WOZ, Nr. 32, 2015:Wenn die Weltluft am Blumentrog rüttelt

Kultur / Wissen 19
WOZ Nr. 32 6. August 2015
VO L K S M U S I K
Wenn die
Weltluft
am Blumentrog
rüttelt
Gut, dass heute der Rockmusiker Chris von Rohr
das Musikprogramm der SchweizretterInnen bestimmt –
so kann die Volksmusik neu entdeckt werden.
Ein Bekenntnis anlässlich des Alpentöne-Festivals in Altdorf.
VON KÖBI GANTENBEIN
Historisches Interesse plus Neugier am Weltklang: Akkordeonist Hans Hassler ist am
Alpentöne-Festival in Altdorf zu hören. F OTO: A R N O BA L Z A R I N I , K E YS TO N E
«The Ace of Spades», das populäre Stückli der hatte vergessen, dass seine Volksmusik – der
Rockband Motörhead aus den achtziger Jah- Schottisch, die Polka, die Mazurka – nur dank
ren des letzten Jahrhunderts, hat es gleich ausländischer Einflüsse so federte. Anregend
zwei Volksmusikkapellen angetan. In einer bis heute, wie Schläpfer den Sound der Alpen
Ver­sion, die der Raserei von Lemmy Kilmister inszenierte mit wummerndem Bass und klaund seinen zwei Kumpanen in nichts nachsteht, gendem Örgeli. Hart am Kitsch schrammte er
mit seinen Sennen vorbei, Klang
scheppern Christoph Pfändler
und nichts als Klang vorführend.
am Hackbrett und die Sängerin Johanna Schaub mit ihrer Kasi Geisser lebte
Weder Kreiselmäher noch Turbo­
Metal-Kapelle Stägeli uf, Stägeli eher wie Amy
kühe, nicht einmal einen Aebiab. Dieter Ringli wiederum pro- Winehouse denn
Transporter gibt es in seinen Bilbiert mit seinem Duo Zweidieter
dern vom Land.
wie Wilhelm Tell.
­Heavy Metal auf Mundart. Er be«Ur-Musig» traf den Zeitrichtet aus einer Jassrunde, wo
geist. In kleinen Verschwörungen von MusikantInnen war die
«S Schilte Ass» zur wichtigsten
Neugier am Urtext gereift – an
Karte wird. Wie die britischen
den Quellen, nicht nur an ihren
Rockstars keucht auch diese
InterpretInnen. Der Cellist Fabi«Ländlermusik aus der Agglomeration» asthmatisch.
an Müller setzte mit dem Fund
Die beiden Ohrwürmer
von mehreren Tausend notierhaben mir geholfen, mein Trauma zu über- ten Stückli der Basler Heimatkundlerin Hanwinden. Als ich musikalisch erwachte, gehörte ny Christen einen Markstein. Sechs Alben gab
Volksmusik in den Giftschrank. Denn zur Zeit, seine Hanneli-Musig in einem Dutzend Jahals «The Ace of Spades» erstmals über die Büh- ren heraus. Wunderschöne Musik wird noch
ne bretterte, stand das Hackbretteln, Örgelen immer ausgegraben und mit der Behauptung
und Juchzen im Dienst hartherzigen Schwei- «Original» gespielt. So von den ungemein virzertums. Wysel Gyr und Konsorten monopolisierten das Programm von Radio Beromünster und dem Schweizer Fernsehen und liessen
Bassgeigen und Klarinetten versteinern: Ds Alpentöne 2015
Glichä gäng gliich und nomal gliich. Hauptsach Von Slowenien bis Okzitanien kommen sie in
die Innerschweiz: An die fünfzig Kapelluschtig.
len aus dem ganzen Alpenbogen treten
Das hat mehrere Generationen Musikanvom 13. bis zum 16. August in Altdorf
ten und Hörerinnen von Volksmusik aus der
auf. Sie bringen traditionelle und neue,
Schweiz ausgeschlossen. Welch ein Glücksschräge Klänge mit – den Alpensound
tag, als Toni Brunners Ländlerradio Bankrott
der ­G egenwart.
machte. Wie gut, bestimmt heute der Rockmusiker Chris von Rohr das Musikprogramm der Höhepunkte? «Die Schweiz auf Kurzwelle»,
eine Radioshow mit dem UnterhaltungsSchweizretterInnen und entlastet so die Ländlermusik. Und – vor allem – wie gut, haben
orchester der Hochschule Luzern, am
Freitagabend oder das Alpentöne Blasordie MusikantInnen mit Fundstücken aus den
chester mit Musik von Markus Flückiger
Archiven und mit Melodien aus allen Himmelsam Samstagabend. Ils Fränzlis da Tschlin,
richtungen die Volksmusik erneuert.
rundum erneuert mit drei jungen Musikerinnen ebenfalls am Samstagabend,
Otto Lechner, Bratko Bibic, Hans Hassler,
Fränggi Gehrig und die Wiener Ziehharmoniker in der Nacht auf Sonntag oder
das Hans Hassler Ensemble am Sonntagnachmittag.
Zu den Quellen
Johannes Rühl, der künstlerische Leiter des
Festivals Alpentöne von Altdorf, sagt: «Einen
Nagel schlug vor 25 Jahren der zürcherische
Appenzeller Cyrill Schläpfer ein. Er versammelte Musik aus der Innerschweiz und dem Appenzell zu ‹Ur-Musig›. In seinem gleichnamigen
Film inszenierte er einen Reigen mit knorrigen
Älplern aus der Innerschweiz und musizierenden Bankangestellten aus dem Appenzell.» Der
Örgelispieler Rees Gwerder aus Arth-Goldau
samt Brissago im Mundwinkel wurde für halb
Zürich jeweils am Sonntagmorgen im Kino Piccadilly zur ethnologischen Erweckung, und
auch sein Bassist Dominik «Sity Domini» Marti
durfte seinen grossen schwarzen Bart schütteln. Er liebte Europa ganz und gar nicht und
www.alpentoene.ch
tuosen Bläsern der Schänner Blech-Füfermusig
aus Schänis, die laut und kräftig vorführen,
dass Volksmusik einst weder Örgeli noch Bassgeige brauchte. Mein Herz berührt auch Corin
Curschellas, wenn sie mit wechselnden Bands
aus einer rätoromanischen Lieder- und Musiksammlung das reiche Liedgut der Alpen in die
Gegenwart trägt.
Das Wühlen in Archiven und Nachlässen,
die musikgeschichtliche Neugier ist wesentlich für die heute so reiche Szene der neuen,
der zeitgenössischen Volksmusik. Johannes
Rühl fasst zusammen: «Die Musikanten verbinden ihr historisches Interesse mit Neugier
am Weltklang. Das Experiment, die Collage
und das Selbstverständnis, dass Traditionen
nur überleben, wenn sie sich weiterentwickeln,
sind wohl die wichtigsten Unterschiede dieser
Volksmusik zu der landläufigen Ländlermusik.
Und nicht zu vergessen: Technische Virtuosität
ist selbstverständlich.»
Eidgenössische Volksmusikfest wird Mitte September in Aarau aufgeführt werden – ich werde
sicher nicht fehlen. Über tausend Musikant­
Innen in Dutzenden Amateurkapellen werden
erwartet. Es wird schön sein zu hören, wie auch
hier Weltluft am «blumetä Trögli» rüttelt.
Fingerfertig weltoffen
Geprägt wird die neue Volksmusik nicht von
AutodidaktInnen, sondern von professionell
ausgebildeten MusikerInnen – Solistinnen in
der Zürcher Tonhalle im Hauptberuf, Musiklehrer in der Stadt oder auf dem Land, Freelancer mit einem Volksmusikbachelor der
Der erste Popstar der Schweiz
Musikhochschule Luzern im Sack. Sie spielen
Der Film «Ur-Musig» von Cyrill Schläpfer aus schwindelerregend. Wenn ein Schwyzerörgedem Jahr 1993 – ein Ohr- und Augenwurm bis ler wie Markus Flückiger über die Knöpfe fährt,
heute – legte falsche Fährten: Er stellte Länd- wird manch altgedientem Amateur schwarz vor
ler, Schottisch und Juuz als ländlich vor. Das Augen. Dani Häusler an der Klarinette, Patricia
stimmt und ist doch nur die halbe Wahrheit. Dräger am Akkordeon oder Christian ZehnIn ihrem Buch «Ländlerstadt Züri» legten die der mit seiner Stimme sind ungemein virtuos,
Musikerin Madlaina Janett und die Historike- weltfroh und klanggierig. Trauma wegen vaterrin Dorothe Zimmermann unterhaltsam dar, ländischen Pfandsteins kennen sie keines; imwie Ländlermusik in der proletarischen Kultur mer wieder überraschend verbinden sie Tradition, die sie bestens kennen und
der Stadt Wirkung und Folgen
können, mit der Gegenwart. Sie
hatte. Stocker Sepp aus der Innerschweiz etwa hatte hier fünf Das Publikum
führen am Nachmittag im Konzertsaal komplexe LändlerklangKapellen unter seinem Namen soll hören und
welten auf, und am Abend sitzen
auf Tour, und wollte das Publi- nicht schwitzen.
kum statt Juuz plötzlich Jazz, so
sie in der Wirtschaft und spielen
spielten seine Musikanten Foxin der Tanzkapelle, bis die Sonne
trott, was tönte, als hätte Benny
aufgeht.
Goodman sich ins Schächental
Reich ist denn auch die
verirrt.
Aufführung ihrer Musik. Viel
Kasi Geisser war der wohl
Achtung erfährt das klassische,
erste Popstar in der Schweiz. Ein
bürgerliche Konzert. Was einst in
hochbegabter Musikant aus der
Beizen auf kleiner Bühne dudelte
Innerschweiz, unterwegs mit
und örgelte vor lärmendem und
Klarinette und Sopransax in den Lokalen von tanzendem Publikum, wird nun konzertant
Langstrasse und Niederdorf und auf Radio Be- aufgeführt. Das Publikum soll hören und nicht
romünster. Er lebte eher wie Amy Winehouse schwitzen. So sass ich gerne und artig auf der
denn wie Wilhelm Tell und starb früh und Bank in der Dorfkirche von Alt St. Johann und
einsam. Seinesgleichen Musik ging während wippte leise mit dem Fuss den Takt. Und vorne
des Zweiten Weltkriegs in der geistigen Lan- begann die Sängerin und Jodlerin Nadja Räss
desverteidigung auf, wo sie hocken blieb und eine Landschaftsreise durch ihre Klangwelt.
versteinerte. Ihre Popularität wurde von Unter- Formvollendet, herzergreifend.
haltungsmusik aus Britannien und den USA abDoch ich mag auch das Kontrastprogelöst. Und die Musiker vermochten nicht, wie gramm, das Prätti-Ziller-Fest, das ein paar
noch ihre Väter Kasi Geisser, Jost Ribary oder Tage darauf wie jedes Jahr im Juni in Seewis im
Luzi Bergamin, Klänge aus fremden Kulturen Prättigau über die Bühne ging. Es ist ein wilder,
einzubürgern.
schwitzender und lauter Anlass mit Kapellen
Doch auch wenn die Volksmusik aus den samt jodelndem Frontmann in Lederhosen. Die
Alpen ihren künstlerischen Schwung verloren in Mieder aus Edelweiss-Hemdstoff gekleidehat, so fasziniert mich, welche gesellschaftli- ten Frauen kamen von weit her und jubelten
che Kraft sie dennoch seit Jahrzehnten hat. Jo- ihm zu – und das Bier floss in Strömen.
deln und Blechmusizieren sind wohl kurz nach
Köbi Gantenbein ist Chefredaktor der
Fussballspielen und «Tatort»-Schauen die am
Architekturzeitschrift «Hochparterre» und
Korrespondent für Ländlermusik der WOZ.
weitesten verbreiteten Amateurkünste. Das eidEr spielt als fröhlicher Dilettant an der Klarinette
genössische Jodlerfest in Davos vor einem Jahr
mit der Kapelle Bandella delle Millelire.
war ein heiterer und vergnüglicher Anlass im
Mit ihr eröffnet er am 14. August um 19 Uhr
vor dem Theater Altdorf die Alpentöne 2015.
Kreise von Tausenden MusikfreundInnen. Das