StromstösseindenBeinen

22
Magazin
Montag
3. August 2015
Stromstösse in den Beinen
Hinterfragt
Hitze ist schädlicher
als Kälte
Schwer fassbares Leiden: Restless-Legs-Spezialist Johannes Mathis prüft die Reflexe von Brigitte Andersen, um andere neurologische Krankheiten auszuschliessen.
GESUNDHEIT Wer unter
«unruhigen Beinen» leidet,
findet nicht immer Verständnis. Dabei ist das RestlessLegs-Syndrom, wie das gar
nicht einmal so seltene Phänomen heisst, eine zermürbende
Krankheit. Sie lässt die Betroffenen kaum mehr zur Ruhe
kommen, wie das Beispiel von
Brigitte Andersen zeigt.
Wenn sich die meisten Leute auf
den Feierabend freuen, beginnt
für Brigitte Andersen das Bibbern. Je näher die Nacht rückt,
desto grösser wird ihre Angst,
wieder nicht schlafen zu können.
Denn ihre Beine spielen meistens
in der Nacht verrückt. Sie kribbeln, zwicken, reissen. Und
manchmal, so berichtet die 43Jährige aus Mülchi (Fraubrunnen), fühle es sich so schmerzhaft
an, als ob «Stromstösse» durch
ihre Beine zuckten. «Dann muss
ich aufstehen und umhergehen
oder Treppen steigen – nur so
wird es etwas besser.»
Besonders häufig treten die
Symptome im Sommer auf, wenn
es heiss ist. An ein Durchschlafen
ist dann nicht zu denken. «Fünf
Stunden Schlaf sind für mich
schon viel», sagt sie. Aber auch
Sitzen kann zur Qual werden.
Deshalb hat sich die kaufmännische Angestellte im Büro ein
Stehpult eingerichtet, das ihr Erleichterung verschafft.
Neurologische Krankheit
Brigitte Andersen ist eine von
rund 300 000 Betroffenen in der
Schweiz, die an unruhigen Beinen leiden, dem sogenannten
Restless-Legs-Syndrom (RLS).
Das ist keineswegs eine neue Modekrankheit. Bereits im 17. Jahrhundert hat der englische Arzt
Thomas Willis die Symptome
erstmals beschrieben. Später, in
den 1940/1950er-Jahren, untersuchte der schwedische Neurologe Karl Axel Ekbom das Phänomen genauer; er analysierte
mehrere Fallserien auf Gemeinsamkeiten. Ekbom, bis heute der
wichtigste Erforscher des Syndroms, kam zum Schluss, dass es
sich bei den ruhelosen Beinen um
eine neurologische Störung han-
delt, bei der das Nervensystem
quasi «überschiesst».
Dass es auch schon früher
Menschen gab, die ruhelose Beine hatten (und daraus sogar eine
Tugend zu machen wussten), lassen alte Filmdokumente erahnen. So verweisen Neurologen
gerne auf Charlie Chaplin. In einer Stummfilmszene aus den
1920er-Jahren versucht der Komiker zu schlafen, dabei zucken
seine Beine immer wieder hektisch auf.
Chronisch gestörter Schlaf
Was das Kinopublikum erheitert,
ist für die Betroffenen alles andere als lustig. Fast alle RestlessLegs-Patienten landen irgendwann bei einem Schlafmediziner.
So auch Brigitte Andersen. Bei
ihr traten die nervigen Symptome schon mit 16 Jahren auf. Aber
erst fast 10 Jahre später konnte
lungsmöglichkeiten des rätselhaften Nervenleidens.
ein Neurologe die Diagnose stellen – nicht zuletzt deshalb, weil
bereits ihre Mutter an dem Syndrom leidet (etwa die Hälfte der
Fälle sind vererbt). Allerdings
äussert sich die Krankheit bei ihr
mit etwas anderen Symptomen.
Mittlerweile ist Brigitte Andersen bei Professor Johannes Mathis am Berner Inselspital in Behandlung. Der 61-jährige Leiter
der dortigen Schlaf-wach-Medizin gilt als der erfahrenste
Schweizer Experte auf dem Gebiet der Restless Legs.
Seit den bis heute massgebenden Forschungsarbeiten seines
schwedischen Fachkollegen Ekbom († 1977) ist der Wissenschaft
zwar noch nicht der grosse
Durchbruch gelungen – das Leiden ist nach wie vor unheilbar –,
aber immerhin weiss man
heute mehr über die Ursache und die Behand-
Prominenter
RLS-Patient:
Charlie Chaplin
(1889–1977).
Gettyimages
STUDIE
Restless-Legs-Syndrom Zurzeit
läuft am Berner Inselspital und
am Regionalspital Lugano eine
Restless-Legs-Studie. Ziel ist es,
neue Behandlungsmöglichkeiten zu finden. Im Zentrum steht
dabei die Frage, welche Rolle das
vegetative Nervensystem bei
der Erkrankung spielt. Dabei
werden RLS-Patienten nach verschiedenen Gesundheitsparametern mit gesunden Kontrollpersonen verglichen. RLS-Betroffene (die möglichst noch keine Medikamente nehmen), aber
auch Gesunde, die zwischen 30
und 65 Jahre alt sind und Interesse haben, an der Studie mitzuwirken, melden sich unter: Telefon 031 632 92 76 (Do/Fr). sae
Ständiges Ausloten: Arzt und Patientin besprechen die Therapie.
Infos: www.restless-legs.ch.
abl
Andreas Blatter
Ursache Dopaminmangel
«Die Hauptursache von Restless
Legs ist ein Dopaminmangel im
Gehirn – ganz ähnlich wie bei
der Parkinsonkrankheit», erklärt
Spezialist Johannes Mathis. Damit sei auch klar, dass es sich
nicht um ein psychisches Leiden
handle, sondern um eine organisch-neurologische Krankheit.
Denn Dopamin, im Volksmund
auch «Glückshormon» genannt,
ist ein nachweisbarer Neurotransmitter, der Botenstoffe in
den Nervenzellen transportiert.
Folglich stehen bei der Behandlung Medikamente im Vordergrund, die den Dopaminmangel beheben. Das ist allerdings ein
schwieriges Ausloten. Denn mit
zunehmender
Therapiedauer
und Dosierung wirken die Medikamente weniger lang. Und wenn
die Wirkung nachlässt, kehren
die Beschwerden oft stärker zurück als vor Behandlungsbeginn. Eine «paradoxe Nebenwirkung», wie es Mathis
nennt. Und in den Fällen, da
die Dopaminmedikamente
Besserung bringen, haben sie
lästige Nebenwirkungen wie
etwa Müdigkeit – doppelt fatal, wenn die Patienten schon
chronisch schlecht schlafen.
Deshalb wird mit Hochdruck
an besseren Behandlungsmöglichkeiten geforscht. Auch die
Spezialisten vom Inselspital sind
mit von der Partie (siehe Kasten).
Hoffnung setzen die Mediziner
aber auch auf die bereits zur Verfügung stehenden Medikamente
der neusten Generation. Das sind
Antiepileptika, also Mittel, die
ursprünglich gegen Epilepsie
entwickelt wurden. Eine weitere
Möglichkeit sind Opiate. Mehr
als die Krankheit lindern können
aber auch sie nicht.
Forschung tut not: Experte
Mathis weiss von schweren Restless-Legs-Fällen, in denen die Betroffenen wegen ihrer ständig
aufmuckenden Beine nicht mehr
arbeiten können und sogar von
Selbstmordgedanken
verfolgt
werden.
Stefan Aerni
Klimaforscher und Meteorologen warnen, dass auch wir in der
Schweiz wegen der globalen Erwärmung zunehmend mit extremen Temperaturen rechnen
müssen. Perioden mit Tagen zwischen 35 und 40 Grad, wie sie
diesen Juli auftraten und uns
womöglich gerade wieder bevorstehen, würden künftig zur Normalität. Das hat Folgen für die
Gesundheit: So führte der Hitzesommer von 2003 laut Bundesamt für Gesundheit in der
Schweiz zu rund tausend zusätzlichen Todesfällen. Dennoch
setzt die Hitze den Menschen
nicht mehr zu als die Kälte, wie
man vermuten könnte. Für gemässigte Zonen wie die Schweiz,
erklärt Martin Röösli, Leiter Umwelt und Gesundheit am Schweizerischen Tropen- und PublicHealth-Institut in Basel, lasse
sich vereinfacht sagen: «Ein Hitze- und ein Kältetag sind für die
Gesundheit etwa gleich problematisch.» Bei grosser Hitze, das
heisst ab 30 Grad, wie auch grosser Kälte (0 Grad und tiefer) nehme die Sterblichkeit gleichermassen stark zu. Da wir in der
Schweiz aber alles in allem immer noch mehr Kältetage hätten,
seien von den temperaturbedingten Todesfällen mehr auf die
Kälte zurückzuführen als auf die
Hitze. «Die meisten Todesfälle
sind letztlich also nicht das Resultat von Extrembedingungen»,
gibt Gesundheitsexperte Röösli
zu bedenken, «sondern das von
moderat kalten Tagen – ganz einfach, weil die bei uns mit Abstand
am häufigsten sind.» sae
In dieser Rubrik stellen wir in loser
Folge populäre Meinungen und
Mythen um die Gesundheit infrage.
Check up
KREBS
CM-Leukämie bald
heilbar?
Vielversprechender Erfolg im
Kampf gegen die chronische
myeloische Leukämie (CML):
Eine Forschungsgruppe des Berner Inselspitals um Onkologe
Adrian Ochsenbein kombinierte
die Standardtherapie mit einem
neuen Antikörper, um die Leukämiestammzellen zu eliminieren. Bei Labormäusen gelang dies
und führte zu einer Heilung der
Krankheit, wie das Inselspital
mitteilt. Jetzt müsse die neue
Kombitherapie noch an Menschen untersucht werden. Die
CM-Leukämie macht etwa 20
Prozent aller Blutkrebsfälle in
der Schweiz aus und betrifft vor
allem ältere Männer. sae
PSYCHOLOGIE
Intelligenz zeigt
sich an Hirnaktivität
Dass ein gescheiter Mensch sein
Gehirn weniger anstrengen
muss, um eine Aufgabe zu lösen,
als ein dummer, ist eine Binsenwahrheit. Forschende der ETH
Zürich haben nun die Hirnaktivität von «Klugen» und «noch
Klügeren» gemessen: Die sehr
leichten Aufgaben lösten die Teilnehmenden beider Gruppen locker. Für die sehr schwierigen
wiederum mussten sich alle anstrengen. Unterschiede zeigten
sich dagegen bei den mittelschweren Aufgaben. Zwar hätten
alle Probanden sie gleich gut gelöst, so die Forscher. Die sehr
intelligenten mussten aber weniger Ressourcen einsetzen. sda