15 Kinder und Jugendliche als Täter und Opfer

263
14.7 Zusammenfassung
15
Kinder und Jugendliche als Täter und Opfer
Inge Seiffge-Krenke und Franz Petermann
Inhalt
15.1
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
15.2
Täter-Opfer-Beziehungen bei Missbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.2.1 Die Täter: Wer begeht sexuellen Missbrauch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.2.2 Die Opfer und die Gefahr der sexuellen Reviktimisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.2.3 Was ist typisch für männliche Jugendliche, die sexuelle Gewalt ausüben? . . .
15.2.4 Junge Mädchen und junge Frauen als Täterinnen: eine übersehene,
aber wichtige Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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15.3
Vom Opfer zum Täter? Modelle und Mechanismen der Transition. . . . . . . . . . . . . . . . . 269
15.3.1 Analyse der biografischen Risikofaktoren für Täter und Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
15.3.2 Mechanismen der Transition vom Opfer zum Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
15.4
Sexueller Missbrauch unter Geschwistern und jungen Paaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.4.1 Sexuelles Verhalten von Kindern: Normale Entwicklung oder Indikator
für einen Missbrauch?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.4.2 Häufigkeit und Kennzeichen sexueller Übergriffe durch Geschwister . . . . . . . . . .
15.4.3 Zur Frage der möglichen Traumatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.4.4 Familiäre Hintergründe für sexuelle Übergriffe unter Geschwistern . . . . . . . . . . . .
15.4.5 Täter-Opfer-Beziehungen: Bindung und Geschwisterinzest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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15.5
Sexuelle Gewalt unter Gleichaltrigen: Opfererfahrungen unter
Jugendlichen und jungen Erwachsenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
15.5.1 Häufigkeit von sexueller Aggression in Partnerbeziehungen von
Jugendlichen und jungen Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
15.6
Täter-Opfer-Beziehungen bei Misshandlung und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.6.1 Gewalt unter Schülern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.6.2 Stabilität von Opfer- und Täterrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.6.3 Motive des Täters: Dominanz und Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.6.4 Jeder kann Opfer werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.6.5 Was Täter beim Bullying so erfolgreich macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.7
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
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15.1
15 Kinder und Jugendliche als Täter und Opfer
Einleitung
Die polizeiliche Kriminalstatistik weist für
Deutschland 2012 (BMI 2013) rund 28 % aller Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung bei Kindern und Jugendlichen aus,
d. h. sie machen über ein Viertel aller Sexualdelikte aus. In einer Zusammenschau von
Pillhofer et al. (2011) auf der Basis der amtlichen polizeilichen Kriminalstatistik wurde deutlich, dass die Opfergefährdung im
Zeitraum von 1994 bis 2009 leicht variierte,
jedoch nicht zunahm. Für Kinder bis zum
14. Lebensjahr beträgt die durchschnittliche Gefährdung 9,8 Fälle pro 100 000; für
Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren liegt
die durchschnittliche Gefährdung bei 18,6
Fällen pro 100 000. In einer repräsentativen
Befragung in Deutschland (Häuser et al.
2011), in der Erwachsene retrospektiv über
ihre Kindheit und Jugendzeit Auskunft geben sollten, ob sie einen Missbrauch erfahren haben, zeigte sich, dass 12,9 % der Befragten von einer leichten und 1,9 % von einer schweren sexuellen Misshandlung berichteten. Nach Wetzels (1997a, zitiert nach
Pillhofer et al. 2011) wurden zwei Drittel
der sexuell missbrauchten Kinder vor ihrem
14. Lebensjahr mit einem solchen Erlebnis
konfrontiert. Kinder und Jugendliche sind
überwiegend Opfer von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung. Dennoch
darf man nicht übersehen, dass Kinder und
Jugendliche selbst auch Gewalt und Missbrauch ausüben können. Die Zahlen hierfür
sind schwer zu ermitteln, weil nur Fälle
über 14 Jahre strafrechtlich verfolgt werden
und zur Anzeige gebrachte Taten von jüngeren Kindern als Bagatellstraftaten – auch
wegen Überlastung – von der Polizei nicht
weiter verfolgt werden. In Bezug auf Kinderdelinquenz ermittelten Wetzels und
Pfeiffer (1997a) leichte Anstiege auf 0,045.
In den letzten Jahren gibt es verstärkt
Forschung zu Gewalt, auch zu sexualisierter
Gewalt unter Schülern, welche die Frage der
Abgrenzung von normalen Entwicklungserfahrungen gegenüber traumatischen Erfahrungen aufwerfen. Dies ist auch aus der
Sicht der veränderten Gesetzgebung relevant, denn auff älligerweise wurden schulische Gewalt und körperliche Erziehungsmaßnahmen in der Schule bereits 1973 unter Strafe gestellt, während häusliche Gewalt erst 2000 gesetzlich als Straftatbestand
verankert wurde. Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Missbrauch und Gewalt ist in der Öffentlichkeit, aber auch in
der Forschung, eine starke emotionale Beteiligung spürbar, die immer dann besonders deutlich wird, wenn in Institutionen,
die zum Schutz von Kindern und Jugendlichen da sind (Familie, Schule, Kirche, Heime), Gewalt und Missbrauch von Kindern
entdeckt werden (Kinzinger 2012).
Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt
auf Kindern und Jugendlichen als Täter und
Opfer in den Bereichen Gewalt und Missbrauch. Dies umfasst Studien zu Geschwisterinzest, zu sexuellen Übergriffen unter
Gleichaltrigen und geht auf neuere Entwicklungen in Schulen ein („Bullying“,
„Mobbing“), wo das sadistische Quälen von
Mitschülern deutlich zugenommen hat. Die
Frage, inwieweit Kinder und Jugendliche
eine Chance haben, sich trotz dieser beeinträchtigenden Erfahrungen weiterzuentwickeln und nicht wiederum zum Täter zu
werden, ist ebenfalls Gegenstand dieses Kapitels.
Die Folgen von Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung sind eher unspezifisch und können zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder Anpassungsstörungen führen. Je früher die Gewalt erfahren wird, desto höher ist das Risi-
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15.2 Täter-Opfer-Beziehungen bei Missbrauch
265
ko für eine Reviktimisierung (Jaffee u. Maikovich-Fong 2011).
von Kindern und Jugendlichen als Opfer
bzw. Täter betrachten.
15.2 Täter-Opfer-Beziehungen
bei Missbrauch
15.2.1 Die Täter: Wer begeht sexuellen Missbrauch?
Die Untersuchungen zum sexuellen Missbrauch zeigen übereinstimmend, dass sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen
überwiegend im familiären Umfeld stattfindet. Dabei sind Mädchen in weitaus größerer Zahl Opfer und die Täter dagegen in
großer Überzahl männlich. Sexueller Missbrauch ist in allen gesellschaft lichen Schichten zu finden. Die Täter und Täterinnen
missbrauchen das Vertrauen der Opfer und
nutzen dabei die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Erwachsenen
und Kindern aus. Sie erreichen dies, indem
sie emotionalen Druck ausüben, die Loyalität eines Kindes ausnutzen, durch Bestechung mit Geschenken, Versprechungen,
Erpressungen – oder aber auch mit dem
Einsatz körperlicher Gewalt. Viele der erwachsenen Täter und Täterinnen verpflichten oder erpressen die Kinder zum Schweigen über den Missbrauch.
Merke
Im Unterschied zu körperlicher oder seelischer
Gewalt gegen Kinder, die häufig aus Hilflosigkeit und Überforderung ausgeübt wird, ist die
sexuelle Gewalt an Kindern in der Regel ein
planvolles, oft über Jahre andauerndes Verhalten, das sich in seiner Intensität allmählich steigert. Während Kindesmisshandlung von Männern und Frauen verübt wird, geht die sexuelle
Gewalt überwiegend von Männern bzw. männlichen Jugendlichen aus.
Wir werden zunächst auf allgemeine Merkmale von Tätern und Opfern eingehen und
anschließend spezifische Konstellationen
Legt man die amtlichen Verurteilungsstatistiken zugrunde, liegt der Anteil männlicher Täter bei etwa 98 %. Viele sexuelle
Missbrauchsdelikte passieren innerhalb
von Familien (bis zu einem Fünftel der Fälle
bei weiblichen Opfern; Fegert 2004). Wie
Wetzels und Pfeiffer (1997b) berichten,
wurden die Taten überwiegend von Bekannten verübt (42 %), gefolgt von Familienangehörigen (27 %) und unbekannten Tätern (26 %). Sexueller Missbrauch durch Väter oder Stiefväter wurde von 1,3 % der
Frauen und 0,3 % der Männer berichtet.
Angezeigt wurden nur etwa 9,5 % der berichteten Handlungen, 2 % der innerfamiliären und 14,1 % der außerfamiliären Delikte. Dies entspricht einem Verhältnis von 1:9
angezeigte auf nicht angezeigte Fälle im außerfamiliären Bereich und einem Verhältnis von 1:50 im innerfamiliären Deliktbereich (Wetzels 1997a). Allerdings ist davon
auszugehen, dass diese gemeldeten Delikte
die Statistiken hinsichtlich der Täter-OpferBeziehungen verzerren, da fremde Täter bei
den angezeigten Straftaten überrepräsentiert sind (Müller et al. 2001).
Unabhängig von der Definition und der
Erhebungsmethode ist epidemiologisch jedoch gerade beim innerfamiliären Missbrauch von einer sehr hohen Dunkelziffer
auszugehen, sodass letzten Endes keine genauen Angaben über das Vorkommen von
sexuellem Missbrauch gemacht werden
können. Die Täter sind meist männlich
(Murray 2000), während Frauen nur in wenigen Fällen Täter sind (z. B. Christiansen
u. Thyer 2003).
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15 Kinder und Jugendliche als Täter und Opfer
15.2.2 Die Opfer und die Gefahr der
sexuellen Reviktimisierung
Insgesamt werden vorrangig Mädchen Opfer sexuellen Missbrauchs; die Statistiken
nennen Zahlen zwischen 70 und 80 %. Es
sind alle Altersgruppen betroffen, zumeist
aber jüngere Kinder. Jugendliche machen
etwa 25 % der Opfer aus, wobei hier besonders der Missbrauch durch Gleichaltrige
eine Bedeutung hat („date rape“). Verschiedene Studien haben familiäre Belastungsfaktoren wie Armut, alleinerziehende Eltern (Finkelhor 1994; Finkel u. DeJong
2001) gefunden. Aber wichtiger ist ein Entwicklungskontext, in dem die Eltern selbst
Missbrauch erlebt haben und in ihren Elternfunktionen stark beeinträchtigt und
vernachlässigend sind (Salter et al. 2003;
MacMillan et al. 2013). Die Opfer weisen
Bindungsstörungen und zahlreiche internalisierende Störungen wie Angst und Depression, aber auch somatoforme Störungen
und selbstverletzendes Verhalten auf (Fergusson et al. 1997a; Fegert 2004). Sie haben
es schwer, aufgrund ihrer desaströsen Erfahrungen Unterstützung durch andere anzunehmen. Es gibt Belege, das entwicklungsverzögerte oder geistig beeinträchtigte
Kinder häufiger Opfer von Missbrauch werden (AAP 2001).
Retrospektive Befragungen erbrachten
hohe Raten der Reviktimisierung. So nennen Fergusson et al. (1997a) Viktimisierungsraten von 33–68 % von Opfern früherer sexueller Gewalt. Spatz-Widom et al.
(2008) berichten von rund einem Drittel der
Fälle von Reviktimisierung. Die sich über
18 Jahre erstreckende Längsschnittstudie
von Barnes et al. (2009) an Kindern und Jugendlichen (begonnen im Durchschnittsalter von 11 Jahren), die schweren Missbrauch
erlebt hatten (mittlere Dauer 2 Jahre, 70 %
davon mit vaginalem Verkehr, 60 % der
Missbraucher waren Väter, Stiefväter oder
nahe Verwandte), wiesen Reviktimisierungsraten von 25 % auf. Die meisten Reviktimisierungen erfolgten bereits wenige
Jahre nach dem ersten Missbrauch, also in
einem vergleichsweise jungen Alter, im
Schnitt zwei Jahre nach dem ersten Missbrauch, und dann durch andere Erwachsene, aber auch durch Gleichaltrige. Diejenigen, die eine Reviktimisierung erleben
mussten, waren beim ersten Missbrauch im
Schnitt jünger. Auch die prospektive Längsschnittstudie von Spatz-Widom et al. (2008)
von zwei Kohorten, die im Abstand von
fünf Jahren erneut untersucht wurden, fanden ein Reviktimisierungsrisiko nur bei einer kleinen Gruppe, und zwar Kinder und
Jugendliche, die lang andauernder sexueller
und physischer Gewalt, kombiniert mit
Vernachlässigung, ausgesetzt waren.
Reviktimisierungen waren dagegen selten bei Personen, die nur eine einmalige Erfahrung wie eine Vergewaltigung erlebt hatten.
Merke
Ein einzelner Missbrauch hat offenkundig kein
hohes Prädiktionsrisiko für spätere Reviktimisierung, sondern es ist die Schwere des Missbrauchs – d. h. die Dauer, der frühe Beginn und
die Tatsache, dass er durch Personen ausgeübt
wurde, die zum Schutz von Kindern da sein sollten (Familie, nahe Angehörige, pädagogisches
Personal; Loeb et al. 2011).
Eine Erklärung für die hohe Rate von Reviktimisierungen ist, dass sich die missbrauchten und misshandelten Mädchen
später an Partner wandten, die selbst aggressiv und misshandelnd mit ihnen umgingen. Es werden nicht nur die Erfahrungen des Opfers, das keine anderen als die
gewaltsamen und sexuell übergriffigen Erfahrungen kennt und entsprechend später
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15.2 Täter-Opfer-Beziehungen bei Missbrauch
eben solche Kontexte wieder aufsucht, verantwortlich gemacht, sondern auch das
Phänomen des „blaming the victim“ (Back
u. Lips 1998). Der Vorwurf, das Opfer sei ja
selbst an der Tat schuld, hätte es nicht anders gewollt, hätte durch sein Verhalten die
Tat geradezu herausgefordert, ist eine Abwehrstrategie der Täter. Diese (fehlerhafte)
Attribution wird dann vom Opfer übernommen und führt zu Schamgefühlen, Zögern beim Anzeigen der Täter und zu vielfachen Symptomen, die Ausdruck von
Schuld und Selbstbestrafung sind, wie
selbstverletzendem Verhalten.
15.2.3 Was ist typisch für männliche
Jugendliche, die sexuelle Gewalt ausüben?
Immerhin 20 % aller Delikte sexuellen
Missbrauchs wurden in Großbritannien
von jungen Leuten zwischen 14 und 20 Jahren begangen (Vitard 2007). Bentovim
(2002) nennt ebenfalls eine beträchtliche
Zahl von männlichen jugendlichen Tätern,
die Missbrauch begehen.
Die Frage der intergenerationalen Transmission wurde zumeist auf der Basis der
Querschnittsdaten gestellt und nennt dann
relativ hohe Transmissionsraten von 69 %,
während Längsschnittstudien, die einen
echten Verlauf über die Zeit messen, zu
niedrigeren Raten (18 %; Bentovim 2002)
kommen.
In einer der wenigen Längsschnittstudien untersuchten Salter et al. (2003) frühere
männliche Opfer von Gewalt, um herauszufinden, wer selbst später zum Täter wurde. Sie fanden ebenfalls nur eine kleine
Gruppe von 12 %, die vom Opfer zum Täter
wurde. Die Studie zeigt, dass das Risiko
niedriger ist, als man gemeinhin annimmt.
Der Frage, ob der Missbrauch durch
Frauen ein besonderes Risiko für männli-
267
che Kinder spielt, sind Tsopelas et al. (2012)
nachgegangen. Sie fanden, dass diese Kinder in sexuelle Akte von nahen Verwandten
einbezogen wurden, häufig unter Zwang,
mit erheblichen psychischen Folgen und
Langzeitkonsequenzen für diese Kinder.
Identitätsprobleme traten häufig auf und
die Identifikation mit der Täterin, die oft
die Mutter war, enthielt ein erhöhtes Risiko,
selbst später zum Täter zu werden.
In der Metaanalyse von Seto und Lalumiere (2010), die 59 Studien einschloss und
die spezifischen Bedingungskonstellationen
und Charakteristiken von jugendlichen
Missbrauchern analysiert, zeigten sich zum
einen Überlappungen mit jugendlichen Delinquenten in einigen Variablen, wie desaströse familiäre Beziehungen mit Vernachlässigung und Gewalt, in der Folge schlechte Bindungsfähigkeit und, als Konsequenz,
schlechte Emotionskontrolle und Defi zite
in der Empathie. Spezifisch war für jugendliche Sexualtäter aber das hohe Risiko,
wenn sie selbst missbraucht worden waren,
zumeist in sehr jungen Jahren und über einen längeren Zeitraum. Entsprechend fand
man ein frühes Interesse an Pornografie,
Masturbation und sexuelle Erregung in Bezug auf Kinder. Auff ällig war, dass das Sexualverhalten Elemente aufnahm, die sie
selbst erfahren hatten.
In ganz ähnlicher Weise beschreibt Bentovim (2002) die typischen Charakteristiken von jungen Männern, zumeist Jugendlichen, die nach einer Geschichte von Vernachlässigung und Gewalt in der Familie
später selbst zu Tätern werden. Sie lebten in
einem Klima familiärer Gewalt, wurden geschlagen, von weiblichen Personen innerhalb der Familie missbraucht und erlebten
eine sehr schlechte und diskontinuierliche
Beelterung. Herausnahme aus dem Elternhaus und Heimaufnahme waren nicht selten. In diesen Studien wird betont, dass für
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15 Kinder und Jugendliche als Täter und Opfer
die Entwicklung zum Täter häufig eine komorbide Opfererfahrung typisch ist, d. h. in
der Kindheit gemachte Erfahrungen von
Gewalt, sexuellem Missbrauch und Vernachlässigung.
Hilfreich ist auch die Unterscheidung in
early- und late-onset des sexuell missbräuchlichen Verhaltens (Vitard 2007). Die
Early-onset-Gruppe der sexuellen Angreifer im jugendlichen Alter war entsprechend
den oben geschilderten Merkmalen (Komorbidität von Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt, frühe Vernachlässigung,
gewaltbereite Eltern, mangelhafte Beelterung) auff ällig, wies aber auch noch perinatale Komplikationen auf. Demgegenüber
war die Gruppe der sexuell motivierten jugendlichen Täter, die einen späten Beginn
(late-onset) dieser Handlungen im Jugendalter zeigte, kaum von der Gruppe unauff älliger Jugendlicher zu unterscheiden, sodass
es sich möglicherweise um ein Experimentierverhalten handelte oder um Kommunikationsmissverständnisse. Auch die Gruppe junger Frauen (ca. 20 %), die als 15-Jährige Sex mit wesentlich älteren Männern hatte, wies keinerlei Auff älligkeiten auf (Vitard
2007; Loeb et al. 2011). Dies betont nochmals die Schwierigkeit der Abgrenzung
zwischen normalen, experimentellen Formen der sexuellen Erfahrung und die enorme Bedeutung eines sehr jungen Alters bei
der Viktimisierungserfahrung.
15.2.4 Junge Mädchen und junge
Frauen als Täterinnen: eine übersehene, aber wichtige Gruppe
Viele Jahre war man davon ausgegangen,
dass Frauen selten sexuelle Gewalt gegenüber Kindern ausüben. Die Überblicksarbeiten von Grayson und De Luca (1999) sowie Tsopelas et al. (2012) zeigen allerdings,
dass sie zwar weniger als 5 % aller Miss-
brauchsfälle verüben, aber diese weisen spezielle Merkmale auf. Ihre Opfer sind meist
Kinder im Vorschul- und Schulalter und die
Mehrzahl davon sind Mädchen, obwohl es
auch Täterinnen gibt, die Kinder beiderlei
Geschlechts missbrauchen. Der Prozentsatz
von Täterinnen, die Jungen missbrauchen,
hat zugenommen (Tsopelas et al. 2012). Das
Durchschnittsalter der missbrauchten Kinder ist sehr jung (5,4 Jahre) und zumeist
sind die Übergriffe sehr schwerwiegend.
In der Regel sind die Täterinnen jung.
Eine kleine Zahl der Taten fand während
des Babysittings durch jugendliche Mädchen statt. Die meisten Täterinnen sind jedoch zwischen 20 und 30 Jahre alt und verübten den Missbrauch zusammen mit einem männlichen Partner; dies war bei 73 %
der jungen Frauen der Fall. Männliche Täter sind dagegen zu 90 % Einzeltäter. Das
Verhalten der Täterinnen ist eher passiv,
d. h. sie lassen den Missbrauch geschehen
oder involvieren die Kinder unter Androhung oder mit Gewalt in die sexuellen Aktivitäten ihres Partners oder anderer Männer.
Androhung und Zwang sind nicht nur bei
Täterinnen im innerfamiliären Missbrauch,
sondern auch bei solchen in pädagogischen
Einrichtungen wie Kindergärten gefunden
worden, Missbrauch mit Penetration mit
Objekten bei Mädchen und Oralsex bei Jungen sind häufige Methoden.
Auff ällig ist nicht nur das junge Alter im
Vergleich zu männlichen Tätern, sie haben
häufig keinen Schulabschluss, sind geistig
nicht selten behindert und in ihren mütterlichen Fertigkeiten unreif und vernachlässigend (Scannapieco u. Connell-Carrick
2008). Die Täterinnen stammen aus einem
Entwicklungskontext, in dem Vernachlässigung und sexuelle Gewalt die Regel waren; dieser Zusammenhang wurde in verschiedenen Studien bei 31–100 % der Täterinnen gefunden (Finkelhor u. Williams
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15.3 Vom Opfer zum Täter? Modelle und Mechanismen der Transition
1988). Vielfache Übergriffe durch männliche und weibliche Familienangehörige und
Verwandte waren die Regel bei denjenigen
Täterinnen, die wegen ihrer Missbrauchshandlungen an kleinen Kindern im Gefängnis saßen.
Eine weitere Besonderheit ist die hohe
Rate von Alkohol- und Drogenabusus bei
diesen Täterinnen. Relativ wenige Studien
haben untersucht, inwieweit abweichende
sexuelle Erregung, Fantasien und Interessen in diesem Zusammenhang eine Rolle
spielen könnten (Green u. Kaplan 1994).
Ähnlich wie Täter spielen Täterinnen häufig die Tat herunter; auch Scham und
Schuldgefühle treten oft auf. Aufgrund der
frühen und umfangreichen Missbrauchsund Misshandlungserfahrungen durch verschiedene Personen ist es aber auch hochwahrscheinlich, dass sexuell abweichende
Fantasien, Präokkupation mit Sexualität
und ein Gefühl, das sei „normal“, eine Rolle
spielen können. Immerhin berichtet jede
zweite Täterin, dass sie selbst in ihrer gegenwärtigen Beziehung häufig Gewalt und
Missbrauch ausgesetzt ist. Dies weist auf die
Transition von der Opfer- zur Täterrolle
hin.
Die Kinder als Opfer dieser Frauen sind
besonders bemüht, ihre Mutter nicht als Täterin zu nennen. Hier spielen Scham, Verleugnung und die Angst, möglicherweise
auch noch dieses Familienmitglied zu verlieren, eine große Rolle (Tsopelas et al.
2012). Ein Schwanken zwischen Liebe und
Hass wird häufig berichtet.
15.3 Vom Opfer zum Täter?
Modelle und Mechanismen der
Transition
In der Analyse des sexuellen Missbrauchs
wie auch der Gewalt werden verschiedene
269
Erklärungsmodelle herangezogen, die begründen sollen, dass Opfer sexuellen Missbrauchs eine erhöhte Wahrscheinlichkeit
haben, selbst zum Täter zu werden, wie
zahlreiche Studien belegen (zur Übersicht s.
Seto u. Lalumiere 2010).
Die Kernhypothese des Modells, das
auch als These der intergenerationalen
Opfer-Täter-Abfolge (Urban u. Lindhorst
2004), als Missbrauchs-Zyklus-These
(Schneider 1999) oder als „cycle of sexual
abuse“ (Salter et al. 2003) bezeichnet wird,
besagt, dass ein passiv erlebter sexueller
Missbrauch in der Kindheit ein späteres
missbräuchliches Verhalten im sexuellen
Bereich begünstigt. Urban und Fiebig (2011)
beleuchten in ihrer Studie eine besondere
Opfer-Täter-Transition: Sie stellen mit der
POTT-Hypothese (Pädosexuelle Opfer-Täter-Transition) die spätere Täterschaft im
Rahmen von pädosexueller Delinquenz,
also sexuellen Delikten, die nach der kindlichen Missbrauchserfahrung ebenfalls bei
Kindern vorgenommen werden, in den Fokus ihrer Analysen. Andere Autoren führen
die soziale Lerntheorie von Bandura (1977)
an, um zu erklären, das missbräuchliches
Verhalten beobachtet und gelernt wird. Diese Annahme erklärt aber auch nicht zureichend, warum es nicht alle missbrauchten
und misshandelten Kinder „lernen“.
Für die Opfer-Täter-Transition werden
verschiedene Mechanismen vermutet. Sexueller Missbrauch stellt für das Opfer eine
außergewöhnliche Belastung hinsichtlich
seiner psychischen und körperlichen Gesundheit dar, sodass es Verarbeitungsstrategien zur Stressbewältigung einsetzt,
durch die negative Effekte und die subjektive Wahrnehmung von Wert- und Hilflosigkeit nach Missbrauchserfahrungen verarbeitet werden. Durch Beschreibung positiver Empfindungen während der Tat (Urban
u. Fiebig 2011) kommt es zu einer Neube-
Egle: Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. ISBN: 978-3-7945-2921-6. © Schattauer GmbH