Kanonproblem (vgl. Duncker 2008, 222f.) mit einem induktiven Vorgehen: Ausgehend vom Spezialwissen erarbeiten sich die Schüler fast beiläufig eine umfassende, breite und inhaltlich vielfältige Allgemeinbildung, die nicht nur Klafkis zweiter Bestimmung „Bildung im Medium des Allgemeinen“ gerecht wird, sondern im Sinne seiner dritten
Bestimmung auch die „unterschiedlichen Möglichkeiten menschlichen Selbst- und Weltverständnisses“ (Klafki 2007, 69) berücksichtigt, indem sie als „Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten“ (Klafki 2007, 54) neben den kognitiven etwa
auch soziale, ästhetische und praktisch-technische Zugänge sowie individuelle Interessensschwerpunkte ermöglicht. Ermöglicht wird dies jedoch nur durch ein Aufbrechen traditioneller
Vorstellungen dessen, wie der Schulalltag sowie der Erwerb und die Vermittlung von Wissen
organisiert sein müssen, um die Voraussetzung für solche Bildungsprozesse zu schaffen.
Während Harry, Ron und Hermine, wie fast alle Schüler in der westlichen Welt, einen Großteil ihrer Wochentage im Unterricht verbringen, ist dieser in der Akademie der Abenteuer lediglich ein Angebot, das wahrgenommen oder abgelehnt werden kann. Den Lehrlingen steht
es frei, sich in dieser Zeit eigenständig und auf selbstgewählte Art und Weise mit ihren
Fragmenten historischer Artefakte zu beschäftigen, die ihnen im Rahmen einer Zeremonie
zugeteilt werden, und ihnen somit etwas zu entlocken, das einen Hinweis auf ihre Herkunft
und Geschichte gibt. Gelingt dies den Schülern, so können sie durch ihre Forschungen ‚historische Fluten‘ auslösen – Zeitwellen, die durch die Akademie strömen (ADA 1, 40) und in
denen sie die Geschichte ihres Artefakts hautnah miterleben können. Doch nicht nur das
Auslösen von Fluten erfordert von den Lehrlingen viel Neugier, Geduld und einen starken
Forscherdrang; sich in ihnen zurechtzufinden ist nicht weniger komplex. Die Grundlagen dafür werden zwar in Direktor Saurinis Unterrichtsfach Gesetzmäßigkeiten der Fluten (kurz:
Flutkunde) vermittelt – die Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und den roten Faden der Flutgeschichte zu erkennen, erlernen die Schüler jedoch vor allem durch die
Praxis und die anfangs kaum zu vermeidenden Fehler und Misserfolge. Verlieren die Flutteilnehmer die Geschichte des auslösenden Artefakts aus den Augen, weil sie sich von etwas anderem ablenken lassen oder auf einem Nebenweg verirren, so zieht sich die Flut zurück und scheitert schlimmstenfalls vollständig. Ein solches Scheitern hat nicht nur zur Folge,
dass sich das entsprechende Artefakt auflöst und damit für immer verschwindet (ADA 1, 104;
ADA 2, 252), sondern durchzieht die ganze Akademie wie ein Erdbeben und lässt bei einer
großen Flut „sogar das Gebäude selbst erzittern und wanken“ (ADA 3, 122).
Das Bildungskonzept der Akademie basiert also maßgeblich auf dem forschenden Lernen, das sich am Prozess des wissenschaftlichen Vorgehens ausrichtet (Hof 2011, 27) und
damit selbst bei höchster Anstrengung nicht zum gewünschten Erfolg führen muss, sodass
das Lernen aus Fehlern und Misserfolg automatisch zu einem der zentralen, nicht-fachlichen
Bildungsziele wird. Bildungstheoretisch lässt sich die Idee des forschenden und selbstständigen Lernens (vgl. Moegling 2004, 28) wiederum mit Klafki (2007, 19) legitimieren, der Bildung als „Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung […], als Befähigung zur Autonomie,
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zur Freiheit eigenen Denkens und eigener moralischer Entscheidungen“ und dabei die
Selbsttätigkeit als „zentrale Vollzugsform des Bildungsprozesses“ versteht. In der literarischen Konkretisierung dieses Konzepts finden sich zum einen sämtliche Elemente, durch die
sich das forschende Lernen auszeichnet (vgl. etwa Mayer/Ziemek 2006), zum anderen untermalt Pfeiffers Schulkonstruktion Messners (2009, 24) These, dass auch Zehnjährige hierzu bereits im Stande sind. Letztlich geht Pfeiffer sogar noch einen Schritt weiter als die Erziehungswissenschaftler, wenn er die Schüler der Akademie nicht nur Erkenntnisse gewinnen lässt, die für sie selbst, also subjektiv, neu sind – hierauf bauen alle einschlägigen Definitionen des forschenden Lernens (vgl. etwa Reitinger 2013, 15; Messner 2009, 25) –, sondern die erfolgreiche, eigenaktive Suche nach objektiv, d. h. für die Allgemeinheit, neuen Erkenntnissen durch Kinder und Jugendliche als möglich erscheinen lässt.
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Unterricht und Lernen
Der Unterricht ist, im Gegensatz zu vielen anderen Schulromanen, ein zentraler Bestandteil
der Harry-Potter-Romane und wird außerordentlich facettenreich beschrieben. Es gibt gute
und schlechte, spannende und langweilige, lebendige und staubtrockene Unterrichtsstunden,
die der Leser aus Harrys Erzählperspektive miterleben darf. Diese detaillierten Schilderungen eröffnen über das reine Erleben hinaus die Möglichkeit, die didaktischen Prinzipien zu
ermitteln, die Hogwartslehrer ihrem Unterricht zugrunde legen, und nach den Ursachen für
die unterschiedliche Bewertung der einzelnen Fächer, Lehrer, Lerninhalte und Stunden
durch die Schüler zu fragen.
Den stärksten didaktischen Kontrast zum langweiligen Geschichtsunterricht bietet das
Fach Kräuterkunde, das von Pomona Sprout in den Gewächshäusern der Schule unterrichtet
wird. Am Stundenbeginn stehen häufig die Ankündigung, welche praktische Arbeit die Klasse
in dieser Stunde ausführen soll sowie ein kurzes fragend-entwickelndes Unterrichtsgespräch.
In diesem lehrerzentrierten Unterrichtseinstieg geizt sie keineswegs mit motivierender Anerkennung und Leistungsanreizen in Form von Hauspunkten für die richtige Beantwortung ihrer
Fragen. Meist folgt darauf eine kurze Unterweisung in die Sicherheitsvorkehrungen und auch
während der anschließenden praktischen Arbeit, die den Großteil der Unterrichtszeit beansprucht, mahnt Sprout die Schüler immer wieder zur Vorsicht im Umgang mit den gefährlichen magischen Pflanzen. Dennoch gibt sie den Schülern im Sinne einer konstruktivistischen, schülerzentrierten Didaktik die Möglichkeit, mit anschaulichem, lebensechten Materialen zu arbeiten (vgl. Booth/Booth 2003, 313), und schafft durch die anstrengende und anspruchsvolle körperliche Tätigkeit (vgl. HP 2, 99) einen Ausgleich zu dem ansonsten auf
kognitive Fähigkeiten ausgerichteten Unterricht. Dadurch ist Kräuterkunde auch das einzige
Fach, in dem der ansonsten lernschwache Neville glänzen kann. Sprout erkennt sein Talent,
fördert es, und bestärkt ihn in seinem Selbstvertrauen, indem sie anderen Lehrern von seinen herausragenden Leistungen in ihrem Unterricht berichtet (HP 4, 232).
Demgegenüber kommt es im Fach Zauberkunst vor allem darauf an, die psychomotorischen Fähigkeiten zu schulen. Nicht die Kenntnis der Zauberformel selbst, sondern deren
richtige Aussprache sowie die korrekte Ausführung der zugehörigen Zauberstabsbewegungen stehen im Mittelpunkt dieses Unterrichts. Professor Flitwick, ein winzig kleiner Magier,
erklärt zu Beginn die Grundlagen des jeweiligen Zauberspruchs, teils gespickt mit lustigen
Geschichten über Zauberer, die Fehler bei der Aussprache der Zauberformel gemacht haben
(HP 1, 188). Anschließend demonstriert er die richtige Ausführung, übt sie zunächst
kleinschrittig mit den Schülern und lässt sie schließlich paarweise selbstständig trainieren
(vgl. HP 1, 188; HP 3, 306). Insofern handelt es sich hierbei um klassisches Modelllernen
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mittels Beobachtung von Vorbildern und deren Nachahmung auf der Grundlage der sozialkognitiven Lerntheorie (vgl. Bandura 1976).
Die Unterrichtsmethoden im Fach Zaubertränke sind relativ unabhängig von der jeweiligen Lehrperson. Die Stunden bestehen vorwiegend aus dem selbstständigen Brauen verschiedener Tränke nach einem Rezept, das entweder dem Lehrbuch entnommen oder an
der Tafel angeschrieben wird (vgl. HP 2, 195) – einen Muggel mag diese Vorgehensweise
stark an einen Kochkurs erinnern. Während Snape unterdessen durch das Klassenzimmer
schreitet und Schüler drangsaliert, die Fehler bei der Zubereitung ihrer Tränke machen, sodass der Unterricht für Neville und Harry zur „wöchentlichen Folter“ (HP 1, 141) wird, belohnt
Slughorn richtige Antworten großzügig mit Hauspunkten und motiviert die Schüler zu konzentrierter und genauer Arbeitsweise mittels eines Wettbewerbs: Der Schüler, der sich bei
der Zubereitung eines anspruchsvollen Zaubertrankes am geschicktesten anstellt und das
beste Ergebnis fabriziert, gewinnt am Ende der Stunde ein Fläschchen flüssiges Glück (HP
6, 191). Während Snape insbesondere das Bedürfnis nach Strafvermeidung zur Motivierung
der Schüler ausnutzt, setzt Slughorn auf eine andere Form der sachfremden, extrinsischen
Motivation. Leistung ist in seinem Unterricht Mittel zum Zweck, um ein vorgegebenes Ziel zu
erreichen und Anerkennung, Geltung sowie (materielle) Zuwendung zu erfahren.
In Verteidigung gegen die dunklen Künste variieren hingegen nicht nur die Motivationsstrategien abhängig von der jeweiligen Lehrperson, diese beeinflusst stattdessen auch stark
den Ablauf des Unterrichts und die zu vermittelnden Lerninhalte: Quirrells Unterricht im ersten Schuljahr stellt sich direkt zu Beginn als Witz heraus; sein Klassenzimmer stinkt nach
Knoblauch und er berichtet den Schülern von wenig glaubwürdigen, haarsträubenden Abenteuern in fernen Ländern, die er vermutlich nie erlebt hat (HP 1, 148). Es handelt sich um
theorie- und lehrerzentrierten Unterricht, bei dem die Schüler die Lerninhalte von der Tafel
abschreiben und ansonsten untätig sind (vgl. HP 1, 240f.). Auch Lockhart bevorzugt den
Lehrervortrag als Unterrichtsmethode, zieht es jedoch vor, Geschichten aus seinem Leben
statt über fachliche Inhalte zu erzählen und zweckentfremdet die Methode damit, um sich
selbst darzustellen und zu inszenieren (vgl. HP 2, 104). An seine Stelle tritt im dritten Schuljahr der noch recht junge und schäbig gekleidete Remus Lupin. Die Schüler sind von den
praktischen Lektionen begeistert (HP 3, 136), hängen während den Vorträgen Lupins an seinen Lippen und schreiben eifrig mit (HP 3, 194). Lupin steht für einen Lehrer, der mittels Anerkennung, Lob, Belohnung, Ermutigung und Herausforderung die Schüler in ihrem Selbstbewusstsein bestärkt und in ihren Leistungen über sich hinauswachsen lässt. Er kombiniert
praktische Übungen geschickt mit theoretischer Wissensvermittlung, indem er kurz vor der
Praxisübung eine Phase des lehrerzentrierten, fragend-entwickelnden Unterrichts einbaut
(vgl. HP 3, 139), richtige Schülerantworten wertschätzt, den Zauberspruch mittels Vorsprechen und Wiederholung durch die Klasse im Chor mit den Schülern zunächst übt (HP 3, 140)
und die Textarbeit sowie die Ergebnissicherung in die Hausaufgabenzeit verlagert (vgl. HP 3,
145f.). Er lässt die Schüler ihre Fähigkeiten selbstständig erproben und ihre Grenzen austesten. Dabei fungiert er als Lernbegleiter, der sich im Hintergrund hält, in schwierigen Situationen aber dennoch sofort präsent ist. Dank Lupins motivierenden und anregenden Unterrichts
wird Verteidigung gegen die dunklen Künste schnell zum Lieblingsfach aller Schüler (HP 3,
147) und auch nach seinem Fortgang aus Hogwarts bleibt er für Harry und einige andere
Schüler der beste Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste, den sie je hatten (vgl.
HP 3, 436). An Lupin zeigt sich, dass auch die Schülerzentrierung nicht der Weisheit letzter
Schluss ist, sondern eine gute und gesunde Mischung aus selbsttätigen und lehrerzentrierten Unterrichtsphasen das anzustrebende Ideal sein sollte (vgl. auch Moegling 2004, 28f.).
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Ganz anders verlaufen die Unterrichtsstunden in Pfeiffers Akademie der Abenteuer. Einen
Klassenverband gibt es hier nicht: Schüler aller Altersstufen besuchen, unabhängig von ihrem Ausbildungsfortschritt, den gleichen Unterricht – sofern sie denn wollen, denn ihr Lernpensum stellen sie sich selbst zusammen (ADA 1, 49). Meister Zachus erklärt den ‚Frischlingen‘ Rufus, No und Filine daher zu Beginn ihres Aufenthaltes an der Akademie:
„[E]s steht jedem hier jederzeit frei, sich mit dem zu beschäftigen, was er für diesen
Tag am sinnvollsten hält. In der Akademie entscheidet ihr selbst, wann ihr in welchen
Unterricht geht. […] Aber da ihr noch keine Artefakte habt, rate ich euch, arbeitet an
den Grundlagen. Erwerbt Wissen und lernt zu verstehen. Je besser euer historisches
Wissen ist, desto größer sind eure Chancen, euch in einer Flut richtig zu verhalten.“
(ADA 1, 64)
Oft ist den Lehrlingen der Unterrichtsbesuch auch gar nicht möglich, weil sie entweder so
sehr mit der Erforschung ihres Fragments beschäftigt sind oder gerade in einer historischen
Flut stecken, die sie nicht verlassen können, ohne zu riskieren, dass sie deshalb scheitert.
Deshalb ist es auch selbstverständlich, dass die Meister sowie der Direktor die Lehrlinge mit
allen zur Verfügung stehenden Kräften und Mitteln bei der Bewältigung einer Flut unterstützen (vgl. ADA 2, 203), sowohl mit ihrem Wissen als auch mit der Bereitstellung von Räumlichkeiten, Nahrung und Informationsmöglichkeiten zum freien und ungestörten Forschen mit
ihrer Flutgruppe, denn „nur, wer in materieller und geistiger Freiheit forschen kann, wird so
forschen, dass er der Welt mit seiner Arbeit Erkenntnis und Schönheit schenken wird“ (ADA
2, 265). Es ist das zentrale Bildungsideal der Akademie, das in diesem Zitat zum Ausdruck
kommt, und das im Verlauf der Erzählung immer wieder durch Ökonomisierungsbestrebungen bedroht wird (vgl. insbesondere ADA 4). Obwohl die Schüler durch die Veranstaltung
eines sog. Flutmarktes, auf dem ausgewählte Artefakte der Akademie an Händler verkauft
werden, auch darin geschult werden, den Wert eines Artefakts zu bestimmen und die Gesetze des Handels zu lernen (vgl. ADA 2, 93f.), soll das Studium an der Akademie in erster Linie
nicht dem Gelderwerb dienen, sondern „Quelle des Wissens“ sein und aus „Liebe zur Weisheit“ betrieben werden (ADA 1, 31). Dieses Bildungsideal findet seine Konkretisierung sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unterrichts, der in den Werkstätten, Übungsräumen
und der Sporthalle der Akademie stattfindet.
In ihrer ersten Stunde stellt Werkmeister Zachus den drei Protagonisten eine Frage, die
sie in der Gruppe durch Nachdenken und Experimentieren beantworten sollen: Besteht die
gezeigte Königskrone wirklich aus purem Gold? Hierfür stehen den Lehrlingen sowohl die
Werkzeuge, Gerätschaften und Gefäße im Unterrichtsraum als auch der Meister für alle Fragen zur Verfügung. Dieser fungiert weniger als Lehrer, sondern mehr als Lernbegleiter, der
seine Schüler durch Ermunterung und Anerkennung unterstützt und kooperatives Arbeiten
fördert (vgl. ADA 1, 63-69). Sowohl Meister als auch Schüler legen während des Unterrichts
Verhaltensweisen an den Tag, die wohl an jeder normalen Schule zumindest für Irritationen
sorgen würden: Schülerin Coralia verschwindet mitten im Unterricht trotzig aus der Werkhalle, die Frischlinge unterhalten sich ungeniert mit den älteren Schülern über aufgabenfremde
Themen und Meister Zachus beendet spontan den Unterricht, weil einige der älteren Lehrlinge seine Hilfe bei der Bewältigung einer Flut brauchen (vgl. ADA 1, 70-74). Rufus stellt daher
rasch fest: „An der Akademie herrschten offenbar wirklich andere Regeln als in der Schule.“
(ADA 1, 75) An seiner alten Schule war er, genauso wie sein neuer Freund No, hoffnungslos
unterfordert. Beide langweilten sich im Unterricht zu Tode. No stritt sich deswegen heftig mit
seiner Lehrerin und Rufus schwänzte die Schule, um sich die Unterrichtszeit stattdessen im
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Museum zu vertreiben. Mit den Begriffen der Schulpädagogik ließe sich ihr Verhalten am
treffendsten als das von begabten Underachievern kennzeichnen. An der Akademie verabreden sie sich dagegen freiwillig zum Unterricht und sind mit Leidenschaft und Tatendrang
bei der Sache. In Die Akademie der Abenteuer wird die Schule im wahrsten Sinne des Wortes zu einem „Ort des Staunens“, an dem es gelingt, die Schüler für das Lernen zu begeistern (vgl. Moegling et al. 2016, 7). Obwohl die Schüler also in höchstem Maße intrinsisch motiviert sind, gibt es auch in der Akademie ein Punktesystem, das jedoch nur wenig mit der
Vergabe von Hauspunkten in Hogwarts zu tun hat: Im Unterricht, bei Experimenten, der Bewältigung von Fluten und anderen Aufgaben können die Schüler ‚Erkenntnispunkte‘ sammeln, die von den Meistern vergeben werden. Diese sind notwendig, um vom Lehrling zum
Gesellen aufzusteigen – wann dies geschieht, entscheiden aber nicht die Lehrer oder der
Direktor, sondern allein die Akademie, die über spezielle Kräfte verfügt und damit ein gewisses ‚Eigenleben‘ führt. So ‚platzt‘ Rufus’ Punktekonto etwa schon zu Beginn des vierten
Bandes (vgl. ADA 4, 26f.), während die ehrgeizige Coralia bereits sehnsüchtig und viel länger auf ihren Aufstieg zur Gesellin wartet und deutlich mehr Punkte gesammelt hat als
Rufus. Im Gegensatz zu Hogwarts wird das Punktesystem an der Akademie nicht vorrangig
dazu benutzt, um wohlgefälliges Verhalten kollektiv zu belohnen und Devianz zu bestrafen,
sondern die Meister honorieren den individuellen Erkenntniszugewinn ihrer Schüler, während
die Akademie als unabhängige Instanz darüber befindet, wann ein Lehrling den erforderlichen Erkenntnisstand erreicht hat, um in den Stand des Gesellen aufzusteigen und damit
sowohl unabhängiger zu forschen als auch mehr Verantwortung zu tragen (vgl. ADA 4, 28f.).
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Lehrer-Schüler-Beziehung und Schulleiterhandeln
Die Lehrer-Schüler-Beziehungen in Hogwarts sind ein Resultat des komplexen Geflechts
schulischer Interaktion unter außerschulischen Einflüssen und zeichnen sich vor allem durch
gestörte Nähe/Distanz- und Autoritätsverhältnisse aus. Sie lassen sich kategorisieren in
 positiv besetzte Beziehungen, die häufig in ein freundschaftliches, aber distanzloses
Lehrer-Schüler-Verhältnis münden;
 negativ besetzte, die nicht selten ihren Ausdruck in verfestigten Feindschaften, geprägt durch Ablehnung, Hass, Rachegefühle und Gewaltphantasien, finden;
 ambivalente Beziehungen, die Züge der positiv und negativ besetzten Verbindungen
tragen, aber weder in Distanzlosigkeit noch in offener Ablehnung münden, sich jedoch im Verlauf der Handlung trotzdem immer wieder als problematisch erweisen;
 sowie neutrale Beziehungen, die in der Regel von einem gesunden Nähe-/Distanzverhältnis in Bezug auf die Lehrer- und Schülerrolle geprägt sind.
Zudem lassen sich drei Sonderfälle feststellen: Weil die Einschätzung einer Beziehung nicht
immer auf Gegenseitigkeit beruht, ergeben sich erstens Fälle, in denen der Lehrer dem
Schüler positiv zugewandt, der Schüler hingegen abgewandt ist sowie die umgekehrte Variante. Eine besondere Ausprägung einer positiv besetzten Lehrer-Schüler-Beziehung ist
zweitens das Schwärmen einer Schülerin für den männlichen Lehrer. Hinzu kommt drittens,
dass mehrere Lehrer-Schüler-Beziehungen über die erzählte Zeit von sieben Schuljahren
und auch darüber hinaus nicht statisch sind, sondern sich im Laufe der Schulzeit verändern.
Ein besonders kompliziertes Fallbeispiel hierfür ist die ambivalente pädagogische Generationsbeziehung zwischen Harry und Dumbledore, die im Verlauf der Erzählung einem permanenten Wandlungs- und Entwicklungsprozess unterliegt (vgl. Steinbrück 2016).
Ein guter Schulleiter verfügt nach Rosenbusch (1997, 155) über Persönlichkeitsmerkmale
wie Fingerspitzengefühl, Takt, Festigkeit, Überzeugungskraft, Integrationsfähigkeit, Glaub8
würdigkeit und Charisma sowie über verschiedene mentale Fähigkeiten, etwa soziale und
kognitive Intelligenz, eine rasche Auffassungsgabe, rhetorisches Geschick, Selbstsicherheit
und Selbstständigkeit sowie über ein pädagogisches Grundverständnis gegenüber Kindern
und Jugendlichen. Betrachtet man diesen Merkmalskatalog, so scheint es, als hätte Rowling
ihn als Vorlage für die Konzeption der Figur Dumbledores herangezogen. Dennoch ist
Dumbledore keineswegs der perfekte Schulleiter, als der er im Abgleich mit diesen Persönlichkeitsmerkmalen erscheint. Dank seiner überragenden Reflexions- und Analysefähigkeiten
erkennt er zwar durchaus, dass die Spaltung ein Mangel ist, auf den Voldemort setzt und
den es eigentlich zu beheben gilt (vgl. HP 4, 755f.). Doch Dumbledore unternimmt nichts gegen die Quelle des Übels, das Haus Slytherin, das den Nährboden für das Böse bietet, denn
Slytherin ist das einzige Haus, dessen Schüler nach negativ besetzten Eigenschaften ausgewählt werden. Bei der Häuserzuteilung handelt es sich um einen klassischen Fall des
labeling approach’s im großen Stil: Weder Neville noch Hermine weisen zu Beginn der Geschichte die typischen Eigenschaften eines Gryffindors auf. Hermine wäre intuitiv eher
Ravenclaw zuzuordnen, bei all ihrer Intelligenz, ihrem Lerneifer und der anfangs panischen
Angst vor Regelbrüchen, Risiken und Gefahren; bei Neville dauert es mehrere Jahre, bis er
sich zu einem mutigen Kämpfer und damit wahren Gryffindor entwickelt. Bei beiden wird ein
Wandel nur durch die Sozialisation in der Peergroup des gleichen Hauses ermöglicht – in
Hermines Fall die enge Freundschaft mit Harry und Ron, in Nevilles die Mitgliedschaft in
Dumbledores Armee. Diese Anpassung an die Verhaltenserwartungen, die den jeweiligen
Labels (Mut, Intelligenz, Fleiß, List) implizit sind, ergibt sich unweigerlich aus dem Entwicklungsprozess einer kollektiven Hausidentität. Im Fall Slytherins werden die Schüler damit geradezu „auf die schiefe Bahn“ sozialisiert, getreu der impulsgebenden Ursprungsthese des
Etikettierungsansatzes: „The young delinquent becomes bad because he is defined as bad“
(Tannenbaum 1938, 17f.). Bassham (2010, 219) fragt daher zu Recht, warum Dumbledore in
all der Zeit, als Voldemort über ein Jahrzehnt lang machtlos war, nicht irgendetwas getan
hat, um das Slytherin-Problem zu lösen. Dumbledore zweifelt jedoch nicht an der Richtigkeit
der mit der Zuteilung verbundenen Zuschreibungen (vgl. HP 7, 377) und hält lediglich den
Zeitpunkt, nicht aber die Selektion an sich, für bedenklich: „›Wissen Sie, manchmal denke
ich, wir lassen den Hut zu früh sein Urteil sprechen…‹“ (HP 7, 688) Dieses pädagogische
Versagen sowie die Folgen dessen können ihm als Schulleiter angelastet werden.
Gegenüber den Hogwartsschülern erreicht Dumbledore in den meisten Fällen eine Autoritätsstellung, verhält sich ihnen gegenüber jedoch unnahbar und distanziert. Zwar steht er mit
seinen Schülern in Kontakt, jedoch in der Regel in einer monologischen Form und in Ausnahmefällen um ein salomonisches Urteil über ihre schwereren Regelverstöße zu fällen. In
schwierigen Zeiten ist er für die Schüler vor allem auch eine Quelle des Schutzes und der
Geborgenheit (vgl. HP 2, 274), bleibt dabei für den gewöhnlichen Schüler jedoch eine distanzierte Autorität und wird bestenfalls zum unerreichbaren Idol. Womöglich haben sie durch
das Lesen der Rückseite seiner Schokofroschsammelkarte mehr über ihn erfahren, als er
jemals im Kontakt mit ihnen von sich preisgegeben hat.
Völlig anders verhält sich dies mit Direktor Saurini in der Akademie der Abenteuer: Der
kleine, kugelrunde Mann, der „immer einen speckig glänzenden Anzug und eine gepunktete
Krawatte“ trägt (ADA 4, 8), wirkt in seinem Auftreten und Verhalten nahbar und fröhlich. Die
Aufnahmegespräche mit neuen Schülern führt er persönlich, im Unterschied zu Dumbledore
unterrichtet er auch selbst an der Schule und bezeichnet dies als eine seiner „Lieblingsbeschäftigungen“ (ADA 3, 30). Die Lehrlinge schätzen ihn, nicht zuletzt weil er den Kindern und
Jugendlichen stets auf Augenhöhe begegnet und sie ernst nimmt, und auch mit den Meistern
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verbinden ihn gute, vertrauensvolle Beziehungen. Er ist engagiert und, ebenso wie
Dumbledore, stets um das Wohl der Schule bemüht und besorgt.
Ebenso positiv ist das Verhältnis zwischen den Meistern und Lehrlingen: Die Meister sind
nicht allwissend, aber auf ihrem Gebiet durchweg kompetente Experten, die ihren Schülern
zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Rat und Tat beiseite stehen. Lehrer und Schüler sind an
dieser Schule zudem in besonderem Maße gegenseitig aufeinander angewiesen, denn mit
dem Alter schwindet die Fähigkeit, selbst historische Fluten auszulösen oder sie auch nur zu
spüren. Für die Forschung an der Akademie ist der Nachwuchs daher nicht nur in der Zukunft, sondern vor allem in der Gegenwart unverzichtbar. Abgesehen von dem wachen Auge
der Magistra Bibliothecaria, Meisterin Iggle, die den schändlichen Umgang mit Büchern hasst
und hierfür schon mal einen Erkenntnispunkt abzieht (vgl. ADA 2, 11), kommen die Mitglieder der Akademie beinahe ohne explizite Regeln, Vorschriften oder Verbote aus.
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Fazit
Zu Beginn wurde auf die Kontextgebundenheit von Schule verwiesen und deshalb auf einen
Abgleich mit Merkmalskatalogen und Kennzeichen guter Schulen, wie sie etwa Altrichter et
al. (2009) oder Marzano (2003) aufzeigen, verzichtet. Was ist nun also das ‚Besondere‘ bzw.
das ‚Phantastische‘ an den vorgestellten literarischen Schulkonstruktionen?
Zu den konstitutiven Funktionen des phantastischen Genres gehört es, durch die Befreiung von rationalen Zwängen und den Entwurf einer nicht real einlösbaren Gegenwirklichkeit
ein erweitertes Wirklichkeitsverständnis zu ermöglichen (Haas 2006, 29) und damit die
„Grenzen unserer Realität auszuloten“ (Stenzel 1999, 139). Dies ermöglicht zum einen in
besonderer Weise das Denken in Utopien, erklärt zum anderen aber auch, weshalb es nicht
ratsam ist, bei der Betrachtung dieser Entwürfe die Schablonen und Maßstäbe unserer Ratio
anzulegen, weil es den Blick in unnötiger und unzulässiger Weise einengen würde. Wie eine
solche pädagogische Utopie in Form einer wahrhaft phantastischen Schule aussehen kann,
hat die Auseinandersetzung mit Boris Pfeiffers Akademie der Abenteuer gezeigt. Dabei geht
es weniger um die Frage, was davon tatsächlich möglich wäre, sondern vielmehr, was überhaupt denkbar ist. Ist es vorstellbar, dass Lehrer und Schüler gleichberechtigt und ohne
Zwang gemeinsam lernen und forschen können? Oder: Ist es ausgeschlossen, dass bereits
Zehnjährige objektiv neue Erkenntnisse gewinnen können? Oder: Selbst wenn die Leistungsbewertung aus der Schule nicht gänzlich weggedacht werden kann – kann auch der
Erkenntnisgewinn an sich als individuelle Leistung gelten und bewertet werden? Oder, etwas
allgemeiner: Kann und darf schulisches Lernen wirklich so viel Spaß machen wie an der
Akademie der Abenteuer?
Etwas ‚näher‘ an der Realität bewegt sich dagegen Rowlings Schulkonstruktion –
Hogwarts ist keine Schulutopie, wie das Aufzeigen diverser Missstände im Rahmen der vorangegangenen Literaturanalyse gezeigt hat. In den Harry-Potter-Romanen gibt es gute und
schlechte Lehrer, langweilige und spannende Unterrichtsstunden, und selbst Dumbledore ist
nicht der perfekte und unfehlbare Pädagoge, als der er zum Teil erscheint. Dennoch ist
Hogwarts in gewisser Hinsicht eine phantastische bzw. ‚gute‘ Schule, der es schlussendlich
gelingt, sich im Krieg gegen Hass, Gewalt und Rassismus zu bestehen und im Kampf gegen
das Böse zu obsiegen. Nicht zuletzt sind es auch gerade die Konflikte, ihre Bewältigung sowie die vielen Abenteuer, die auf Harry und seine Freunde warten, die Hogwarts als derart
faszinierende Schule erscheinen lässt. Phantastische Schulromane sind also nicht einfach
nur ‚Hirngespinste‘, die „den Blick auf die ‚wirkliche‘ Welt verstellen“ (Haas 2006, 27), sondern können als Reflexionsfolie für erziehungswissenschaftliches Nachdenken dienen und
Erkenntnisprozesse anregen, indem sie es ermöglichen, Schule neu und anders zu denken.
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Maxi Steinbrück
ist Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes und Projektmitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft
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bildungstheoretischer Perspektive“ (Arbeitstitel). Von 2008 bis 2013
studierte sie die Fächer Deutsch und Pädagogik für das Lehramt
an Gymnasien und Gesamtschulen und war währenddessen studentische Mitarbeiterin im Fachbereich Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn.
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