Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Großbürgerliches Wohnen Der persönliche Blick von Nikola Götzl Das größte Ausstellungsstück im Haus der Erinnerung ist das Gebäude selbst. Beim Betreten der Industriellenvilla fällt im Foyer sofort die Treppenanlage auf, die das Innere des Gebäudes dominiert. Verena lässt sich von ihrer Kommilitonin Nikola die historischen Hintergründe erklären: "Die breite Holztreppe ist eines der zentralen architektonischen Elemente der Villa Schlikker, die Anfang des 20. Jahrhunderts vom Hannoveraner Architekt Otto Lüer entworfen wurde. Sie ist ein Kennzeichen des großbürgerlichen Wohnens. Im Mittelpunkt der palastartigen Architektur spiegelt sie die räumliche Großzügigkeit der repräsentativen Villa wider. Schnitzerei und Verzierungen sind eher schlicht und einfach gehalten, doch bietet die Treppe viel Raum für diejenigen, die zu den oberen Stockwerken gelangen möchten." Gemeinsam stellen sich Verena und Nikola vor, was diese Treppe schon alles erlebt hat: "Sie ist ein geschichtsträchtiges Element, wenn man bedenkt wie viele Generationen und verschiedenen Menschen schon über ihre Stufen geschritten sind: die Familie Schlikker und ihre Gäste Anfang des 20. Jahrhunderts; Mitglieder der NSDAP und der SA zur Zeit des Nationalsozialismus; britischen Offiziere der Militärregierung in der Nachkriegszeit und heutzutage die Besucher, die das Museum besichtigen." Nikola betont auch die Besonderheit, das mit der Treppe noch eines der wenigen Stücke von der Originalausstattung der Villa erhalten ist: "Im Kontrast zu den übrigen Exponaten ist die Treppe eine beständige, architektonische Komponente des Hauses. Während die Wohnräume mehrfach verändert wurden, sind Treppenhaus und Mauerwerk eine Konstante in der Geschichte der Villa Schlikker. Zeit und Mensch haben ihre Spuren auf ihr hinterlassen und machen sie symbolisch zu einem tragenden Element im Haus der Erinnerung." Verena ergänzt: "Heute leitet sie die Museumsbesucher gewissermaßen Stufe für Stufe durch die Osnabrücker Geschichte." Nikola fühlt sich beim Anblick der großzügig angelegten Treppenanlage an ihre eigene Lebenswelt erinnert: "Ich persönlich assoziiere mit ihr die steile und kurvige Treppe im Haus meiner Großmutter. Als Kind musste ich aufpassen nicht die Stufen hinunterzustolpern, da sie so eng und verwinkelt gebaut war – ein Problem, das in der Villa Schlikker offensichtlich nie vorhanden war." 1 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Kindheit Der persönliche Blick von Anniela Ehlert Was wir in unserer Kindheit erleben, prägt uns häufig ein Leben lang. Ein guter Grund, um den historischen Rundgang mit einem Besuch in der Kinderstube zu beginnen. Hier kann man entdecken, womit die Kleinen spielten, die um 1900 in Osnabrücks vornehmen Häusern wie der Villa Schlikker aufwuchsen. Zum Beispiel den Puppenherd, den das Mädchen einer wohlhabenden Familie, wie eine Datumsplakette verrät, Weihnachten 1900 als Geschenk erhalten hat. Beim Anblick der hier ebenfalls versammelten Stofftiere erinnert sich Anniela an ihr altes Stoffkaninchen, das noch heute im Haus ihrer Eltern seinen Platz hat: "Es ist eines der wenigen nicht aussortierten Kuscheltiere meiner Kindheit. Als Kind hatte ich davon eine ganze Menge. Unter ihnen befand sich eines, das etwas Besonderes darstellte. Alle anderen habe ich an die verschiedensten Orte mitgeschleppt. Sie wurden dreckig, sie wurden nass. Manchen wurden beim Spielen sogar versehentlich Körperteile abgerissen. Sie wurden mit Kuscheltieren von Freunden getauscht oder nach und nach aussortiert." Nur das eine nahm nicht wie die anderen am Lauf der Welt teil. "Es wurde sauber gehalten, manchmal gekämmt; und es fand sich nur sehr selten zum Spielen auf dem Fußboden wieder." Bei diesem besonderen Kuscheltier handelt es sich um ein kleines etwa fünfzehn Zentimeter großes Kaninchen mit einem Knopf im Ohr. "Dieser Knopf war es", berichtet Anniela, "der das Kaninchen gegenüber allen anderen Tieren auszeichnete. Durch ihn war klar: Das ist ein Kaninchen der Marke Steiff! Als Kind war mir natürlich eigentlich egal, ob ein Kuscheltier von dieser oder von jener Firma hergestellt worden war. Dennoch habe ich dieses Kaninchen bevorzugt behandelt. Das lag wohl daran, dass mir meine Eltern erzählt hatten, dass SteiffKuscheltiere teuer, von sehr guter Qualität und damit etwas Besonderes seien. Sie selbst hatten es übrigens so von ihren Eltern vermittelt bekommen." Diese Tradition wundert nicht, denn die unter Sammlern begehrten Steiff-Tiere werden bereits seit 1880 produziert. Den "Knopf im Ohr", die Schutzmarke des Unternehmens, tragen sie seit 1904, und zwar stets im linken Ohr. Auch Anne verbindet mit Steiff-Tieren persönliche Erinnerungen. "Sie sind für mich ganz besondere Stofftiere. Noch heute führt mich mein Weg in einem Spielzeuggeschäft zuallererst zu der Vitrine mit den Steifftieren." 2 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Geschlecht Der persönliche Blick von Jonas Kammann Eigentlich wollte sich Jonas ja im Raum "Geschlecht" umsehen, doch irgendwie bleibt sein Blick im Zimmer nebenan an dem kleinen Puppenherd hängen. Das war ‚zu Kaisers Zeiten‘ ein typisches Spielzeug für Mädchen, die daran spielerisch ihre Rolle als Hausfrau erproben sollten. Schon in der Kindheit geht es um die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen. "Die Geschlechterrolle", so Jonas, "wird gesellschaftlich zugeordnet, ja sie scheint von Geburt an vorgegeben. Die Geschlechtertrennung ist damals allgegenwärtig. Ob zu Hause, im Laden oder auf der Straße ... Spielzeug und Werbung, die Trennung im Sportverein, die unterschiedlichen Arbeiten, die Frauen und Männer verrichten, und und ... Vieles vermittelte den Menschen alltäglich den Eindruck, als sei die existierende Verteilung der Rollen von Mann und Frau etwas Selbstverständliches." Zurück in ‚seinem‘ Raum, fragt sich Jonas angesichts der gut 100 Jahre alten Schlafzimmermöbel, was sich seitdem an Lebensgefühl wohl geändert haben könnte: "Die Schlafzimmereinrichtung ähnelt ja eigentlich der aus heutiger Zeit. Auch jetzt haben Eheleute in der Regel ein gemeinsames Ehebett mit zwei Nachttischen sowie einen Kleiderschrank. Die Unterschiede zwischen damals und heute ergeben sich eigentlich erst beim Anblick der anderen Exponate. In den Bildern, Fotos, Postkarten und Plakaten wird die strikte Trennung und jeweilige Erziehung der Geschlechter deutlicher: Der Junge wird zum Soldaten erzogen, der für ‚Kaiser, Volk und Vaterland‘ kämpft und stirbt, und das Mädchen wird eine gute Ehefrau und Mutter." Sein Kommilitone Dennis findet, "dass der Einfluss der Erziehung auf die Geschlechterrollen eine Komponente ist, die zur Definition der Identität äußerst wichtig ist. Aber war das damals wirklich so, wie das hier im Museum dargestellt wird? "Im Kaiserreich wurde die Familie als Keimzelle der Gesellschaft propagiert. Die kaiserliche Familie lebte das ja regelrecht vor", gibt Jonas zu bedenken. "Richtig", meint Dennis, "und im Nationalsozialismus war es nicht anders. Eine Familie mit vielen Kindern garantierte, dass es genug Soldaten für den Krieg gab. Es hieß sogar, dass jede Frau ‚Hitler ein Kind schenken‘ sollte. Irgendwie eine abstruse Vorstellung, dass meine Frau mal Angela Merkel ein Kind schenkt, damit die mit ihm Krieg führen kann. Was meinst du?" – "Andererseits wird die Ehe heute steuerlich begünstigt, und Kindergeld gibt es auch. Mit der Zahl der Kinder steigt sogar der Betrag", gibt Jonas zu bedenken. "Und vom Militärdienst waren Frauen bis vor kurzem auch noch ausgeschlossen. Das wurde erst im Zuge der Gleichberechtigung gesetzlich geändert." Die beiden diskutieren noch lange weiter. "Mich interessiert besonders, welche Ursachen diese Geschlechterklischees haben; ob sie kulturell vorgegeben oder lediglich genetisch bedingt sind", meint Dennis. "Man sollte ebenfalls darüber sprechen, welche Effekte heutige Versuche erzielen, alte Klischees aufzubrechen. Ich empfinde da Aktionen wie den ‚Girls Day‘ manchmal als eher hilflos." – "Zumindest ist die Gesellschaft heute offener geworden und bietet Frauen und Männern mehr Möglichkeiten", entgegnet Jonas. "Heute dürfen Jungen auch mit Puppen spielen, ohne gleich gehänselt zu werden. Und mit der Aussetzung der Wehrpflicht wird niemand mehr gezwungen, zur Bundeswehr zu gehen." 3 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Bürgerlicher Salon und Wintergarten Der persönliche Blick von Tanja Wosnitza In großbürgerlichen Wohnhäusern wie der Villa Schlikker gehörten wertvolle Gemälde zur üblichen Ausstattung der repräsentativen Räume. Sie schmückten die Salons, in denen Gäste empfangen und Gesellschaften gegeben wurden. Sie waren nicht nur Schmuck, sondern boten auch Anlass für Gespräche. Wenn sich beispielsweise Gäste noch nicht persönlich kannten, bot sich ihnen hier die Gelegenheit für eine unverfängliche Konversation. Beim Streifen durch den lichtdurchfluteten Wintergarten entdeckt Tanja ein Ölgemälde von Theodor Fritz Koch aus dem Jahr 1940. Das Bild mit dem Titel "Lange Wand" zeigt eine Allee mit grünen Bäumen. Die Studentin erinnert es an ihr Heimatdorf zwischen Hannover und Braunschweig: "In der Feldmark bei unserem Dorf gibt es eine Allee, die der auf dem Bild sehr ähnelt. Bei uns heißt sie ‚Pappelallee‘. Sie ist ungefähr 500 Meter lang und links und rechts umgeben von sehr alten und mächtigen Pappeln." "Die Pappelallee ist nicht nur als Spazierweg beliebt", berichtet Tanja weiter. "Sie ist auch die kürzeste Verbindung zwischen unserem und dem Nachbardorf. Leider hat vor wenigen Jahren ein Eigentümerwechsel stattgefunden. Nun ist das Betreten verboten und der Eigentümer wird sehr wütend, wenn er dort einen Spaziergänger erwischt. Seitdem müssen alle Leute, egal ob sie zu Fuß unterwegs sind oder mit dem Auto, den langen Weg entlang der viel befahrenen Landstraße nehmen. Vor allem freitags, wenn sich auf der Autobahn A 2 der Verkehr Richtung Osten staut, ist der Spaziergang entlang dieser Straße ein gefährliches Unterfangen. Dann denkt mit Sicherheit der eine oder andere an die Zeit zurück, in der Radtouren und Spaziergänge durch die Pappelallee noch möglich waren." 4 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Bürgerliches Porträt Der persönliche Blick von Saskia Manuela Pientka Beim Besuch in einem Schloss kommt man meist auch in eine Ahnengalerie. Wie in einer Art Zeitmaschine kann der Besucher dort entlang der Porträts, von Gesicht zu Gesicht, von Generation zu Generation, die Geschichte eines adeligen Geschlechts durchschreiten. Auf diese lange Tradition, die sich oft genug über viele Jahrhunderte erstreckt, blickt der Adel mit Stolz zurück. Bürgerliche Familien kopierten diese Form adeliger Selbstdarstellung gerne, um auf ihre eigene Familientradition aufmerksam zu machen. Reiche Kaufleute oder Fabrikanten machten mit wertvollen und aufwendig gerahmten Ölgemälden zudem ihren wirtschaftlichen Erfolg sichtbar. Beim Gang durch die Porträtgalerie im Haus der Erinnerung interessiert sich Saskia besonders für ein Kinderporträt im Foyer. Es zeigt Eberhard Hecker, den Neffen des Malers Franz Hecker. Der malte das Bildnis im Jahre 1896. Was interessiert Saskia an dem Gemälde? "Der Neffe sitzt im Kindesalter auf einem roten Sessel; ganz ähnlich wie der Fabrikbesitzer Kromschröder auf dem Gemälde daneben. Eberhard sieht aus wie ein Stammhalter. Das hat mich an ein Bild meines großen Bruders erinnert. Auch er sitzt dabei auf einem Sessel, ist jedoch zusätzlich in eine Jacke meines Vaters gehüllt. Bei diesem Bild denkt man ebenfalls an die Rolle des Stammhalters, der in die Fußstapfen des Vaters tritt, wie es früher üblich war. Allerdings tut mein großer Bruder gerade dieses nicht. Der Lebensstil meines Vaters und der meines großen Bruders laufen weit auseinander. Mein Vater hat gleich nach seinem Schulabschluss eine Ausbildung gemacht, jung geheiratet und früh Kinder bekommen. Im Gegensatz dazu versucht mein großer Bruder, seine jugendliche Lebensweise und seine Unabhängigkeit möglichst lange zu bewahren." Gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Romina fragt sich Saskia, ob es heute generell noch üblich ist, in die Fußstapfen der Vorfahren zu treten: "Das ist eher selten der Fall. Die Mentalität hat sich geändert. Man sucht sich doch eher eine eigene Identität." 5 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Religion Der persönliche Blick von Jonathan Chevillet Hat ein Kavallerie-Verein etwas mit Religion zu tun? Auf den ersten Blick nicht, aber in diesem Raum erklärt sich vieles erst beim genauen Hinsehen. Mit viel Gespür nähert sich Jonathan einem der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Der Student aus Frankreich interessiert sich für ein Gedicht, das der jüdische Osnabrücker Kaufmann Philipp Nussbaum 1934 an seine Kameraden im Kavallerie-Verein Osnabrück richtete, als er durch die nationalsozialistische Politik gezwungen wurde, diesen Verein zu verlassen. "Wie viele Juden war auch Philipp Nussbaum assimiliert und wollte ein ganz normales Leben führen", meint Jonathan."Er war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen, hatte starke patriotische Gefühle und war langjähriges Mitglied des Osnabrücker Kavallerie-Vereins. Sein Gedicht 'Ein letzter Gruß dem Kavallerie-Verein Osnabrück dem ich 34 ½ Jahre angehörte' zeigt seine tiefe Traurigkeit darüber, nicht mehr diesem Verein angehören zu dürfen. Zwischen den Zeilen kann man deutlich spüren, dass für Philipp Nussbaum damals eine Welt zusammenbricht. Stattdessen kommt für ihn und seine Familie eine neue Welt; eine Welt der Diskriminierung und der gesellschaftlichen Isolation. Die Nussbaums dachten, dass diese Situation, die auch andere gesellschaftliche Gruppen betraf, nur vorübergehend sei. Sie flüchteten zunächst in die Schweiz, aber bereits 1935 kehrten sie nach Deutschland zurück, weil sie das Land nicht wirklich verlassen konnten. Nicht umsonst wirkt 'Ein letzter Gruß' wie eine Liebeserklärung an Deutschland. Nussbaums entschieden sich, in Köln zu leben. Sie hofften vermutlich, in der Großstadt im Schutz der anonymen Masse unbehelligt leben zu können." "Gerade wegen des verbreiteten Nationalismus konnte der ehemalige Frontkämpfer Philipp Nussbaum seine Situation nicht begreifen", gibt Jonathan zu bedenken: "Er hat daran geglaubt, dass sich die Lage bald ändern würde. Wegen ihres Frontkämpferprivilegs waren die jüdischen deutschen Frontsoldaten von der 1933 beginnenden Ausgrenzung und Isolierung der deutschen Juden zunächst noch weniger betroffen. Dies änderte sich jedoch sehr rasch. Wie viele hoffte Philipp Nussbaum auf die Ablösung des Regimes. Diese Hoffnung kann man in seinem Brief spüren." 6 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Verein Der persönliche Blick von Ricarda Hüpel Seit über zwei Jahrhunderten prägen hunderte von Vereinen das gesellschaftliche Leben in Osnabrück. Aktuell existieren knapp 500. Einen Verein kennt jedes Kind: den VfL. Auf den "Verein für Leibesübungen" stößt Ricarda, als sie die historische Fotografie einer der Vorläufermannschaften des Vereins entdeckt: die Fußball-Mannschaft des FC Olympia in der Saison 1910/1911. "Als ich das Bild des FC Olympia das erste Mal sah, sind wieder Erinnerungen an meine frühe Jugend zum Vorschein gekommen. Ich musste an meine Zeit als richtig vernarrter VfLFan denken. Im Alter von ungefähr 12 Jahren haben eine Freundin und ich angefangen, meinen Vater, meinen Bruder und einen Freund zum VfL ins Piepenbrock-Stadion zu begleiten. Wir wollten mal schauen, wie die so berühmte Stimmung an der ‚Bremer Brücke‘ ist. Tatsächlich wurden wir von der Begeisterung und vom VfL-Fieber gepackt. Wir waren ‚infiziert‘. Die Atmosphäre, das ganze Drum und Dran, das zum Spiel dazu gehört, haben uns fasziniert. Von dort an hieß es: Bei jedem Heimspiel sind wir dabei." Als VfL-Fan gibt es viel zu tun, wie Ricarda zu berichten weiß: "Mit meinem Bruder fingen wir an, auf unserem Dachboden Plakate zu malen. Wir bastelten eine Fahne und wir hörten den VfL-Song rauf und runter, damit wir bei den Spielen mit den anderen Fans im Chor mitsingen konnten. Gänsehaut-Atmosphäre pur! Das muss man einfach mal miterlebt haben." Ricarda bekennt offenherzig, dass zum ‚Drum und Dran‘ auch die männlichen Stars unten auf dem Rasen gehören: "Mit dem Wechsel von Benjamin Schüßler und Marcel Schied zum VfL war für uns Teenies alles perfekt. Die beiden ‚eroberten‘ unsere Herzen. Unsere Groupie-Phase fand dann den Höhepunkt, als wir ‚Benni‘ einen Brief geschrieben und diesen persönlich bei ihm in den Briefkasten gesteckt haben. Praktisch, dass er in dem Haus der Tante meiner Freundin gewohnt hat." Für ihre Kollegin Franziska klingt das typisch: "Ich finde Ricardas Geschichte sehr süß und mutig. Für mich zeigt sie ein charakteristisches Verhalten von jungen Mädchen, die Pläne aushecken um ihrem Idol näher zu kommen." – "Was hat man nicht alles für seine ‚Stars‘ gemacht", seufzt Ricarda denn auch. "Aber das gehört irgendwie auch mit dazu. Und mittlerweile gerate ich immer wieder darüber ins Schmunzeln, wenn ich an unsere Zeit als ‚Hardcore-Fans‘ denken muss. Fahrradstürze, Gänsehaut, fabelhafte Tore, ’ne Cola und ’ne Bratwurst aus dem Stadion waren einfach ein Muss." 7 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Beruf Der persönliche Blick von Franziska Schamberger Franziska interessiert sich für die Arbeiterwohnküche, die aus der NS-Zeit stammt. "Sie gehörte dem Eisenbahnarbeiter Heinrich Friedrich Menke und seiner Schwester Hermine Haseköster. Auf dem Esstisch befinden sich ein Suppentopf, hölzernes Eintopfbesteck und zwei Suppenteller." Ist die Küche ein typischer Frauenarbeitsplatz? im Nationalsozialismus galt die Ehe als Keimzelle der "Volksgemeinschaft". Zur Steigerung der Geburtenrate und zur Entlastung des Arbeitsmarktes wurden Paare steuerlich begünstigt und erhielten schon ab 1933 großzügige Ehestandsdarlehen, wenn sie den rassenideologischen Anforderungen genügten und sich die Frauen aus dem Berufsleben zurückzogen. "Die Frau gehörte sozusagen an den Herd", gibt Franziska die damalige Atmosphäre wieder. "Diese Küche hier symbolisiert für mich daher das Ideal der Familie im Nationalsozialismus. Am Tisch sehe ich den Vater nach der Arbeit mit den Kindern sitzen, während die Mutter kocht und das Essen serviert. Ganz so blond und blauäugig, wie es das Propaganda-Bild an der Wand mit der glücklichen Mutter und den vier Kindern vorgibt, werden aber wohl in der Realität nicht alle 'guten Deutschen' ausgesehen haben." Während des Zweiten Weltkrieges wurde – wie schon im Ersten Weltkrieg – sehr schnell klar, dass Frauen die Männer, die als Soldaten in ganz Europa eingesetzt waren, vielfach an ihren Arbeitsplätzen ersetzen mussten. Dennoch wurde das ‚Berufs‘-Ideal der ‚Mutter und Hausfrau‘ weiter hochgehalten, um die ideologische Ordnung der "Volksgemeinschaft" nicht zu gefährden. Dass die Realität anders aussah, zeigte sich besonders nach 1945, als die Männer aus Krieg und Gefangenschaft zurückkehrten und auf Frauen trafen, die jahrelang auf sich selbst gestellt gewesen waren und nun nicht einfach in die alten Rollenmuster zurückkehren konnten. In den durch die Kriegserfahrungen vielfach gebrochenen Männern begegneten den gemeinsamen Kindern Väter, die ihnen fremd waren. Persönlich erinnert Franziska der Tisch an die gemeinsamen Mahlzeiten mit ihrer Familie: "Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ein Essen, welches ich vor ein paar Jahren zubereitet habe. Ursprünglich wollte ich eine Kartoffelsuppe kochen. Daraus ist allerdings nichts geworden, denn als die Ersten einen Löffel probierten und ihr Gesicht verzogen, wurde mir schnell klar, dass ich das Salz mit dem Zimt verwechselt haben musste. Somit landete die Suppe im Müll anstatt in unseren Mägen." Davon kann auch Ricarda ein Lied singen: "Als Franziska mir ihre Geschichte mit ihrem missglückten Kochversuch erzählt hat, musste ich sofort schmunzeln und dachte nur: ‚Typisch, dass hätte mir auch passieren können.‘ Ich habe mir vorgestellt, wie Franziska mir ihrer Familie am Tisch gesessen hat und sich auf einmal nur alle gefragt haben, ob das denn so schmecken muss. Vielleicht war es ja ein neues Rezept, was sie ausprobiert hat. Kurz gesagt, die Geschichte ist amüsant und unterstreicht den tollpatschigen Charakter, den jeder Mensch mehr oder weniger in sich hat." Ähnliche Geschichten werden sich auch abgespielt haben zu Zeiten, als Heinrich Friedrich Menke und seine Schwester Hermine an diesem Tisch saßen. Vielleicht ist es genau diese 8 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Normalität und die Unscheinbarkeit des Alltags, die vielen damals den Blick auf die Brutalität der NS-Zeit verstellte. "Wie würden wir wohl heute handeln", fragen sich Franziska und Ricarda nachdenklich, "wenn wir in einer vergleichbaren Situation leben würden?" Verwaltete Identität Der persönliche Blick von Verena Gier und Erika Schellenberg Mit verwalteter Identität ist gemeint, dass Bürgerinnen und Bürger in der Bürokratie eine Nummer sind, beim Einwohnermeldeamt etwa oder in der Renten- und Finanzverwaltung. Manchmal hat man das Gefühl, als bliebe das Menschliche dabei auf der Strecke. In pervertierten Verwaltungsformen kennt die Brutalität keine Grenzen mehr. Krassestes Beispiel sind die eintätowierten Nummern der Deportierten in den völlig entmenschlichten Strukturen der Konzentrations- und Vernichtungslager. Nur Holocaustleugner können nicht automatisch daran denken, wenn sie ein Bild oder eine Büste Adolf Hitlers sehen – einmal abgesehen davon, dass an diesem System der Vernichtung viele ganz normale Deutsche direkt und indirekt mitgewirkt haben. Das denkt auch Verena, als sie die kleinen Hitlerbüsten entdeckt. "Mein Interesse wurde durch die goldene Farbe geweckt. Die Farbe Gold symbolisiert für mich 'das Beste' und etwas 'sehr Außergewöhnliches' und 'Edles'. Das ist völlig konträr zu meiner Abneigung gegenüber der Person Hitlers." Verena stutzt, als sie das Herstellungsdatum entdeckt: "1980er Jahre. Eigentlich hätte ich angenommen, dass der Großteil der deutschen Bevölkerung diese Abneigung heute teilt. Aber offensichtlich gibt es immer noch genug Rechtsextremisten, dass es sich lohnt, solche NS-Devotionalien weiter zu produzieren." Auch ohne den Bezug zu Hitler ist Verena irritiert: "Ich finde es ja schon seltsam, mir heute die Büste eines Staatsoberhauptes in einem privaten Haushalt vorzustellen. Welcher aktuelle Politiker würde heute noch so verehrt? Aber mir noch dazu einen Politiker hinzustellen, der vor über einem halben Jahrhundert gelebt hat, das finde ich abstrus." Überrascht zeigt sich Verena zudem, dass die Büsten in Asien produziert worden sind. "Das kann ich mir kaum erklären. Vielleicht haben sie ja Rechtsextreme direkt in Auftrag gegeben. Eventuell gibt es außerhalb Deutschlands auch andere Gesetze, die so etwas erlauben. In Deutschland ist das sicher verboten." Kommilitonin Nikola kann Verenas Reaktion gut nachvollziehen: "Unfassbar und schockierend, dass Büsten von Hitler gegenwärtig noch in Umlauf sind. Den Gedanken verdrängt man wohl im Alltag, wenn man noch nie mit Rechtsextremismus persönlich konfront4iert wurde. Trotz der Berichte in den Medien wirkt die Problematik manchmal sehr weit entfernt vom eigenen Leben. Durch die Betrachtung dieser Ausstellungsstücke wird die gesamte Thematik jedenfalls plötzlich sehr greifbar." 9 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Erika ist in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes auf ein Aktenstück vom 10. Januar 1944 gestoßen. Darin lehnt der zuständige "Höhere SS- und Polizeiführer West der SSFührer im Rassen- und Siedlungswesen" den Antrag auf Schwangerschaftsunterbrechung bei der Ostarbeiterin Olga Owczaruk ab. "Das Jugendamt Osnabrück", erläutert Erika die näheren Umstände, "hat die Abtreibung des Kindes bei der Weißrussin beantragt. Die Beamten bezogen sich dabei sicher auf die Rassenideologie der Nazis, nach der Slawen als minderwertige Menschen eingestuft wurden." Doch der Fall scheint komplizierter. "Überraschenderweise lehnen die NS-Kader der übergeordneten Stelle, die die Ideologie eigentlich noch viel vehementer vertreten müssten als die Beschäftigten im Osnabrücker Jugendamt, diese Forderung ab. Womöglich gab die Tatsache, dass der Vater des Kindes deutscher Abstammung war, dabei den Ausschlag." "Vielleicht", gibt Mitstudentin Alice zu bedenken, "hat den Höheren SS- und Polizeiführer West das Streben nach Bevölkerungswachstum dazu motiviert, der Schwangerschaftsunterbrechung nicht zuzustimmen. In dem Brief wird extra betont, dass es sich bei dem Kind um einen gesunden Zögling handelt. Da der Zweite Weltkrieg bereits einige Jahre andauerte und schon viele deutsche Soldaten im Krieg gefallen waren, mag es ihm nützlich erschienen sein, ein gesundes, wenngleich nicht der Ideologie gemäß 'reinrassiges' deutsches Kind am Leben zu lassen." Alice und Erika zeigt das, dass es im Nationalsozialismus offensichtlich doch größere Handlungsspielräume gab, als man auf den ersten Blick bei einer solch brutalen Ideologie denken mag. Bei ihnen bleibt ein schales Gefühl: “Ob für oder gegen den Schwangerschaftsabbruch – das ganze ist so oder so absurd, wenn man bedenkt, dass sich die Schwangere bereits im siebten Monat befand. Außerdem wurde die Entscheidung eben nicht aus ethisch-moralischen Gründen gefällt, sondern aus reinem Nutzendenken. Das Kind war potentielle Arbeitskraft, ein künftiger Soldat oder ähnliches, aber es wurde jedenfalls nicht als Mensch behandelt." “So ein Dokument richtig zu interpretieren, ist gar nicht so einfach", meint Erika nachdenklich, “und es ist immer auch eine Frage der Perspektive. Neonazis würden aktuell solche Dokumente sicher für ihre Zwecke missbrauchen. Sie würden womöglich behaupten, dass die beteiligten Nationalsozialisten hier zum Wohl der Bevölkerung gehandelt hätten und die Rassenideologie gar nicht so brutal gewesen sei. Da muss man schon genau hinschauen." 10 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Familienpolitik und Parteien Der persönliche Blick von Grit Petersohn Beim Rundgang durch den Raum überrascht Grit, dass sie hier in einem westdeutschen Museum ein CDU-Wahlplakat aus der sowjetischen Besatzungszone findet. Die Partei wirbt dort noch vor der Gründung der DDR für "Mut, Glauben und Vertrauen". Grit analysiert die Darstellung der Mutter, die mit ihren Kindern stolz vor einigen Trümmern steht: "Das Plakat der CDU versucht, die Bürger nach dem verlorenen Krieg zum Wiederaufbau zu bewegen, Stärke zu zeigen." Steckt dort vielleicht auch eine versteckte Botschaft, "gewissermaßen 'gegen den Wind' der diktatorischen Regierung standzuhalten", wie Grit mutmaßt? Anfangs mochten die anderen Parteien womöglich in gewisser Weise noch Raum für andere Ideen bieten. Die sogenannten Blockparteien waren jedoch nie mehr als ein Deckmantel, der die pseudodemokratischen Strukturen des SED-Regimes verschleiern halfen. "Mit 120.000 Wählern im Jahr 1981 gehörte die CDU zu einer der Randparteien im System, das von der SED beherrscht und manipuliert wurde", gibt Grit zu bedenken. Das Wahlplakat erinnert sie an ihre eigene Geschichte: "1986, drei Jahre vor dem Mauerfall, wurde ich in der ehemaligen DDR geboren. Meine Eltern sprechen gern über diese Zeit, wenn man sie fragt. Allerdings waren sie nie politisch aktiv und kennen sich in der Parteienlandschaft von damals nicht besonders gut aus. Einmal erzählten sie mir, dass sie zu einer der Wahlen nicht erschienen sind. Daraufhin wurden sie wenig später an der Haustür dazu aufgefordert, ihre Stimme noch abzugeben. Sie haben den Wahlzettel ungültig gemacht, wahrscheinlich wurde er aber als gültig gezählt." Mit Blick auf das Raumthema "Familienpolitik" kommt Grit noch einmal auf ihre eigene Familie zu sprechen: "Während meine Mutter mit mir schwanger war, heirateten meine Eltern. Damit erfüllten sie zwei Voraussetzungen, um in dem familienpolitischen System der DDR viele Vorteile zu genießen: Ehe und Kind. Nachdem ich geboren wurde, bekamen meine Eltern sofort eine größere Wohnung, auch ein Auto ließ nicht lange auf sich warten. Meine Mutter hatte auch keine Probleme, wieder in ihren Beruf einzusteigen, denn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie war in der DDR selbstverständlich." 11 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Herkunft Der persönliche Blick von Manuel Casielles Prida In den 1950er Jahren schaffte sich Johannes Gach ein eigenes Moped an. Mit seiner Hercules konnte der aus Schlesien stammende Drogist fortan von seinem Geschäft an der Rheiner Landstraße aus seine Kunden auch direkt beliefern. Wirtschaftlich waren er und seine Ehefrau Olga Näther mittlerweile in Osnabrück angekommen. Doch wie sah es mental aus? Über ihre alte Heimat Schlesien, über den Krieg, die zurückgelassene Drogerie in Kappitz und die Flucht im Januar 1945 wurde in der Familie jedenfalls kaum gesprochen. Was für Johannes Gach eine neue Form der Mobilität bedeutete, erinnert Manuel an seine Zeit als Teenager: "Das alte Moped fiel mir sofort ins Auge. Es erinnert mich an einen wunderbaren Sommer im Jahr 2003. Im Frühjahr hatte ich meinen Führerschein der Klasse M gemacht und konnte mich stolzer Besitzer eines älteren, knallroten Vespa-Rollers nennen. Und da es bei uns im Ort, dem schönen Baesweiler, nun mal nicht so viel zu sehen gab, spürte ich damals schon den Drang, die Welt zu erkunden und endlich mal selbstständig über die Ortsgrenze hinaus zu fahren. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass wir eine Gruppe von etwa zehn jungen Leuten mit unterschiedlichen Motorrollern und gedrosselten Motorrädern waren. Was lag näher als zum nächsten See, dem Blausteinsee, zu fahren. Für uns war es ein krasses Gefühl, auf der Landstraße im Konvoi unterwegs zu sein. Jeder von uns hatte einen Beifahrer hinten drauf, das Wetter war gut und der Zorn der Autofahrer war uns völlig egal. Was für ein Sommer." Auch Kollegin Tanja kann gut verstehen, dass das Moped bei Manuel Erinnerungen an seine frühe Jugend hervorruft: "Ich verbinde selbst eine große Zeitspanne zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr mit Moped- und Mofa-Ausflügen. Zum ersten Mal war man frei und unabhängig von den Eltern – zumindest auf dem Land galt das." Manuel vergleicht sein Gefährt mit Gachs Hercules: "Auch wenn mein Roller wesentlich besser aussah als das alte Ausstellungsstück hier, hat mich dieser Gegenstand doch sofort an meine eigene Herkunft erinnert: an den jungen Halbstarken, für den es im Sommer nichts Schöneres gab, als gemeinsam mit seinen Freunden zu diesem besagten See zu fahren – eine Tradition, mit der wir übrigens bis heute nicht gebrochen haben: Wenn der Sommer wieder ansteht, dann kommen wir fast in derselben Gruppe zusammen, setzen uns auf mittlerweile etwas schnellere Motorräder und fahren runter zum See!" 12 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Neue Welten Der persönliche Blick von Romina Werthschulte Angesichts des heute verbreiteten Tourismus zwischen Thailand, Bali und Honolulu mag es fast verwundern, dass es in den 1950er Jahren für Deutsche noch etwas ganz Besonderes war, wenn man einmal Urlaub in Italien verbringen konnte. Nach Kriegsende musste erst für Essen gesorgt, eine Wohnung gefunden und auf die Kriegsheimkehrer gewartet werden, bevor die "Reisewelle" anrollen konnte. Mit der Zeit gehörte die Urlaubsreise dann zum Jahresverlauf wie selbstverständlich dazu. Vor der Postkartencollage in Form des italienischen "Stiefels" kommt Romina auf ihre Familie zu sprechen: "Meine Eltern fahren immer sehr gern in den Urlaub. Sie sind früher schon mit meinen Großeltern nach Italien gefahren. Durch meine Eltern habe ich viel von Deutschland und den Nachbarländern gesehen und schöne Kindheitserinnerungen, wenn es um Urlaub geht." Gemäß einem Sinnspruch kann viel erleben, wer viel reist. So erging es auch Rominas Vater: "Einmal in Italien ist ihm etwas Witziges passiert. Er sitzt am Strand immer in einem alten Klappsessel, den er jeden Tag zum Strand schleppt. Da der Sessel schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, machte er keinen stabilen Eindruck mehr. Als mein Vater unseren Freunden eine Geschichte erzählte und dabei wild gestikulierte, klappte auf einmal der Sessel in sich zusammen und mein Vater lag wie eine hilflose Schildkröte auf dem Rücken. Das war für ihn dann ein Zeichen neue Stühle zu kaufen. Doch seinen wagemutigen ‚Stunt‘ werde ich nie wieder vergessen. Und mein Vater wird jedes Jahr im Urlaub daran erinnert. Die Geschichte zu erzählen ist bei uns mittlerweile zu einem festen Ferienritual geworden: 'Weißt du noch, damals?'" Auch Rominas Kommilitonin Saskia kann mit der neu entdeckten Reiselust der Deutschen nach Italien in den 1950er Jahren etwas verbinden. "Die Verbindung, die ich dazu habe, ist das Lied 'Zwei kleine Italiener', gesungen von Conny Froboess. Den Schlager hat meine Mutter früher immer beim Hausputz gehört." 13 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Fotografie Der persönliche Blick von Dennis Leibeling Im oberen Treppenhaus der Villa Schlikker befindet sich eine Ausstellungsreihe zum Thema Fotografie. Vornehmlich werden dort Einzel- oder Gruppenportäts über einen Zeitraum von ungefähr 50 Jahren gezeigt, der vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1920 reicht. Dennis vergleicht die Bilder miteinander: "Ihre hervorstechende gemeinsame Eigenschaft ist – nicht zuletzt durch die beschränkte Technik der frühen Fotoapparate mit ihren langen Belichtungszeiten – die Gestelltheit der Aufnahmen. Die abgelichteten Personen richten ihren Blick exakt auf die Kamera, gehorsam der Anweisung des Fotografen folgend: 'Bitte jetzt nicht wackeln!'" Die Fotografie erlaubte es der breiten Masse, es den reicheren Leuten gleich zu tun und sich zu erschwinglichen Preisen porträtieren zu lassen. Nicht von ungefähr waren die ersten "Lichtbildner" noch ausgebildete Maler. Dennis fallen bestimmte Attribute auf: "Mit denen identifizierten sie sich bzw. sie wollten mit ihnen identifiziert werden. Ein Bierkrug fällt mir da beispielsweise auf, eine Uniform oder ein maßgeschneiderter Anzug. Damit wollte man offensichtlich eine bestimmte Botschaft transportieren." Bei einer Fotografie, die einen Soldaten 1914 gemeinsam mit seiner Tochter zeigt, bleibt Dennis stehen: "Das jugendliche Gesicht des Mädchens erinnert mich unweigerlich an ein Porträt meiner damals 18-jährigen Großmutter in ihrer BDM-Kluft. Minutenlang berichtete sie mir darüber, wie außergewöhnlich gewagt ihre Frisur damals war und wie beliebt diese bei ihren Verehrern gewesen sei." Dennis’ Gedanken kehren zurück zu dem Bild von 1914: "Das Foto macht mich auf mehreren Ebenen nachdenklich: wie extrem sich die Modegeschmäcker verschiedener Generationen voneinander unterscheiden können; wie das Alter an Menschen nagen kann und sie zeichnet; und ob man – vorausgesetzt, man träfe seine Verwandten unter anderen Umständen – wohl mit ihnen befreundet sein wollte." 14 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Tante-Emma-Laden Der persönliche Blick von Ragnar Hund und Laura Oymanns Der Tante-Emma-Laden mit seiner gesamten Ausstattung ist ein Ausstellungsstück für sich. Begeistert sieht sich Ragnar darin um: "Der Tante-Emma-Laden, der 'kleine Laden um die Ecke' mit all seinen Facetten, ist in seiner klassischen Form nahezu vollständig durch große Discounter verdrängt worden. Heutzutage ist er vielleicht am ehesten noch in den kleinen und großen Kiosken unserer Städte greifbar." Jonathan beobachtet, wie sein Kommilitone etwas nostalgisch herumblickt. "Erinnert dich das an etwas?", fragt er Ragnar, und der beginnt gleich zu erzählen: "Besuche in eben diesen Läden sind mir persönlich aus der Kindheit im Gedächtnis geblieben. Sie waren stets Anlaufstellen, um unseren kindlichen Warenbedarf zu stillen; sei es, um bunte Tüten, sei es, um Eis oder sonstiges Naschwerk zu erwerben." Ragnars Blick fällt auf ein Panini-Fußballalbum in einem der Warenständer. "Für Jungen meines Alters spielten damals die Panini-Fußballsammelbilder, die es ebenfalls dort zu kaufen gab, eine ganz besondere Rolle. Sie wurden gerne schon vor Schulbeginn gekauft, um dann auf dem Schulhof, oder auch heimlich im Unterricht, mit anderen Kindern getauscht, oder, was bei besonders wertvollen Bildchen vorkam, auch regelrecht gehandelt zu werden. War der eigene Bildchenbestand am Ende eines Schultages weitgehend aufgebraucht oder befand er sich in einem nicht mehr als erträglich empfundenen Zustand, so wurde auf dem Weg von der Schule nach Hause gerne noch einmal im kleinen Laden Station gemacht. Oft genug verzögerte sich durch den spontan einsetzenden anschließenden Tausch mit Freunden der Heimweg. Allzu lange durfte es allerdings nicht dauern, denn zuhause wartete meine Mutter bereits mit dem Mittagessen auf mich." Laura hält es da eher mit dem Eis: "Wenn ich auf den Tante-Emma-Laden zugehe, fällt mir sofort das Eisschild auf. Es erinnert mich an einige Tage in den Sommerferien. Als ich in der zweiten Klasse war, zogen meine Familie und ich in ein Haus in der Nähe des Gymnasiums, auf das ich später gehen sollte. Wie bei allen Schulen in unserer Stadt war auch bei dieser ein kleines Büdchen in der Nähe. Zu diesem bin ich oft mit meinen Freundinnen gegangen, um Bonbons, Zeitschriften oder Eis zu kaufen. Vor allem im Sommer waren wir fast täglich dort, um uns ein Eis zu holen." Doch Eis ist nicht gleich Eis, wie durch Lauras weitere Erzählung schnell klar wird: "Meine Freundin Maxi und ich suchten uns trotz des großen Angebots meistens 'Mini Milk' aus. Da sie recht klein waren und man sie so schnell aufgegessen hatte, nahmen wir immer gleich je zwei Stück. Früher war die Verpackung natürlich noch wesentlich einfacher und nicht so farbenfroh wie 15 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 heute. Das Papier war weiß und darauf waren kleine hellblaue Bilder von Wiesen mit Blümchen und Kühen zusehen; dazwischen stand das 'Mini Milk'-Logo. Man konnte an der Verpackung damals leider noch nicht erkennen, welche Sorte drin steckte und da wir beide nur Schokolade wollten, war das natürlich ein Problem. Denn wenn man Erdbeere oder Vanille hatte und der andere eins oder sogar zwei in der Sorte Schokolade, war man enttäuscht und konnte das Eis nicht so sehr genießen wie in Schokolade. Das Eis wurde immer schon auf dem Weg nach Hause aufgegessen und beim nächsten Treffen spielte es sich wieder genauso ab." 16 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Stadtentwicklung Der persönliche Blick von Jan Bruns und Johannes Hess Dass sich einem das Bild einer Stadt einprägt, wird Jan beim Anblick einer Fotografie des Freibads "Moskau" bewusst: "Als ich den Raum das erste Mal betreten habe, fiel mir das Foto vom Freibad direkt ins Auge. Das Motiv kam mir bekannt vor. Ich erinnerte mich, dass ich im ersten Semester mal einen Nachmittag mit meinen neuen Kommilitonen ins Moskaubad gefahren bin. Mir kamen die große Tribüne sowie das große Schwimmbecken gleich bekannt vor. Im Gegensatz dazu war der Rest des Freibades auf dem Foto nicht mehr so, wie ich ihn in Erinnerung habe." Neben seiner persönlichen Geschichte interessiert Jan auch die Geschichte des "Moskau", wie es im Volksmund genannt wird: "Das Freibad wurde 1926 eröffnet und umfasste neben dem großen Schwimmbecken zudem das Frauen- und das Familienbad. Während beim Bau von Badeanstalten in der Kaiserzeit die Erhaltung der Arbeitskraft der Arbeiterschaft im Vordergrund stand, kam zur Zeit der Weimarer Republik der Aspekt der Freizeitgestaltung hinzu." Jans Mitstudent Johannes bleibt auf der anderen Seite an einer Fotografie der "Schwedenhäuser" in der Hecker Straße 25 hängen. "Immer wenn ich dies Bild betrachte, erinnern mich diese nüchternen Häuser mit ihren klaren Linien und ihrer beeindruckenden Schlichtheit an den Wald. – Ja tatsächlich! Meine Verbindung zwischen dem rauschenden Wald und diesen einfachen Nachkriegsbauten verdanke ich meinem Großvater." Dieser war nach dem Ende des Krieges in die Landwirtschaft zurückgekehrt und hatte unter anderem auch forstwirtschaftlich gearbeitet. "Oft erzählte er mir", so berichtet Johannes weiter, "bei Spaziergängen durch seinen Wald von jener Zeit, als der Wiederaufbau ins Rollen kam. Es wurden enorme Mengen an Baumaterialien benötigt, um die zerstörten Gebäude wieder herzustellen. So lieferte auch mein Großvater Holz aus seinem Wald an die Baustellen in Osnabrück. Es musste so schnell gehen, dass das Holz kaum die Zeit bekam richtig auszutrocknen. Schon wurden daraus Dachstühle und dergleichen." Jan findet das sehr interessant: "Obwohl es eigentlich logisch ist, war es mir nicht bewusst, dass die Bauern der Umgebung das Bauholz für den Wiederaufbau Osnabrücks geliefert haben." Mit Blick auf den Baustil der Häuser meint Johannes weiter: "Die besondere Schlichtheit dieser Wohnhäuser war nichts Neues. Sie geht auf die Bauhaus-Schule zurück, deren Architektur zur NS-Zeit als 'entartet' angesehen wurde. Neben der pragmatischen Bauweise stellte dies einen klar sichtbaren Bruch mit der Kolossal-Architektur der Nazis dar. Man wollte optisch eine neue Zeit beginnen. Dies spiegelte sich unter anderem in der Bescheidenheit der Bauten wider. Mein Großvater sprach denn auch, noch ganz Kind seiner Zeit, bei den neuen Wohnhäusern von 'Umzugskartons'. Für die hatte er nur wenig übrig." 17 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Kurz vor dem Rausgehen wollen sich Jan und Johannes noch etwas genauer mit der Stadtentwicklung beschäftigen und blicken dazu auf den großen Wirtschaftsplan von 1948. Auf ihm erkennen sie, eingerahmt von den Wallstraßen, den nierenförmigen mittelalterlichen Stadtkern sowie die darüber hinausgewachsene jüngere Stadt. Johannes erläutert das näher: "Man erkennt noch sehr gut die Altstadt um Dom und Markt sowie die Neustadt jenseits des Neuen Grabens mit Johanniskirche und Schloss. Wenn man diese Struktur mit den kleinen gewundenen Sträßchen und Häusern, die in ihren Größen und Grundrissen stark variieren, näher betrachtet, stellt man sehr schnell fest, dass es sich um eine über Jahrhunderte gewachsene Bebauung handeln muss." Jan ergänzt, dass Osnabrück in seiner Struktur bis zum 19. Jahrhundert eigentlich unverändert blieb: "Die Stadt war in ihren Mauern und Wehranlagen regelrecht eingeschnürt. Erst als das Festungsgebot 1843 aufgehoben wurde, konnte sie über ihren mittelalterlichen Kern hinaus weiter wachsen und auch großzügiger und gradliniger gebaut werden. Neue Stadtviertel wie das 'Katharinenviertel' und die 'Wüste' entstanden. Als besonders moderne Raumplanung galt die Anlage des Stadtteils zwischen dem Neumarkt und dem Bahnhof; wegen der Öffnung der Stadt zur Eisenbahn. Der Bahnhof war das symbolische ‚Stadttor der Moderne‘. Nicht umsonst siedelte sich wegen der enormen Transportkapazitäten der Eisenbahn an den Gleisen auch die Großindustrie an." Johannes erzählt weiter: "Den Bau einer Ringstraße im Bereich der ehemaligen Wälle guckte man sich von großen Metropolen wie Köln oder Wien ab. Man wollte der Bevölkerung großstädtisches Flair bieten. Übrigens auch frische Luft und Raum zum Spazieren und Flanieren: Die Wallstraßen waren damals noch richtig begrünt mit Palmen- und Rosengärten. Bei dem aktuellen Verkehr dort ist das heute kaum noch vorstellbar." Jan fragt sich, warum sich das Stadtzentrum nach dem Zweiten Weltkrieg nicht viel stärker gewandelt hat. "Bei den massiven Zerstörungen wäre es doch auch denkbar gewesen, sich nicht länger an den alten verwinkelten Straßenverläufen zu orientieren und stattdessen die zerstörte Altstadt großflächig zu überbauen." "Da hast du recht", meint Johannes, "in Städten wie Magdeburg, Halberstadt oder Dessau hat man das ja auch so gehandhabt. Aber in Osnabrück haben die Stadtplaner ganz bewusst die alte Struktur erhalten wollen. Da hat die Denkmalpflege ein gehöriges Wort mitgeredet." "Trotzdem hat man die Stadt auch weiterentwickeln wollen", sagt Jan mit Blick auf den Wirtschaftsplan. "Die Stadtplaner haben deshalb Vorkriegsplanungen von 1937 wieder aufgegriffen. Dazu gehörte die Erweiterung des Systems von Ringstraßen, die Radialstraßen miteinander verbanden um den Warentransport in die Stadt, um sie herum und aus ihr heraus zu ermöglichen. Dabei wurde besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass die einzelnen Stadtteile von ihrer Infrastruktur her weitgehend autonom waren." – "Weißt du, dass man das richtig spüren kann?" fragt Johannes spontan und erläutert seinen Eindruck: "Wenn du nach der Uni vom Schloss aus Richtung Vorstädte gehst, benutzt man ja oft diese Radialstraßen. Die sind von Grünzügen begleitet, um für einen Luftaustausch zu sorgen, der die Luftqualität in der Stadt garantiert. Leider kann man dieses Phänomen gerade im Winter sehr gut beobachten, wenn dir der schneidend kalte Wind entgegenbläst. Das ist nach zehn Stunden Uni kein Spaß." – "Armer Studi", zeigt Jan wahres Mitgefühl "lass dich bedauern." 18 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Luftkrieg über Osnabrück Der persönliche Blick von Anne Südbeck Anne muss sich nicht lange in ihrem Raum umsehen, um etwas Interessantes zu entdecken: "Jedes Mal, wenn ich diesen Raum betrete, fällt mein Blick sofort auf das Plakat mit der Aufforderung ‚Der Feind sieht Dein Licht! Verdunkeln!‘ von 1943. Es hängt schräg gegenüber dem Eingang. Für mich gibt dieses Plakat die Stimmung des Raumes wieder. Es löst etwas Bedrückendes in mir aus, viel stärker als jedes andere Ausstellungsstück in dem ehemaligen Luftschutzraum. Es lässt mich die Stimmung erahnen, die Anfang der 1940er Jahre unter den Menschen in den Städten geherrscht haben muss – nicht nur in Osnabrück, sondern in ganz Deutschland. Die ständige Angst vor dem Luftalarm, der einen neuen Angriff ankündigt. Die Sorge, alles zu verlieren. Das Leben dieser Menschen muss von dieser ständigen Bedrohung beherrscht gewesen sein. Alles, jede ach so banale Handlung war bestimmt vom Krieg." Auch wenn es sich um ein deutsches Propagandaplakat handelt, regt der auf dem Flugzeug reitende Tod auch Mitstudentin Anniela zum Nachdenken an: "Das Plakat ist sehr eindrucksvoll, es ermöglicht Menschen der Nachkriegs-Generationen, eine vage Vorstellung von der Bedrohlichkeit des Krieges zu bekommen. Den Gedanken, dass die Erinnerung an eine solche Situation einen Menschen sein Leben lang begleitet und prägt, finde ich beim Anblick dieses Bildes leicht nachvollziehbar." Da muss auch Anne beipflichten: "Wie stark müssen die Menschen, die dies alles miterleben mussten, für ihr weiteres Leben geprägt worden sein." Für beide bleibt dabei offen, ob sich die Betroffenen auch gefragt haben, wer den Krieg verursacht hat und wie es wohl den Menschen in den Städten und Dörfern ergangen ist, die von den deutschen Piloten bombardiert worden sind. "Man müsste sie fragen können, welche Konsequenzen sie aus ihren persönlichen Kriegserfahrungen gezogen haben", meint Anne noch beim Hinausgehen. 19 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Kriegsgefangenschaft Der persönliche Blick von Alice Pradela In dem kleinen Raum lässt sich Alice von der Ausstellungsgestaltung leiten: "Durch die zentrale räumliche Platzierung und den plakativ davor angebrachten Stacheldraht wurde mein Blick sofort auf die dort präsentierte Jacke gelenkt. Die Steppungen der Jacke weisen sie als die typische Arbeitsjacke 'Fufaika' aus, wie sie in sowjetischen Gefangenenlagern getragen wurde." Alice interessiert, wie die Jacke in dieser musealen Präsentation wirkt: "Die Fufaika dient hier als ein sprechendes Objekt. Anhand der Spuren der Jacke, der verschlissenen Ärmel und Flecken, lassen sich die Bedingungen im Lager erahnen. Man glaubt die anstrengende Arbeit in dem Lager sowie die harten und kalten Winter in der Sowjetunion zu spüren. Dabei erlebte W. Martin, der die warm wattierte und gesteppte Jacke 1944/45 trug, vielleicht noch vergleichsweise bessere Bedingungen in seinem Gefangenenlager im sibirischen Swerdlowsk. Denn eigentlich wurde diese warme Kleidung aufgrund der allgemein schlechten Versorgungslage erst ab 1947 an Kriegsgefangene ausgegeben. Ich frage mich jedoch selbst dann, ob diese Kleidung auch in durchnässtem und länger getragenem Zustand tatsächlich noch wärmte." Alices Kommilitonin Erika überlegt, wie der deutsche Kriegsgefangene wohl an die Jacke gekommen ist. "Klar ist nur, dass dieses relativ warme und gefütterte Kleidungsstück in Sibirien eine willkommene Ablösung gewesen sein mag zu der dünnen, winteruntauglichen Uniform der deutschen Soldaten." Alice kommt noch einmal auf die Inszenierung zu sprechen: "Der Stacheldraht vor der Jacke ruft die unmittelbare Assoziation mit Gefangenschaft hervor. Zusammen mit der Enge des kleinen abgetrennten Raumes kommt ein richtig beklemmendes Gefühl auf." Das erinnert Alice an die nationalsozialistischen Arbeitslager: "Die Arbeitskleidung dort hatte zwar ein anderes Aussehen. Und die Bedingungen, unter denen die Menschen in das eine oder das andere Lager gelangten, waren grundverschieden. Denn die einen waren als angreifende Soldaten in Gefangenschaft geraten, während die anderen ideologisch verfolgt waren, als Arbeitssklaven missbraucht wurden oder sogar durch Arbeit gezielt vernichtet werden sollten. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten: die harte Arbeit, die generell unwürdigen Bedingungen oder den Verlust der Identität, wenn die zugeteilte Nummer wichtiger war als der eigene Name." 20 Mit persönlichem Blick – Eine Führung durch die Villa Schlikker Studentenprojekt von 2011 Mangel durch Krieg Der persönliche Blick von Laura Boese In der notdürftig eingerichteten Küche aus den Jahren um 1945 stößt Laura auf den Stapel mit CARE-Paketen. "Die Hilfspakete waren in der Nachkriegszeit, in der Lebensmittel knapp waren, für den Einzelnen sehr wichtig. Sie sicherten einige zusätzliche Mahlzeiten und damit das Überleben. So löste der Erhalt eines solchen Paketes immer große Freude aus." Die Hilfspakete, von denen zwischen 1946 und 1960 fast 10 Millionen Stück von US-Bürgern und Kanadiern in die Westzonen und später in die BRD geschickt wurden, gehören zu Lauras eigener Familiengeschichte: "Von meiner Familie weiß ich, dass sie in der Nachkriegszeit ebenfalls CARE-Pakete erhielt. Sie stammten aus den USA und haben bei meiner Großmutter bis zu ihrem Tod eine eher positive Erinnerung an die USA bewirkt. Das Nebeneinander eines aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden Bruders, der so abgemagert war, dass sie ihn am Bahnsteig nicht mehr erkannte, und das häufige Empfangen von zusätzlicher Nahrung aus den USA zeichnete für die damals etwa Zwanzigjährige ein sehr eindeutiges Weltbild." Allerdings verbindet Lauras Familie mit den CARE-Paketen auch eine makabere Geschichte: "Ein Großonkel war seiner Zeit in die USA ausgewandert. Man wollte ihn jedoch in den USA, wo er keinerlei Verwandte hatte, nicht beerdigen. Und so äscherte man seinen Leichnam ein, um ihn nach Deutschland zu überführen. Dies geschah sehr formlos in einem Paket, welches einem CARE-Paket in Bezug auf die Größe wohl einigermaßen ähnlich sah. Und so glaubte meine Großmutter beim Öffnen voller Vorfreude, es handle sich um ein weiteres CAREPaket. Über die Urne war die Familie entsprechend verdutzt, bis sich die Situation aufklärte." Für Laura zeigt diese seltsame Geschichte, "wie sehr Pakete, die aus den USA an meine Familie gesendet wurden, mit Lebensmitteln verbunden wurden. Auch ohne die typischen Kennzeichnungen als CARE-Paket kam für sie nichts anderes in Frage, als dass Post aus den USA unweigerlich mit Lebensmitteln verbunden sein müsse. Eine Verbindung, die meine Großmutter bis zu ihrem Tod verinnerlicht hat." 21
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