Mit persönlichem Blick in der Villa Schlikker

Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Großbürgerliches Wohnen
Der persönliche Blick von Nikola Götzl
Das größte Ausstellungsstück im Haus der Erinnerung ist das
Gebäude selbst. Beim Betreten der Industriellenvilla fällt im
Foyer sofort die Treppenanlage auf, die das Innere des
Gebäudes dominiert. Verena lässt sich von ihrer Kommilitonin
Nikola die historischen Hintergründe erklären:
"Die breite Holztreppe ist eines der zentralen architektonischen
Elemente der Villa Schlikker, die Anfang des 20. Jahrhunderts
vom Hannoveraner Architekt Otto Lüer entworfen wurde. Sie ist
ein Kennzeichen des großbürgerlichen Wohnens. Im Mittelpunkt
der palastartigen Architektur spiegelt sie die räumliche
Großzügigkeit der repräsentativen Villa wider. Schnitzerei und
Verzierungen sind eher schlicht und einfach gehalten, doch
bietet die Treppe viel Raum für diejenigen, die zu den oberen
Stockwerken gelangen möchten."
Gemeinsam stellen sich Verena und Nikola vor, was diese
Treppe schon alles erlebt hat: "Sie ist ein geschichtsträchtiges
Element, wenn man bedenkt wie viele Generationen und
verschiedenen Menschen schon über ihre Stufen geschritten sind: die Familie Schlikker und
ihre Gäste Anfang des 20. Jahrhunderts; Mitglieder der NSDAP und der SA zur Zeit des
Nationalsozialismus; britischen Offiziere der Militärregierung in der Nachkriegszeit und
heutzutage die Besucher, die das Museum besichtigen." Nikola betont auch die
Besonderheit, das mit der Treppe noch eines der wenigen Stücke von der
Originalausstattung der Villa erhalten ist: "Im Kontrast zu den übrigen Exponaten ist die
Treppe eine beständige, architektonische Komponente des Hauses. Während die
Wohnräume mehrfach verändert wurden, sind Treppenhaus und Mauerwerk eine Konstante
in der Geschichte der Villa Schlikker. Zeit und Mensch haben ihre Spuren auf ihr hinterlassen
und machen sie symbolisch zu einem tragenden Element im Haus der Erinnerung." Verena
ergänzt: "Heute leitet sie die Museumsbesucher gewissermaßen Stufe für Stufe durch die
Osnabrücker Geschichte."
Nikola fühlt sich beim Anblick der großzügig angelegten Treppenanlage an ihre eigene
Lebenswelt erinnert: "Ich persönlich assoziiere mit ihr die steile und kurvige Treppe im Haus
meiner Großmutter. Als Kind musste ich aufpassen nicht die Stufen hinunterzustolpern, da
sie so eng und verwinkelt gebaut war – ein Problem, das in der Villa Schlikker offensichtlich
nie vorhanden war."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Kindheit
Der persönliche Blick von Anniela Ehlert
Was wir in unserer Kindheit erleben, prägt uns häufig ein
Leben lang. Ein guter Grund, um den historischen
Rundgang mit einem Besuch in der Kinderstube zu
beginnen. Hier kann man entdecken, womit die Kleinen
spielten, die um 1900 in Osnabrücks vornehmen
Häusern wie der Villa Schlikker aufwuchsen. Zum
Beispiel den Puppenherd, den das Mädchen einer
wohlhabenden Familie, wie eine Datumsplakette verrät,
Weihnachten 1900 als Geschenk erhalten hat.
Beim Anblick der hier ebenfalls versammelten Stofftiere
erinnert sich Anniela an ihr altes Stoffkaninchen, das
noch heute im Haus ihrer Eltern seinen Platz hat: "Es ist
eines der wenigen nicht aussortierten Kuscheltiere
meiner Kindheit. Als Kind hatte ich davon eine ganze
Menge. Unter ihnen befand sich eines, das etwas Besonderes darstellte. Alle anderen habe
ich an die verschiedensten Orte mitgeschleppt. Sie wurden dreckig, sie wurden nass.
Manchen wurden beim Spielen sogar versehentlich Körperteile abgerissen. Sie wurden mit
Kuscheltieren von Freunden getauscht oder nach und nach aussortiert." Nur das eine nahm
nicht wie die anderen am Lauf der Welt teil. "Es wurde sauber gehalten, manchmal
gekämmt; und es fand sich nur sehr selten zum Spielen auf dem Fußboden wieder."
Bei diesem besonderen Kuscheltier handelt es sich um ein kleines etwa fünfzehn Zentimeter
großes Kaninchen mit einem Knopf im Ohr. "Dieser Knopf war es", berichtet Anniela, "der
das Kaninchen gegenüber allen anderen Tieren auszeichnete. Durch ihn war klar: Das ist ein
Kaninchen der Marke Steiff! Als Kind war mir natürlich eigentlich egal, ob ein Kuscheltier von
dieser oder von jener Firma hergestellt worden war. Dennoch habe ich dieses Kaninchen
bevorzugt behandelt. Das lag wohl daran, dass mir meine Eltern erzählt hatten, dass SteiffKuscheltiere teuer, von sehr guter Qualität und damit etwas Besonderes seien. Sie selbst
hatten es übrigens so von ihren Eltern vermittelt bekommen."
Diese Tradition wundert nicht, denn die unter Sammlern begehrten Steiff-Tiere werden
bereits seit 1880 produziert. Den "Knopf im Ohr", die Schutzmarke des Unternehmens,
tragen sie seit 1904, und zwar stets im linken Ohr. Auch Anne verbindet mit Steiff-Tieren
persönliche Erinnerungen. "Sie sind für mich ganz besondere Stofftiere. Noch heute führt
mich mein Weg in einem Spielzeuggeschäft zuallererst zu der Vitrine mit den Steifftieren."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Geschlecht
Der persönliche Blick von Jonas Kammann
Eigentlich wollte sich Jonas ja im Raum "Geschlecht"
umsehen, doch irgendwie bleibt sein Blick im Zimmer
nebenan an dem kleinen Puppenherd hängen. Das war ‚zu
Kaisers Zeiten‘ ein typisches Spielzeug für Mädchen, die
daran spielerisch ihre Rolle als Hausfrau erproben sollten.
Schon in der Kindheit geht es um die Rollenverteilung
zwischen Männern und Frauen.
"Die Geschlechterrolle", so Jonas, "wird gesellschaftlich
zugeordnet, ja sie scheint von Geburt an vorgegeben. Die
Geschlechtertrennung ist damals allgegenwärtig. Ob zu
Hause, im Laden oder auf der Straße ... Spielzeug und
Werbung, die Trennung im Sportverein, die
unterschiedlichen Arbeiten, die Frauen und Männer verrichten, und und ... Vieles vermittelte
den Menschen alltäglich den Eindruck, als sei die existierende Verteilung der Rollen von
Mann und Frau etwas Selbstverständliches."
Zurück in ‚seinem‘ Raum, fragt sich Jonas angesichts der gut 100 Jahre alten
Schlafzimmermöbel, was sich seitdem an Lebensgefühl wohl geändert haben könnte: "Die
Schlafzimmereinrichtung ähnelt ja eigentlich der aus heutiger Zeit. Auch jetzt haben Eheleute
in der Regel ein gemeinsames Ehebett mit zwei Nachttischen sowie einen Kleiderschrank.
Die Unterschiede zwischen damals und heute ergeben sich eigentlich erst beim Anblick der
anderen Exponate. In den Bildern, Fotos, Postkarten und Plakaten wird die strikte Trennung
und jeweilige Erziehung der Geschlechter deutlicher: Der Junge wird zum Soldaten erzogen,
der für ‚Kaiser, Volk und Vaterland‘ kämpft und stirbt, und das Mädchen wird eine gute
Ehefrau und Mutter."
Sein Kommilitone Dennis findet, "dass der Einfluss der Erziehung auf die Geschlechterrollen
eine Komponente ist, die zur Definition der Identität äußerst wichtig ist. Aber war das damals
wirklich so, wie das hier im Museum dargestellt wird? "Im Kaiserreich wurde die Familie als
Keimzelle der Gesellschaft propagiert. Die kaiserliche Familie lebte das ja regelrecht vor",
gibt Jonas zu bedenken. "Richtig", meint Dennis, "und im Nationalsozialismus war es nicht
anders. Eine Familie mit vielen Kindern garantierte, dass es genug Soldaten für den Krieg
gab. Es hieß sogar, dass jede Frau ‚Hitler ein Kind schenken‘ sollte. Irgendwie eine abstruse
Vorstellung, dass meine Frau mal Angela Merkel ein Kind schenkt, damit die mit ihm Krieg
führen kann. Was meinst du?" – "Andererseits wird die Ehe heute steuerlich begünstigt, und
Kindergeld gibt es auch. Mit der Zahl der Kinder steigt sogar der Betrag", gibt Jonas zu
bedenken. "Und vom Militärdienst waren Frauen bis vor kurzem auch noch ausgeschlossen.
Das wurde erst im Zuge der Gleichberechtigung gesetzlich geändert."
Die beiden diskutieren noch lange weiter. "Mich interessiert besonders, welche Ursachen
diese Geschlechterklischees haben; ob sie kulturell vorgegeben oder lediglich genetisch
bedingt sind", meint Dennis. "Man sollte ebenfalls darüber sprechen, welche Effekte heutige
Versuche erzielen, alte Klischees aufzubrechen. Ich empfinde da Aktionen wie den ‚Girls
Day‘ manchmal als eher hilflos." – "Zumindest ist die Gesellschaft heute offener geworden
und bietet Frauen und Männern mehr Möglichkeiten", entgegnet Jonas. "Heute dürfen
Jungen auch mit Puppen spielen, ohne gleich gehänselt zu werden. Und mit der Aussetzung
der Wehrpflicht wird niemand mehr gezwungen, zur Bundeswehr zu gehen."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Bürgerlicher Salon und Wintergarten
Der persönliche Blick von Tanja Wosnitza
In großbürgerlichen Wohnhäusern wie der Villa
Schlikker gehörten wertvolle Gemälde zur
üblichen Ausstattung der repräsentativen Räume.
Sie schmückten die Salons, in denen Gäste
empfangen und Gesellschaften gegeben wurden.
Sie waren nicht nur Schmuck, sondern boten
auch Anlass für Gespräche. Wenn sich
beispielsweise Gäste noch nicht persönlich
kannten, bot sich ihnen hier die Gelegenheit für
eine unverfängliche Konversation.
Beim Streifen durch den lichtdurchfluteten Wintergarten entdeckt Tanja ein Ölgemälde von
Theodor Fritz Koch aus dem Jahr 1940. Das Bild mit dem Titel "Lange Wand" zeigt eine
Allee mit grünen Bäumen. Die Studentin erinnert es an ihr Heimatdorf zwischen Hannover
und Braunschweig: "In der Feldmark bei unserem Dorf gibt es eine Allee, die der auf dem
Bild sehr ähnelt. Bei uns heißt sie ‚Pappelallee‘. Sie ist ungefähr 500 Meter lang und links
und rechts umgeben von sehr alten und mächtigen Pappeln."
"Die Pappelallee ist nicht nur als Spazierweg beliebt", berichtet Tanja weiter. "Sie ist auch die
kürzeste Verbindung zwischen unserem und dem Nachbardorf. Leider hat vor wenigen
Jahren ein Eigentümerwechsel stattgefunden. Nun ist das Betreten verboten und der
Eigentümer wird sehr wütend, wenn er dort einen Spaziergänger erwischt. Seitdem müssen
alle Leute, egal ob sie zu Fuß unterwegs sind oder mit dem Auto, den langen Weg entlang
der viel befahrenen Landstraße nehmen. Vor allem freitags, wenn sich auf der Autobahn A 2
der Verkehr Richtung Osten staut, ist der Spaziergang entlang dieser Straße ein gefährliches
Unterfangen. Dann denkt mit Sicherheit der eine oder andere an die Zeit zurück, in der
Radtouren und Spaziergänge durch die Pappelallee noch möglich waren."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Bürgerliches Porträt
Der persönliche Blick von Saskia Manuela Pientka
Beim Besuch in einem Schloss kommt man meist auch
in eine Ahnengalerie. Wie in einer Art Zeitmaschine
kann der Besucher dort entlang der Porträts, von
Gesicht zu Gesicht, von Generation zu Generation, die
Geschichte eines adeligen Geschlechts
durchschreiten. Auf diese lange Tradition, die sich oft
genug über viele Jahrhunderte erstreckt, blickt der
Adel mit Stolz zurück.
Bürgerliche Familien kopierten diese Form adeliger
Selbstdarstellung gerne, um auf ihre eigene
Familientradition aufmerksam zu machen. Reiche
Kaufleute oder Fabrikanten machten mit wertvollen
und aufwendig gerahmten Ölgemälden zudem ihren
wirtschaftlichen Erfolg sichtbar.
Beim Gang durch die Porträtgalerie im Haus der Erinnerung interessiert sich Saskia
besonders für ein Kinderporträt im Foyer. Es zeigt Eberhard Hecker, den Neffen des Malers
Franz Hecker. Der malte das Bildnis im Jahre 1896. Was interessiert Saskia an dem
Gemälde?
"Der Neffe sitzt im Kindesalter auf einem roten Sessel; ganz ähnlich wie der Fabrikbesitzer
Kromschröder auf dem Gemälde daneben. Eberhard sieht aus wie ein Stammhalter. Das hat
mich an ein Bild meines großen Bruders erinnert. Auch er sitzt dabei auf einem Sessel, ist
jedoch zusätzlich in eine Jacke meines Vaters gehüllt. Bei diesem Bild denkt man ebenfalls
an die Rolle des Stammhalters, der in die Fußstapfen des Vaters tritt, wie es früher üblich
war. Allerdings tut mein großer Bruder gerade dieses nicht. Der Lebensstil meines Vaters
und der meines großen Bruders laufen weit auseinander. Mein Vater hat gleich nach seinem
Schulabschluss eine Ausbildung gemacht, jung geheiratet und früh Kinder bekommen. Im
Gegensatz dazu versucht mein großer Bruder, seine jugendliche Lebensweise und seine
Unabhängigkeit möglichst lange zu bewahren."
Gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Romina fragt sich Saskia, ob es heute generell noch
üblich ist, in die Fußstapfen der Vorfahren zu treten: "Das ist eher selten der Fall. Die
Mentalität hat sich geändert. Man sucht sich doch eher eine eigene Identität."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Religion
Der persönliche Blick von Jonathan
Chevillet
Hat ein Kavallerie-Verein etwas mit Religion
zu tun? Auf den ersten Blick nicht, aber in
diesem Raum erklärt sich vieles erst beim
genauen Hinsehen. Mit viel Gespür nähert
sich Jonathan einem der dunkelsten Kapitel
deutscher Geschichte. Der Student aus
Frankreich interessiert sich für ein Gedicht,
das der jüdische Osnabrücker Kaufmann
Philipp Nussbaum 1934 an seine
Kameraden im Kavallerie-Verein Osnabrück richtete, als er durch die nationalsozialistische
Politik gezwungen wurde, diesen Verein zu verlassen.
"Wie viele Juden war auch Philipp Nussbaum assimiliert und wollte ein ganz normales Leben
führen", meint Jonathan."Er war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen, hatte starke
patriotische Gefühle und war langjähriges Mitglied des Osnabrücker Kavallerie-Vereins. Sein
Gedicht 'Ein letzter Gruß dem Kavallerie-Verein Osnabrück dem ich 34 ½ Jahre angehörte'
zeigt seine tiefe Traurigkeit darüber, nicht mehr diesem Verein angehören zu dürfen.
Zwischen den Zeilen kann man deutlich spüren, dass für Philipp Nussbaum damals eine
Welt zusammenbricht. Stattdessen kommt für ihn und seine Familie eine neue Welt; eine
Welt der Diskriminierung und der gesellschaftlichen Isolation. Die Nussbaums dachten, dass
diese Situation, die auch andere gesellschaftliche Gruppen betraf, nur vorübergehend sei.
Sie flüchteten zunächst in die Schweiz, aber bereits 1935 kehrten sie nach Deutschland
zurück, weil sie das Land nicht wirklich verlassen konnten. Nicht umsonst wirkt 'Ein letzter
Gruß' wie eine Liebeserklärung an Deutschland. Nussbaums entschieden sich, in Köln zu
leben. Sie hofften vermutlich, in der Großstadt im Schutz der anonymen Masse unbehelligt
leben zu können."
"Gerade wegen des verbreiteten Nationalismus konnte der ehemalige Frontkämpfer Philipp
Nussbaum seine Situation nicht begreifen", gibt Jonathan zu bedenken: "Er hat daran
geglaubt, dass sich die Lage bald ändern würde. Wegen ihres Frontkämpferprivilegs waren
die jüdischen deutschen Frontsoldaten von der 1933 beginnenden Ausgrenzung und
Isolierung der deutschen Juden zunächst noch weniger betroffen. Dies änderte sich jedoch
sehr rasch. Wie viele hoffte Philipp Nussbaum auf die Ablösung des Regimes. Diese
Hoffnung kann man in seinem Brief spüren."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Verein
Der persönliche Blick von Ricarda Hüpel
Seit über zwei Jahrhunderten prägen hunderte
von Vereinen das gesellschaftliche Leben in
Osnabrück. Aktuell existieren knapp 500. Einen
Verein kennt jedes Kind: den VfL. Auf den
"Verein für Leibesübungen" stößt Ricarda, als
sie die historische Fotografie einer der
Vorläufermannschaften des Vereins entdeckt:
die Fußball-Mannschaft des FC Olympia in der
Saison 1910/1911.
"Als ich das Bild des FC Olympia das erste Mal sah, sind wieder Erinnerungen an meine
frühe Jugend zum Vorschein gekommen. Ich musste an meine Zeit als richtig vernarrter VfLFan denken. Im Alter von ungefähr 12 Jahren haben eine Freundin und ich angefangen,
meinen Vater, meinen Bruder und einen Freund zum VfL ins Piepenbrock-Stadion zu
begleiten. Wir wollten mal schauen, wie die so berühmte Stimmung an der ‚Bremer Brücke‘
ist. Tatsächlich wurden wir von der Begeisterung und vom VfL-Fieber gepackt. Wir waren
‚infiziert‘. Die Atmosphäre, das ganze Drum und Dran, das zum Spiel dazu gehört, haben
uns fasziniert. Von dort an hieß es: Bei jedem Heimspiel sind wir dabei."
Als VfL-Fan gibt es viel zu tun, wie Ricarda zu berichten weiß: "Mit meinem Bruder fingen wir
an, auf unserem Dachboden Plakate zu malen. Wir bastelten eine Fahne und wir hörten den
VfL-Song rauf und runter, damit wir bei den Spielen mit den anderen Fans im Chor mitsingen
konnten. Gänsehaut-Atmosphäre pur! Das muss man einfach mal miterlebt haben."
Ricarda bekennt offenherzig, dass zum ‚Drum und Dran‘ auch die männlichen Stars unten
auf dem Rasen gehören: "Mit dem Wechsel von Benjamin Schüßler und Marcel Schied zum
VfL war für uns Teenies alles perfekt. Die beiden ‚eroberten‘ unsere Herzen. Unsere
Groupie-Phase fand dann den Höhepunkt, als wir ‚Benni‘ einen Brief geschrieben und diesen
persönlich bei ihm in den Briefkasten gesteckt haben. Praktisch, dass er in dem Haus der
Tante meiner Freundin gewohnt hat."
Für ihre Kollegin Franziska klingt das typisch: "Ich finde Ricardas Geschichte sehr süß und
mutig. Für mich zeigt sie ein charakteristisches Verhalten von jungen Mädchen, die Pläne
aushecken um ihrem Idol näher zu kommen." – "Was hat man nicht alles für seine ‚Stars‘
gemacht", seufzt Ricarda denn auch. "Aber das gehört irgendwie auch mit dazu. Und
mittlerweile gerate ich immer wieder darüber ins Schmunzeln, wenn ich an unsere Zeit als
‚Hardcore-Fans‘ denken muss. Fahrradstürze, Gänsehaut, fabelhafte Tore, ’ne Cola und ’ne
Bratwurst aus dem Stadion waren einfach ein Muss."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Beruf
Der persönliche Blick von Franziska
Schamberger
Franziska interessiert sich für die
Arbeiterwohnküche, die aus der NS-Zeit
stammt. "Sie gehörte dem
Eisenbahnarbeiter Heinrich Friedrich
Menke und seiner Schwester Hermine
Haseköster. Auf dem Esstisch befinden
sich ein Suppentopf, hölzernes
Eintopfbesteck und zwei Suppenteller." Ist
die Küche ein typischer
Frauenarbeitsplatz?
im Nationalsozialismus galt die Ehe als Keimzelle der "Volksgemeinschaft". Zur Steigerung
der Geburtenrate und zur Entlastung des Arbeitsmarktes wurden Paare steuerlich begünstigt
und erhielten schon ab 1933 großzügige Ehestandsdarlehen, wenn sie den
rassenideologischen Anforderungen genügten und sich die Frauen aus dem Berufsleben
zurückzogen. "Die Frau gehörte sozusagen an den Herd", gibt Franziska die damalige
Atmosphäre wieder. "Diese Küche hier symbolisiert für mich daher das Ideal der Familie im
Nationalsozialismus. Am Tisch sehe ich den Vater nach der Arbeit mit den Kindern sitzen,
während die Mutter kocht und das Essen serviert. Ganz so blond und blauäugig, wie es das
Propaganda-Bild an der Wand mit der glücklichen Mutter und den vier Kindern vorgibt,
werden aber wohl in der Realität nicht alle 'guten Deutschen' ausgesehen haben."
Während des Zweiten Weltkrieges wurde – wie schon im Ersten Weltkrieg – sehr schnell
klar, dass Frauen die Männer, die als Soldaten in ganz Europa eingesetzt waren, vielfach an
ihren Arbeitsplätzen ersetzen mussten. Dennoch wurde das ‚Berufs‘-Ideal der ‚Mutter und
Hausfrau‘ weiter hochgehalten, um die ideologische Ordnung der "Volksgemeinschaft" nicht
zu gefährden. Dass die Realität anders aussah, zeigte sich besonders nach 1945, als die
Männer aus Krieg und Gefangenschaft zurückkehrten und auf Frauen trafen, die jahrelang
auf sich selbst gestellt gewesen waren und nun nicht einfach in die alten Rollenmuster
zurückkehren konnten. In den durch die Kriegserfahrungen vielfach gebrochenen Männern
begegneten den gemeinsamen Kindern Väter, die ihnen fremd waren.
Persönlich erinnert Franziska der Tisch an die gemeinsamen Mahlzeiten mit ihrer Familie:
"Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ein Essen, welches ich vor ein paar Jahren
zubereitet habe. Ursprünglich wollte ich eine Kartoffelsuppe kochen. Daraus ist allerdings
nichts geworden, denn als die Ersten einen Löffel probierten und ihr Gesicht verzogen,
wurde mir schnell klar, dass ich das Salz mit dem Zimt verwechselt haben musste. Somit
landete die Suppe im Müll anstatt in unseren Mägen." Davon kann auch Ricarda ein Lied
singen: "Als Franziska mir ihre Geschichte mit ihrem missglückten Kochversuch erzählt hat,
musste ich sofort schmunzeln und dachte nur: ‚Typisch, dass hätte mir auch passieren
können.‘ Ich habe mir vorgestellt, wie Franziska mir ihrer Familie am Tisch gesessen hat und
sich auf einmal nur alle gefragt haben, ob das denn so schmecken muss. Vielleicht war es ja
ein neues Rezept, was sie ausprobiert hat. Kurz gesagt, die Geschichte ist amüsant und
unterstreicht den tollpatschigen Charakter, den jeder Mensch mehr oder weniger in sich hat."
Ähnliche Geschichten werden sich auch abgespielt haben zu Zeiten, als Heinrich Friedrich
Menke und seine Schwester Hermine an diesem Tisch saßen. Vielleicht ist es genau diese
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Normalität und die Unscheinbarkeit des Alltags, die vielen damals den Blick auf die Brutalität
der NS-Zeit verstellte. "Wie würden wir wohl heute handeln", fragen sich Franziska und
Ricarda nachdenklich, "wenn wir in einer vergleichbaren Situation leben würden?"
Verwaltete Identität
Der persönliche Blick von Verena Gier und Erika
Schellenberg
Mit verwalteter Identität ist gemeint, dass
Bürgerinnen und Bürger in der Bürokratie eine
Nummer sind, beim Einwohnermeldeamt etwa oder
in der Renten- und Finanzverwaltung. Manchmal hat
man das Gefühl, als bliebe das Menschliche dabei
auf der Strecke. In pervertierten Verwaltungsformen
kennt die Brutalität keine Grenzen mehr. Krassestes
Beispiel sind die eintätowierten Nummern der
Deportierten in den völlig entmenschlichten
Strukturen der Konzentrations- und
Vernichtungslager. Nur Holocaustleugner können
nicht automatisch daran denken, wenn sie ein Bild
oder eine Büste Adolf Hitlers sehen – einmal
abgesehen davon, dass an diesem System der Vernichtung viele ganz normale Deutsche
direkt und indirekt mitgewirkt haben.
Das denkt auch Verena, als sie die kleinen Hitlerbüsten entdeckt. "Mein Interesse wurde
durch die goldene Farbe geweckt. Die Farbe Gold symbolisiert für mich 'das Beste' und
etwas 'sehr Außergewöhnliches' und 'Edles'. Das ist völlig konträr zu meiner Abneigung
gegenüber der Person Hitlers." Verena stutzt, als sie das Herstellungsdatum entdeckt:
"1980er Jahre. Eigentlich hätte ich angenommen, dass der Großteil der deutschen
Bevölkerung diese Abneigung heute teilt. Aber offensichtlich gibt es immer noch genug
Rechtsextremisten, dass es sich lohnt, solche NS-Devotionalien weiter zu produzieren."
Auch ohne den Bezug zu Hitler ist Verena irritiert: "Ich finde es ja schon seltsam, mir heute
die Büste eines Staatsoberhauptes in einem privaten Haushalt vorzustellen. Welcher aktuelle
Politiker würde heute noch so verehrt? Aber mir noch dazu einen Politiker hinzustellen, der
vor über einem halben Jahrhundert gelebt hat, das finde ich abstrus." Überrascht zeigt sich
Verena zudem, dass die Büsten in Asien produziert worden sind. "Das kann ich mir kaum
erklären. Vielleicht haben sie ja Rechtsextreme direkt in Auftrag gegeben. Eventuell gibt es
außerhalb Deutschlands auch andere Gesetze, die so etwas erlauben. In Deutschland ist
das sicher verboten."
Kommilitonin Nikola kann Verenas Reaktion gut nachvollziehen: "Unfassbar und
schockierend, dass Büsten von Hitler gegenwärtig noch in Umlauf sind. Den Gedanken
verdrängt man wohl im Alltag, wenn man noch nie mit Rechtsextremismus persönlich
konfront4iert wurde. Trotz der Berichte in den Medien wirkt die Problematik manchmal sehr
weit entfernt vom eigenen Leben. Durch die Betrachtung dieser Ausstellungsstücke wird die
gesamte Thematik jedenfalls plötzlich sehr greifbar."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Erika ist in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes auf ein Aktenstück vom 10. Januar
1944 gestoßen. Darin lehnt der zuständige "Höhere SS- und Polizeiführer West der SSFührer im Rassen- und Siedlungswesen" den Antrag auf
Schwangerschaftsunterbrechung bei der Ostarbeiterin Olga
Owczaruk ab.
"Das Jugendamt Osnabrück", erläutert Erika die näheren
Umstände, "hat die Abtreibung des Kindes bei der Weißrussin
beantragt. Die Beamten bezogen sich dabei sicher auf die
Rassenideologie der Nazis, nach der Slawen als minderwertige
Menschen eingestuft wurden." Doch der Fall scheint
komplizierter.
"Überraschenderweise lehnen die NS-Kader der
übergeordneten Stelle, die die Ideologie eigentlich noch viel
vehementer vertreten müssten als die Beschäftigten im
Osnabrücker Jugendamt, diese Forderung ab. Womöglich gab
die Tatsache, dass der Vater des Kindes deutscher
Abstammung war, dabei den Ausschlag."
"Vielleicht", gibt Mitstudentin Alice zu bedenken, "hat den
Höheren SS- und Polizeiführer West das Streben nach
Bevölkerungswachstum dazu motiviert, der
Schwangerschaftsunterbrechung nicht zuzustimmen. In dem
Brief wird extra betont, dass es sich bei dem Kind um einen
gesunden Zögling handelt. Da der Zweite Weltkrieg bereits einige Jahre andauerte und
schon viele deutsche Soldaten im Krieg gefallen waren, mag es ihm nützlich erschienen
sein, ein gesundes, wenngleich nicht der Ideologie gemäß 'reinrassiges' deutsches Kind am
Leben zu lassen."
Alice und Erika zeigt das, dass es im Nationalsozialismus offensichtlich doch größere
Handlungsspielräume gab, als man auf den ersten Blick bei einer solch brutalen Ideologie
denken mag. Bei ihnen bleibt ein schales Gefühl: “Ob für oder gegen den
Schwangerschaftsabbruch – das ganze ist so oder so absurd, wenn man bedenkt, dass sich
die Schwangere bereits im siebten Monat befand. Außerdem wurde die Entscheidung eben
nicht aus ethisch-moralischen Gründen gefällt, sondern aus reinem Nutzendenken. Das Kind
war potentielle Arbeitskraft, ein künftiger Soldat oder ähnliches, aber es wurde jedenfalls
nicht als Mensch behandelt."
“So ein Dokument richtig zu interpretieren, ist gar nicht so einfach", meint Erika
nachdenklich, “und es ist immer auch eine Frage der Perspektive. Neonazis würden aktuell
solche Dokumente sicher für ihre Zwecke missbrauchen. Sie würden womöglich behaupten,
dass die beteiligten Nationalsozialisten hier zum Wohl der Bevölkerung gehandelt hätten und
die Rassenideologie gar nicht so brutal gewesen sei. Da muss man schon genau
hinschauen."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Familienpolitik und Parteien
Der persönliche Blick von Grit Petersohn
Beim Rundgang durch den Raum überrascht Grit,
dass sie hier in einem westdeutschen Museum ein
CDU-Wahlplakat aus der sowjetischen
Besatzungszone findet. Die Partei wirbt dort noch vor
der Gründung der DDR für "Mut, Glauben und
Vertrauen".
Grit analysiert die Darstellung der Mutter, die mit ihren
Kindern stolz vor einigen Trümmern steht: "Das Plakat
der CDU versucht, die Bürger nach dem verlorenen
Krieg zum Wiederaufbau zu bewegen, Stärke zu
zeigen." Steckt dort vielleicht auch eine versteckte
Botschaft, "gewissermaßen 'gegen den Wind' der
diktatorischen Regierung standzuhalten", wie Grit
mutmaßt? Anfangs mochten die anderen Parteien
womöglich in gewisser Weise noch Raum für andere
Ideen bieten. Die sogenannten Blockparteien waren jedoch nie mehr als ein Deckmantel, der
die pseudodemokratischen Strukturen des SED-Regimes verschleiern halfen. "Mit 120.000
Wählern im Jahr 1981 gehörte die CDU zu einer der Randparteien im System, das von der
SED beherrscht und manipuliert wurde", gibt Grit zu bedenken.
Das Wahlplakat erinnert sie an ihre eigene Geschichte: "1986, drei Jahre vor dem Mauerfall,
wurde ich in der ehemaligen DDR geboren. Meine Eltern sprechen gern über diese Zeit,
wenn man sie fragt. Allerdings waren sie nie politisch aktiv und kennen sich in der
Parteienlandschaft von damals nicht besonders gut aus. Einmal erzählten sie mir, dass sie
zu einer der Wahlen nicht erschienen sind. Daraufhin wurden sie wenig später an der
Haustür dazu aufgefordert, ihre Stimme noch abzugeben. Sie haben den Wahlzettel ungültig
gemacht, wahrscheinlich wurde er aber als gültig gezählt."
Mit Blick auf das Raumthema "Familienpolitik" kommt Grit noch einmal auf ihre eigene
Familie zu sprechen: "Während meine Mutter mit mir schwanger war, heirateten meine
Eltern. Damit erfüllten sie zwei Voraussetzungen, um in dem familienpolitischen System der
DDR viele Vorteile zu genießen: Ehe und Kind. Nachdem ich geboren wurde, bekamen
meine Eltern sofort eine größere Wohnung, auch ein Auto ließ nicht lange auf sich warten.
Meine Mutter hatte auch keine Probleme, wieder in ihren Beruf einzusteigen, denn die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie war in der DDR selbstverständlich."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Herkunft
Der persönliche Blick von Manuel Casielles Prida
In den 1950er Jahren schaffte sich Johannes Gach ein
eigenes Moped an. Mit seiner Hercules konnte der aus
Schlesien stammende Drogist fortan von seinem Geschäft
an der Rheiner Landstraße aus seine Kunden auch direkt
beliefern. Wirtschaftlich waren er und seine Ehefrau Olga
Näther mittlerweile in Osnabrück angekommen. Doch wie
sah es mental aus? Über ihre alte Heimat Schlesien, über
den Krieg, die zurückgelassene Drogerie in Kappitz und
die Flucht im Januar 1945 wurde in der Familie jedenfalls
kaum gesprochen.
Was für Johannes Gach eine neue Form der Mobilität
bedeutete, erinnert Manuel an seine Zeit als Teenager:
"Das alte Moped fiel mir sofort ins Auge. Es erinnert mich
an einen wunderbaren Sommer im Jahr 2003. Im Frühjahr
hatte ich meinen Führerschein der Klasse M gemacht und
konnte mich stolzer Besitzer eines älteren, knallroten Vespa-Rollers nennen. Und da es bei
uns im Ort, dem schönen Baesweiler, nun mal nicht so viel zu sehen gab, spürte ich damals
schon den Drang, die Welt zu erkunden und endlich mal selbstständig über die Ortsgrenze
hinaus zu fahren. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass wir eine Gruppe von etwa
zehn jungen Leuten mit unterschiedlichen Motorrollern und gedrosselten Motorrädern waren.
Was lag näher als zum nächsten See, dem Blausteinsee, zu fahren. Für uns war es ein
krasses Gefühl, auf der Landstraße im Konvoi unterwegs zu sein. Jeder von uns hatte einen
Beifahrer hinten drauf, das Wetter war gut und der Zorn der Autofahrer war uns völlig egal.
Was für ein Sommer."
Auch Kollegin Tanja kann gut verstehen, dass das Moped bei Manuel Erinnerungen an seine
frühe Jugend hervorruft: "Ich verbinde selbst eine große Zeitspanne zwischen dem 14. und
18. Lebensjahr mit Moped- und Mofa-Ausflügen. Zum ersten Mal war man frei und
unabhängig von den Eltern – zumindest auf dem Land galt das."
Manuel vergleicht sein Gefährt mit Gachs Hercules: "Auch wenn mein Roller wesentlich
besser aussah als das alte Ausstellungsstück hier, hat mich dieser Gegenstand doch sofort
an meine eigene Herkunft erinnert: an den jungen Halbstarken, für den es im Sommer nichts
Schöneres gab, als gemeinsam mit seinen Freunden zu diesem besagten See zu fahren –
eine Tradition, mit der wir übrigens bis heute nicht gebrochen haben: Wenn der Sommer
wieder ansteht, dann kommen wir fast in derselben Gruppe zusammen, setzen uns auf
mittlerweile etwas schnellere Motorräder und fahren runter zum See!"
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Neue Welten
Der persönliche Blick von Romina Werthschulte
Angesichts des heute verbreiteten Tourismus zwischen
Thailand, Bali und Honolulu mag es fast verwundern, dass
es in den 1950er Jahren für Deutsche noch etwas ganz
Besonderes war, wenn man einmal Urlaub in Italien
verbringen konnte. Nach Kriegsende musste erst für
Essen gesorgt, eine Wohnung gefunden und auf die
Kriegsheimkehrer gewartet werden, bevor die
"Reisewelle" anrollen konnte. Mit der Zeit gehörte die
Urlaubsreise dann zum Jahresverlauf wie
selbstverständlich dazu.
Vor der Postkartencollage in Form des italienischen
"Stiefels" kommt Romina auf ihre Familie zu sprechen:
"Meine Eltern fahren immer sehr gern in den Urlaub. Sie
sind früher schon mit meinen Großeltern nach Italien
gefahren. Durch meine Eltern habe ich viel von
Deutschland und den Nachbarländern gesehen und schöne Kindheitserinnerungen, wenn es
um Urlaub geht." Gemäß einem Sinnspruch kann viel erleben, wer viel reist. So erging es
auch Rominas Vater: "Einmal in Italien ist ihm etwas Witziges passiert. Er sitzt am Strand
immer in einem alten Klappsessel, den er jeden Tag zum Strand schleppt. Da der Sessel
schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, machte er keinen stabilen Eindruck mehr. Als mein
Vater unseren Freunden eine Geschichte erzählte und dabei wild gestikulierte, klappte auf
einmal der Sessel in sich zusammen und mein Vater lag wie eine hilflose Schildkröte auf
dem Rücken. Das war für ihn dann ein Zeichen neue Stühle zu kaufen. Doch seinen
wagemutigen ‚Stunt‘ werde ich nie wieder vergessen. Und mein Vater wird jedes Jahr im
Urlaub daran erinnert. Die Geschichte zu erzählen ist bei uns mittlerweile zu einem festen
Ferienritual geworden: 'Weißt du noch, damals?'"
Auch Rominas Kommilitonin Saskia kann mit der neu entdeckten Reiselust der Deutschen
nach Italien in den 1950er Jahren etwas verbinden. "Die Verbindung, die ich dazu habe, ist
das Lied 'Zwei kleine Italiener', gesungen von Conny Froboess. Den Schlager hat meine
Mutter früher immer beim Hausputz gehört."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Fotografie
Der persönliche Blick von Dennis Leibeling
Im oberen Treppenhaus der Villa Schlikker befindet
sich eine Ausstellungsreihe zum Thema Fotografie.
Vornehmlich werden dort Einzel- oder Gruppenportäts
über einen Zeitraum von ungefähr 50 Jahren gezeigt,
der vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1920 reicht.
Dennis vergleicht die Bilder miteinander: "Ihre
hervorstechende gemeinsame Eigenschaft ist – nicht
zuletzt durch die beschränkte Technik der frühen
Fotoapparate mit ihren langen Belichtungszeiten – die
Gestelltheit der Aufnahmen. Die abgelichteten
Personen richten ihren Blick exakt auf die Kamera,
gehorsam der Anweisung des Fotografen folgend: 'Bitte
jetzt nicht wackeln!'"
Die Fotografie erlaubte es der breiten Masse, es den
reicheren Leuten gleich zu tun und sich zu
erschwinglichen Preisen porträtieren zu lassen. Nicht von ungefähr waren die ersten
"Lichtbildner" noch ausgebildete Maler. Dennis fallen bestimmte Attribute auf: "Mit denen
identifizierten sie sich bzw. sie wollten mit ihnen identifiziert werden. Ein Bierkrug fällt mir da
beispielsweise auf, eine Uniform oder ein maßgeschneiderter Anzug. Damit wollte man
offensichtlich eine bestimmte Botschaft transportieren."
Bei einer Fotografie, die einen Soldaten 1914 gemeinsam mit seiner Tochter zeigt, bleibt
Dennis stehen: "Das jugendliche Gesicht des Mädchens erinnert mich unweigerlich an ein
Porträt meiner damals 18-jährigen Großmutter in ihrer BDM-Kluft. Minutenlang berichtete sie
mir darüber, wie außergewöhnlich gewagt ihre Frisur damals war und wie beliebt diese bei
ihren Verehrern gewesen sei."
Dennis’ Gedanken kehren zurück zu dem Bild von 1914: "Das Foto macht mich auf
mehreren Ebenen nachdenklich: wie extrem sich die Modegeschmäcker verschiedener
Generationen voneinander unterscheiden können; wie das Alter an Menschen nagen kann
und sie zeichnet; und ob man – vorausgesetzt, man träfe seine Verwandten unter anderen
Umständen – wohl mit ihnen befreundet sein wollte."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Tante-Emma-Laden
Der persönliche Blick von Ragnar Hund und
Laura Oymanns
Der Tante-Emma-Laden mit seiner gesamten Ausstattung
ist ein Ausstellungsstück für sich. Begeistert sieht sich
Ragnar darin um: "Der Tante-Emma-Laden, der 'kleine
Laden um die Ecke' mit all seinen Facetten, ist in seiner
klassischen Form nahezu vollständig durch große
Discounter verdrängt worden. Heutzutage ist er vielleicht
am ehesten noch in den kleinen und großen Kiosken
unserer Städte greifbar."
Jonathan beobachtet, wie sein Kommilitone etwas
nostalgisch herumblickt. "Erinnert dich das an etwas?",
fragt er Ragnar, und der beginnt gleich zu erzählen:
"Besuche in eben diesen Läden sind mir persönlich aus
der Kindheit im Gedächtnis geblieben. Sie waren stets Anlaufstellen, um unseren kindlichen
Warenbedarf zu stillen; sei es, um bunte Tüten, sei es, um Eis oder sonstiges Naschwerk zu
erwerben."
Ragnars Blick fällt auf ein Panini-Fußballalbum in einem der Warenständer. "Für Jungen
meines Alters spielten damals die Panini-Fußballsammelbilder, die es ebenfalls dort zu
kaufen gab, eine ganz besondere Rolle. Sie wurden gerne schon vor Schulbeginn gekauft,
um dann auf dem Schulhof, oder auch heimlich im Unterricht, mit anderen Kindern
getauscht, oder, was bei besonders wertvollen Bildchen vorkam, auch regelrecht gehandelt
zu werden. War der eigene Bildchenbestand am Ende eines Schultages weitgehend
aufgebraucht oder befand er sich in einem nicht mehr als erträglich empfundenen Zustand,
so wurde auf dem Weg von der Schule nach Hause gerne noch einmal im kleinen Laden
Station gemacht. Oft genug verzögerte sich durch den spontan einsetzenden
anschließenden Tausch mit Freunden der Heimweg. Allzu lange durfte es allerdings nicht
dauern, denn zuhause wartete meine Mutter bereits mit dem Mittagessen auf mich."
Laura hält es da eher mit dem Eis: "Wenn ich auf
den Tante-Emma-Laden zugehe, fällt mir sofort das
Eisschild auf. Es erinnert mich an einige Tage in
den Sommerferien. Als ich in der zweiten Klasse
war, zogen meine Familie und ich in ein Haus in der
Nähe des Gymnasiums, auf das ich später gehen
sollte. Wie bei allen Schulen in unserer Stadt war
auch bei dieser ein kleines Büdchen in der Nähe.
Zu diesem bin ich oft mit meinen Freundinnen
gegangen, um Bonbons, Zeitschriften oder Eis zu
kaufen. Vor allem im Sommer waren wir fast täglich
dort, um uns ein Eis zu holen."
Doch Eis ist nicht gleich Eis, wie durch Lauras
weitere Erzählung schnell klar wird: "Meine
Freundin Maxi und ich suchten uns trotz des großen
Angebots meistens 'Mini Milk' aus. Da sie recht
klein waren und man sie so schnell aufgegessen
hatte, nahmen wir immer gleich je zwei Stück.
Früher war die Verpackung natürlich noch
wesentlich einfacher und nicht so farbenfroh wie
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
heute. Das Papier war weiß und darauf waren kleine hellblaue Bilder von Wiesen mit
Blümchen und Kühen zusehen; dazwischen stand das 'Mini Milk'-Logo. Man konnte an der
Verpackung damals leider noch nicht erkennen, welche Sorte drin steckte und da wir beide
nur Schokolade wollten, war das natürlich ein Problem. Denn wenn man Erdbeere oder
Vanille hatte und der andere eins oder sogar zwei in der Sorte Schokolade, war man
enttäuscht und konnte das Eis nicht so sehr genießen wie in Schokolade. Das Eis wurde
immer schon auf dem Weg nach Hause aufgegessen und beim nächsten Treffen spielte es
sich wieder genauso ab."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Stadtentwicklung
Der persönliche Blick von Jan Bruns und Johannes Hess
Dass sich einem das Bild einer Stadt einprägt,
wird Jan beim Anblick einer Fotografie des
Freibads "Moskau" bewusst: "Als ich den Raum
das erste Mal betreten habe, fiel mir das Foto
vom Freibad direkt ins Auge. Das Motiv kam mir
bekannt vor. Ich erinnerte mich, dass ich im
ersten Semester mal einen Nachmittag mit
meinen neuen Kommilitonen ins Moskaubad
gefahren bin. Mir kamen die große Tribüne sowie
das große Schwimmbecken gleich bekannt vor.
Im Gegensatz dazu war der Rest des Freibades
auf dem Foto nicht mehr so, wie ich ihn in
Erinnerung habe."
Neben seiner persönlichen Geschichte interessiert Jan auch die Geschichte des "Moskau",
wie es im Volksmund genannt wird: "Das Freibad wurde 1926 eröffnet und umfasste neben
dem großen Schwimmbecken zudem das Frauen- und das Familienbad. Während beim Bau
von Badeanstalten in der Kaiserzeit die Erhaltung der Arbeitskraft der Arbeiterschaft im
Vordergrund stand, kam zur Zeit der Weimarer Republik der Aspekt der Freizeitgestaltung
hinzu."
Jans Mitstudent Johannes bleibt auf der
anderen Seite an einer Fotografie der
"Schwedenhäuser" in der Hecker Straße 25
hängen. "Immer wenn ich dies Bild betrachte,
erinnern mich diese nüchternen Häuser mit
ihren klaren Linien und ihrer beeindruckenden
Schlichtheit an den Wald. – Ja tatsächlich!
Meine Verbindung zwischen dem
rauschenden Wald und diesen einfachen
Nachkriegsbauten verdanke ich meinem
Großvater." Dieser war nach dem Ende des
Krieges in die Landwirtschaft zurückgekehrt
und hatte unter anderem auch
forstwirtschaftlich gearbeitet.
"Oft erzählte er mir", so berichtet Johannes weiter, "bei Spaziergängen durch seinen Wald
von jener Zeit, als der Wiederaufbau ins Rollen kam. Es wurden enorme Mengen an
Baumaterialien benötigt, um die zerstörten Gebäude wieder herzustellen. So lieferte auch
mein Großvater Holz aus seinem Wald an die Baustellen in Osnabrück. Es musste so
schnell gehen, dass das Holz kaum die Zeit bekam richtig auszutrocknen. Schon wurden
daraus Dachstühle und dergleichen." Jan findet das sehr interessant: "Obwohl es eigentlich
logisch ist, war es mir nicht bewusst, dass die Bauern der Umgebung das Bauholz für den
Wiederaufbau Osnabrücks geliefert haben."
Mit Blick auf den Baustil der Häuser meint Johannes weiter: "Die besondere Schlichtheit
dieser Wohnhäuser war nichts Neues. Sie geht auf die Bauhaus-Schule zurück, deren
Architektur zur NS-Zeit als 'entartet' angesehen wurde. Neben der pragmatischen Bauweise
stellte dies einen klar sichtbaren Bruch mit der Kolossal-Architektur der Nazis dar. Man wollte
optisch eine neue Zeit beginnen. Dies spiegelte sich unter anderem in der Bescheidenheit
der Bauten wider. Mein Großvater sprach denn auch, noch ganz Kind seiner Zeit, bei den
neuen Wohnhäusern von 'Umzugskartons'. Für die hatte er nur wenig übrig."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Kurz vor dem Rausgehen wollen sich Jan und Johannes
noch etwas genauer mit der Stadtentwicklung
beschäftigen und blicken dazu auf den großen
Wirtschaftsplan von 1948. Auf ihm erkennen sie,
eingerahmt von den Wallstraßen, den nierenförmigen
mittelalterlichen Stadtkern sowie die darüber
hinausgewachsene jüngere Stadt. Johannes erläutert das
näher: "Man erkennt noch sehr gut die Altstadt um Dom
und Markt sowie die Neustadt jenseits des Neuen
Grabens mit Johanniskirche und Schloss. Wenn man
diese Struktur mit den kleinen gewundenen Sträßchen und
Häusern, die in ihren Größen und Grundrissen stark
variieren, näher betrachtet, stellt man sehr schnell fest,
dass es sich um eine über Jahrhunderte gewachsene
Bebauung handeln muss."
Jan ergänzt, dass Osnabrück in seiner Struktur bis zum
19. Jahrhundert eigentlich unverändert blieb: "Die Stadt
war in ihren Mauern und Wehranlagen regelrecht eingeschnürt. Erst als das Festungsgebot
1843 aufgehoben wurde, konnte sie über ihren mittelalterlichen Kern hinaus weiter wachsen
und auch großzügiger und gradliniger gebaut werden. Neue Stadtviertel wie das
'Katharinenviertel' und die 'Wüste' entstanden. Als besonders moderne Raumplanung galt
die Anlage des Stadtteils zwischen dem Neumarkt und dem Bahnhof; wegen der Öffnung der
Stadt zur Eisenbahn. Der Bahnhof war das symbolische ‚Stadttor der Moderne‘. Nicht
umsonst siedelte sich wegen der enormen Transportkapazitäten der Eisenbahn an den
Gleisen auch die Großindustrie an."
Johannes erzählt weiter: "Den Bau einer Ringstraße im Bereich der ehemaligen Wälle guckte
man sich von großen Metropolen wie Köln oder Wien ab. Man wollte der Bevölkerung
großstädtisches Flair bieten. Übrigens auch frische Luft und Raum zum Spazieren und
Flanieren: Die Wallstraßen waren damals noch richtig begrünt mit Palmen- und
Rosengärten. Bei dem aktuellen Verkehr dort ist das heute kaum noch vorstellbar."
Jan fragt sich, warum sich das Stadtzentrum nach dem Zweiten Weltkrieg nicht viel stärker
gewandelt hat. "Bei den massiven Zerstörungen wäre es doch auch denkbar gewesen, sich
nicht länger an den alten verwinkelten Straßenverläufen zu orientieren und stattdessen die
zerstörte Altstadt großflächig zu überbauen." "Da hast du recht", meint Johannes, "in Städten
wie Magdeburg, Halberstadt oder Dessau hat man das ja auch so gehandhabt. Aber in
Osnabrück haben die Stadtplaner ganz bewusst die alte Struktur erhalten wollen. Da hat die
Denkmalpflege ein gehöriges Wort mitgeredet."
"Trotzdem hat man die Stadt auch weiterentwickeln wollen", sagt Jan mit Blick auf den
Wirtschaftsplan. "Die Stadtplaner haben deshalb Vorkriegsplanungen von 1937 wieder
aufgegriffen. Dazu gehörte die Erweiterung des Systems von Ringstraßen, die Radialstraßen
miteinander verbanden um den Warentransport in die Stadt, um sie herum und aus ihr
heraus zu ermöglichen. Dabei wurde besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass die
einzelnen Stadtteile von ihrer Infrastruktur her weitgehend autonom waren." – "Weißt du,
dass man das richtig spüren kann?" fragt Johannes spontan und erläutert seinen Eindruck:
"Wenn du nach der Uni vom Schloss aus Richtung Vorstädte gehst, benutzt man ja oft diese
Radialstraßen. Die sind von Grünzügen begleitet, um für einen Luftaustausch zu sorgen, der
die Luftqualität in der Stadt garantiert. Leider kann man dieses Phänomen gerade im Winter
sehr gut beobachten, wenn dir der schneidend kalte Wind entgegenbläst. Das ist nach zehn
Stunden Uni kein Spaß." – "Armer Studi", zeigt Jan wahres Mitgefühl "lass dich bedauern."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Luftkrieg über Osnabrück
Der persönliche Blick von Anne Südbeck
Anne muss sich nicht lange in ihrem Raum umsehen,
um etwas Interessantes zu entdecken: "Jedes Mal,
wenn ich diesen Raum betrete, fällt mein Blick sofort
auf das Plakat mit der Aufforderung ‚Der Feind sieht
Dein Licht! Verdunkeln!‘ von 1943. Es hängt schräg
gegenüber dem Eingang. Für mich gibt dieses Plakat
die Stimmung des Raumes wieder. Es löst etwas
Bedrückendes in mir aus, viel stärker als jedes andere
Ausstellungsstück in dem ehemaligen Luftschutzraum.
Es lässt mich die Stimmung erahnen, die Anfang der
1940er Jahre unter den Menschen in den Städten
geherrscht haben muss – nicht nur in Osnabrück,
sondern in ganz Deutschland. Die ständige Angst vor
dem Luftalarm, der einen neuen Angriff ankündigt. Die
Sorge, alles zu verlieren. Das Leben dieser Menschen
muss von dieser ständigen Bedrohung beherrscht
gewesen sein. Alles, jede ach so banale Handlung war bestimmt vom Krieg."
Auch wenn es sich um ein deutsches Propagandaplakat handelt, regt der auf dem Flugzeug
reitende Tod auch Mitstudentin Anniela zum Nachdenken an: "Das Plakat ist sehr
eindrucksvoll, es ermöglicht Menschen der Nachkriegs-Generationen, eine vage Vorstellung
von der Bedrohlichkeit des Krieges zu bekommen. Den Gedanken, dass die Erinnerung an
eine solche Situation einen Menschen sein Leben lang begleitet und prägt, finde ich beim
Anblick dieses Bildes leicht nachvollziehbar." Da muss auch Anne beipflichten: "Wie stark
müssen die Menschen, die dies alles miterleben mussten, für ihr weiteres Leben geprägt
worden sein."
Für beide bleibt dabei offen, ob sich die Betroffenen auch gefragt haben, wer den Krieg
verursacht hat und wie es wohl den Menschen in den Städten und Dörfern ergangen ist, die
von den deutschen Piloten bombardiert worden sind. "Man müsste sie fragen können,
welche Konsequenzen sie aus ihren persönlichen Kriegserfahrungen gezogen haben", meint
Anne noch beim Hinausgehen.
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Kriegsgefangenschaft
Der persönliche Blick von Alice Pradela
In dem kleinen Raum lässt sich Alice von der
Ausstellungsgestaltung leiten: "Durch die zentrale räumliche
Platzierung und den plakativ davor angebrachten
Stacheldraht wurde mein Blick sofort auf die dort
präsentierte Jacke gelenkt. Die Steppungen der Jacke
weisen sie als die typische Arbeitsjacke 'Fufaika' aus, wie
sie in sowjetischen Gefangenenlagern getragen wurde."
Alice interessiert, wie die Jacke in dieser musealen
Präsentation wirkt: "Die Fufaika dient hier als ein
sprechendes Objekt. Anhand der Spuren der Jacke, der
verschlissenen Ärmel und Flecken, lassen sich die
Bedingungen im Lager erahnen. Man glaubt die
anstrengende Arbeit in dem Lager sowie die harten und
kalten Winter in der Sowjetunion zu spüren. Dabei erlebte
W. Martin, der die warm wattierte und gesteppte Jacke 1944/45 trug, vielleicht noch
vergleichsweise bessere Bedingungen in seinem Gefangenenlager im sibirischen
Swerdlowsk. Denn eigentlich wurde diese warme Kleidung aufgrund der allgemein
schlechten Versorgungslage erst ab 1947 an Kriegsgefangene ausgegeben. Ich frage mich
jedoch selbst dann, ob diese Kleidung auch in durchnässtem und länger getragenem
Zustand tatsächlich noch wärmte."
Alices Kommilitonin Erika überlegt, wie der deutsche Kriegsgefangene wohl an die Jacke
gekommen ist. "Klar ist nur, dass dieses relativ warme und gefütterte Kleidungsstück in
Sibirien eine willkommene Ablösung gewesen sein mag zu der dünnen, winteruntauglichen
Uniform der deutschen Soldaten."
Alice kommt noch einmal auf die Inszenierung zu sprechen: "Der Stacheldraht vor der Jacke
ruft die unmittelbare Assoziation mit Gefangenschaft hervor. Zusammen mit der Enge des
kleinen abgetrennten Raumes kommt ein richtig beklemmendes Gefühl auf." Das erinnert
Alice an die nationalsozialistischen Arbeitslager: "Die Arbeitskleidung dort hatte zwar ein
anderes Aussehen. Und die Bedingungen, unter denen die Menschen in das eine oder das
andere Lager gelangten, waren grundverschieden. Denn die einen waren als angreifende
Soldaten in Gefangenschaft geraten, während die anderen ideologisch verfolgt waren, als
Arbeitssklaven missbraucht wurden oder sogar durch Arbeit gezielt vernichtet werden
sollten. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten: die harte Arbeit, die generell unwürdigen
Bedingungen oder den Verlust der Identität, wenn die zugeteilte Nummer wichtiger war als
der eigene Name."
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Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker
Studentenprojekt von 2011
Mangel durch Krieg
Der persönliche Blick von Laura Boese
In der notdürftig eingerichteten Küche aus den Jahren um
1945 stößt Laura auf den Stapel mit CARE-Paketen. "Die
Hilfspakete waren in der Nachkriegszeit, in der Lebensmittel
knapp waren, für den Einzelnen sehr wichtig. Sie sicherten
einige zusätzliche Mahlzeiten und damit das Überleben. So
löste der Erhalt eines solchen Paketes immer große Freude
aus."
Die Hilfspakete, von denen zwischen 1946 und 1960 fast 10
Millionen Stück von US-Bürgern und Kanadiern in die
Westzonen und später in die BRD geschickt wurden,
gehören zu Lauras eigener Familiengeschichte: "Von meiner
Familie weiß ich, dass sie in der Nachkriegszeit ebenfalls
CARE-Pakete erhielt. Sie stammten aus den USA und
haben bei meiner Großmutter bis zu ihrem Tod eine eher positive Erinnerung an die USA
bewirkt. Das Nebeneinander eines aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft
zurückkehrenden Bruders, der so abgemagert war, dass sie ihn am Bahnsteig nicht mehr
erkannte, und das häufige Empfangen von zusätzlicher Nahrung aus den USA zeichnete für
die damals etwa Zwanzigjährige ein sehr eindeutiges Weltbild."
Allerdings verbindet Lauras Familie mit den CARE-Paketen auch eine makabere Geschichte:
"Ein Großonkel war seiner Zeit in die USA ausgewandert. Man wollte ihn jedoch in den USA,
wo er keinerlei Verwandte hatte, nicht beerdigen. Und so äscherte man seinen Leichnam ein,
um ihn nach Deutschland zu überführen. Dies geschah sehr formlos in einem Paket, welches
einem CARE-Paket in Bezug auf die Größe wohl einigermaßen ähnlich sah. Und so glaubte
meine Großmutter beim Öffnen voller Vorfreude, es handle sich um ein weiteres CAREPaket. Über die Urne war die Familie entsprechend verdutzt, bis sich die Situation aufklärte."
Für Laura zeigt diese seltsame Geschichte, "wie sehr Pakete, die aus den USA an meine
Familie gesendet wurden, mit Lebensmitteln verbunden wurden. Auch ohne die typischen
Kennzeichnungen als CARE-Paket kam für sie nichts anderes in Frage, als dass Post aus
den USA unweigerlich mit Lebensmitteln verbunden sein müsse. Eine Verbindung, die meine
Großmutter bis zu ihrem Tod verinnerlicht hat."
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