German Foreign Policy (http://www.german-foreign-policy.com) Auf die Flucht getrieben (I - IV) 09.07.2015 DAMASKUS/BERLIN (Eigener Bericht) - Die Bundesrepublik trägt mit ihrer Außenpolitik in erheblichem Maße zu Hunger und Krieg auf mehreren Kontinenten bei und provoziert damit die Flucht von Millionen Menschen unter anderem nach Europa. Dies zeigt ein Blick auf das Vorgehen Berlins gegenüber diversen Ländern Südosteuropas, Afrikas, des Nahen Ostens und Zentralasiens. Politische Einmischung, teils sogar militärische Interventionen wirkten in vielen Fällen daran mit, Staaten zu zerrütten und die Bewohner aus dem Land zu jagen. Exemplarisch verdeutlicht das die deutsche Syrien-Politik. Die Bundesrepublik hat bis heute laut offiziellen Angaben über 100.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Den Krieg, der sie auf die Flucht getrieben hat, hat die Bundesregierung mit ihrer politischen Unterstützung für den Aufstand gegen die Regierung Assad sehenden Auges in Kauf genommen, wie etwa eine Kurzanalyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) aus dem Jahr 2012 erkennen lässt. Auch sieht Berlin bis heute über die Förderung jihadistischer Organisationen wie des "Islamischen Staats" (IS) durch enge Verbündete hinweg - obwohl etwa der IS erneut zahllose Menschen auf die Flucht zwingt. Sogar am Embargo gegen Syrien hält Berlin bis heute fest, obwohl Beobachter schon vor Jahren feststellten, es mache die Lebensbedingungen für die gesamte Bevölkerung des Landes unerträglich. Kritiker rufen zur sofortigen Einstellung des Embargos auf. Umsturzförderung Wie die Bundesregierung in den vergangenen Jahren dazu beigetragen hat und auch weiterhin dazu beiträgt, Verhältnisse zu schaffen, vor denen Menschen fliehen müssen, zeigt exemplarisch die Entwicklung des Krieges in Syrien. Nachdem dort im Frühjahr 2011 heftige Unruhen losgebrochen waren, entschied sich Berlin im Sommer 2011, entschlossen auf den Sturz der Regierung Assad zu setzen. Entsprechend kooperierte die Bundesregierung mit denjenigen Teilen der syrischen Opposition, die Verhandlungen mit der Regierung in Damaskus ablehnten, stattdessen deren bedingungslosen Rücktritt forderten und bereit waren, zu den Waffen zu greifen. Das verschärfte den Konflikt, nicht zuletzt, weil dadurch diejenigen Gruppierungen der syrischen Opposition, die - einen Bürgerkrieg befürchtend - gewaltfreien Protest und Verhandlungen mit der Regierung befürworteten, ins Hintertreffen gerieten; in der deutschen Medienöffentlichkeit wurden sie damals weithin ignoriert. Die Berliner Unterstützung für die Umsturzkräfte ging schon im ersten Halbjahr 2012 so weit, dass die vom Kanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gemeinsam mit rund 50 syrischen Exil-Oppositionellen ein Konzept für die Umgestaltung Syriens nach einem Sturz der Regierung Assad ausarbeitete - unter dem Arbeitstitel "The Day After".[1] Krieg Jenseits der Tatsache, dass Planungen für einen Umsturz in einem fremden Land jeglichen internationalen Normen Hohn sprechen und eine schwere Aggression bedeuten, sind sich die zuständigen Berliner Stellen über die Risiken ihres Unterfangens vollkommen im Klaren gewesen. Beispielhaft lässt sich dies einer Kurzanalyse entnehmen, die die SWP im Februar 2012 publizierte; damals war das Projekt "The Day After" soeben gestartet worden. Die Analyse skizzierte unterschiedliche Szenarien für die Entwicklung im Land. "Zu favorisieren" sei das Szenario einer "Implosion des Regimes", schrieben die Autoren - und stellten fest, dies könne zu einer "massiven Eskalation der bewaffneten Auseinandersetzungen" führen, letztlich sogar zu einem "umfassende[n] Bürgerkrieg". "Dieser dürfte sehr wahrscheinlich entlang konfessioneller Linien ausgefochten werden", hieß es weiter; zudem drohe er zu einem "Stellvertreterkrieg" äußerer Mächte zu werden: "Schon jetzt drängen Saudi-Arabien und Katar" - beides Verbündete Deutschlands - "darauf, die Rebellen militärisch auszurüsten"; auch sei "ein Übergreifen des Konflikts auf Nachbarländer ... möglich", hieß es weiter: "So könnten die im irakisch-syrischen Grenzgebiet lebenden Stämme in die Kämpfe verwickelt werden"; außerdem sei das Ausgreifen des Konflikts auf den Libanon denkbar. Sämtliche Voraussagen sind mittlerweile eingetroffen. Dass Menschen auf die Flucht getrieben würden, galt der SWP schon Anfang 2012 als selbstverständlich: Sie ging ganz klar von "Flüchtlingsbewegungen, insbesondere in die Türkei, den Libanon und nach Jordanien" aus.[2] Hunger Ebenfalls unumstritten war Anfang 2012 bei der SWP, dass die westlichen Sanktionen gegen Syrien, die 2011 verhängt worden waren, die Situation der Bevölkerung dramatisch verschlechtert hatten und damit weitere Anreize zur Flucht bieten mussten. Insbesondere "die europäischen Sanktionen gegen den syrischen Ölsektor" hätten bereits tiefe Spuren hinterlassen, hieß es in der Kurzanalyse vom Februar 2012: "Die Bevölkerung leidet unter der Knappheit von Benzin, Heizöl und Butangas"; außerdem träfen "Stromsperren von bis zu sechs Stunden täglich ... mittlerweile auch die Hauptstadt". Folgen gebe es inzwischen auch für die Versorgung mit Lebensmitteln: "Importgüter wie Weizen werden knapp und damit mangelt es an Brot; die Preise für lokal erzeugte Güter des täglichen Bedarfs, etwa Milchprodukte, steigen spürbar." Die Autoren räumten ein, trotz zunehmender Leiden der Zivilbevölkerung seien keinerlei "Anzeichen für die erhofften politischen Wirkungen der Sanktionen zu sehen": Weder habe "die Regimespitze ihre Haltung verändert", noch habe "die Unternehmerelite sich vom Regime abgewandt". Die strategischen Interessen der Bundesrepublik kühl kalkulierend, redeten die SWP-Experten für die Zukunft dennoch "einer stringenten Umsetzung und weiteren Verschärfung der bestehenden Sanktionen" das Wort.[3] Sehenden Auges Strategische Interessen Deutschlands standen nicht nur bei den Entscheidungen Pate, in Syrien auf die gewaltorientierten Teile der Opposition zu setzen, das Risiko eines unkontrolliert eskalierenden Bürgerkriegs in Kauf zu nehmen und die Versorgungslage im Land mit Wirtschaftssanktionen dramatisch zu verschlechtern, sondern auch bei der Berliner Entscheidung, die Unterstützung salafistischer Milizen durch enge Verbündete in Nah- und Mittelost billigend zu tolerieren - bis hin zur Terrorförderung. Um die Regierung Assad zu stürzen, stärken vor allem Saudi-Arabien und die Türkei salafistische, teilweise auch jihadistische Milizen bis hin zu Al Qaida und zum "Islamischen Staat" (IS) - bis heute; den Aufstieg des IS haben die westlichen Staaten ausweislich von US-Geheimdienstdokumenten billigend in Kauf genommen, aus strategischen Gründen - um Irans Einfluss auf Syrien zu brechen (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Dass der Terror von Jihadisten, von Al Qaida und des IS nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien Massen in die Flucht treibt, ist bekannt. Die Bundesregierung hat dies nie zum Anlass genommen, Riad und Ankara entschlossen von der Terrorförderung abzuhalten; vielmehr kooperiert sie bis heute überaus eng mit ihnen, Rüstungsexporte inklusive. Saudi-Arabien steht auf der Rangliste der Empfänger deutscher Rüstungslieferungen für das Jahr 2014 auf Platz sechs, die Türkei befindet sich immerhin noch unter den Top 20. Saudi-Arabien nutzt übrigens für den Krieg im Jemen, der weitere Flüchtlinge produziert, unter anderem deutsches Kriegsgerät.[5] Die Fluchtursachen bekämpfen Dass die Bundesregierung die Förderung jihadistischer Milizen inklusive des IS durch die Türkei und Saudi-Arabien toleriert, stößt inzwischen zunehmend auf Kritik. Jetzt werden zudem Proteste gegen die Syrien-Sanktionen laut. Es sei ein "Verbrechen, ein Volk gezielt auszuhungern, um von außen einen gewünschten Regimewechsel zu erzwingen", sagt Bernd Duschner von der Friedensinitiative "Freundschaft mit Valjevo", der einen mittlerweile von mehr als 2.000 Personen unterzeichneten Aufruf zum Stopp des Embargos gestartet hat, im Gespräch mit german-foreign-policy.com. Die Friedensinitiative unterstützt Flüchtlinge aus Syrien - und fordert, die Sanktionen, eine "zentrale Ursache des Flüchtlingselends" [6], endlich einzustellen. Die Bundesregierung, die sich offiziell den Kampf gegen die Fluchtursachen in den Herkunftsländern auf die Fahnen geschrieben hat, reagiert nicht. Das Interview mit Bernd Duschner finden Sie hier. german-foreign-policy.com setzt die Berichterstattung über den deutschen Beitrag zur Produktion von Fluchtursachen in der kommenden Woche fort. Mehr zur deutschen Flüchtlingsabwehr: Abschotten, abwälzen, abschieben, Das Ende der Freizügigkeit, Grenzen dicht! (I), Grenzen dicht! (II), Willkommen in Deutschland, Folgen des Anti-Terror-Kriegs, Einmalige Abschreckung, Kein Ende in Sicht, Die FlüchtlingsTodesregion Nr. 1, Krieg gegen Flüchtlinge, Krieg gegen Flüchtlinge (II) und Zu Gast bei Freunden. [1] S. dazu The Day After, The Day After (II), The Day After (III) und The Day After (IV). [2], [3] Muriel Asseburg, Heiko Wimmen: Der gewaltsame Machtkampf in Syrien. Szenarien und Einwirkungsmöglichkeiten der internationalen Gemeinschaft. SWP-Aktuell 12, Februar 2012. [4] S. dazu Vom Nutzen des Jihad (I), Vom Nutzen des Jihad (II) und Das Spiel mit dem Terror. [5] S. dazu In Flammen und In Flammen (II). [6] S. dazu Gezielt ausgehungert. Auf die Flucht getrieben (II) 29.07.2015 KABUL/BERLIN/BAMAKO (Eigener Bericht) - Die Bundesregierung legitimiert deutsche Militäreinsätze mit der angeblichen Bekämpfung von Fluchtursachen. Die Bundeswehr müsse in Mali operieren, damit "Menschen nicht mehr fliehen müssen vor Gewalt und Hoffnungslosigkeit", behauptete Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Anfang dieser Woche bei einem Besuch in der malischen Hauptstadt Bamako. Damit nutzt sie die aktuelle Flüchtlingskrise in Deutschland, um Sympathien für Interventionen der deutschen Streitkräfte zu wecken. Tatsächlich trägt die Bundesrepublik mit ihrer aggressiven Außenpolitik aktiv dazu bei, Fluchtursachen erst zu schaffen. Ein herausragendes Beispiel ist die bundesdeutsche Afghanistan-Politik seit den 1980er Jahren. Bonn heizte damals gemeinsam mit anderen westlichen Staaten durch Hilfen für die Mujahedin den afghanischen Bürgerkrieg an; Millionen Menschen flohen aus dem Land. Von den politischen, ökonomischen und vor allem sozialen Verwüstungen hat sich Afghanistan nie erholt. Auch dem im Jahr 2001 gestarteten Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch, dessen Hauptteil im vergangenen Jahr beendet wurde, folgt nun eine neue Fluchtbewegung. In legitimatorischer Absicht Die Bundeswehr müsse im Ausland, etwa in Mali, operieren, um Fluchtursachen zu beseitigen, behauptete Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Anfang dieser Woche bei einem Besuch in der malischen Hauptstadt Bamako: Es gelte, mit der Militärintervention dazu beizutragen, "dass Menschen nicht mehr fliehen müssen vor Gewalt und Hoffnungslosigkeit".[1] Anlass ihres Besuchs war die Übernahme des Kommandos über den sogenannten Ausbildungseinsatz "EUTM Mali" durch die Bundeswehr. Die Truppe, die mit ihren rund 160 Soldaten ungefähr ein Drittel des gesamten Kontingents stellt, führt damit zum ersten Mal eine EU-Militärintervention auf dem afrikanischen Kontinent. Während die Verteidigungsministerin mit der Behauptung, man wolle in Mali lediglich Fluchtursachen bekämpfen, die aktuelle Flüchtlingskrise in Deutschland zu nutzen sucht, um Sympathien für eine Intervention der deutschen Streitkräfte zu gewinnen, trifft in der Tat das Gegenteil ihrer Behauptung zu: Die aggressive deutsche Außenpolitik trägt aktiv dazu bei, Fluchtursachen erst zu schaffen. Zu geostrategischen Zwecken Afghanistan bietet ein geradezu klassisches Beispiel dafür, wie die aggressive Außenpolitik der westlichen Staaten - auch der Bundesrepublik - massiv dazu beiträgt, Menschen auf die Flucht zu treiben. Im Falle Afghanistans lässt sich der Ursprung dieser Entwicklung bis in den Sommer 1979 zurückverfolgen - in die Zeit vor der sowjetischen Intervention. Der damalige Nationale Sicherheitsberater der US-Regierung, Zbigniew Brzezinski, hat vor Jahren bestätigt, dass die erste Direktive zur geheimen Unterstützung für die aufständischen Mujahedin in Afghanistan bereits am 3. Juli 1979 von US-Präsident Jimmy Carter unterzeichnet wurde.[2] Es ging zunächst darum, Widerstände gegen die prosowjetische Regierung in Kabul zu befeuern; zudem habe man mit der Unterstützung für die Mujahedin "absichtlich die Wahrscheinlichkeit erhöht", dass die Sowjetunion zugunsten ihres afghanischen Verbündeten interveniere. "Wir haben jetzt die Möglichkeit, der UdSSR ihr Vietnam zu bereiten", will Brzezinski am Tag des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan an Carter geschrieben haben. Gewalttätige Unruhen wurden also zu übergeordneten geostrategischen Zwecken gezielt befeuert. Niemand kann sich im Unklaren darüber gewesen sein, dass eine bewusste Eskalation von Unruhen geeignet ist, Menschen auf die Flucht zu treiben. Kriegsbeteiligung Über das Befeuern der Unruhen im Jahr 1979 hinaus haben die Vereinigten Staaten gemeinsam mit ausgewählten westlichen Verbündeten den gesamten Afghanistan-Krieg der 1980er Jahre angeheizt - indem sie die Mujahedin wie auch deren arabische Unterstützer mit jährlichen Beträgen in bis zu dreistelliger Millionenhöhe finanzierten. Zu den arabischen Milizionären am Hindukusch gehörten damals auch Usama bin Ladin sowie weitere Jihadisten; aus ihren Netzwerken und Strukturen im Afghanistan-Krieg entstand Al Qaida. In die systematische Kriegsunterstützung für die Mujahedin ist auch die Bundesrepublik involviert gewesen. "Nahe Peschawar bildeten GSG9-Beamte Gotteskrieger ... aus", heißt es etwa in einem Standardwerk über den Bundesnachrichtendienst (BND) und seine Geschichte: "Arabische Freiwillige erhielten auch Training und Unterweisung im pakistanischen Chaman und sogar in Oberbayern." "In Afghanistan selbst waren ein Sanitätsoffizier und ein Major des Amtes für Nachrichtenwesen der Bundeswehr unterwegs, um Mudschaheddingruppen zu unterstützen", heißt es in dem erwähnten Standardwerk weiter zur Bonner Beteiligung am damaligen Afghanistan-Krieg.[3] Diese schloss, wie man inzwischen weiß, auch bewaffnete Kampfhandlungen ein.[4] Wer sich an einem Krieg beteiligt, weiß, dass bislang noch jeder umfangreiche Waffengang Menschen zur Flucht veranlasst hat. Furchtbare Zustände Allein in den 1980er Jahren sind laut Schätzungen des UNHCR mehr als sechs Millionen Afghanen aus ihrem Land geflohen [5] - auf die Flucht getrieben von einem Krieg, den der Westen mit provoziert und sich dann tatkräftig durch die Unterstützung einer Kriegspartei an ihm beteiligt hat. Involviert war auch die Bundesrepublik. Dass geostrategische Motive - und nicht eine angebliche Sorge um die afghanische Bevölkerung - die Ursache für die fluchtauslösende Kriegsbeteiligung der 1980er Jahre waren, zeigt sich daran, dass der Westen in den 1990er Jahren jedes Interesse an Afghanistan verlor, während seine vormaligen Verbündeten, die Mujahedin, in dem politisch, ökonomisch und sozial ruinierten Land den Krieg weiterführten. Bezüglich der Zustände, die die westliche Einmischung im Afghanistan der 1980er Jahre mit hervorgebracht hat, spricht es Bände, dass in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre signifikante Teile der afghanischen Bevölkerung die sukzessive Übernahme der Macht durch die Taliban begrüßten, weil diese wenigstens eine gewisse Stabilität im Land erzwangen. Vor diesen Zuständen, für die der Westen eine Mitverantwortung trägt, flohen in den 1990er Jahren erneut mehr als sechs Millionen Afghanen.[6] Schlimmer denn je Afghanistan hat sich nie wieder von den Zerstörungen erholt, die in den 1980er Jahren in Gang gesetzt wurden. Die in der westlichen Öffentlichkeit zu PR-Zwecken genährte - ohnehin nie glaubhafte - Illusion, der Krieg des Jahres 2001 und das anschließende Besatzungsregime sollten und würden die Verhältnisse am Hindukusch bessern, zerschellt inzwischen endgültig an der Realität: "Im Jahr des deutschen Truppenrückzugs ist die aktuelle Zahl der aus Afghanistan nach Deutschland Geflüchteten ein Indiz für die erschreckende Tatsache, dass Terror und Gewalt im Land schlimmer wüten denn je", konstatiert "Pro Asyl".[7] Wie die Flüchtlingsorganisation berichtet, befanden sich Ende vergangenen Jahres 15.950 Afghaninnen und Afghanen in der Bundesrepublik im Asylverfahren. 3.982 afghanischen Flüchtlingen war das Asyl verweigert worden; sie besaßen deshalb in dem Staat, der sich seit den 1980er Jahren an der Zerstörung ihres Heimatlandes beteiligt hatte, nur den prekären Aufenthaltsstatus der "Duldung", mussten daher in Flüchtlingslagern leben und durften nicht arbeiten. Auch in diesen Tagen kommen Flüchtlinge aus Afghanistan in Deutschland an, weil die Gewalt und die desolaten Verhältnisse dort ihren Verbleib unmöglich machen. Ihnen wäre dieses Schicksal vielleicht erspart geblieben, hätten die westlichen Staaten, darunter die Bundesrepublik, in den Jahren ab 1979 darauf verzichtet, zur Erlangung geostrategischer Vorteile den Ruin eines ganzen Landes in Kauf zu nehmen. Auf die Flucht getrieben (III) 06.08.2015 BERLIN/JUBA (Eigener Bericht) - In drei der fünf Länder mit den höchsten Flüchtlingszahlen weltweit hat die Bundesregierung aktiv zur Entstehung der Fluchtursachen beigetragen. Dies zeigt eine Erhebung des UNHCR. Demnach war Syrien Ende 2014 das Herkunftsland der höchsten Zahl an Flüchtlingen überhaupt, gefolgt von Afghanistan. In Syrien hat der Westen den Bürgerkrieg, vor dem immer mehr Menschen fliehen, seit Mitte 2011 massiv befeuert; in Afghanistan hat er bereits in den 1980er Jahren die Totalzerstörung der gesellschaftlichen Strukturen gefördert, die bis heute zahllose Menschen aus dem Lande treibt. Südsudan, Nummer fünf in der UNHCR-Statistik der wichtigsten Herkunftsländer von Flüchtlingen, ist 2011 auf Druck des Westens zu einem eigenen Staat geworden - aus geostrategischen Motiven, und dies trotz Warnungen von Beobachtern, die Abspaltung werde die Spannungen im Land unweigerlich anheizen und womöglich in einen neuen Bürgerkrieg führen. Dies ist nun tatsächlich geschehen; Millionen sind mittlerweile auf der Flucht. Mit der Regierung in Juba, deren Milizen furchtbare Massaker verüben, wollen Berlin und die EU nun noch enger als zuvor kooperieren - bei der Flüchtlingsabwehr ("Grenzmanagement"). Fluchtursachen geschaffen In drei der fünf Länder mit den höchsten Flüchtlingszahlen weltweit hat die Bundesregierung aktiv zur Entstehung der zentralen Fluchtursachen beigetragen. Wie eine aktuelle Erhebung des UNHCR zeigt, liegt Syrien mit 3,88 Millionen Auslandsflüchtlingen (Stand: Ende 2014) unter den Herkunftsländern auf Platz eins, gefolgt von Afghanistan (2,59 Millionen). In Syrien hat Berlin seit Mitte 2011 den Bürgerkrieg befeuert, der die Menschen aus dem Land treibt [1]; in Afghanistan hat die Bundesrepublik bereits in den 1980er Jahren zur Totalzerstörung der gesellschaftlichen Strukturen beigetragen, die bis heute zur Flucht von Menschen führt [2]. In Somalia, das in der UNHCR-Statistik mit 1,11 Millionen Flüchtlingen auf Platz drei liegt, hat Berlin im Jahr 2007 eine äthiopische Militärinvasion politisch unterstützt, die die damals mögliche Stabilisierung des Landes - allerdings unter einer dem Westen missliebigen Regierung - verhinderte; ohne die Invasion stünde Somalia heute mutmaßlich besser da (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Auf Platz fünf findet sich der Südsudan - mit mehr als 616.000 Flüchtlingen. Dort fliehen die Menschen vor einem Ende 2013 entbrannten und mit exzessiver Brutalität geführten Bürgerkrieg. Berlin hat über Jahre hin aktiv dazu beigetragen, die Bedingungen für den Beginn des Bürgerkriegs zu schaffen - mit seiner Unterstützung für die Abspaltung des Landes von Sudan. Geostrategische Motive Ausschlaggebend für die systematische deutsche Unterstützung der Abspaltung des Südsudan sind geostrategische Motive gewesen. Hatte Bonn den Sudan in der Zeit der Systemkonfrontation sogar noch mit Rüstungslieferungen bedacht [4], so gingen die westlichen Hauptmächte in den 1990er Jahren dazu über, das Land in dem damals heraufziehenden Konflikt mit Teilen der arabisch-islamischen Welt als Gegner einzustufen. Der damalige Sezessionskrieg im Süden des Sudan bot die strategisch günstige Chance, das arabisch-islamisch dominierte Khartum durch die Abspaltung des Südens zu schwächen. Das Vorhaben erschien nicht nur deshalb als erstrebenswert, weil Khartum damit ein großer Teil seines Landes und seiner Bevölkerung genommen werden konnte, sondern auch, weil im Süden rund drei Viertel der gesamtsudanesischen Ölvorräte sowie weitere wertvolle Bodenschätze lagern. Mit Blick auf Letzteres unterstützten die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik nicht nur die Abspaltung des Südsudan, sondern auch seine Einbindung in die East African Community (EAC) [5], die eng mit dem Westen kooperiert. Pläne, die südsudanesischen Bodenschätze über die Häfen des EAC-Mitglieds Kenia auf den Weltmarkt zu bringen und sie so für den Westen zu erschließen, werden inzwischen - wenn auch langsamer als erhofft und mit fraglich werdendem Erfolg, da China immer stärker an Einfluss gewinnt - realisiert (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Staatsaufbau Die Unterstützung der Bundesrepublik für die Abspaltung des Südsudan hat dabei schon recht früh begonnen und dauert bis heute an. So war das Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht bereits seit 1998 mit dem Südsudan befasst; es bildete zunächst Richter und Justizangestellte fort, beriet den Südsudan bei der Gesetzgebung und leitete die Erstellung der südsudanesischen Verfassung. Das Auswärtige Amt stellte Millionen für den Aufbau der Polizei im Sezessionsgebiet zur Verfügung, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ, damals GTZ) half beim Straßenbau nach Uganda und damit beim Anschluss des Gebietes an die EAC. 2007 startete die GIZ in Juba ein auf zehn Jahre geplantes "Programm zur Unterstützung des Staatsaufbaus".[7] Berlin erkannte den Südsudan noch am Tag seiner Proklamation zum Staat (9. Juli 2011) offiziell an. Bis heute erhält Juba umfassende Hilfen aus Berlin. Zuletzt führte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im April 2015 Regierungsverhandlungen mit dem Südsudan durch, um die deutschen Aktivitäten dort abzustimmen. Die GIZ unterstützt inzwischen nicht nur den Aufbau der Polizei, sondern auch eine Initiative mit dem Titel "Fluchtursachen bekämpfen". Erneuter Bürgerkrieg Mit seiner Sezessionsunterstützung hat Berlin - wenn auch ungewollt - dazu beigetragen, die aktuellen Fluchtursachen im Südsudan zu schaffen. Beobachter hatten die westlichen PolitTechnologen ausdrücklich vor der Abspaltung des Gebietes gewarnt; die Maßnahme könne alte Spannungen im Sezessionsgebiet wieder aufleben lassen, hieß es. Innere Machtkämpfe zwischen unterschiedlichen Milizen und Sprachgruppen im Südsudan selbst hatten in der Tat immer wieder zu schrecklichen Massakern geführt; ihnen fielen vor 2011 mehr Menschen zum Opfer als dem langen Krieg gegen Khartum. Und tatsächlich entflammten die inneren Machtkämpfe in Juba zwei Jahre nach Ausrufung der Eigenstaatlichkeit neu und führten Ende 2013 - die Warnungen erwiesen sich als gerechtfertigt - in einen erneuten Bürgerkrieg um die Kontrolle der jetzt der alleinigen Kontrolle Jubas unterstehenden südsudanesischen Ressourcen. Die Hauptkontrahenten in dem neuen Bürgerkrieg hatten sich bereits Anfang der 1990er Jahre mörderische Kämpfe geliefert; damals hatten Milizen unter Führung des Kommandeurs Riek Machar Tausende Angehörige der Sprachgruppe der Dinka ermordet. Seit Ende 2013 stehen sich Machar und die Sprachgruppe der Nuer erneut den Dinka gegenüber, die unter Präsident Salva Kiir derzeit die Regierung in Juba dominieren.[8] Die Zahl der Toten ist unbekannt; Experten sprachen bereits Ende 2014 von 50.000, vielleicht sogar 100.000 Todesopfern. Sämtliche Konfliktparteien werden für barbarische Massaker verantwortlich gemacht. Zuletzt berichteten die Vereinten Nationen, Milizen der Regierung in Juba hätten im Frühjahr zahlreiche Frauen und Mädchen vergewaltigt und sie anschließend bei lebendigem Leib verbrannt.[9] Grenzen dicht Mit der Regierung in Juba, die ihre Macht der westlichen Sezessionsunterstützung verdankt, will die Bundesregierung nun bei der Flüchtlingsabwehr ("Grenzmanagement") enger kooperieren. Hintergrund ist, dass inzwischen weit mehr als 1,5 Millionen Menschen innerhalb des Südsudan fliehen mussten; mehr als 600.000 haben sogar außerhalb des Landes Schutz gesucht. Zwar lebt derzeit die überwiegende Mehrheit von ihnen in Südsudans Nachbarländern Äthiopien, Uganda, Sudan und Kenia; nur sehr wenige ersuchen in Deutschland und in der EU um Asyl. Dennoch hat Brüssel Südsudan in seinen "KhartumProzess" einbezogen. Dieser ist am 28. November 2014 offiziell gestartet worden - offiziellen Angaben zufolge "mitinitiiert und maßgeblich mitgestaltet" durch Berlin [10] -, um die Flucht von Menschen aus Afrika in die EU zu beenden. Beteiligt sind außer den EU-Mitgliedstaaten sieben Länder Ostafrikas (Kenia, Äthiopien, Eritrea, Dschibuti, Somalia, Sudan, Südsudan) sowie drei Transitländer Nordafrikas (Libyen, Ägypten, Tunesien). Scharf kritisiert wird vor allem die Kooperation mit repressiven Staaten wie Eritrea, Äthiopien und Sudan, deren Repressionsapparate durch die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingsabwehr nun noch weiter gestärkt werden.[11] Dasselbe gilt für Südsudan, das Fluchtland Nummer fünf in der UNHCR-Statistik, das die Menschen, die vor seinem Bürgerkrieg fliehen, durch erfolgreiches "Grenzmanagement" von der Flucht ins Ausland abhalten soll - mit deutscheuropäischer Hilfe. Mehr zum Thema: Auf die Flucht getrieben (I) und Auf die Flucht getrieben (II). [1] S. dazu Auf die Flucht getrieben (I). [2] S. dazu Auf die Flucht getrieben (II). [3] S. dazu Interessen der Supermächte, Angemessene Beharrlichkeit und Ordnungsmächte. [4] S. dazu Englisch statt Arabisch. [5] Der East African Community gehören Burundi, Kenia, Ruanda, Tansania und Uganda an. Der Beitritt des Südsudan ist geplant. [6] S. dazu Am Rande des Krieges. [7] S. dazu Vom Nutzen der Sezession. [8] S. dazu Das Wirken der Geostrategen und Die Folgen westlicher Sezessionspolitik. [9] Thomas Scheen: UN-Bericht: Mädchen bei lebendigem Leib verbrannt. www.faz.net 30.06.2015. [10] Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Luise Amtsberg, Omid Nouripour, Tom Koenigs und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/4609 vom 15.04.2015. [11] Nikolaus Steiner, Charlotte Wiedl: Grenzen dicht: Europas Pakt mit Despoten. Monitor (WDR) vom 23.07.2015. Auf die Flucht getrieben (IV) 13.08.2015 BERLIN/PRIŠTINA (Eigener Bericht) - Deutschland trägt maßgebliche Mitverantwortung für die Ursachen der Flucht zehntausender Menschen aus dem Kosovo. Dies belegt eine Analyse der Entwicklung in dem Sezessionsgebiet seit dem NATO-Überfall im Jahr 1999, dessen Vorbereitung unter führender Mitwirkung der Bundesrepublik geschah. Auch die anschließende Besatzung des Kosovo haben deutsche Politiker in leitenden Positionen mitgestaltet. Dabei haben sie geholfen, Kommandeure und Kämpfer der Mafiamiliz UÇK in Priština an die Macht zu bringen, unter deren Herrschaft sich international scharf kritisierte soziale Verhältnisse herausgebildet haben. In einem Bericht des Europäischen Rechnungshofs hieß es etwa im Jahr 2012, die Organisierte Kriminalität bestehe im Kosovo auf "hohem Niveau" fort; im Europarat wurden sogar höchstrangige Politiker, darunter ein langjähriger Ministerpräsident, der Mafia zugerechnet. Die Armut grassiert; rund ein Sechstel aller Kinder leidet wegen Mangelernährung an Wachstumsstörungen - nach ungefähr 16 Jahren von NATO und EU geführter Besatzung, die maßgeblich von Berlin mitgestaltet wurde. Ohne Rücktransfers von Exil-Kosovaren könnten zahlreiche kosovarische Familien wohl nicht überleben. Allein im ersten Halbjahr 2015 haben mehr als 28.600 Kosovaren keine andere Chance gesehen, als in Deutschland Asyl zu beantragen - faktisch ohne Aussicht aus Erfolg. Berlin bemüht sich nun um Wege zu ihrer schnelleren Abschiebung. Geostrategisch motiviert Das Kosovo, aus dem die Menschen zuletzt in Scharen geflohen sind, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik gewesen. Dabei zielte die Bundesrepublik zunächst vor allem darauf ab, das Gebiet aus Jugoslawien bzw. Serbien zu lösen und es zu einem eigenen Staat zu machen. Dies schien geeignet, Belgrad - einen traditionellen Opponenten der deutschen Südosteuropa-Politik - dauerhaft empfindlich zu schwächen und zugleich mit einem kosovarischen Staat einen neuen loyalen Verbündeten in der südosteuropäischen Peripherie zu schaffen. Schon um das Jahr 1992 begann deshalb der Bundesnachrichtendienst (BND), wie der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom berichtet [1], "erste Kontakte" zur "militanten Opposition" der Kosovaren aufzubauen. Bald entstanden enge Beziehungen inklusive Aufrüstung und Training der 1996 gegründeten Mafiaorganisation UÇK. Die UÇK diente dann, nachdem sie maßgeblich dazu beigetragen hatte, die südserbische Provinz 1998 durch bewaffneten Terror zu destabilisieren, als Bodentruppe der NATO nach deren Überfall auf Jugoslawien am 24. März 1999. Unter deutscher Obhut Dies ist vor allem deshalb von erheblicher Bedeutung, weil die UÇK entsprechend ihrer zentralen Rolle im Krieg gegen Jugoslawien nun auch in der anschließenden Zeit der Besatzung wichtige Funktionen im Kosovo für sich einforderte - und sie von den Besatzungsmächten auch bekam. Unter diesen hat die Bundesrepublik eine exklusive Position innegehabt. Sie entsandte nicht nur sieben der bislang 20 Kommandeure der NATOBesatzungstruppe KFOR und damit mehr als jedes andere Land. Dem Berliner PolitEstablishment entstammten darüber hinaus mit Michael Steiner (2002 bis 2003) und Joachim Rücker (2006 bis 2008) zwei Leiter der UN-Verwaltung UNMIK, die jeweils wichtige Weichen für die Sezession des Kosovo stellten.[2] Unter ihrer Oberaufsicht amtierten ehemalige UÇK-Kämpfer (Bajram Rexhepi, 2002 bis 2004) und UÇK-Kommandeure (Agim Çeku, 2006 bis 2008; Hashim Thaçi, ab 2008) als Ministerpräsidenten des Kosovo. Steiner unterstützte zudem Thaçi, Rücker den berüchtigten Ex-UÇK-Kommandeur Ramush Haradinaj bei ihrem Kampf gegen justizielle Ahndung ihrer Taten (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bereits vor Jahren rückblickend resümierte, erlangten die "mit organisierter Kriminalität aufs Engste verflochtenen politischen Extremisten und gewalterprobten Untergrundkämpfer" der UÇK unter der UNMIK "als gewählte Volksvertreter oder neu gekürte Beamte ... unter internationaler Obhut politische Respektabilität".[4] Berufswunsch "Mafiaboss" Die Machenschaften der ehemaligen UÇK-Anführer, die das Kosovo ab 1999 maßgeblich prägten, haben immer wieder für internationales Aufsehen gesorgt. Über Hashim Thaçi etwa, der noch bis 2014 als Ministerpräsident in Priština amtierte, urteilten der BND und das Berliner "Institut für Europäische Politik" (IEP) bereits vor Jahren, er sei nicht nur Auftraggeber eines "Profikillers" gewesen, sondern verfüge auch "auf internationaler Ebene über weiter reichende kriminelle Netzwerke".[5] Thaçi ist zudem vom ehemaligen Sonderberichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Dick Marty, beschuldigt worden, nicht nur jahrelang an führender Stelle in den Schmuggel von Waffen und Rauschgift involviert gewesen zu sein, sondern sich außerdem am Handel mit menschlichen Organen beteiligt zu haben.[6] Über die Organisierte Kriminalität im Kosovo erklärte das Institut für Europäische Politik Anfang 2007: "Aus früheren UCK-Strukturen ... haben sich unter den Augen der Internationalen Gemeinschaft mittlerweile mehrere MultiMillionen-Organisationen entwickelt", die großen Einfluss besäßen; "Mafiaboss" stelle mittlerweile "den meistgenannten Berufswunsch von Kindern und Jugendlichen dar".[7] Rechtsfreie Räume Über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich unter der Herrschaft ehemaliger UÇKStrukturen und der Oberaufsicht auch deutscher UNMIK-Verwalter herausbildeten, äußerte sich das Institut für Europäische Politik bereits 2007 am Beispiel der im Kosovo nach wie vor üblichen Streitbeilegung per Gewohnheitsrecht. Letzteres schreibe "nicht nur die Vorherrschaft des Mannes fest", berichtete das Institut; es baue "darüber hinaus auf einem gewaltlegitimierenden Ehrkonzept auf", das nicht zuletzt die traditionelle "Blutrache" "in den Mittelpunkt eines pseudojuristischen Ordnungssystems stellt".[8] Deutliche Worte fand 2012 sogar der Europäische Rechnungshof. Es gebe trotz mehr als zehn Jahre währender Besatzungstätigkeit allenfalls "geringe Fortschritte im Kampf gegen das organisierte Verbrechen"; vielmehr bestehe die Organisierte Kriminalität auf "hohem Niveau" fort, hieß es damals in einem Bericht der Institution. Die Untersuchung selbst schwerster Verbrechen bleibe "immer noch unwirksam". Die OSZE habe sich ausdrücklich bestätigen lassen, dass zahlreiche Richter nicht bereit seien, "ihre Urteile auf der alleinigen Grundlage des Rechts" zu sprechen, sondern "dazu tendierten, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber äußeren Einflüssen zu handeln".[9] Noch Anfang dieses Jahres urteilte die SWP, es gebe im Kosovo "ausgedehnte rechtsfreie Räume" - aufgrund einer "symbiotischen Beziehung zwischen weiten Teilen von Verwaltung und Politik mit der organisierten Kriminalität".[10] Mangelernährung Auch ökonomisch ist die Lage des Kosovo, das sich am 17. Februar 2008 nach intensiver deutscher Vorarbeit und unter Bruch des internationalen Rechts zum Staat erklärte, nach wie vor desolat. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beläuft sich auf 2.935 Euro im Jahr (EU: 25.700 Euro). Die Arbeitslosigkeit wird mit 40 bis 45 Prozent beziffert; die Jugendarbeitslosigkeit beträgt real bis zu 70 Prozent. Die Wirtschaft liegt - wie zu Beginn der Besatzungszeit 1999 - weitestgehend am Boden; die Investitionen aus dem Ausland gingen von rund 220 Millionen Euro in den ersten neun Monaten 2013 auf knapp 122 Millionen Euro im selben Zeitraum 2014 zurück. Das Kosovo musste 2014 Waren im Wert von rund 2,5 Milliarden Euro importieren, um über die Runden zu kommen; dem standen Exporte in Höhe von nur 325 Millionen Euro gegenüber. "Eine wichtige Triebkraft für den privaten Konsum stellen weiterhin die Überweisungen von im Ausland lebenden und arbeitenden Landsleuten an ihre Familien in der Heimat dar", berichtet die Außenwirtschaftsagentur Germany Trade and Invest (GTAI).[11] Ohne die Rücktransfers von Exil-Kosovaren könnte das Land, in dem 16 Prozent aller Kinder wegen Mangelernährung unter Wachstumsstörungen und 23 Prozent aller Schwangeren unter Anämie leiden [12], wohl nicht überleben. "Drastisch reduzieren" 16 Jahre nach dem NATO-Krieg, der mit der Behauptung begründet wurde, man müsse das Kosovo befreien und seiner Bevölkerung zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen, fliehen nun Zehntausende - und stellen damit den westlichen Staaten, die Verantwortung für den Krieg und die anschließende Besatzung tragen, ein verheerendes Zeugnis aus. Führend bei der Vorbereitung des Krieges und bei der Besatzung ist Deutschland gewesen. In Reaktion auf die steigende Zahl der Flüchtlinge bereitet Berlin nun die Einstufung des Kosovo als "sicheres Herkunftsland" vor, um die Menschen, die vor den auch von der Bundesrepublik zu verantwortenden Verhältnissen fliehen, umgehend abschieben zu können. Dass Flüchtlinge aus Südosteuropa sich nicht anders zu helfen wissen, als in der reichen Bundesrepublik Asylanträge zu stellen, sei "inakzeptabel und für Europa eine Schande", erklärt Bundesinnenminister Thomas de Maizière: "Das Wichtigste ist, deren Anzahl" - gemeint sind die Flüchtlinge - "drastisch zu reduzieren".[13] Mehr zum Thema: Auf die Flucht getrieben (I), Auf die Flucht getrieben (II) und Auf die Flucht getrieben (III). [1] Erich Schmidt-Eenboom: Kosovo-Krieg und Interesse. www.geheimdienste.info. S. dazu Vom Westen befreit (IV). [2] S. dazu Berliner Beute, Dayton II und Politische Freundschaften. [3] S. dazu Politische Freundschaften und Heldenfigur. [4] Die Balkan-Mafia. Diskussionspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik 09.12.2007. S. dazu Aufs Engste verflochten. [5] S. dazu "Danke, Deutschland!". [6] S. dazu Teil des Westens geworden. [7], [8] Operationalisierung von Security Sector Reform (SSR) auf dem Westlichen Balkan. Institut für Europäische Politik 09.01.2007. S. dazu Aufs Engste verflochten. [9] S. dazu Die Logik des Krieges. [10] Dušan Reljić: Kosovo braucht einen Beschäftigungspakt mit der EU. www.swpberlin.org 12.02.2015. S. dazu Vom Westen befreit (IV). [11] Kosovo rechnet für 2015 mit Konjunkturschub. www.gtai.de 05.02.2015. [12] Dušan Reljić: Kosovo braucht einen Beschäftigungspakt mit der EU. www.swpberlin.org 12.02.2015. S. dazu Vom Westen befreit (IV). [13] "Als reiches Land sind wir überhaupt nicht überfordert." Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.07.2015.
© Copyright 2024 ExpyDoc