Editorial Verhaltenstherapie 2016;26:6–7 DOI: 10.1159/000443975 Published online: February 16, 2016 Die dunkle Seite der Intervention – was hat Placebo mit Psychotherapie zu tun? Winfried Rief a Jens Gaab b a Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Psychologie, Marburg, Deutschland; Psychologie und Psychotherapie, Fakultät für Psychologie, Universität Basel, Basel, Schweiz b Klinische © 2016 S. Karger GmbH, Freiburg 1016–6262/16/0261–0006$39.50/0 Fax +49 761 4 52 07 14 [email protected] www.karger.com Accessible online at: www.karger.com/ver Psychotherapie einen positiven Einfluss auf die Arbeitsplatzsuche bei Langzeitarbeitslosen hat [Proudfoot et al., 1997]. Dieser positive Eindruck wird aber realistischer – und wahrscheinlich auch weniger enthusiastisch –, wenn man die Überschätzung der Psychotherapieeffekte in der Forschung [Cuijpers et al., 2010], den bedeutsamen Effekt der Nicht-Verblindung auf das Ergebnis in Psychotherapiestudien [Khan et al., 2012], die kleinen Wirkungsunterschiede zwischen Psychotherapie und Placebopillen in der Behandlung von depressiven Störungen [Cuijpers et al., 2013] und die neueren Befunde einer substantiellen Reduktion der Effektstärken der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) bei depressiven Störungen im Verlauf der letzten 30 Jahre betrachtet [Johnsen und Friborg, 2015]. All diese Befunde deuten auf das Verhältnis zwischen Placebo und Psychotherapie hin – als Beispiel werden die zunehmende Wahrnehmung der möglichen nichtspezifischen Wirkungen der Psychotherapie und die Abnahme der anfangs großen Hoffnungen seit Einführung der KVT als Begründungen für die Halbierung der Effektstärken seit den späten 1970er Jahren herangezogen [Johnsen und Friborg, 2015, S. 16]. Auch wenn die Zunahme der Placeboeffekte nicht nur auf die Psychotherapieforschung beschränkt ist und entsprechende Befunde auch bei Placebo-kontrollierten Untersuchungen von Schmerzmitteln [Tuttle et al., 2015], Antipsychotika [Leucht et al., 2009] und Antidepressiva [Papakostas und Fava, 2009; Rief et al., 2009] vorliegen, verdeutlichen diese Ergebnisse die Notwendigkeit, sich mit dem Verhältnis zwischen Placebo und Psychotherapie auseinanderzusetzen. Wir sind daher sehr stolz darauf, dass einer der Ersten, die auf die wichtige Rolle der allgemeinen Wirkfaktoren hingewiesen hat, einen Beitrag zu diesem Sonderheft leistet [Lambert und Kleinstäuber, 2016]. Das Placebo kann natürlich als psychologische Intervention verstanden werden, aber wie verhält es sich mit dem Umkehrschluss? Während einerseits die Gleichsetzung von Psychotherapie und Placebo als Unsinn verworfen werden kann, da Placebos für Prof. Dr. Jens Gaab Klinische Psychologie und Psychotherapie Fakultät für Psychologie, Universität Basel Missionsstrasse 62, 4055 Basel, Schweiz [email protected] Downloaded by: 78.47.19.138 - 4/22/2016 9:36:00 PM Das Erwachsenwerden hat seine Vorteile, aber es führt auch zu Herausforderungen und Verpflichtungen. Ist die Psychotherapie, als immer noch junge akademische Disziplin, nun schon erwachsen? Falls ja, muss sie sich den daraus entstehenden Herausforderungen und Kritiken stellen und das optimistische Selbstverständnis, welches viele Publikationen und Haltungen charakterisiert, sollte den Erkenntnissen, die aus der Betrachtung der dunklen oder zumindest schwach beleuchteten Seiten der Psychotherapie erwachsen, angepasst werden. Was aber sind die unangenehmen, wenn nicht sogar dunklen Seiten der Intervention, die oft vergessen oder nicht angemessen berücksichtigt werden? Die Verhaltenstherapie hat mit der Betrachtung der negativen Wirkungen von Psychotherapie [Ladwig et al., 2014] schon einen ersten Schritt in diese Richtung gemacht, dem in dieser Ausgabe weitere folgen. Ist Psychotherapie nur ein unspezifisches Placebo oder nur eine Sammlung von allgemeinen Wirkfaktoren? Wie sehr beeinflussen Psychotherapieforscher die meist positiven Ergebnisse ihrer Studien [Gerger und Gaab, 2016]? Und was bleibt von der Wirkung anderer Interventionen übrig, wenn man diese aus einer kritischen Perspektive betrachtet [Kirsch, 2016]? Doch zuerst die gute Nachricht: Die Psychotherapie ist am Leben – und wie! Nicht nur hält sie dem Vergleich mit ihren größten Konkurrenten auf dem Behandlungsmarkt stand [z.B. Cuijpers et al., 2013; 2014a,b] und wird damit zu Recht als integraler Bestandteil in der Behandlung einer Vielzahl an psychischen Störungen angesehen [z.B. NICE, 2016], sondern schlägt sich auch gut in bislang unbetretenen Gefilden – sei es in der Anwendung durch Laien-Therapeuten in Niedriglohnländern [Patel et al., 2010], in der zusätzlich zur pharmakologischen Medikation additiven Wirkung von Psychotherapie in der Behandlung von psychotischen Patienten (wobei interessant ist, dass der additive Effekt pharmakologischer Medikation bei psychotherapeutischer Behandlung bislang nicht nachgewiesen ist) [Lincoln et al., 2012; Moritz et al., 2014] oder dem – zugegebenen schon etwas älteren – Befund, dass «Mogel, Täuschung, Leere und Unaufrichtigkeit stehen, wohingegen die Psychotherapie keines davon ist» [Kirsch, 2005], gibt es auch einige Stimmen, die manche Psychotherapien mit Placebos gleichsetzen [z.B. Eysenck, 1994; McNally, 1999; Jopling, 2001, zur Übersicht: Gaab et al., 2015]. Es kann natürlich argumentiert werden, dass keine dieser Positionen hilfreich oder angemessen ist, aber gleiches wäre über eine Vernachlässigung der Beziehung zwischen Placebo und Psychotherapie zu sagen. Entsprechend ist es sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Chance, die Unterschiede und Ähnlichkeiten dieser beiden psychologischen Interventionen genauer zu analysieren, und somit das Verständnis von Placebo einerseits und Psychotherapie andererseits zu vertiefen. Aus dieser Warte sind die oft erstaunlichen Ergebnisse der Placeboforschung, wie z.B. die klinisch bedeutsamen Effekte von Erwartungen, behandlungsbezogenen Vorerfahrungen sowie bewussten als auch unbewussten interpersonalen Behandlungsmerkmalen nicht nur von großer Relevanz für medizinische [Enck et al., 2013], sondern auch für psychotherapeutische Interventionen. Warum sollte man diese effektiven Wirkmechanismen nicht in der Behandlung zugunsten der Patienten einsetzen? Dies würde dann auch bedeuten, dass man diese – bis anhin – unspezifischen und allgemeinen Wirkfaktoren zu spezifischen Bestandteilen der Psychotherapie macht! Einen solchen Ansatz verfolgen Rief und Glombiewski [2016] in diesem Heft. Neben diesen eher wirkungsbezogenen Aspekten hat Placebo auch Einfluss auf die Behandlungsethik und die moralische Verpflichtung zur angemessenen Information und Aufklärung von Patienten, was wiederum auch Auswirkungen auf die Psychotherapie hat. Hat eine informierte Einwilligung möglichweise auch negative Effekte? Falls ja: wie können diese verhindert werden [Bingel for the Placebo Competence Team, 2014]? Und was bedeutet dies für die psychotherapeutische Praxis [Blease et al., 2016]? Die Placeboforschung verdeutlicht auch, dass eine vereinfachende Trennung zwischen spezifischen und unspezifischen Behandlungskomponenten zugunsten einer feingliedrigen Interaktion zwischen diesen aufgegeben werden sollte. Spezifische Behandlungsaspekte in der medizinischen wie auch der psychotherapeutischen Behandlung benötigen die Unterstützung durch unspezifische Behandlungsaspekte, um gemeinsame die volle Wirkung entfalten zu können. Je mehr wir also diese unspezifischen Wirkfaktoren kennen, desto mehr können wir diese auch gezielt nutzen [Locher et al., 2016]. Die gute Nachricht zum Schluss: Die Psychotherapie ist am Leben – und hält nicht nur dem Vergleich mit Placebo stand, sondern kann auch von diesem profitieren. Literatur The dunkle Seite der Intervention Johnsen TJ, Friborg O: The effects of cognitive behavioral therapy as an anti-depressive treatment is falling: a meta-analysis. Psychol Bull 2015; 141: 747–768. Jopling DA: Placebo insight: the rationality of insight-oriented psychotherapy. J Clin Psychol 2001; 57: 19–36. Kirsch I: Placebo psychotherapy: synonym or oxymoron? J Clin Psychol 2005; 61: 791–803. Kirsch I: Der Placeboeffekt in der antidepressiven Behandlung. 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