gfp_Auf die Flucht getrieben - Anti-Nazi

German Foreign Policy (http://www.german-foreign-policy.com)
Auf die Flucht getrieben (I - IV)
09.07.2015
DAMASKUS/BERLIN
(Eigener Bericht) - Die Bundesrepublik trägt mit ihrer Außenpolitik in erheblichem Maße zu
Hunger und Krieg auf mehreren Kontinenten bei und provoziert damit die Flucht von
Millionen Menschen unter anderem nach Europa. Dies zeigt ein Blick auf das Vorgehen
Berlins gegenüber diversen Ländern Südosteuropas, Afrikas, des Nahen Ostens und
Zentralasiens. Politische Einmischung, teils sogar militärische Interventionen wirkten in
vielen Fällen daran mit, Staaten zu zerrütten und die Bewohner aus dem Land zu jagen.
Exemplarisch verdeutlicht das die deutsche Syrien-Politik. Die Bundesrepublik hat bis heute
laut offiziellen Angaben über 100.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Den Krieg, der
sie auf die Flucht getrieben hat, hat die Bundesregierung mit ihrer politischen Unterstützung
für den Aufstand gegen die Regierung Assad sehenden Auges in Kauf genommen, wie etwa
eine Kurzanalyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) aus dem Jahr 2012
erkennen lässt. Auch sieht Berlin bis heute über die Förderung jihadistischer Organisationen
wie des "Islamischen Staats" (IS) durch enge Verbündete hinweg - obwohl etwa der IS erneut
zahllose Menschen auf die Flucht zwingt. Sogar am Embargo gegen Syrien hält Berlin bis
heute fest, obwohl Beobachter schon vor Jahren feststellten, es mache die Lebensbedingungen
für die gesamte Bevölkerung des Landes unerträglich. Kritiker rufen zur sofortigen
Einstellung des Embargos auf.
Umsturzförderung
Wie die Bundesregierung in den vergangenen Jahren dazu beigetragen hat und auch weiterhin
dazu beiträgt, Verhältnisse zu schaffen, vor denen Menschen fliehen müssen, zeigt
exemplarisch die Entwicklung des Krieges in Syrien. Nachdem dort im Frühjahr 2011 heftige
Unruhen losgebrochen waren, entschied sich Berlin im Sommer 2011, entschlossen auf den
Sturz der Regierung Assad zu setzen. Entsprechend kooperierte die Bundesregierung mit
denjenigen Teilen der syrischen Opposition, die Verhandlungen mit der Regierung in
Damaskus ablehnten, stattdessen deren bedingungslosen Rücktritt forderten und bereit waren,
zu den Waffen zu greifen. Das verschärfte den Konflikt, nicht zuletzt, weil dadurch diejenigen
Gruppierungen der syrischen Opposition, die - einen Bürgerkrieg befürchtend - gewaltfreien
Protest und Verhandlungen mit der Regierung befürworteten, ins Hintertreffen gerieten; in der
deutschen Medienöffentlichkeit wurden sie damals weithin ignoriert. Die Berliner
Unterstützung für die Umsturzkräfte ging schon im ersten Halbjahr 2012 so weit, dass die
vom Kanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gemeinsam mit rund 50
syrischen Exil-Oppositionellen ein Konzept für die Umgestaltung Syriens nach einem Sturz
der Regierung Assad ausarbeitete - unter dem Arbeitstitel "The Day After".[1]
Krieg
Jenseits der Tatsache, dass Planungen für einen Umsturz in einem fremden Land jeglichen
internationalen Normen Hohn sprechen und eine schwere Aggression bedeuten, sind sich die
zuständigen Berliner Stellen über die Risiken ihres Unterfangens vollkommen im Klaren
gewesen. Beispielhaft lässt sich dies einer Kurzanalyse entnehmen, die die SWP im Februar
2012 publizierte; damals war das Projekt "The Day After" soeben gestartet worden. Die
Analyse skizzierte unterschiedliche Szenarien für die Entwicklung im Land. "Zu favorisieren"
sei das Szenario einer "Implosion des Regimes", schrieben die Autoren - und stellten fest, dies
könne zu einer "massiven Eskalation der bewaffneten Auseinandersetzungen" führen, letztlich
sogar zu einem "umfassende[n] Bürgerkrieg". "Dieser dürfte sehr wahrscheinlich entlang
konfessioneller Linien ausgefochten werden", hieß es weiter; zudem drohe er zu einem
"Stellvertreterkrieg" äußerer Mächte zu werden: "Schon jetzt drängen Saudi-Arabien und
Katar" - beides Verbündete Deutschlands - "darauf, die Rebellen militärisch auszurüsten";
auch sei "ein Übergreifen des Konflikts auf Nachbarländer ... möglich", hieß es weiter: "So
könnten die im irakisch-syrischen Grenzgebiet lebenden Stämme in die Kämpfe verwickelt
werden"; außerdem sei das Ausgreifen des Konflikts auf den Libanon denkbar. Sämtliche
Voraussagen sind mittlerweile eingetroffen. Dass Menschen auf die Flucht getrieben würden,
galt der SWP schon Anfang 2012 als selbstverständlich: Sie ging ganz klar von
"Flüchtlingsbewegungen, insbesondere in die Türkei, den Libanon und nach Jordanien"
aus.[2]
Hunger
Ebenfalls unumstritten war Anfang 2012 bei der SWP, dass die westlichen Sanktionen gegen
Syrien, die 2011 verhängt worden waren, die Situation der Bevölkerung dramatisch
verschlechtert hatten und damit weitere Anreize zur Flucht bieten mussten. Insbesondere "die
europäischen Sanktionen gegen den syrischen Ölsektor" hätten bereits tiefe Spuren
hinterlassen, hieß es in der Kurzanalyse vom Februar 2012: "Die Bevölkerung leidet unter der
Knappheit von Benzin, Heizöl und Butangas"; außerdem träfen "Stromsperren von bis zu
sechs Stunden täglich ... mittlerweile auch die Hauptstadt". Folgen gebe es inzwischen auch
für die Versorgung mit Lebensmitteln: "Importgüter wie Weizen werden knapp und damit
mangelt es an Brot; die Preise für lokal erzeugte Güter des täglichen Bedarfs, etwa
Milchprodukte, steigen spürbar." Die Autoren räumten ein, trotz zunehmender Leiden der
Zivilbevölkerung seien keinerlei "Anzeichen für die erhofften politischen Wirkungen der
Sanktionen zu sehen": Weder habe "die Regimespitze ihre Haltung verändert", noch habe "die
Unternehmerelite sich vom Regime abgewandt". Die strategischen Interessen der
Bundesrepublik kühl kalkulierend, redeten die SWP-Experten für die Zukunft dennoch "einer
stringenten Umsetzung und weiteren Verschärfung der bestehenden Sanktionen" das Wort.[3]
Sehenden Auges
Strategische Interessen Deutschlands standen nicht nur bei den Entscheidungen Pate, in
Syrien auf die gewaltorientierten Teile der Opposition zu setzen, das Risiko eines
unkontrolliert eskalierenden Bürgerkriegs in Kauf zu nehmen und die Versorgungslage im
Land mit Wirtschaftssanktionen dramatisch zu verschlechtern, sondern auch bei der Berliner
Entscheidung, die Unterstützung salafistischer Milizen durch enge Verbündete in Nah- und
Mittelost billigend zu tolerieren - bis hin zur Terrorförderung. Um die Regierung Assad zu
stürzen, stärken vor allem Saudi-Arabien und die Türkei salafistische, teilweise auch
jihadistische Milizen bis hin zu Al Qaida und zum "Islamischen Staat" (IS) - bis heute; den
Aufstieg des IS haben die westlichen Staaten ausweislich von US-Geheimdienstdokumenten
billigend in Kauf genommen, aus strategischen Gründen - um Irans Einfluss auf Syrien zu
brechen (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Dass der Terror von Jihadisten, von Al
Qaida und des IS nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien Massen in die Flucht treibt, ist
bekannt. Die Bundesregierung hat dies nie zum Anlass genommen, Riad und Ankara
entschlossen von der Terrorförderung abzuhalten; vielmehr kooperiert sie bis heute überaus
eng mit ihnen, Rüstungsexporte inklusive. Saudi-Arabien steht auf der Rangliste der
Empfänger deutscher Rüstungslieferungen für das Jahr 2014 auf Platz sechs, die Türkei
befindet sich immerhin noch unter den Top 20. Saudi-Arabien nutzt übrigens für den Krieg im
Jemen, der weitere Flüchtlinge produziert, unter anderem deutsches Kriegsgerät.[5]
Die Fluchtursachen bekämpfen
Dass die Bundesregierung die Förderung jihadistischer Milizen inklusive des IS durch die
Türkei und Saudi-Arabien toleriert, stößt inzwischen zunehmend auf Kritik. Jetzt werden
zudem Proteste gegen die Syrien-Sanktionen laut. Es sei ein "Verbrechen, ein Volk gezielt
auszuhungern, um von außen einen gewünschten Regimewechsel zu erzwingen", sagt Bernd
Duschner von der Friedensinitiative "Freundschaft mit Valjevo", der einen mittlerweile von
mehr als 2.000 Personen unterzeichneten Aufruf zum Stopp des Embargos gestartet hat, im
Gespräch mit german-foreign-policy.com. Die Friedensinitiative unterstützt Flüchtlinge aus
Syrien - und fordert, die Sanktionen, eine "zentrale Ursache des Flüchtlingselends" [6],
endlich einzustellen. Die Bundesregierung, die sich offiziell den Kampf gegen die
Fluchtursachen in den Herkunftsländern auf die Fahnen geschrieben hat, reagiert nicht.
Das Interview mit Bernd Duschner finden Sie hier.
german-foreign-policy.com setzt die Berichterstattung über den deutschen Beitrag zur
Produktion von Fluchtursachen in der kommenden Woche fort.
Mehr zur deutschen Flüchtlingsabwehr: Abschotten, abwälzen, abschieben, Das Ende der
Freizügigkeit, Grenzen dicht! (I), Grenzen dicht! (II), Willkommen in Deutschland, Folgen
des Anti-Terror-Kriegs, Einmalige Abschreckung, Kein Ende in Sicht, Die FlüchtlingsTodesregion Nr. 1, Krieg gegen Flüchtlinge, Krieg gegen Flüchtlinge (II) und Zu Gast bei
Freunden.
[1] S. dazu The Day After, The Day After (II), The Day After (III) und The Day After (IV).
[2], [3] Muriel Asseburg, Heiko Wimmen: Der gewaltsame Machtkampf in Syrien. Szenarien
und Einwirkungsmöglichkeiten der internationalen Gemeinschaft. SWP-Aktuell 12, Februar
2012.
[4] S. dazu Vom Nutzen des Jihad (I), Vom Nutzen des Jihad (II) und Das Spiel mit dem
Terror.
[5] S. dazu In Flammen und In Flammen (II).
[6] S. dazu Gezielt ausgehungert.
Auf die Flucht getrieben (II)
29.07.2015
KABUL/BERLIN/BAMAKO
(Eigener Bericht) - Die Bundesregierung legitimiert deutsche Militäreinsätze mit der
angeblichen Bekämpfung von Fluchtursachen. Die Bundeswehr müsse in Mali operieren,
damit "Menschen nicht mehr fliehen müssen vor Gewalt und Hoffnungslosigkeit", behauptete
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Anfang dieser Woche bei einem Besuch in der
malischen Hauptstadt Bamako. Damit nutzt sie die aktuelle Flüchtlingskrise in Deutschland,
um Sympathien für Interventionen der deutschen Streitkräfte zu wecken. Tatsächlich trägt die
Bundesrepublik mit ihrer aggressiven Außenpolitik aktiv dazu bei, Fluchtursachen erst zu
schaffen. Ein herausragendes Beispiel ist die bundesdeutsche Afghanistan-Politik seit den
1980er Jahren. Bonn heizte damals gemeinsam mit anderen westlichen Staaten durch Hilfen
für die Mujahedin den afghanischen Bürgerkrieg an; Millionen Menschen flohen aus dem
Land. Von den politischen, ökonomischen und vor allem sozialen Verwüstungen hat sich
Afghanistan nie erholt. Auch dem im Jahr 2001 gestarteten Einsatz der Bundeswehr am
Hindukusch, dessen Hauptteil im vergangenen Jahr beendet wurde, folgt nun eine neue
Fluchtbewegung.
In legitimatorischer Absicht
Die Bundeswehr müsse im Ausland, etwa in Mali, operieren, um Fluchtursachen zu
beseitigen, behauptete Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Anfang dieser Woche
bei einem Besuch in der malischen Hauptstadt Bamako: Es gelte, mit der Militärintervention
dazu beizutragen, "dass Menschen nicht mehr fliehen müssen vor Gewalt und
Hoffnungslosigkeit".[1] Anlass ihres Besuchs war die Übernahme des Kommandos über den
sogenannten Ausbildungseinsatz "EUTM Mali" durch die Bundeswehr. Die Truppe, die mit
ihren rund 160 Soldaten ungefähr ein Drittel des gesamten Kontingents stellt, führt damit zum
ersten Mal eine EU-Militärintervention auf dem afrikanischen Kontinent. Während die
Verteidigungsministerin mit der Behauptung, man wolle in Mali lediglich Fluchtursachen
bekämpfen, die aktuelle Flüchtlingskrise in Deutschland zu nutzen sucht, um Sympathien für
eine Intervention der deutschen Streitkräfte zu gewinnen, trifft in der Tat das Gegenteil ihrer
Behauptung zu: Die aggressive deutsche Außenpolitik trägt aktiv dazu bei, Fluchtursachen
erst zu schaffen.
Zu geostrategischen Zwecken
Afghanistan bietet ein geradezu klassisches Beispiel dafür, wie die aggressive Außenpolitik
der westlichen Staaten - auch der Bundesrepublik - massiv dazu beiträgt, Menschen auf die
Flucht zu treiben. Im Falle Afghanistans lässt sich der Ursprung dieser Entwicklung bis in den
Sommer 1979 zurückverfolgen - in die Zeit vor der sowjetischen Intervention. Der damalige
Nationale Sicherheitsberater der US-Regierung, Zbigniew Brzezinski, hat vor Jahren
bestätigt, dass die erste Direktive zur geheimen Unterstützung für die aufständischen
Mujahedin in Afghanistan bereits am 3. Juli 1979 von US-Präsident Jimmy Carter
unterzeichnet wurde.[2] Es ging zunächst darum, Widerstände gegen die prosowjetische
Regierung in Kabul zu befeuern; zudem habe man mit der Unterstützung für die Mujahedin
"absichtlich die Wahrscheinlichkeit erhöht", dass die Sowjetunion zugunsten ihres
afghanischen Verbündeten interveniere. "Wir haben jetzt die Möglichkeit, der UdSSR ihr
Vietnam zu bereiten", will Brzezinski am Tag des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan an
Carter geschrieben haben. Gewalttätige Unruhen wurden also zu übergeordneten
geostrategischen Zwecken gezielt befeuert. Niemand kann sich im Unklaren darüber gewesen
sein, dass eine bewusste Eskalation von Unruhen geeignet ist, Menschen auf die Flucht zu
treiben.
Kriegsbeteiligung
Über das Befeuern der Unruhen im Jahr 1979 hinaus haben die Vereinigten Staaten
gemeinsam mit ausgewählten westlichen Verbündeten den gesamten Afghanistan-Krieg der
1980er Jahre angeheizt - indem sie die Mujahedin wie auch deren arabische Unterstützer mit
jährlichen Beträgen in bis zu dreistelliger Millionenhöhe finanzierten. Zu den arabischen
Milizionären am Hindukusch gehörten damals auch Usama bin Ladin sowie weitere
Jihadisten; aus ihren Netzwerken und Strukturen im Afghanistan-Krieg entstand Al Qaida. In
die systematische Kriegsunterstützung für die Mujahedin ist auch die Bundesrepublik
involviert gewesen. "Nahe Peschawar bildeten GSG9-Beamte Gotteskrieger ... aus", heißt es
etwa in einem Standardwerk über den Bundesnachrichtendienst (BND) und seine Geschichte:
"Arabische Freiwillige erhielten auch Training und Unterweisung im pakistanischen Chaman
und sogar in Oberbayern." "In Afghanistan selbst waren ein Sanitätsoffizier und ein Major des
Amtes für Nachrichtenwesen der Bundeswehr unterwegs, um Mudschaheddingruppen zu
unterstützen", heißt es in dem erwähnten Standardwerk weiter zur Bonner Beteiligung am
damaligen Afghanistan-Krieg.[3] Diese schloss, wie man inzwischen weiß, auch bewaffnete
Kampfhandlungen ein.[4] Wer sich an einem Krieg beteiligt, weiß, dass bislang noch jeder
umfangreiche Waffengang Menschen zur Flucht veranlasst hat.
Furchtbare Zustände
Allein in den 1980er Jahren sind laut Schätzungen des UNHCR mehr als sechs Millionen
Afghanen aus ihrem Land geflohen [5] - auf die Flucht getrieben von einem Krieg, den der
Westen mit provoziert und sich dann tatkräftig durch die Unterstützung einer Kriegspartei an
ihm beteiligt hat. Involviert war auch die Bundesrepublik. Dass geostrategische Motive - und
nicht eine angebliche Sorge um die afghanische Bevölkerung - die Ursache für die
fluchtauslösende Kriegsbeteiligung der 1980er Jahre waren, zeigt sich daran, dass der Westen
in den 1990er Jahren jedes Interesse an Afghanistan verlor, während seine vormaligen
Verbündeten, die Mujahedin, in dem politisch, ökonomisch und sozial ruinierten Land den
Krieg weiterführten. Bezüglich der Zustände, die die westliche Einmischung im Afghanistan
der 1980er Jahre mit hervorgebracht hat, spricht es Bände, dass in der zweiten Hälfte der
1990er Jahre signifikante Teile der afghanischen Bevölkerung die sukzessive Übernahme der
Macht durch die Taliban begrüßten, weil diese wenigstens eine gewisse Stabilität im Land
erzwangen. Vor diesen Zuständen, für die der Westen eine Mitverantwortung trägt, flohen in
den 1990er Jahren erneut mehr als sechs Millionen Afghanen.[6]
Schlimmer denn je
Afghanistan hat sich nie wieder von den Zerstörungen erholt, die in den 1980er Jahren in
Gang gesetzt wurden. Die in der westlichen Öffentlichkeit zu PR-Zwecken genährte - ohnehin
nie glaubhafte - Illusion, der Krieg des Jahres 2001 und das anschließende Besatzungsregime
sollten und würden die Verhältnisse am Hindukusch bessern, zerschellt inzwischen endgültig
an der Realität: "Im Jahr des deutschen Truppenrückzugs ist die aktuelle Zahl der aus
Afghanistan nach Deutschland Geflüchteten ein Indiz für die erschreckende Tatsache, dass
Terror und Gewalt im Land schlimmer wüten denn je", konstatiert "Pro Asyl".[7] Wie die
Flüchtlingsorganisation berichtet, befanden sich Ende vergangenen Jahres 15.950
Afghaninnen und Afghanen in der Bundesrepublik im Asylverfahren. 3.982 afghanischen
Flüchtlingen war das Asyl verweigert worden; sie besaßen deshalb in dem Staat, der sich seit
den 1980er Jahren an der Zerstörung ihres Heimatlandes beteiligt hatte, nur den prekären
Aufenthaltsstatus der "Duldung", mussten daher in Flüchtlingslagern leben und durften nicht
arbeiten. Auch in diesen Tagen kommen Flüchtlinge aus Afghanistan in Deutschland an, weil
die Gewalt und die desolaten Verhältnisse dort ihren Verbleib unmöglich machen. Ihnen wäre
dieses Schicksal vielleicht erspart geblieben, hätten die westlichen Staaten, darunter die
Bundesrepublik, in den Jahren ab 1979 darauf verzichtet, zur Erlangung geostrategischer
Vorteile den Ruin eines ganzen Landes in Kauf zu nehmen.
Auf die Flucht getrieben (III)
06.08.2015
BERLIN/JUBA
(Eigener Bericht) - In drei der fünf Länder mit den höchsten Flüchtlingszahlen weltweit hat
die Bundesregierung aktiv zur Entstehung der Fluchtursachen beigetragen. Dies zeigt eine
Erhebung des UNHCR. Demnach war Syrien Ende 2014 das Herkunftsland der höchsten Zahl
an Flüchtlingen überhaupt, gefolgt von Afghanistan. In Syrien hat der Westen den
Bürgerkrieg, vor dem immer mehr Menschen fliehen, seit Mitte 2011 massiv befeuert; in
Afghanistan hat er bereits in den 1980er Jahren die Totalzerstörung der gesellschaftlichen
Strukturen gefördert, die bis heute zahllose Menschen aus dem Lande treibt. Südsudan,
Nummer fünf in der UNHCR-Statistik der wichtigsten Herkunftsländer von Flüchtlingen, ist
2011 auf Druck des Westens zu einem eigenen Staat geworden - aus geostrategischen
Motiven, und dies trotz Warnungen von Beobachtern, die Abspaltung werde die Spannungen
im Land unweigerlich anheizen und womöglich in einen neuen Bürgerkrieg führen. Dies ist
nun tatsächlich geschehen; Millionen sind mittlerweile auf der Flucht. Mit der Regierung in
Juba, deren Milizen furchtbare Massaker verüben, wollen Berlin und die EU nun noch enger
als zuvor kooperieren - bei der Flüchtlingsabwehr ("Grenzmanagement").
Fluchtursachen geschaffen
In drei der fünf Länder mit den höchsten Flüchtlingszahlen weltweit hat die Bundesregierung
aktiv zur Entstehung der zentralen Fluchtursachen beigetragen. Wie eine aktuelle Erhebung
des UNHCR zeigt, liegt Syrien mit 3,88 Millionen Auslandsflüchtlingen (Stand: Ende 2014)
unter den Herkunftsländern auf Platz eins, gefolgt von Afghanistan (2,59 Millionen). In
Syrien hat Berlin seit Mitte 2011 den Bürgerkrieg befeuert, der die Menschen aus dem Land
treibt [1]; in Afghanistan hat die Bundesrepublik bereits in den 1980er Jahren zur
Totalzerstörung der gesellschaftlichen Strukturen beigetragen, die bis heute zur Flucht von
Menschen führt [2]. In Somalia, das in der UNHCR-Statistik mit 1,11 Millionen Flüchtlingen
auf Platz drei liegt, hat Berlin im Jahr 2007 eine äthiopische Militärinvasion politisch
unterstützt, die die damals mögliche Stabilisierung des Landes - allerdings unter einer dem
Westen missliebigen Regierung - verhinderte; ohne die Invasion stünde Somalia heute
mutmaßlich besser da (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Auf Platz fünf findet sich
der Südsudan - mit mehr als 616.000 Flüchtlingen. Dort fliehen die Menschen vor einem
Ende 2013 entbrannten und mit exzessiver Brutalität geführten Bürgerkrieg. Berlin hat über
Jahre hin aktiv dazu beigetragen, die Bedingungen für den Beginn des Bürgerkriegs zu
schaffen - mit seiner Unterstützung für die Abspaltung des Landes von Sudan.
Geostrategische Motive
Ausschlaggebend für die systematische deutsche Unterstützung der Abspaltung des Südsudan
sind geostrategische Motive gewesen. Hatte Bonn den Sudan in der Zeit der
Systemkonfrontation sogar noch mit Rüstungslieferungen bedacht [4], so gingen die
westlichen Hauptmächte in den 1990er Jahren dazu über, das Land in dem damals
heraufziehenden Konflikt mit Teilen der arabisch-islamischen Welt als Gegner einzustufen.
Der damalige Sezessionskrieg im Süden des Sudan bot die strategisch günstige Chance, das
arabisch-islamisch dominierte Khartum durch die Abspaltung des Südens zu schwächen. Das
Vorhaben erschien nicht nur deshalb als erstrebenswert, weil Khartum damit ein großer Teil
seines Landes und seiner Bevölkerung genommen werden konnte, sondern auch, weil im
Süden rund drei Viertel der gesamtsudanesischen Ölvorräte sowie weitere wertvolle
Bodenschätze lagern. Mit Blick auf Letzteres unterstützten die Vereinigten Staaten und die
Bundesrepublik nicht nur die Abspaltung des Südsudan, sondern auch seine Einbindung in die
East African Community (EAC) [5], die eng mit dem Westen kooperiert. Pläne, die
südsudanesischen Bodenschätze über die Häfen des EAC-Mitglieds Kenia auf den Weltmarkt
zu bringen und sie so für den Westen zu erschließen, werden inzwischen - wenn auch
langsamer als erhofft und mit fraglich werdendem Erfolg, da China immer stärker an Einfluss
gewinnt - realisiert (german-foreign-policy.com berichtete [6]).
Staatsaufbau
Die Unterstützung der Bundesrepublik für die Abspaltung des Südsudan hat dabei schon recht
früh begonnen und dauert bis heute an. So war das Heidelberger Max-Planck-Institut für
ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht bereits seit 1998 mit dem Südsudan befasst;
es bildete zunächst Richter und Justizangestellte fort, beriet den Südsudan bei der
Gesetzgebung und leitete die Erstellung der südsudanesischen Verfassung. Das Auswärtige
Amt stellte Millionen für den Aufbau der Polizei im Sezessionsgebiet zur Verfügung, die
Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ, damals GTZ) half beim
Straßenbau nach Uganda und damit beim Anschluss des Gebietes an die EAC. 2007 startete
die GIZ in Juba ein auf zehn Jahre geplantes "Programm zur Unterstützung des
Staatsaufbaus".[7] Berlin erkannte den Südsudan noch am Tag seiner Proklamation zum Staat
(9. Juli 2011) offiziell an. Bis heute erhält Juba umfassende Hilfen aus Berlin. Zuletzt führte
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im April 2015
Regierungsverhandlungen mit dem Südsudan durch, um die deutschen Aktivitäten dort
abzustimmen. Die GIZ unterstützt inzwischen nicht nur den Aufbau der Polizei, sondern auch
eine Initiative mit dem Titel "Fluchtursachen bekämpfen".
Erneuter Bürgerkrieg
Mit seiner Sezessionsunterstützung hat Berlin - wenn auch ungewollt - dazu beigetragen, die
aktuellen Fluchtursachen im Südsudan zu schaffen. Beobachter hatten die westlichen PolitTechnologen ausdrücklich vor der Abspaltung des Gebietes gewarnt; die Maßnahme könne
alte Spannungen im Sezessionsgebiet wieder aufleben lassen, hieß es. Innere Machtkämpfe
zwischen unterschiedlichen Milizen und Sprachgruppen im Südsudan selbst hatten in der Tat
immer wieder zu schrecklichen Massakern geführt; ihnen fielen vor 2011 mehr Menschen
zum Opfer als dem langen Krieg gegen Khartum. Und tatsächlich entflammten die inneren
Machtkämpfe in Juba zwei Jahre nach Ausrufung der Eigenstaatlichkeit neu und führten Ende
2013 - die Warnungen erwiesen sich als gerechtfertigt - in einen erneuten Bürgerkrieg um die
Kontrolle der jetzt der alleinigen Kontrolle Jubas unterstehenden südsudanesischen
Ressourcen. Die Hauptkontrahenten in dem neuen Bürgerkrieg hatten sich bereits Anfang der
1990er Jahre mörderische Kämpfe geliefert; damals hatten Milizen unter Führung des
Kommandeurs Riek Machar Tausende Angehörige der Sprachgruppe der Dinka ermordet.
Seit Ende 2013 stehen sich Machar und die Sprachgruppe der Nuer erneut den Dinka
gegenüber, die unter Präsident Salva Kiir derzeit die Regierung in Juba dominieren.[8] Die
Zahl der Toten ist unbekannt; Experten sprachen bereits Ende 2014 von 50.000, vielleicht
sogar 100.000 Todesopfern. Sämtliche Konfliktparteien werden für barbarische Massaker
verantwortlich gemacht. Zuletzt berichteten die Vereinten Nationen, Milizen der Regierung in
Juba hätten im Frühjahr zahlreiche Frauen und Mädchen vergewaltigt und sie anschließend
bei lebendigem Leib verbrannt.[9]
Grenzen dicht
Mit der Regierung in Juba, die ihre Macht der westlichen Sezessionsunterstützung verdankt,
will die Bundesregierung nun bei der Flüchtlingsabwehr ("Grenzmanagement") enger
kooperieren. Hintergrund ist, dass inzwischen weit mehr als 1,5 Millionen Menschen
innerhalb des Südsudan fliehen mussten; mehr als 600.000 haben sogar außerhalb des Landes
Schutz gesucht. Zwar lebt derzeit die überwiegende Mehrheit von ihnen in Südsudans
Nachbarländern Äthiopien, Uganda, Sudan und Kenia; nur sehr wenige ersuchen in
Deutschland und in der EU um Asyl. Dennoch hat Brüssel Südsudan in seinen "KhartumProzess" einbezogen. Dieser ist am 28. November 2014 offiziell gestartet worden - offiziellen
Angaben zufolge "mitinitiiert und maßgeblich mitgestaltet" durch Berlin [10] -, um die Flucht
von Menschen aus Afrika in die EU zu beenden. Beteiligt sind außer den EU-Mitgliedstaaten
sieben Länder Ostafrikas (Kenia, Äthiopien, Eritrea, Dschibuti, Somalia, Sudan, Südsudan)
sowie drei Transitländer Nordafrikas (Libyen, Ägypten, Tunesien). Scharf kritisiert wird vor
allem die Kooperation mit repressiven Staaten wie Eritrea, Äthiopien und Sudan, deren
Repressionsapparate durch die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingsabwehr nun
noch weiter gestärkt werden.[11] Dasselbe gilt für Südsudan, das Fluchtland Nummer fünf in
der UNHCR-Statistik, das die Menschen, die vor seinem Bürgerkrieg fliehen, durch
erfolgreiches "Grenzmanagement" von der Flucht ins Ausland abhalten soll - mit deutscheuropäischer Hilfe.
Mehr zum Thema: Auf die Flucht getrieben (I) und Auf die Flucht getrieben (II).
[1] S. dazu Auf die Flucht getrieben (I).
[2] S. dazu Auf die Flucht getrieben (II).
[3] S. dazu Interessen der Supermächte, Angemessene Beharrlichkeit und Ordnungsmächte.
[4] S. dazu Englisch statt Arabisch.
[5] Der East African Community gehören Burundi, Kenia, Ruanda, Tansania und Uganda an.
Der Beitritt des Südsudan ist geplant.
[6] S. dazu Am Rande des Krieges.
[7] S. dazu Vom Nutzen der Sezession.
[8] S. dazu Das Wirken der Geostrategen und Die Folgen westlicher Sezessionspolitik.
[9] Thomas Scheen: UN-Bericht: Mädchen bei lebendigem Leib verbrannt. www.faz.net
30.06.2015.
[10] Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Luise
Amtsberg, Omid Nouripour, Tom Koenigs und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Deutscher Bundestag, Drucksache 18/4609 vom 15.04.2015.
[11] Nikolaus Steiner, Charlotte Wiedl: Grenzen dicht: Europas Pakt mit Despoten. Monitor
(WDR) vom 23.07.2015.
Auf die Flucht getrieben (IV)
13.08.2015
BERLIN/PRIŠTINA
(Eigener Bericht) - Deutschland trägt maßgebliche Mitverantwortung für die Ursachen der
Flucht zehntausender Menschen aus dem Kosovo. Dies belegt eine Analyse der Entwicklung
in dem Sezessionsgebiet seit dem NATO-Überfall im Jahr 1999, dessen Vorbereitung unter
führender Mitwirkung der Bundesrepublik geschah. Auch die anschließende Besatzung des
Kosovo haben deutsche Politiker in leitenden Positionen mitgestaltet. Dabei haben sie
geholfen, Kommandeure und Kämpfer der Mafiamiliz UÇK in Priština an die Macht zu
bringen, unter deren Herrschaft sich international scharf kritisierte soziale Verhältnisse
herausgebildet haben. In einem Bericht des Europäischen Rechnungshofs hieß es etwa im Jahr
2012, die Organisierte Kriminalität bestehe im Kosovo auf "hohem Niveau" fort; im
Europarat wurden sogar höchstrangige Politiker, darunter ein langjähriger Ministerpräsident,
der Mafia zugerechnet. Die Armut grassiert; rund ein Sechstel aller Kinder leidet wegen
Mangelernährung an Wachstumsstörungen - nach ungefähr 16 Jahren von NATO und EU
geführter Besatzung, die maßgeblich von Berlin mitgestaltet wurde. Ohne Rücktransfers von
Exil-Kosovaren könnten zahlreiche kosovarische Familien wohl nicht überleben. Allein im
ersten Halbjahr 2015 haben mehr als 28.600 Kosovaren keine andere Chance gesehen, als in
Deutschland Asyl zu beantragen - faktisch ohne Aussicht aus Erfolg. Berlin bemüht sich nun
um Wege zu ihrer schnelleren Abschiebung.
Geostrategisch motiviert
Das Kosovo, aus dem die Menschen zuletzt in Scharen geflohen sind, ist in den vergangenen
zwei Jahrzehnten ein Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik gewesen. Dabei zielte die
Bundesrepublik zunächst vor allem darauf ab, das Gebiet aus Jugoslawien bzw. Serbien zu
lösen und es zu einem eigenen Staat zu machen. Dies schien geeignet, Belgrad - einen
traditionellen Opponenten der deutschen Südosteuropa-Politik - dauerhaft empfindlich zu
schwächen und zugleich mit einem kosovarischen Staat einen neuen loyalen Verbündeten in
der südosteuropäischen Peripherie zu schaffen. Schon um das Jahr 1992 begann deshalb der
Bundesnachrichtendienst (BND), wie der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom
berichtet [1], "erste Kontakte" zur "militanten Opposition" der Kosovaren aufzubauen. Bald
entstanden enge Beziehungen inklusive Aufrüstung und Training der 1996 gegründeten
Mafiaorganisation UÇK. Die UÇK diente dann, nachdem sie maßgeblich dazu beigetragen
hatte, die südserbische Provinz 1998 durch bewaffneten Terror zu destabilisieren, als
Bodentruppe der NATO nach deren Überfall auf Jugoslawien am 24. März 1999.
Unter deutscher Obhut
Dies ist vor allem deshalb von erheblicher Bedeutung, weil die UÇK entsprechend ihrer
zentralen Rolle im Krieg gegen Jugoslawien nun auch in der anschließenden Zeit der
Besatzung wichtige Funktionen im Kosovo für sich einforderte - und sie von den
Besatzungsmächten auch bekam. Unter diesen hat die Bundesrepublik eine exklusive Position
innegehabt. Sie entsandte nicht nur sieben der bislang 20 Kommandeure der NATOBesatzungstruppe KFOR und damit mehr als jedes andere Land. Dem Berliner PolitEstablishment entstammten darüber hinaus mit Michael Steiner (2002 bis 2003) und Joachim
Rücker (2006 bis 2008) zwei Leiter der UN-Verwaltung UNMIK, die jeweils wichtige
Weichen für die Sezession des Kosovo stellten.[2] Unter ihrer Oberaufsicht amtierten
ehemalige UÇK-Kämpfer (Bajram Rexhepi, 2002 bis 2004) und UÇK-Kommandeure (Agim
Çeku, 2006 bis 2008; Hashim Thaçi, ab 2008) als Ministerpräsidenten des Kosovo. Steiner
unterstützte zudem Thaçi, Rücker den berüchtigten Ex-UÇK-Kommandeur Ramush Haradinaj
bei ihrem Kampf gegen justizielle Ahndung ihrer Taten (german-foreign-policy.com
berichtete [3]). Wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bereits vor Jahren
rückblickend resümierte, erlangten die "mit organisierter Kriminalität aufs Engste
verflochtenen politischen Extremisten und gewalterprobten Untergrundkämpfer" der UÇK
unter der UNMIK "als gewählte Volksvertreter oder neu gekürte Beamte ... unter
internationaler Obhut politische Respektabilität".[4]
Berufswunsch "Mafiaboss"
Die Machenschaften der ehemaligen UÇK-Anführer, die das Kosovo ab 1999 maßgeblich
prägten, haben immer wieder für internationales Aufsehen gesorgt. Über Hashim Thaçi etwa,
der noch bis 2014 als Ministerpräsident in Priština amtierte, urteilten der BND und das
Berliner "Institut für Europäische Politik" (IEP) bereits vor Jahren, er sei nicht nur
Auftraggeber eines "Profikillers" gewesen, sondern verfüge auch "auf internationaler Ebene
über weiter reichende kriminelle Netzwerke".[5] Thaçi ist zudem vom ehemaligen
Sonderberichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Dick Marty,
beschuldigt worden, nicht nur jahrelang an führender Stelle in den Schmuggel von Waffen
und Rauschgift involviert gewesen zu sein, sondern sich außerdem am Handel mit
menschlichen Organen beteiligt zu haben.[6] Über die Organisierte Kriminalität im Kosovo
erklärte das Institut für Europäische Politik Anfang 2007: "Aus früheren UCK-Strukturen ...
haben sich unter den Augen der Internationalen Gemeinschaft mittlerweile mehrere MultiMillionen-Organisationen entwickelt", die großen Einfluss besäßen; "Mafiaboss" stelle
mittlerweile "den meistgenannten Berufswunsch von Kindern und Jugendlichen dar".[7]
Rechtsfreie Räume
Über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich unter der Herrschaft ehemaliger UÇKStrukturen und der Oberaufsicht auch deutscher UNMIK-Verwalter herausbildeten, äußerte
sich das Institut für Europäische Politik bereits 2007 am Beispiel der im Kosovo nach wie vor
üblichen Streitbeilegung per Gewohnheitsrecht. Letzteres schreibe "nicht nur die
Vorherrschaft des Mannes fest", berichtete das Institut; es baue "darüber hinaus auf einem
gewaltlegitimierenden Ehrkonzept auf", das nicht zuletzt die traditionelle "Blutrache" "in den
Mittelpunkt eines pseudojuristischen Ordnungssystems stellt".[8] Deutliche Worte fand 2012
sogar der Europäische Rechnungshof. Es gebe trotz mehr als zehn Jahre währender
Besatzungstätigkeit allenfalls "geringe Fortschritte im Kampf gegen das organisierte
Verbrechen"; vielmehr bestehe die Organisierte Kriminalität auf "hohem Niveau" fort, hieß es
damals in einem Bericht der Institution. Die Untersuchung selbst schwerster Verbrechen
bleibe "immer noch unwirksam". Die OSZE habe sich ausdrücklich bestätigen lassen, dass
zahlreiche Richter nicht bereit seien, "ihre Urteile auf der alleinigen Grundlage des Rechts" zu
sprechen, sondern "dazu tendierten, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber äußeren
Einflüssen zu handeln".[9] Noch Anfang dieses Jahres urteilte die SWP, es gebe im Kosovo
"ausgedehnte rechtsfreie Räume" - aufgrund einer "symbiotischen Beziehung zwischen
weiten Teilen von Verwaltung und Politik mit der organisierten Kriminalität".[10]
Mangelernährung
Auch ökonomisch ist die Lage des Kosovo, das sich am 17. Februar 2008 nach intensiver
deutscher Vorarbeit und unter Bruch des internationalen Rechts zum Staat erklärte, nach wie
vor desolat. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beläuft sich auf 2.935 Euro im Jahr (EU:
25.700 Euro). Die Arbeitslosigkeit wird mit 40 bis 45 Prozent beziffert; die
Jugendarbeitslosigkeit beträgt real bis zu 70 Prozent. Die Wirtschaft liegt - wie zu Beginn der
Besatzungszeit 1999 - weitestgehend am Boden; die Investitionen aus dem Ausland gingen
von rund 220 Millionen Euro in den ersten neun Monaten 2013 auf knapp 122 Millionen Euro
im selben Zeitraum 2014 zurück. Das Kosovo musste 2014 Waren im Wert von rund 2,5
Milliarden Euro importieren, um über die Runden zu kommen; dem standen Exporte in Höhe
von nur 325 Millionen Euro gegenüber. "Eine wichtige Triebkraft für den privaten Konsum
stellen weiterhin die Überweisungen von im Ausland lebenden und arbeitenden Landsleuten
an ihre Familien in der Heimat dar", berichtet die Außenwirtschaftsagentur Germany Trade
and Invest (GTAI).[11] Ohne die Rücktransfers von Exil-Kosovaren könnte das Land, in dem
16 Prozent aller Kinder wegen Mangelernährung unter Wachstumsstörungen und 23 Prozent
aller Schwangeren unter Anämie leiden [12], wohl nicht überleben.
"Drastisch reduzieren"
16 Jahre nach dem NATO-Krieg, der mit der Behauptung begründet wurde, man müsse das
Kosovo befreien und seiner Bevölkerung zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen,
fliehen nun Zehntausende - und stellen damit den westlichen Staaten, die Verantwortung für
den Krieg und die anschließende Besatzung tragen, ein verheerendes Zeugnis aus. Führend
bei der Vorbereitung des Krieges und bei der Besatzung ist Deutschland gewesen. In Reaktion
auf die steigende Zahl der Flüchtlinge bereitet Berlin nun die Einstufung des Kosovo als
"sicheres Herkunftsland" vor, um die Menschen, die vor den auch von der Bundesrepublik zu
verantwortenden Verhältnissen fliehen, umgehend abschieben zu können. Dass Flüchtlinge
aus Südosteuropa sich nicht anders zu helfen wissen, als in der reichen Bundesrepublik
Asylanträge zu stellen, sei "inakzeptabel und für Europa eine Schande", erklärt
Bundesinnenminister Thomas de Maizière: "Das Wichtigste ist, deren Anzahl" - gemeint sind
die Flüchtlinge - "drastisch zu reduzieren".[13]
Mehr zum Thema: Auf die Flucht getrieben (I), Auf die Flucht getrieben (II) und Auf die
Flucht getrieben (III).
[1] Erich Schmidt-Eenboom: Kosovo-Krieg und Interesse. www.geheimdienste.info. S. dazu
Vom Westen befreit (IV).
[2] S. dazu Berliner Beute, Dayton II und Politische Freundschaften.
[3] S. dazu Politische Freundschaften und Heldenfigur.
[4] Die Balkan-Mafia. Diskussionspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik 09.12.2007.
S. dazu Aufs Engste verflochten.
[5] S. dazu "Danke, Deutschland!".
[6] S. dazu Teil des Westens geworden.
[7], [8] Operationalisierung von Security Sector Reform (SSR) auf dem Westlichen Balkan.
Institut für Europäische Politik 09.01.2007. S. dazu Aufs Engste verflochten.
[9] S. dazu Die Logik des Krieges.
[10] Dušan Reljić: Kosovo braucht einen Beschäftigungspakt mit der EU. www.swpberlin.org 12.02.2015. S. dazu Vom Westen befreit (IV).
[11] Kosovo rechnet für 2015 mit Konjunkturschub. www.gtai.de 05.02.2015.
[12] Dušan Reljić: Kosovo braucht einen Beschäftigungspakt mit der EU. www.swpberlin.org 12.02.2015. S. dazu Vom Westen befreit (IV).
[13] "Als reiches Land sind wir überhaupt nicht überfordert." Frankfurter Allgemeine Zeitung
19.07.2015.