Rolle der Physiotherapie in der Sturzprävention

Rolle der Physiotherapie in der Sturzprävention
Verteilung der Aufgaben im interprofessionellen Behandlungsteam
ÄrztIn:
Erfassen von medizinischen Faktoren für erhöhte Sturzgefahr, Einfluss von
Medikamenten, Wechselwirkungen, Orthostase, etc.
PflegerIn:
Beobachtung verschiedener Situationen im Alltag, z.B. auch in der Nacht oder früh am
Morgen / spät am Abend (geht jemand in Socken aufs WC?), etc.
ErgotherapeutIn:
Wie verhält sich jemand in einer spezifischen Alltagssituation? Kann er/sie Gelerntes
von der Therapiesituation in den „Alltag“ transferieren? Wie geschickt geht er/sie in
einer neuen Situation um, wie umstellfähig ist jemand?
PhysiotherapeutIn:
Fachperson im Bereich Mobilität, Gangsicherheit, Gleichgewicht und Koordination. Sie
erfasst vom Körper aus kommende Risikofaktoren und erstellt Problemanalysen. Die
PhysiotherapeutIn evaluiert, fertigt individuelle Zielvereinbarungen an und passt
geeignete Gehhilfsmittel an.
Was ist Physiotherapie
Die Physiotherapie ist eine selbständige Disziplin im Bereich der Therapie, die
zusammen mit Medizin und Pflege die drei Säulen der Schulmedizin bildet. Sie schafft
Perspektiven, verbessert die Lebensqualität und steigert das Wohlbefinden in jedem
Alter. Zu den Kernkompetenzen gehören die Verbesserung von Gleichgewicht, Kraft
und Koordination sowie die Schmerzbehandlung. Speziell beim älteren Menschen
stehen die Selbständigkeit und die Lebensqualität dabei im Vordergrund.
Diese Ziele werden bei akuten oder chronischen Krankheitszuständen verfolgt und
mittels Untersuchung und Behandlung folgender Systeme erreicht:
 Muskuloskelettales System (Bewegungsapparat)
 System Innerer Organe und Gefässe (Herz-Kreislauf, Lymphsystem, Lunge,
Blase)
 System Neuromotorik (Nervensystem und Bewegung), Sensorik (OberflächenTiefensensibilität) und Psyche
Dies betrifft Therapie, Rehabilitation, Prävention und Gesundheitsförderung wie auch
Palliativbehandlung. Somit können folgende Richtlinien für das Behandeln von
geriatrischen Patienten abgeleitet werden:
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Physiotherapie soll
 Optimale Selbständigkeit ermöglichen
 Optimale Lebensqualität ermöglichen
 und das Wohlbefinden verbessern
Physiotherapeutische Erfassung von Sturzrisikofaktoren
Assessments:
 Für Gleichgewicht: Berg Balance Scale, ev. CTSIB
 Für die Erfassung des Gehens: Tinetti (im Sinne eines Screenings), TUG
 Für Gangsicherheit, Dual task: Dynamic Gait Index
Sturzanamnese
Ist die Person im letzten Jahr gestürzt? Wie oft? Wo? Unter welchen Umständen, zu
welcher Tageszeit? Hat sich die Person bei den Stürzen verletzt? Konnte sie wieder
selbständig aufstehen? Blieb sie lange liegen/kam es zu einem Liegetrauma? Fürchtet
sich die Person vor erneuten Stürzen? Gab es Begleitsymptome oder Vorzeichen (wie
z.B. Schwindel)? Limitiert sich die Person im Alltag, vermeidet sie gewisse Aktivitäten
aufgrund der Folgen des Sturzes? Hilfsmittel für Innen- und Aussenbereich? Seit wann
und warum?
 Gedanken zur Sturzanamnese: Ist ein „Sturzmuster“ zu erkennen? Scheint die
Angst vor erneuten Stützen adäquat oder scheint sie übermässig? Besteht ev.
ein post-fall-Syndrom? Wie schätzt sich die Person selbst ein?
Ergänzende Anamnese
Allenfalls Schmerzanamnese, Schwindelanamnese, Beteiligende Faktoren,
Nebendiagnosen, Ressourcen, soziales Umfeld, Wohnform (Treppen?), Anforderungen
des Alltags (wie weit zum Einkaufen? Fährt jemand mit dem Bus? Hobbies...),
Bewegungsverhalten (was macht sie wie oft? Gehstrecke?).
Körperlicher Befund
 Statik
 Beweglichkeit allgemein. Besonderes Augenmerk auf Füsse/OSGs, HWS/BWS.
Muskellängen, ev. strukturelle Anpassungen als Reaktion auf veränderte
Statik/verändertes Bewegungsmuster
 Kraft/Koordination/Motorik
 Sensorik/Somatosensorik (z.B. bei Verdacht auf Polyneuropathie)
 Allgemeine Ausdauerfähigkeit (hat schnelle Ermüdbarkeit Einfluss auf
Sturzgefahr?)
 Gleichgewicht statisch/dynamisch, Stabilitätsgrenzen, OSG-/Hüftstrategie,
Schutzreaktionen. Bei Verdacht auf post-fall: Wie verhält sich jemand, wo ist das
aktuelle Limit?
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 Ev. Untersuchung des Schwindels
 Bewegungsmuster, Auffälligkeiten in der Beobachtung von Lagewechseln wie
z.B. Sitz-Stand => Zusammenhang mit Statik? Passt es zu Hypothesen aus der
Sturzananmese und der Sturzmuster?
 Mobilität (Lagewechsel, Gehen innen/aussen, Gangbild, Gangsicherheit,
Transportieren von Gegenständen, Treppensteigen)
 Visus (Sehfähigkeit, evtl. neue Brille, Augenoperationen?)
 Hörfähigkeit (braucht Hörminderung viel Aufmerksamkeit?)
Allgemeine Beobachtungen
 Inspektion der Hilfsmittel und von dessen Zustand
 Beobachtung des Umgangs mit dem HM
 Beobachtung: Wie bewegt sich die Person in einer fremden Umgebung?
Umstellfähigkeit? Kognitive Ressourcen?
Allgemeine Überlegungen
 In der Physiotherapie werden viele Patienten behandelt, die unter den Folgen
eines Sturzes leiden. Das längerfristige Ziel der Therapie ist oft die
Sekundärprävention, also das Vermeiden weiterer Stürze. Genauso wichtig wie
das Vermindern der Sturzhäufigkeit ist aus physiotherapeutischer Sicht jedoch
das Vermindern des Verletzungsrisikos im Falle eines Sturzes.
 Entscheidend für die Einschätzung der Sturzgefahr sind nicht einzelne
Punktwerte der Assessments. Sie müssen in Zusammenhang gestellt werden
mit anderen bio-psycho-sozialen Faktoren.
 Die Analyse der einzelnen Items eines Assessments (z.B. Berg Balance Scale)
unterstützt die physiotherapeutische Hypothesenbildung und ist Teil des Clinical
Reasoning Prozesses. Somit sind Assessments eine Hilfe bei der Planung und
Interpretation des physiotherapeutischen Befundes und zur Verlaufskontrolle.
 Bei Personen, die keine oder sehr schlechte Schutzreaktionen aufweisen, bereits
Verletzungen aufgrund von Stürzen erlitten haben und die Einschätzung der
eigenen Grenzen stark von der „objektiven“ Einschätzung der Grenzen
(aufgrund von Assessments physiotherapeutischem Befund/ oder beobachteten
Situationen im Alltag) abweichen, ist besondere Vorsicht geboten.
Interventionen
In der Behandlung von sturzgefährdeten Personen werden Interventionen aus allen
Bereichen der Physiotherapie angewendet. Die Methoden und Techniken werden
basierend auf der Problemanalyse und Zielvereinbarung individuell ausgewählt und
stehen in Bezug zu den bestehenden Ressourcen, Umgebungsfaktoren, sowie zu den
Vorstellungen und Wünschen der Patienten. Die Interventionen werden laufend an den
aktuellen Zustand der Person angepasst.
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Physiotherapie bei älteren Menschen
Die Behandlung von Sturzfolgen gehört seit langem zum Alltag der Physiotherapie.
Dadurch entstand ein fundiertes Wissen in diesem Gebiet. Diverse Studien
beschäftigen sich mit möglichen beeinflussbaren Ursachen von Stürzen. Seit vielen
Jahren bietet physioswiss aus diesem Grund im Rahmen der Weiterbildungsangebote
verschiedene Kurse zum Thema Gangsicherheit (Sturzprävention) an, welche rege von
PhysiotherapeutInnen besucht werden. Die PhysiotherapeutInnen werden damit
befähigt, Kurse für ältere Menschen im Rahmen der Sturzprävention, bzw.
Gangsicherheit anzubieten.
Rolle
Auch wenn es Gruppenangebote zur Gangsicherheit gibt, so sind die Kernaufgaben
der Physiotherapie neben der Therapie die Anamnese, das Testen, die Klärung der
individuell nötigen Massnahmen zusammen mit dem Hausarzt und anderen Diensten.
Dies kann zuhause, in der ambulanten Praxis und im Spital geschehen. Hierfür wird mit
Zielvereinbarung und Controlling gearbeitet.
PhysiotherapeutInnen sind in der Lage entsprechende Tests zu interpretieren und
gezielte Interventionen durchzuführen. Das Wissen um die vielfältigen Einflüsse auf die
Sturzgefährdung ermöglicht einen breiten, interdisziplinären Lösungsansatz. Dies im
Sinne eines Personal Trainers Mobilität.
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