Tatort Mensch – Tatort Wolf

Tatort Mensch – Tatort Wolf
AJA 08.12.2015
Rolf Adler
Eigentlich passen Wolf und Mensch ganz gut zusammen. So jedenfalls sieht es Joseph Reichholf, der
als Zoologe und Evolutionsbiologe einen analytischen Blick auf das Miteinander von Mensch und
Wolf wirft. Das Sozialleben des Wolfes stimme ungleich besser mit dem des Menschen überein, als
bei jedem anderen Tier, andere Primaten mit eingeschlossen.
„Die Welpen hängen in ihrem Überleben nicht allein von der Mutter ab, sondern vom ganzen Rudel.
Fleisch ist Kernstück der Wolfsnahrung, wie bei den eiszeitlichen Menschengruppen (außerhalb
Afrikas) auch. Nach außen wird die Gruppe gegen andere verteidigt. Intern herrscht eine
Sozialordnung. Die Gruppe teilt die Nahrung und jagt zumindest zu Mehreren gemeinsam nach Beute.
Man lebt halbnomadisch und ist gut und dauerhaft zu Fuß …. Am wichtigsten ist aber die gleichartige
Reaktion auf das ‚Kindchenschema“. Dass Wölfinnen Menschenkinder ‚aufgezogen‘ haben sollen,
gehört zu den weit verbreiteten Ursprungsmythen und ist nicht allein auf Romulus und Remus …
beschränkt. Umgekehrt sichert die Aufzucht von Wolfswelpen ein mehrere Jahre lang andauernden
enges Verhältnis zu Menschen …“1
Unsere Frage: Ergeben sich vielleicht aus dieser Nähe zwischen Wolf und Mensch Tatsachen, die zu
Tatorten werden? Tatort Wolf: Gerissene Nutztiere, beunruhigte oder gar verängstigte
Spaziergänger, größer werdende Populationen. Tatort Mensch: der Ruf nach „Entnahme“, was ja
häufig totschießen heißt, eine engagierte Diskussion darüber, ob der Wolf in unseren Breiten
überhaupt ein Seinsrecht hat usw. Haben wir ein Problem mit Wildnis und Wildheit, gedacht als diese
querliegen Eigenbewegung der Mitwelt zu unseren Kulturentwürfen und –formen? Ist der Wolf
etwas anderes als ein natürliches Widerspiel zu unseren Herrschaftsphantasien?
Aus dieser Perspektive der Nähe aus der Sicht des Evolutionsbiologen, die ich im Eingang zitiert habe
und die ja von einer besonderen Nähe zwischen Wolf und Mensch ausgeht, lässt sich gut eine Brücke
schlagen zu anderen Nahbeschreibung im Verhältnis des Menschen zum Wolf. Ich denke an die
biblischen Schöpfungstexte. Sie beschreiben auch Nähe.
Bevor ich auf drei Aspekte kurz eingehe, vorweg die Frage, was die Beschäftigung mit den Zeugnissen
früheren Welt- und Lebenswissens, also z.B. der Bibel (aber nicht nur mit dieser) überhaupt bringen
soll. Es geht bei den biblischen Schöpfungs- und Lebenstexten nicht um ein Wissen, das
naturwissenschaftliche Einsichten entmachtet oder bestätigt. Bibeltexte informieren nicht, sie
evozieren. Und das bedeutet: sie rufen etwas hervor. Sie machen die Sinne und im Gefolge dessen
den Blick auf. Auf drei Gesichtspunkte (Blickpunkte) möchte ich uns aufmerksam machen.
1.
Wenn wir das erste Schöpfungslied im 1. Buch Mose lesen, stoßen wir auf die Erinnerung daran, dass
Mensch und Tiere sich das Festland als Lebensraum teilen. Das Festland ist Gemeingut. Der Mensch
1
Josef H. Reichholf, Die Bedeutung der Tiere in der kulturellen Evolution, in: Carola Otterstedt et. al.,
Gefährten, Konkurrenten, Verwandte. Die Menschen-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen
2009, S. 18
1
bevölkert das Trockenland nicht exklusiv. Hier wird eine Grundstellung beschrieben, man könnte
auch sagen eine ursprungsutopische Stellung des Menschen in der Welt. Das ist nicht verhandelbar.
Und das ist änderbar nur um den Preis der Destruktion, der Zerstörung. Ist dieses Wissen trivial,
belanglos, von gestern? Meine Meinung ist, dass wir aktuell beim Thema Wolf aber auch im globalökologischen Diskurs genau an dieser alten Erkenntnis abarbeiten. Der Exklusivitätsanspruch, der in
der vermeintlichen Vorrangstellung menschlicher Kultur gegenüber der Natur liegt, hat Schaden
angerichtet. Wir arbeiten uns ab an der Frage, dass Biodiversität und Koexistenz wesentliche
Orientierungswerte im Miteinander der Schöpfung darstellen. Prinzipielle Teilhabe von Wolf und
Mensch am gleichen Lebensraum liegen in der Perspektive dieser Grundorientierung. Und die Frage
lautet, was sich in der Zusammenschau von Diversität und Koexistenz für Schlüsse zu unserem
Umgang mit dem Wolf gezogen werden können.
2.
Das Werden der Mitwelt und der Tierwelt wird im ersten Schöpfungslied beschrieben als eine eigene
Produktivität im Erdgeschehen. Die Tiere des Festlandes (1. Mose 1,24) werden auf Geheiß Gottes
von der Erde hervorgebracht. Der Mensch erkennt sich also in eine Nähe zu anderen Erdlingen
gestellt. Zwar sind diese Erdlinge nicht von seiner Gattung, aber sie sind autochthon
(erdentsprossen). Adam, hebr. adama = Erdling ist ein Seinsstatus. Dieser Status weist auf eine nahe
Mitwelt, auf Vieh (Herdentiere), Kriechgerege und eben Wildlebendes.
Der Wolf als Wildtier ist ein Erdling wie wir, allerdings von eigener Art. Ein Spross der sprossenden
Erde. Und nun stehe ich vor der Wahl, wie ich diesen wilden Spross fasse. Koexistenz ist hier ein
Ordnungsmerkmal, kein Versagen an einer menschlichen Sozialordnung.
3.
Entgegen der lutherischen Übertragung von 1. Mose 1,26 hat der Mensch im Urtext zwar ein Amt
(gottbezogenes Mandat) gegenüber Vieh, Vögeln und Fischen. Er hat aber kein direktives Mandat
über die Wildtiere. Die Wildtiere sind ausdrücklich kein Mandatsobjekt2. Der Zugriffs- und
Gestaltungsbereich des Menschen ist beschränkt. Der Erdling Mensch ist in seinem Sein so bestimmt
durch eine Gemeinschaftsnorm (er teilt sich das Festland mit anderen Landtieren) und durch eine
Reichweitenbeschränkung. Die Schöpfungserzählung erinnert daran, dass die Grundstellung
gegenüber wildlebenden Tieren sich gerade in Enthaltsamkeit bei Herrschaft und Mandat ereignen
kann. Darin liegt eine Grundstellung, die ein ethisches Verhältnis erst notwendig macht. Wer
ungeklärt versucht, Herrschaft gegenüber Wildlebendem auszuüben, wird Teil einer Destruktion.
Nirgendwo in den Schöpfungserzählungen steht solche Destruktion unter den Segen Gottes.
Ich möchte jetzt nicht ausführlicher auf die kulturellen Destruktionsstrategien gegen den Wolf
eingehen. Der Wolf ist in Deutschland vor allem mit Gift und Fallen (Wolfsangeln) vertrieben worden.
Allein in der Erinnerung daran klingt an, was es heißt, destruktiv zu werden. Die Ausrottung wird zur
Steigerungsform des Tötens aus Notwehr- oder Nothilfegründen.
Die biblisch-erzählende Orientierung zieht jedem überzogenen menschlichen Machtstreben
gegenüber der wildlebenden Mitwelt den herrschaftlichen Zahn. Unsere modernen Ausrichtungen,
die sich über Begriffe wie „Wildtiermanagement“ oder „Wolfsmanagement“ politisch etabliert
haben, sind im Kern fraglich, weil sie die Ambivalenz menschlicher Existenz im Umgang mit dem
2
Vgl. dazu: Christof Hardmeier, Konrad Ott, Naturethische und biblische Schöpfungserzählung. Ein
diskursethischer und narrativ-hermeneutischer Brückenschlag, Stuttgart 2015, S. 128f.
2
Wilden nicht aus der Welt schaffen können. „Management“ = manus agere = an der Hand führen ist
erst einmal das Gegenteil von wild oder Wildnis. Wildtiermanagement beschreibt ein modernes und
neuzeitliches Mandatsbewusstsein, das ebenso viele Fragen schafft, wie es beantwortet. Die Autoren
der Schöpfungslieder haben möglicher Weise aus gutem Grund darauf verzichtet, das Wilde oder
Wildlebende in den Herrschaftsbereich des Menschen hinein zu zeichnen. Nicht das Imperium ist die
Denkfigur des Geschöpflichen. Für imperiale Destruktion kann es ethisch gute Gründe geben: etwa
Notwehr oder Nothilfe. Und kein Mensch muss sich den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Aber außerhalb
von Risikomanagement gilt es zu erinnern, dass die Teilung von Lebensraum immer verbunden ist mit
der Teilung von Herrschaftsraum. Mit anderen Worten: wo Wolf und Mensch sich begegnen, bleibt
es prekär, besonders deswegen, weil die Strategien sich ähnlich sind (Fleisch, Verteidigung etc.).
Vielleicht liegt die eigentliche „kulturelle“ Pointe in der Neubegegnung von Wolf und Mensch in
einem neu zu lernenden Blick auf unser elementares Sein. Moderne soziale Konstrukte zeigen sich in
ihrer je eigenen allenfalls begrenzten Stabilität. Freiheit vom Wolf heißt nicht, Befreiung vom wilden
Leben. Biodiverstät heißt immer auch Diversität von Risiken und mitunter Gefahren. Dass z.B. ein
kaum sichtbarer elektrischer Weidezaun ausreicht, eine ganze Herde sicher zu hüten, ist keine
Normalität, die an der Grundstellung des Lebens orientiert wäre. Wenn der Wolf die Bühne betritt,
wird die Weide (Hut/Schutzraum) zum leichtbegehbaren Futterautomaten. Darum kann man mit Fug
und Recht sagen, dass der Mensch beim Anblick eines Wolfes etwas über sich selbst lernt, nämlich
etwas über die Vorläufigkeit seiner Sekuritätskonzepte.
Er erkennt und erlernt die unhintergehbare Doppelgesichtigkeit kultureller Konstrukte. Nicht die eine ideale Wildnis lockt den
Wolf in unsere Breite, sondern die Ergebnisse unserer insofern „erfolgreichen“ Kultur, als sie Überfluss schafft. Hier sind vor
allem hohe Wildbestände zu nennen, die Folge verschiedener folgenreicher Strategien bei Acker- und Waldbau sind. Insofern
stimme ich dem Hinweis von Eckhard Fuhr3 zu, dass der Begriff Wolfsmanagement nicht etwa bedeutet, dass etwas mit dem
Wolf gemacht werden müsste, der käme ja gut alleine zurecht, sondern Wolfmanagement ist Menschmanagement. Allerdings
widerspreche ich zugleich dem Untertitel des Buches von Fuhr. Er lautet: Wie ein Heimkehrer unser Leben verändert. Das sehe
ich nicht so. Der Wolf verändert in der Tiefe nicht unser Leben, er zeigt es uns. Wildheit ist nicht mehr nur im Modus des
„früher“ zu haben oder als buchbares Spezialerlebnis in fernen Gefilden, sondern Wildheit begegnen uns auf irritierende Weise.
Der Wolf entzieht sich unserer Modelle, die wir uns als Hund und domestizierte Gefährtentiere an die Seite geholt haben. Der
kreative Schwung der Natur zeigt uns etwas von der Labilität unserer kulturellen Entwürfe. Das kreative Widerspiel wilder Tiere
z.B. zum mühsamen Ackerbau, aber eben auch zur mühsamen Tierhaltung, kann ich deuten als Versagen kultureller
Sekuritätskonzepte. Ich kann es aber auch deuten als Vitalität der Schöpfung. Und diese Entscheidung führt uns an die Frage
heran, ob wir es verstehen werden, statt über die Natur zu herrschen, mit der Natur zu leben.
Lassen sie mich schließen mit ein paar Versen aus dem Buch Hiob. Das Unverfügbare, das
Kontingente, das Vitale ist kein Herrschaftsobjekt. Insofern spiegelt sich in diesem Text aus dem
Hiobbuch das Wissen über die Begrenzung menschlicher Herrschaft, von der ich mit Blick auf die
Schöpfungslieder sprach.
Von der Bibel evozierte, d.h. hervorgerufene Gedanken. Nicht mehr! Keine detaillierten Beiträge zu
Risikomanagement und Gefahrenvorsorge. Und doch: Beiträge zur Grundstellung des Lebens, die für
mich in die Diskussion dazugehören. Ich lese zum Schluss ein paar Verse aus dem Buch Hiob:
„Wer hat das Zebra in die Freiheit entsandt,
und des Wildesels Bande, wer hat sie gelöst,
6 dem ich die Steppe als Haus verlieh,
als Wohnung den Salzboden ihm,
7 - er verlacht das Getümmel der Stadt,
das Lärmen des Treibers, er hörts nicht,
3
Eckhard Fuhr, Rückkehr der Wölfe. Wie ein Heimkehrer unser Leben verändert. München 2014, S.
3
8 er erspürt sich die Berge als Weide
und durchforscht sie nach allerhand Grün - ?
9 Wird der Wisent willig sein dir zu dienen,
wird er nächtigen an deiner Krippe?
10 knüpfst den Wisent du an die Furche seines Seils
oder reißt er Täler hinter dir auf?
11 bist du sein sicher, daß sein Kraftgewinn groß ist,
überlässest du ihm deine Mühe,
12 vertraust du ihm, daß er deine Saat wiederbringt
und heimst sie dir in die Tenne?“
Fliegt der Adler auf deinen Befehl …?
Hiob 39,5-13
Vom Wolf ist in diesem Text zwar nicht die Rede. Und doch ist auch der Wolf vor Augen, evoziert
eben – wie es biblische Texte tun. Tatort Wolf, Tatort Mensch – ein spannender Blick auf die alte
Heimat Schöpfung.
4