re port age Abschied vom „Güterbahnhof“ MORBIDES SCHMUCKSTÜCK EINE REPORTAGE VON BIRGIT COMPIN FOTOS: SYLVIA RUDZIO, FOTOSTUDIO CLEMENS Die in die Jahre gekommene Halle gegenüber dem Bahnhof scheint wie gemalt für letzte Fotos. Das Wetter ist heute außerordentlich schön, die Sonne strahlt. Die Fotografin und ich machen uns auf den Weg. EIN WORT ZUR HISTORIE Doch zunächst eine Richtigstellung: „Wenn wir nicht aufpassen, wird die Geschichte falsch erzählt“, weiß Rudolf Herrmann. 44 Jahre lang war er bei der Bahn beschäftigt. Aus diesem Grunde hat Stadtarchivar Stephan Grimm ihn bereits vor einiger Zeit mit der Dokumentation des Güterverkehrs samt aller dazugehörigen Gebäude in Gütersloh beauftragt. Der Güterbahnhof, so erfahre ich von dem Bahnexperten, befand sich nicht jenseits der Schienen des Bahnhofs. Er stand stadtauswärts in Richtung Bielefeld, auf dem Gelände des Unternehmens Pfleiderer und wurde bereits vor Jahren zugunsten des neuen Gebäudes abgerissen. Das, was wir gemeinhin als Güterbahnhof bezeichnen, war einzig und allein die Halle zur Güterabfertigung. Zusammen mit dem vorgestellten Bürotrakt bildet sie den heute baufälligen Gebäudekomplex. Erbaut wurde die Güterabfertigung 1847. Stand der erste Schuppen für den Warenumschlag noch unmittelbar an dem Bahnübergang Kirchstraße, wurde die heutige Halle erst 1875 in Betrieb genommen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein schlug hier das industrielle Herz der Stadt. Die Abfertigungshalle war Umschlagplatz unzähliger Güter auf der Strecke von Berlin zum Ruhrgebiet und weit darüber hinaus. Ja, die Gütersloher schafften es sogar, den Streckenverlauf der damaligen Weser-Rhein-Linie hier entlang führen zu lassen. Die Gleise 11,12, 13 und 14 R ostige Türen und ein alter Stromverteiler, hier und da ein bisschen Blech, Schutt und Geröll. Wie ein nicht fertig gewebter Teppich überzieht saftiges Moos feinädrig den steinigen Boden. Zart sprießende Zweige bohren sich durch die Mauerritzen. Farne wuchern in geschützten, feuchten Ecken – auf dem Boden, an den Wänden, am Gebälk. Es ist eine mit morbider Schönheit durchzogene verlassene Halle und sie zeigt, was am Ende übrigblieb. Über mehr als ein Jahrhundert hinweg markierte sie Güterslohs Aufstieg zur Industriestadt. Doch das ist lange her. Fast zwanzig Jahre lang schlummerte das als „Güterbahnhof“ bezeichnete innerstädtische Areal mittlerweile vor sich hin - und gilt längst als einsturzgefährdet. Aber das hielt viele Sprayer nicht wirklich davon ab, einige der Wände mit Graffitis zu überziehen. „Wer wollte, kam hier auch rein“, erklärt Rick Mädel, Projektleiter des neuen Investors. Doch das alles wird bald Geschichte sein. Ein paar Wochen noch, dann steht hier kein Stein mehr auf dem anderen. Eines der letzten Zeichen industrieller Stadtgeschichte wird im Februar dem Boden gleich gemacht. 8 2 1 Ein paar Tage noch, dann verabschiedet sich die alte Halle der Güterabfertigung von Gütersloher. Was bleibt, ist das Gleisbett. 2 Der morbide Charme des langen Gebäudes erstreckt über das ganze Areal. 3 Einst war sie wesentlicher Bestandteil der Güterabfertigung, heute steht nur noch ihr Gehäuse: eine der vielen Waage der Halle. 1 32 4 4 Hier war früher einmal viel los: Treppen führten zu den äußeren Rampen zwischen den Gleisen. das Vorhaben verschwand in der Schublade. Später reichten weitere Pläne für Güterslohs „Problemimmobilie Nummer 1“ von der Etablierung eines Dracula-Musicals über ein Freizeit- und Kulturzentrum bis hin zu einem Eispalast mit Disco und einer Shoppingmeile. Doch was auch immer geplant war, das Konzept für das Gelände sah bereits damals vor, hier „nicht störendes“ Gewerbe, Büros und Gastronomiegewerbe zu etablieren. Der Durchbruch zur Lösung kam dann doch relaTRAUM VOM QUARTIER JENSEITS Ein paar Wochen noch, tiv leise. 2015 einigte sich der Gütersloher UnternehDER SCHIENEN dann steht hier kein Stein mer Hagedorn recht unspektakulär und zügig mit Seit 1997 liegt das Gelände der Bahn nun schon brach. Stadt und Bahn. Sein Plan sieht hier mehrere GebäuEine neue Nutzung sollte her. „Je geringer die Vermehr auf dem anderen. de vor, die marode Halle muss weg. Doch bevor sie marktungschancen“, trommelte damals eine TagesEines der letzten Zeichen dem Projekt mit dem Arbeitstitel „Gleis 13“ weichen zeitung ungeduldig, „desto größer werden die städtebaulichen Ansprüche an das Quartier.“ In den folgenindustrieller Stadtgeschich- muss, haben wir einen Besichtigungstermin mit Projektleiter Rick Mädel und den Abbruchexperten den fast 20 Jahren mauserte sich das Areal zu einem te wird im Februar dem Ralf Voßhenrich und Marco Greitemeier gemacht. der beliebtesten Spekulationsobjekte der Stadt. Es Sie sind allesamt Mitarbeiter des Investors Hagestand zum Verkauf, der jedoch immer wieder durch Boden gleich gemacht. dorn, der sich seit 1997 als Fullservice-Dienstleister Auflagen blockiert wurde. Heimische Architekturbüdeutschlandweit etabliert hat. Von Abbruch, Sanieros entwickelten zur Jahrtausendwende einen städRick Mädel rung, Entsorgung, und Recycling bis zur Revitalisietebaulichen Rahmenplan und empfahlen der Stadt, rung und Entwicklung von neuen Nutzungskonzepselbst das Gelände von der Bahn zu erwerben. Neue ten reicht das Angebot des Unternehmens. Gebäude sollten damals an den „Stadttoren“ Carl-Bertelsmann-Straße und Friedrich-Ebert-Straße einen geschlossenen Quartier-Eindruck vermitteln. Die Abfertigungshalle sollte bleiben und wurde als eine Art BLICK AUF EIN STÜCK VERGANGENHEIT Forum in das Konzept integriert. Doch der Kauf schien zu riskant – und Über die Lange Straße gelangen wir auf das Gelände an der Ladestraße. führen bis heute direkt an der Halle vorbei und wurden von hier aus bedient. Über Rampen waren sie zum Be- und Entladen zu erreichen. Auf der anderen Seite der Halle sorgte die Ladestraße für den Abtransport der Waren. Weltwirtschaftskrisen und andere Transportwege machten dem Umschlagplatz im Laufe des vergangenen Jahrhunderts zu schaffen, immer weniger Güter wurden hier umgesetzt. 9 3 1 + 3 +4 Nicht ohne Aufsicht: Kabel baumeln von der Decke, Moss besetzt die Steine, Graffitis bevölkern die Wände. Die ehemalige Güterabfertigungshalle gilt heute längst als einsturzgefährdet. 1 2 Projektleiter Rick Mädel und die Abbruchexperten Ralf Voßhenrich und Marco Greitemeier erklären die nächsten Schritte bis zum Abriss der Halle. 2 4 nur unter unserer Aufsicht hinein“, erklärt Ralf Voßhenrich. Er ist zuHier hatten bis vor wenigen Tagen noch die Busse der Stadtwerke ihre ständig für den Abbruch der gesamten Anlage und erklärt, was in den Parkflächen, doch die mussten mittlerweile den kommenden Maßnahnächsten Tagen geschehen wird: „Wir werden zunächst einmal die Halmen weichen. Eine kleine provisorische Treppe führt auf die lange Ramle und das Bürogebäude entrümpeln und anschliepe, und wir gelangen durch eins der großen Tore in ßend entkernen.“ Alles, was nicht mineralisch ist, den Innenraum der Halle. Während die Mitarbeiter wie Türen und Einbauten, wird entsorgt. Ein Blick des Unternehmens eine der letzten Begehungen vor Die oft bemühte Floskel durch die Halle zeigt, dass da gar nicht so viel zu dem Abriss machen, schlendern wir durch eine mortun ist. Deshalb rechnet Voßhenrich auch mit eibide, vergessene Welt. Und die ist unglaublich still. „Die Natur bahnt nem zügigen Beginn des maschinellen Abbruchs. Die oft bemühte Floskel „Die Natur bahnt sich ihren sich ihren Weg“ Alle weiteren Abläufe erfolgen in enger AbstimWeg“ zeigt sich hier von ihrer ehrlichsten Seite. Wir mung mit der Bahn. Umlaufende Kabel müssen gehen über fein geäderte, dick bemooste, aufgeplatzzeigt sich hier von ihrer umgelegt werden, um den Bahnverkehr nicht zu te Steinflächen. Mit ihren natürlichen Mustern und ehrlichsten Seite. gefährden. „Oberleitungen müssen an bestimmfast geometrischem Bewuchs erinnern sich mich ten Stellen stromlos gemacht werden, Gleise weran alte Motivteppiche. Wo auch immer eine kleine, den temporär gesperrt. Wir planen Nachtarbeiten feine Ritze den Boden au¨richt, haben sich spinRick Mädel ein, dafür müssen mögliche Gefährdungen ausdeldürre Zweige ihren Weg ans Licht gebahnt und geschlossen sein.“ Mit insgesamt zehn Bauleitern, ich ahne die ersten Knospen. Prächtige Farne wuBauarbeitern und Maschinisten plant Voßhenrich die gesamten Arbeichern in geschützten Ecken vor sich hin. Durch die großen Glasflächen ten. Es werden Bagger mit 40 bis 50 Tonnen Einsatzgewicht eingesetzt, in der Decke strahlt heute ein blauer Himmel und die Sonne spendet ebenso Autokräne. Der komplette Abbruch erfolgt ohne Fremdfirmen. dem riesigen, langen Raum ein fast gleißendes Licht. Doch der ehemals „Dafür“, so Mädel, „muss man als Unternehmen schon gut aufgestellt glänzende Stahl an Türen und Trägern ist stumpf geworden – kein Licht sein.“ Alle erforderlichen Gewerke befinden sich hier unter einem spiegelt sich hier mehr. Wo einst riesige Waagen standen, erzählen heute Dach: die Gutachter, die Mitarbeiter, der Maschinenpark, die Kompenur noch kleine Schildchen an leeren Gehäusen von den schweren Getenz und die Referenzen. „ Normalerweise braucht man dafür sechs, wichten, die sie in einer anderen Zeit zu tragen hatten. Die Wände sind sieben verschiedene Fachfirmen, die sich untereinander abstimmen übersät mit Graffitis. Nicht jedes ist schön – und vor allem nicht fertig. müssen.“ Doch Zeit zur Vollendung bleibt nicht mehr. DIE ZUKUNFT KOMMT ALS BAGGER PROJEKT CHAMPIONS LEAGUE Mit ihrem spröden Charme ist die Halle ein Paradies für jeden Fotografen. „Wir haben viele Anfragen erhalten, aber das muss auch passen. Das Gebäude ist komplett einsturzgefährdet und man kann hier Der Projektleiter erklärt, was das Vorhaben so einzigartig macht: Es sei schon etwas Besonderes, eine ehemalige, gegenüber eines Bahnhofs gelegene Industriefläche so komplett „umzuwidmen“. Die sogenannte 10 Bring’ Farbe in dein Leben Maler- und Tapezierarbeiten vom Fachmann 5 Nach dem Abbruch folgt die Kür: Die sogenannte „Revitalisierung“ des Industriegeländes auf der Rückseite des Bahnhofs ändert die Rahmenbedingungen des gesamten Quartiers, erklären die Experten im Gespräch. 5 „Revitalisierung“ einer solchen Fläche in C-, vielleicht sogar D-Lage Güterslohs, noch dazu auf der Rückseite des Bahnhofs, bedeute hohes Engagement. „Wir wollen hier hochwertiges Gewerbe ansiedeln und ändern damit natürlich auch die Rahmenbedingungen des gesamten Quartiers.“ So bewege man sich hier schon in einer Art Champions League. Mit dem Baubeginn rechnet der Projektleiter im dritten Quartal dieses Jahres, ein weiteres Jahr plant er bis zur Fertigstellung des ersten Bauabschnitts ein. Gesundheit, Fitness und Gastronomie sollen hier in Zukunft zu ©Carl Crossmedia 5 GmbH & CoKG Düppelstr. 3 · 33330 Gütersloh Tel. 0 52 41/20 898 · Fax: 0 52 41/25 689 Email: [email protected]. finden sein. Dazu neu angesiedelte Unternehmen und kleine Büros. Genau hier, wo wir jetzt stehen, zwischen zart keimenden Zweigen, bemoosten Steinen und bemalten Wänden, kann sich Rick Mädel in einem der neuen Gebäude sehr gut ein Restaurant vorstellen. Oder eine coole Cocktailbar in der obersten Etage, als eine Art Aussichts-Bar. Doch was wirklich kommt, ist noch völlig offen. Was allerdings feststeht ist, dass dieses alte Gebäude sich heute noch einmal besonders herausgeputzt hat, um sich bei strahlendem Sonnenschein von seiner einzigartigen Schönheit zu zeigen. Sushi Lieferservice in Gütersloh Sylvia Rudzio, freie Mitarbeiterin von Fotostudio Clemens. Birgit Compin, GT-INFO Redakteurin, schreibt monatlich Beiträge für unser Magazin. 11 Carl-Bertelsmann-Straße 40 33332 Gütersloh Telefon 05241 7435555 www.oishisushi.de/gt
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