NS-Ideologie: Das Bauerntum als „Blutsquell“ und „Ernährer des Volkes“ Erbhofträume und Kriegswirklichkeiten Als die Nationalsozialisten 1938 in Österreich die Macht ergriffen, schien der verbreitete Traum von der Befreiung des „Bauernstandes“ aus den Fängen des krisenanfälligen Kapitalismus in Erfüllung zu gehen. Durch den Verfall der Agrarpreise während der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre hatten viele Höfe Ertragseinbußen erlitten, waren in Schulden geraten und der Gefahr der Zwangsversteigerung ausgesetzt. Die rassistische NS-Ideologie wertete das Bauerntum als „Blutsquell des Volkes“ auf; damit verbunden war die Rolle des „Ernährers des Volkes“, die dem geplanten Eroberungskrieg diente. Daher setzte sich der NS-Agrarapparat in der „Ostmark“ unter Landwirtschaftsminister Anton Reinthaller als Retter des „Bauernstandes“ in Szene. Den Worten folgten auch Taten: Eine „Entschuldungsaktion“ wandelte kurzfristige Schulden bei vielen Gläubigern in langfristige Schulden gegenüber dem Deutschen Reich um. Das Reichserbhofgesetz erklärte mittel- und großbäuerliche Höfe mit – vorzugsweise männlichen – „bauernfähigen“ Eigentümern für unteilbar, unbelastbar und Hintergründe, Details und Anleitungen Geschichte erlesen Da die Rüstung mehr Arbeitskräfte brauchte, wurden 1942 bis 20 % der in der Landwirtschaft beschäftigten Polen, „Ostarbeiter“ und Kriegsgefangenen abgezogen. Laut geheimem Lagebericht des SD verloren die Höfe weitere Arbeitskräfte durch „die laufenden Einziehungen zur Wehrmacht“ und zum Reichsarbeitsdienst. „Der Frühjahrsbestellung 1943, wie überhaupt der Erzeugungsschlacht des laufenden Jahres, würde daher seitens vieler bäuerlichen Betriebsführer mit Besorgnis entgegengesehen.“ Zudem fehlte immer stärker auch Material. Besonders sei die Beschaffung von [...] Spaten, Schaufeln, Hacken, Mistgabeln, Forken, Melk-, Tränk- und Futtereimern sowie Ketten [...] so gut wie nicht mehr möglich.“ Dorfschmiede haben viel zu wenig Eisen, reparaturbedürftige Maschinen bilden inzwischen „Maschinenfriedhöfe“. Auf neue Maschinen kann nicht ausgewichen werden, weil die Landmaschinenindustrie nur gedrosselt arbeitet. Ein Bild von der Propaganda über die angebliche Lage der Bauern bietet besonders die ländliche Wochenpresse, wie etwa der „Heimatbote“ in Niederösterreich. Die Ausgabe vom 24. April 1943 berichtet über das Lager Haag des Reichsarbeitsdienstes für die weibliche Jugend (S. 5). Die dort geschulten jungen Frauen sollen auf Bauernhöfen entlasten. Ein geheimer Bericht des Sicherheitsdienstes der SS vom 15. April 1943 bilanziert indes: Die „Maiden“ würden wegen der „recht langen Anmarschwege täglich durchschnittlich nur 5-6 Stunden einschließlich der Pausen für die Mahlzeiten den Betrieben zur Verfügung stehen. Der Arbeitsbeginn liege [...] zwischen 8 und 10 Uhr morgens, das Ende der Arbeitszeit schon ab 14.30 Uhr, spätestens aber um 17 Uhr. Gerade in den Morgen- und Abendstunden benötigen aber die Bäuerinnen und Landwirtschaftsfrauen die meiste Entlastung“. Im übrigen haben die Bäuerinnern den Eindruck, dass die „Maiden“ große Teile ihrer Zeit zum Essen verwenden – ohne dafür Lebensmittelmarken mitzubringen, „weshalb die Bäuerinnen vielfach für die Zuteilung von Maiden kein Interesse mehr zeigten. [...]“ Tageszeitungen wurden von der bäuerlichen Bevölkerung selten gelesen. Landwirtschaftliche Themen werden daher dort weniger oft abgehandelt. Die steirische und Kärntner „Kleine Zeitung“ hatte aber auch am Land eine gute Verbreitung. Die Ausgabe vom 20. Juni 1943 idealisiert jene, die aus ihrem Ruhestand wieder ins volle Berufsleben zurückgeholt werden: die Altbauern (S. 9). In der Ausgabe des Vortages wird den Bäuerinnen ein Loblied gesungen: „Unsere Bäuerinnen schaffen es“ (S. 5). Im Gegensatz zu dieser Propaganda liest sich ein Zustandsbericht des Sicherheitsdienstes der SS vom 1. April 1943 wie folgt: Es wurde „aus ländlichen Kreisen wiederholt auf die Überlastung der Bäuerinnen hingewiesen, die auf den von männlichen Kräften entblößten Höfen die schwersten Arbeiten verrichten müßten, was zweifelos gesundheitliche Schädigungen zur Folge habe. So sei [...] eine junge Bäuerin bei der Geburt des 4. Kindes gestorben. Der Arzt habe als Todesursache eindeutig völlige Überarbeitung festgestellt.“ unverkäuflich. Eingeleitet wurde auch die „Aufrüstung des Dorfes“, um den technischen Rückstand der österreichischen Landwirtschaft gegenüber dem „Altreich“ aufzuholen. Kurz, die Lethargie der Agrarkrise wich, zumindest anfänglich, der Euphorie des landwirtschaftlichen „Aufbaus“. Sie fand – gerade für die klein- und unterbäuerlichen Gruppen der Landbevölkerung – in der Figur des „Führers“ ihren emotionalen Bezugspunkt: „Der Hitler ist gekommen wie ein Herrgott für die kleinen Leute“, brachte es ein damaliger Landarbeiter auf den Punkt. Organisation Neben dem Charisma des „Führers“ stützte sich die NS-Herrschaft auf dem Land auf eine straffe Organisation: den „Reichsnährstand“, der alle in Lebensmittelproduktion, -verarbeitung und -verteilung Beschäftigten einschloss. Vertikal gliederte sich der Reichsnährstand in die Landesbauernschaften Donauland (Reichsgaue Wien, Nieder- und Oberdonau), Südmark (Reichsgaue Steiermark und Kärnten) und Alpenland (Reichsgaue Salzburg und Tirol-Vorarlberg) mit den untergeordneten Kreis- und Ortsbauernschaften. Horizontal waren Landesund Kreisbauernschaften in drei Hauptabteilungen gegliedert: Die Hauptabteilung I („Der Mensch“) war für die rechtliche, fachliche und ideologische Betreuung des „Landvolkes“ zuständig; die Hauptabteilung II („Der Hof“) kümmerte sich Symbiose von Tracht und Hakenkreuz beim Erntedankfest in Gänserndorf. lieferung, Verteilung und Preisfestsetzung. Durch die Manipulation von Angebot und Nachfrage sowie der Festpreise verfügte der Reichsnährstand über die Instrumente, um den Fluss der Agrarprodukte vom Erzeuger bis zum Verbraucher zu steuern. Mit Kriegsbeginn 1939 wurde der Reichsnährstand, ursprünglich eine Selbstverwaltungskörperschaft, als eine Abteilung der Landes- und Kreisernährungsämter in den Behördenapparat des Deutschen Reiches eingegliedert. Damit ähnelte er einer „totalen Institution“, die die knappe halbe Million landund forstwirtschaftlicher Betriebe in der „Ostmark“ wie einen einzigen Bauernhof zu führen trachtete. Sinnfälliger Ausdruck des für den NS-Agrarapparat „gläsernen Bauernhofes“ war die von der Kreisbauernschaft geführte Hofkarte, die die wichtigsten Haushaltsund Betriebsmerkmale jahresaktuell verfügbar machte. Ideologie Die Gewichtsverlagerung im Reichsnährstand von der Selbstverwaltung zum Behördenstatus markierte die Entwicklungsrichtung der LandwirtLandwirtschaftsminister Anton Reinthaller in SS-Standartenschaft während führeruniform inmitten der ehemals illegalen „Gaubauernführer“ Österreichs 1938. der Kriegsjahre: Der NS-Staat trachtete, den ideoloum die betriebswirtschaftlichen Aufgaben im Interesse der „Erzeugisch und materiell umworbenen Bauernstand zu einem Schwunggungsschlacht“; die Hauptabteilung rad der Kriegsmaschinerie umzuIII („Der Markt“) regelte Ablieferung, Verteilung und Verarbeitung der Erfunktionieren. Die Aktionen der NS-Agrarpolitik wurden, wie die zeugnisse. Auf der Ebene der Landesbauernschaften organisierten die Erbhofgerichtsbarkeit, von ideologischen Überspitzungen befreit und nach verschiedenen Produktsparten kriegswirtschaftlichen Erfordernisgegliederten Wirtschaftsverbände sen angepasst; sie dienten, wie die die Herstellung, Verarbeitung, Ab- „Entschuldungsaktion“, zur Disziplinierung der Betriebseigentümer für die „Erzeugungsschlacht“; oder sie wurden, wie die „Aufrüstung des Dorfes“, auf die Zeit nach dem „Endsieg“ aufgeschoben. Zudem häuften sich die materiellen und emotionalen Forderungen des NSRegimes an die Landbevölkerung: Die über den Eigenbedarf hinausgehenden Erzeugnisse des Hofes, deren Menge amtlich vorgeschrieben wurde, galten seit Kriegsbeginn als beschlagnahmt; ein rigider Überwachungs- und Bestrafungsapparat erzwang die Erfüllung der Lieferverpflichtungen. Auch die katholische Religion, die in der ländlichen Mentalität fest verankert war, geriet – trotz aller Ausgleichsbemühungen des österreichischen Klerus – immer mehr ins Visier der Nationalsozialisten. Auf diese materiellen und emotionalen Zumutungen reagierte die Landbevölkerung zunehmend mit Zurückhaltung und Widersetzlichkeiten. Das „Schwarzschlachten“ und das „Grüß Gott“ statt dem „Heil Hitler“ markierten das Spektrum des bäuerlichen Eigensinns. Was von sieben Jahren NS-Herrschaft blieb, war unter anderem die institutionelle Verzahnung von staatlichem Agrarapparat und land- und forstwirtschaftlichen Betrieben. Über diese Achse war die Landwirtschaft während des Zweiten Weltkrieges für eine an Rüstungserfordernissen ausgerichtete Industriegesellschaft dienstbar gemacht worden. Nun, in der Nachkriegszeit, wurde darüber die Landwirtschaft für eine auf Massenkonsum aufgebaute Industriegesellschaft in Dienst genommen. Zwar blieb die vom NS-Regime angepeilte technische Agrarrevolution in den Anfängen stecken; manche institutionelle Neuerungen hatten aber durchaus revolutionären Charakter. TEXT Ernst Langthaler
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