Victoria – 130 Jahre Fahrrad-Tradition

Victoria
3
1 0
Victoria – 130 Jahre Fahrrad-Tradition
Text: Christian Ettl Fotos: Andreas Meyer, Victoria
Traditionsmarke! Ein Attribut, welches
sich nicht viele Firmen anheften können.
Victoria wird nächstes Jahr 130 Jahre alt. In
Sachen Fahrrad also ein echter Pionier. Wir
haben das zum Anlass genommen und die
Marke in Hoya – unweit von Bremen – besucht, um etwas über die Firmengeschichte,
die Entstehung eines Victoria-Rades, die
Menschen dahinter und die „Muttergesellschaft“ zu erfahren.
Wie entsteht ein Rad der Marke Victoria?
Werner Wolff, seines Zeichens Montageleiter,
hat uns gezeigt, wie die zahlreichen Modelle
gebaut werden. Rund 70 Leute sind vor Ort
alleine für den Bau von Fahrrädern beschäftigt. Nicht alle Räder werden jedoch in Hoya
montiert; die besonders hochwertigen Victoria e-Manufaktur-Modelle dagegen schon.
Alleine die Logistik dafür ist sehr aufwendig und macht ein eigenes Lager für die
Laufradproduktion erforderlich. Der Aufbau
des kompletten Rades gliedert sich dann in
62 Fahrrad News
verschiedene Bereiche. Im Lenkerbau wird das
„Cockpit“ vormontiert. Die Spezialisierung auf
die einzelnen Schritte steigert die Effektivität
und die Qualität. So kommt in der Endmontage beispielsweise ein Wagen an, auf dem
sich neben Rahmen und Gabel auch bereits
vormontierte Laufräder und die vorbereitete
Lenkeinheit befinden. Auf zwei Montagelinien
werden die Räder dann gebaut.
Die Kollegen in der Reihenfertigung beherrschen ihre Arbeit, das wird schnell klar. Im
Betrieb sind drei Handwerksmeister beschäftigt und bilden auch aus, beispielsweise zum
Zweiradmechatroniker. 70 Prozent der Mitarbeiter haben eine abgeschlossene Ausbildung
als Mechaniker oder Monteur und nur 30 Prozent wurden angelernt. In einem Montagebetrieb eine Seltenheit, die positiv auffällt.
Trotzdem kommen Maschinen mit Drehmomentschalter zum Einsatz und 100 Prozent
der gefertigten Räder erfahren eine abschließende Endkontrolle, die die Mitarbeiter zum
Teil gegenseitig ausführen, um sicherzustel-
len, dass der Händler dem Kunden genau das
Rad übergeben kann, welches dieser wünscht,
und das in der bestmöglichen Qualität.
Victoria-Historie
Die beiden Kaufleute Max Frankenburger
und Max Ottenstein, beide begeisterte
Radsportler im „Nürnberger Veloziped Club“,
machten im Jahr 1886 ihre Leidenschaft zum
Beruf und gründeten die Marke Victoria.
Ende des 19. Jahrhunderts galten Fahrräder
als das Transportmittel neben Kutschen und
Pferden. Was damals mit 20 Angestellten
startete, sollte sich bis zur Jahrhundertwende rasch vergrößern. Bereits 1890 war ein
Umzug in eine eigene Fabrikhalle notwendig,
kurze Zeit später war der damalige Produktionshöchststand von weit über 11.000
Fahrrädern erreicht, wofür schon damals die
Victoria Fahrradwerke, später Victoria Werke
AG, standen. Neben Hoch- und Dreirädern
wurden ab 1901 die sogenannten und heute
[1]
[1] Herr Wolff hat in 35 Jahren die Montage von mehr als einer Million Fahrräder
miterlebt. „Bei uns zählt nicht Quantität, sondern Qualität.“
geläufigen „Niederräder“ hergestellt. Teils
motorisiert, fuhren diese für damalige Verhältnisse bis zu 40 km/h schnell, man könnte
sie somit als Vorläufer dessen betrachten,
was wir heute als Speed-Pedelec kennen. Die
oftmals bescheidene Straßenbeschaffenheit
der damaligen Zeit machte es Radfahrern
schwer. Ein schlauer und für die Zeit sehr
„DIE GROSSE BELIEBTHEIT
DER PRODUKTE LAG AN DEREN
HOHER QUALITÄT.“
fortschrittlicher Marketingschachzug war der
Bau eines Velodroms. Ein Rundkurs, der den
Neukunden das Erlernen des Radfahrens auf
abgesperrtem Terrain ermöglichte. Ab 1903
belieferte man mit dem „Jagdrad“ fast alle europäischen Armeen und baute auch Automobile wie das bei Landärzten beliebte „Doktor’s
Cabriolet“. 1910 wurde das Markenzeichen
VW für Victoria Werke eingeführt. Da es nie
geschützt wurde, fand später die Übernahme
durch Volkswagen statt. Nach dem Ende des
Ersten Weltkrieges präsentierte Victoria mit
der „KR I“ das erste große Motorrad. Dieses und auch die Nachfolgemodelle waren
sehr beliebt und wurden auch bei Behörden
eingesetzt. Parallel dazu nahm der Erfolg der
Fahrräder weiter zu. 1926 wurden bereits über
27.000 Stück verkauft, 1939 waren es schon
knapp 50.000 sowie rund 10.000 motorisierte
Fahrräder wie die „V 38 Saxonette“ mit 60 Kubikzentimeter Hinterradmotor. In der Zeit des
Zweiten Weltkrieges war die Produktion an
Zivilrädern weitestgehend heruntergefahren,
man musste überwiegend leicht modifizierte
Serienmaschinen für die Wehrmacht fertigen.
Nach Kriegsende waren die Werkshallen
nahezu vollständig zerstört; es kam zu einem
Neuanfang in Nürnberg mit 28 Angestellten. Zu diesem Neuanfang zählte auch das
Modell „Vicky“, das sich in den nun folgenden
Wirtschaftswunderzeiten zu einem echten
Erfolg entwickeln sollte. Der Start erfolgte mit
„Vicky I“, einem normalen Fahrrad, das mit
einem 38 Kubikzentimeter kleinen Hilfsmotor
und einem Tank für das Benzin-Öl-Gemisch
zwischen dem Hinterradschutzblech und
dem Gepäckträger ausgestattet war. Die
Präsentation auf dem Genfer Salon in der
Schweiz war ein Riesenerfolg, was sicherlich
auch am damals attraktiven Startpreis von
390 Reichsmark lag. Die „Vicky I“ erfüllte in
den ersten Nachkriegsjahren die Ansprüche
an ein Beförderungs- und Transportmittel
zur Genüge. Doch mit der Zeit stiegen die
Ansprüche und somit der Wunsch nach einem
Moped, das keinem Fahrrad mehr glich. Als
Nachfolgemodell wurde 1953 „Vicky II“ auf den
Markt gebracht, 1954 bis 1955 wurde „Vicky
III“ produziert – mit neuem, drehfreudigerem
47-Kubikzentimeter-Motor, mit der gefälligen
Form, der modernen Technik und der guten
Handlichkeit wirtschaftlich und technisch ein
Durchbruch. Weitere Varianten und Ausbaustufen folgten, deren Modelle in fünfstelligen
Zahlen Käufer fanden. Doch auch nichtmotorisierte Fahrräder wurden nach Kriegsende
Fahrrad News 63
Victoria
wieder produziert. War die Produktion aufgrund von Materialknappheit anfangs noch
sehr eingeschränkt möglich, steigerte sich die
Produktivität nach und nach und sollte zur
besten Einnahmequelle werden. Aus Marketinggründen wurde auf die damals beliebten
„Steher-Rennen“ gesetzt, bei denen zahlreiche Erfolge gefeiert werden konnten. Dass
die Radfahrklientel seinerzeit eher konservativ
war, zeigte der Versuch, „Vicky II“ als reines
Fahrrad auf den Markt zu bringen, was allerdings laut damaliger Händlerumfrage wegen
der „zu modernen Rahmenform“ nicht umgesetzt werden konnte. Weitere motorisierte
Modelle wie der Mopedroller „Nicky“, die
„Preciosa“ oder die „Avanti“, Victorias Antwort
auf die beliebten Sportmopeds aus Italien mit
schmalem Rennlenker, straffer Federung und
Tank-Sitz-Kombination, sorgten für weitere
Unternehmenserfolge in den 50er-Jahren.
Doch die für Victoria goldene Zeit Mitte
des vergangenen Jahrhunderts sollte nicht
ewig währen und es kam 1958 zur Fusion mit
Express und DKW zur Zweirad-Union. Der
Grund lag allseits in dramatisch sinkenden
64 Fahrrad News
Fahrrad-Verkaufszahlen, was auch bei Victoria
durch den Verkauf der Mopedmodelle nicht
ausgeglichen werden konnte. Dort lebte
ein Teil der Mopedlinie nur noch kurze Zeit
weiter, bevor die Zweirad-Union 1966 von der
Nürnberger Hercules Werke GmbH übernommen wurde und der Name Victoria endgültig
verschwand. Einen Neustart erlebte die Marke
am 30. Oktober 1995. Die Hermann Hartje
KG erwarb die Namensrechte und nahm die
Produktion zum Modelljahr 1997 mit insgesamt 14 City- und Trekking-Fahrrädern wieder
auf. Die Wiederbelebung wurde 2005 mit der
Programmerweiterung um Elektro-Räder und
2010 mit der Einführung des Fachhandelskonzeptes e-Punkt weiter abgerundet.
Die Hermann Hartje KG – das Unternehmen
hinter Victoria
„Wir haben wohl jeden Händler in Deutschland schon mal beliefert“ – dieser Satz lässt
aufhorchen. Aber es stimmt wohl. Was 1895
mit dem Verkauf von Schumacherbedarf
begann, fand bereits 1900 seine Ausrichtung
hin zu Fahrrad und Transportmittel und ist
heute eine feste Größe in der Welt des Fahrrads. Das Unternehmen ist noch immer in
Familienhand und feiert gerade das 130-jährige Jubiläum.
Dazu ein paar Zahlen:
- Sieben eigene Radmarken: Victoria, Conway,
Hartje, Contoura, Prince, Excelsior und Noxon
- Acht weitere Fahrradprogramme im Vertrieb
- Stammhaus in Hoya sowie 17 Zweigstellen in
Deutschland und dem EU-Ausland
- Rund 800 Mitarbeiter
- Eigene Lieferfahrzeuge
- Bei Bestellungen bis 15:30 Uhr Lieferung am
nächsten Tag dank eigener „Nachtlinie“
- 4.500 Lieferscheine pro Tag
- Mehrere Tausend Reparaturen jährlich als
offizieller Service-Partner diverser Marken
- Lagerung vieler Fahrräder und Fahrradteile
für den Fachhandel
Im Gespräch mit Ingo Hinrichs, Produktmanager bei Victoria
Hallo Ingo, Du bist PM bei Victoria. Was
hast Du davor gemacht?
Ich bin studierter BWL’er, habe selber einen
Radladen betrieben und war einige Jahre
im Vertrieb tätig.
Welches ist Dein Liebling unter den Victoria-Fahrrädern?
Ich mag sie alle!
Und welches fährst Du selbst?
Vor allem das Victoria 1.7 Trekking – das hat
einen riesigen Einsatzbereich. Aber auch mal
ein Mountainbike unserer Schwestermarke
Conway.
Also bist Du auch mal sportlich unterwegs?
Ja, auch. Ich bin die 11-Städte-Tour in Holland
gefahren, also 240 Kilometer am Stück. Aber
der Spaß steht im Vordergrund. So bin ich im
Winter auch gern mal mit den Schlittschuhen
auf den zugefrorenen Kanälen unterwegs.
Wir schweifen ab … zurück zu den Bikes.
Was willst Du anders machen bei den
Victorias.
Unsere Kunden sind glücklich, also sind wir es auch. Wir bleiben der
Linie treu. Aber etwas mehr Farbfläche, größere Schriftzüge und ein
etwas technischeres Design kann ich mir schon vorstellen.
Also auch ein wenig mehr Selbstbewusstsein für die Traditionsmarke?
Ja, genau. Etwas weniger Understatement und etwas mehr eigene
Identität. Wer aber etwas ganz Mutiges will, wird weiter bei unseren
Schwestermarken fündig. Da gibt es zum Beispiel auch Wunschfarbe
und Schriftzüge nach Wahl.
Und was tut sich technisch für 2016?
Wir haben an vielen Details gearbeitet. Mir gefallen besonders die
neuen Slider (verstellbare Ausfallenden, Anm. der Red.), die zum Beispiel auch am E-Trekking zum Einsatz kommen. Oder der farblich zum
E-Bike passende Unterfahrschutz, der auch nachrüstbar sein wird.
Warum nachrüstbar?
Jeder soll selbst entscheiden können, ob er ihm gefällt und ob er ihn
braucht.
Was gibt es noch Neues? Gibt es News im Antriebssektor?
Ja, wir bieten mehrere Modelle mit dem neuen Bosch-Motor Performance CX mit 500-Wattstunden-Akku an, sowohl mit Kettenschaltung als auch mit Nabenschaltung.
Also gibt es einen neuen Antrieb?
Eigentlich sogar drei. Es kommen drei Modelle mit Shimano-Steps-Antrieb und wir werden fünf Modelle mit Impulse-Antrieb haben, auch
ein Speed-Pedelec.
Und was ist mit dem Tranz-X-Motor?
Den gibt es auch weiterhin – als Mittel- und als Nabenmotor.
Okay, wow! Und in den Bereichen ohne E-Unterstützung?
Auch im Trekking Bereich, ohne E-Unterstützung, setzen wir zunehmend auf Scheibenbremsen und Magura-Felgenbremsen.
Wie verändert sich die Palette? Gibt es mehr Modelle?
Absolut. Wir stellen uns breiter auf. Wir möchten jedem unserer Händler das passende Rad anbieten, egal, in welcher Infrastruktur oder
Topografie sich seine Kunden bewegen.
Eine letzte Frage. Wage bitte den Blick in die Zukunft: Wie sieht das
E-Bike im Jahre 2030 aus?
Es wird kaum als E-Bike zu erkennen sein. Vieles wird ins System
integriert sein. Dazu wird es aufgrund einer deutlich größeren Reichweite eine echte Alternative für den Individualverkehr sein.
Danke für Deine Zeit und für das Gespräch!
Fahrrad News 65