Die Delikte, von denen man kaum hört Im Zerrspiegel der Pressestelle Welche Straftaten passieren in Wien? In dieser Frage sind Journalisten auf die Pressestelle der Wiener Polizei angewiesen. Sie ist der Schleusenwärter, sie entscheidet, welche Taten öffentlich werden und welche nicht. Über 200.000 Anzeigen im Jahr stehen dabei weniger als 2.000 Presseaussendungen gegenüber. Auf der Party eines Freundes wird eine Wiener Schülerin im Februar 2013 vergewaltigt. Sie erstattet Anzeige, doch die Öffentlichkeit wird von der Vergewaltigung wie so oft nichts erfahren. Ebenfalls im Februar 2013 versucht ein Mann, einer 77Jährigen vor ihrem Haus in WienFloridsdorf die Handtasche zu entreißen. Die Frau stürzt und bricht sich ein Bein, der mutmaßliche Räuber flüchtet ohne Beute, wie man wie so oft am nächsten Tag in den meisten Zeitungen lesen kann. Wenig Berichterstattung „stützt Mythen“ Nur jede angezeigte 43. Vergewaltigung meldete die Wiener Polizei 2013 und 2014 an die Medien, aber jeden fünften angezeigten Handtaschenraub bei etwa gleich vielen Anzeigen: So wurde von 622 Anzeigen wegen Handtaschenraubs über 130 berichtet, von 647 Anzeigen von Vergewaltigungen über 15. „Das ist natürlich ein krasses Missverhältnis“, kommentierte Ursula Kussyk, Leiterin einer Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen und Mädchen in WienHernals, dieses Ergebnis. „Das stützt den Mythos, dass nur ganz wenige Männer Täter sind, die psychisch gestört oder in einem sexuellen Notstand sind, und dass Vergewaltigungen nur einzelne Frauen betreffen, die sich womöglich unvorsichtig verhalten haben“, so Kussyk. Eine offensivere Polizeipressearbeit über Vergewaltigungsvorfälle wünscht sich die Sozialarbeiterin trotzdem nicht: „Besser, es wird wenig berichtet, als so, dass den Opfern die Schuld zugewiesen wird und sie dadurch retraumatisiert werden.“ Auch wenn die Polizei sachlich berichte, könne man nicht beeinflussen, was manche Medien daraus machen. Sehr präsent: Überfälle aller Art Noch seltener als Vergewaltigungen standen unterlassene Hilfeleistungen im Scheinwerferlicht der Polizeipressearbeit. Dazu gab es keine einzige Presseaussendung, auch nicht zum Fall eines Mannes, der 2014 zu Weihnachten in einem Lift einer UBahnStation einen Herzinfarkt erlitt, von Passanten stundenlang ignoriert wurde und starb. Erst durch einen „Heute“Bericht erfuhr die Öffentlichkeit davon mehr dazu in wien.ORF.at <http://wien.orf.at/news/stories/2687218/> . Auch Anzeigen zu rassistisch motivierten Körperverletzungen, Drohungen und Beleidigungen kamen in den Pressemeldungen nicht vor, dafür aber nahezu jeder angezeigte Juwelier, Bank und Trafiküberfall und jeder zweite angezeigte Taxiraubüberfall. Sehr häufig erfuhren die Medien auch von Angriffen auf Polizisten bzw. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Große Unterschiede zwischen den Bezirken Große Unterschiede gab es zwischen den Wiener Bezirken, wobei eine Bezirksanzeigenstatistik zum Analysezeitpunkt nur für 2013 vorlag: Mit Abstand die meisten Aussendungen verfasste die Polizei zu Favoriten (188), die Mehrzahl der anderen Bezirke kam nicht einmal auf die Hälfte. Selbst wenn man berücksichtigt, dass Favoriten als bevölkerungsreichster Bezirk auch jener mit den meisten Anzeigen war, kam er in der Berichterstattung im Verhältnis häufiger vor als die meisten anderen Bezirke. Ein Vorfall in Favoriten schaffte es beispielsweise mit fast zweieinhalbmal höherer Wahrscheinlichkeit in eine Polizeiaussendung als einer in Döbling. Foto/Grafik: Grafik: ORF.at; Quelle: CORRECT!V Analyse der Presseaussendungen der Wiener Polizei 2013 (bereinigt) und des Sicherheitsberichts des Innenministeriums 2013 Die Topthemen in den Aussendungen neben Raubüberfällen waren Diebstähle, Delikte gegen Leib und Leben sowie Einbrüche. Das liegt auch an der enormen Zahl der Anzeigen: So gab es 2014 beispielsweise knapp 39.500 Einbrüche in Wien – wobei die Polizei in einer Aussendung oft über eine ganze Serie berichtet. Drogenrazzien zur Imagepolitur Immerhin auf Platz sechs: Drogenkriminalität. Jeden zweiten Tag informierte die Polizei über Dealer oder Suchtkranke, die sie erwischt hatte. Erwischte Dealer seien für die Polizei „wichtige Erfolge“, sagte Johann Golob, Leiter der Pressestelle der Wiener Polizei. Kurzum, es geht um Imagepflege: „Wir vermitteln damit auch die Botschaft, dass wir im öffentlichen Raum, wo ein besonderes Sicherheitsbedürfnis besteht, sehr präsent sind.“ Bei Vergewaltigungen sei man hingegen zurückhaltend, um die traumatisierten Opfer zu schützen. Anders als bei Handtaschenrauben müsse man meistens auch nicht mehr nach den Verdächtigen fahnden, weil man sie bereits kenne. Fahndungen auf Anordnung der Staatsanwaltschaft müssten zudem immer veröffentlicht werden, so Golob. Foto/Grafik: Grafik: ORF.at; Quelle: CORRECT!V Überschriftenanalyse der Presseaussendungen der Wiener Polizei 2013 und 2014 Basis für diese Entscheidungen der Pressestelle ist laut Golob ein Medienerlass des Innenministeriums. Auf 25 Seiten gibt dieser grobe Leitlinien für die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei und regelt die Zuständigkeiten. Die Gesellschaft ist „rasch, aktiv und professionell“ zu Medienerlass des Innenministeriums (wird derzeit überarbeitet) PDF <http://files2.orf.at/vietnam2/files/news/201535 erlass_februar_2012‐1_381498.pdf> (298.0 kB) informieren, heißt es da zum Beispiel, außerdem dürfen die Ermittlungen nicht gefährdet werden und auch die Privatsphäre der Opfer muss berücksichtigt werden. Zu den Unterschieden zwischen den Bezirken erklärte Golob, man mache sich keine Gedanken darüber, über welche Bezirke man wann berichte. Rassismus als blinder Fleck der Polizei Dass rassistisch motivierte Gewalttaten in den Presseaussendungen fehlen würden, dementierte Golob: „Wir veröffentlichen natürlich auch derartige strafrechtlich relevante Delikte.“ Konkret nannte er einen Vorfall, bei dem ein Mann in einer UBahnStation krankenhausreif geschlagen wurde. Dass das Opfer rassistisch beschimpft wurde, erfuhr man aus der Presseaussendung aber nicht, hier war nur die Rede von einer „verbalen Auseinandersetzung“. In mindestens zwei weiteren Fällen von Körperverletzung blieben rassistische Motive in den Aussendungen unerwähnt und kamen erst auf Nachfrage von Medien zur Sprache. Kritik am Rassismusbegriff der Polizei Rund 45 Fälle rassistisch motivierter Gewalttaten wurden in Wien 2013 und 2014 dem Verein ZARA, der Opfer von Rassismus berät, gemeldet die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. An ZARA wandte sich zum Beispiel ein Mann, der im August 2014 rassistisch beschimpft, geschlagen und gewürgt worden sei. Die Polizei nahm seine Anzeige zunächst nicht auf. Erst als im Krankenhaus eine Verletzung im Bereich der Wirbelsäule festgestellt wurde, wurde der Vorfall aufgenommen. Die Medien informierte die Polizei aber nicht. Immer wieder komme es vor, dass die Polizei mögliche rassistische Motive bei der Einvernahme nicht erfasse, berichtet die Leiterin der ZARABeratungsstelle, die Juristin Dina Malandi. Sie kritisierte vor allem den engen Rassismusbegriff der Polizei: „Wenn die Verdächtigen keiner rechtsextremen Gruppe angehören, ist der Rassismus meist kein Thema mehr.“ Tatsächlich ist Rassismus in Form von NSWiederbetätigung auch der einzige, über den die Polizei 2013 und 2014 in ihren Presseaussendungen berichtete. Drei Meldungen gab es, etwa zu Hakenkreuzschmierereien auf einem Friedhof. Um körperliche Gewalt gegen Personen ging es in keinem der Fälle. Böse Absicht wollte Malandi der Polizei aber nicht unterstellen: Das Thema „Hasskriminalität“ sei in Österreich noch sehr neu, es brauche mehr verpflichtende Schulungen. In Großbritannien würden zum Beispiel mögliche Hassmotive bei jeder Anzeige automatisch abgefragt. Kriminalität im Kreislauf der Berichterstattung Der Leiter des Wiener Zentrums für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung (VICESSE), Reinhard Kreissl, sagte: „Die Polizei hat es gern, wenn die Gesellschaft ordentlich und sauber ist. Nach dem Muster: Wir sind die Normtreuen, und dann gibt es am Rand der Gesellschaft die Bösen, die Handtaschen rauben oder mit Drogen dealen.“ Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft Rassismus und auch Vergewaltigungen passe nicht in dieses Bild. Diese Verzerrungen prägen laut Kreissl die Gesellschaft. 80 bis 90 Prozent der Medienberichte über Kriminalität würden auf Polizeiaussendungen basieren. Praktisch alles, was Normalbürger über Kriminalität wissen, stamme wiederum aus den Medien. Und das hat laut Kreissl Folgen, denn 80 bis 90 Prozent aller Straftaten würden der Polizei von der Bevölkerung gemeldet: „Was die Bürger für kriminell halten, ist wesentlich vom Kriminalitätsbegriff der Polizei geprägt.“ Weniger Berichte über Rassismus führen also möglicherweise zu weniger Anzeigen rassistisch motivierter Taten. Tagesaktuelles „braucht es nicht“ Mehr Polizeiaussendungen über sonst unterbelichtete Themen wie Rassismus und Vergewaltigung fände Kreissl prinzipiell wünschenswert. Generell hält er tagesaktuelle Kriminalitätsberichterstattung aber für nur bedingt sinnvoll: „Das befördert einfach nur den Voyeurismus, den Schauder aus zweiter Hand. Das braucht es nicht.“ Er plädiert dafür, neben Tipps vor Taschendieben und Einbrechern auch Quartalsberichte auf Bezirks oder Grätzelebene zu verschicken, die die „langweiligen“ Teile des Polizeialltags betrunkene Radfahrer, Hintergrund zur Analyse 3.726 Presseaussendungen verschickte die Wiener Polizei in den Jahren 2013 und 2014. Diese wurden mit Hilfe einer eigens entwickelten Software analysiert, danach wurden aufwendige Stichwortanalysen durchgeführt. Die Ergebnisse wurden mit der Anzeigenstatistik für Wien verglichen mehr dazu in wien.ORF.at <http://wien.orf.at/news/stories/2728096> . Informationsveranstaltungen, gestohlene Geldbörsen nicht ausklammern: „Wenn Sie von großen Verbrechen erzählen, die irgendwo passieren, dann verängstigen Sie die Leute nur.“ Evelyn Kanya, wien.ORF.at, und Alexandra Siebenhofer, Ö1 Die Recherche für diesen Artikel wurde durch ein Fellowship des Recherchezentrums CORRECT!V und der Rudolf AugsteinStiftung ermöglicht. Die Ergebnisse werden auch in der Wiener Wochenzeitung „Falter“ veröffentlicht. Links: Kriminalstatistik <http://www.bmi.gv.at/cms/BK/publikationen/krim_statistik/start.aspx> Sicherheitsbericht 2013 <http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_Service/SB_2013/02_SIB_2013_Anhang.pdf> (PDF) ZARARassismusreport <http://www.zara.or.at/index.php/beratung/rassismus‐report> Wiener Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung <http://vicesse.eu/> Notruf.Beratung für vergewaltigte Frauen und Mädchen <http://frauenberatung.at/> CORRECT!V <https://correctiv.org/> RudolfAugsteinStiftung <http://www.rudolf‐augstein‐stiftung.de/> Falter <http://www.falter.at> Publiziert am 26.08.2015
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